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Liebe Freundin!

Kürzlich hatte ich mich auf dem Nachhauseweg zu unserem geliebten Marsulina verirrt und bin in ein seltsames Land geraten. Du weißt, wie es ist - einmal an einer Kreuzung falsch abgebogen, und schon ist es um unsere Orientierung geschehen. Du wirst es kaum glauben, doch ich übertreibe nicht – in diesem Land ist alles neu und im buchstäblichen Sinne des Wortes einmalig. Denn alles, was es gestern gab, ist heute bereits ersetzt. Die Dinge ändern sich in diesem Land in einer so rasenden Geschwindigkeit, dass, selbst wenn man es darauf anlegte, keine Zeit bliebe, sich an Dinge von gestern zu hängen.

Erstaunlich, nicht?

Anfangs hatte ich nicht verstanden, warum mein Schirm, der mich seit über zehn Jahren vor unserem Regen schützt, hier mit abfälligen Blicken bewertet wurde, wenn ich ihn aufspannte. Und warum, ging ich am folgenden Tag mit demselben Hemd und derselben Hose auf die Strasse, die Leute mich wie einen schmutzigen Bettler ansahen. Denn sie kleiden sich täglich neu, manchmal sogar zweimal am Tag. Sie haben diesem Wechselspiel ein merkwürdiges Wort gegeben – „mit der Zeit gehen“ nennen sie es.

 Das sind jedoch nur die äußeren Zeichen von anderen, tiefer liegenden, nicht weniger seltsamen Gebaren, die ich mich bemühe, zu verstehen. Das Ruhen und Rasten zum Beispiel, das bei uns Gang und Gäbe ist. Hier ruht niemand, niemand rastet, alle und alles sind in steter Bewegung. Die Kinder, die Erwachsenen, sogar die älteren Leute sind durchwegs beschäftigt. Sie räumen ein und um, streichen, kacheln und schmirgeln, sie telefonieren in riesigen, mit künstlichen Pflanzen geschmückten Büros, räumen Regale aus, ein und um, liefern Pakete aus, bohren sich in der Nase oder ziehen in modernen Montagehallen Schrauben an. Einmal habe ich versucht, eine Lücke zwischen zwei beliebigen Handlungsabläufen zu erwischen. Vergebens. Alle Tätigkeiten fließen ineinander über, und allein beim Zuschauen überkam mich nach einem anfänglichen Schwindel die Angst, in dieser Lückenlosigkeit der Abläufe das Atmen zu vergessen.

 Und die Eile, liebe Freundin. Die allgegenwärtige Eile. Als würde in der nächsten Minute die Sperrstunde eintreten, hasten und rennen sie von einem Ort zum anderen, vom Supermarkt zum Frisör, von der Sparkasse zur Autowerkstatt oder zu irgendeinem ihrer unzähligen Ämter. Am Feierabend – noch so ein seltsames Wort von ihnen, denn inzwischen habe ich die Gewissheit, am Abend feiern sie nicht – schieben sie sich in langen Autoschlangen nach Hause, oder lassen sich in unsäglichen Menschentrauben mit Bahnen und Bussen abtransportieren, um sich hernach in ihren Wohnstuben einzuschließen, in wabenförmige, aufeinander gestellte und aneinander gereihte alles in allem identische Hutschachteln, die sich zu gigantischen Häuserblöcken auftürmen, zwischen denen ab und wann ein tapferes, von Rachitis befallenes Bäumlein wächst. Und wenn wir bei uns im Abendlicht in die Gärten setzen und unseren Kindern die von den Alten überlieferten Geschichten erzählen, fallen die Menschen hier zu Tode erschöpft in ihre Betten, oder zetern mit ihren Kindern oder Ehepartnern, oder trinken sich um den Verstand, oder setzen sich vor rechteckige Automaten und schauen stumm auf bewegte Bilder, auf denen sich Menschen in Stücke zerschießen, Kinder entführt, vergewaltigt oder getötet werden. Raue Sitten, das sage ich Dir, mit denen sich die Menschen hier an dem verflossenen Tag rächen.   

 Woher diese Unruhe? Liebe Freundin, wie gerne hätte ich Dich bei mir gehabt, um mit Dir dieses Rätsel zu lösen. So aber versuche ich es allein, denn auch mit ihnen ist darüber nicht zu reden. Dabei hatte ich es zweimal versucht. Das erste Mal auf der Außenplattform eines überquellenden Busses auf dem Weg zu besagtem ‚Feierabend’. Es war ein Mann meines Alters gewesen, der mit einer dünnen, ausgebreiteten Zeitung kämpfte, die der Fahrtwind immer wieder aufblähte und ein Lesen schier unmöglich zu machen schien. Kaum hatte ich den Mund geöffnet und die ersten höflichen Worte der Begrüßung formuliert, hatte er mir mit seinen Augen zwei Kugeln in den Kopf geschossen, sich umgedreht und mir bis zum Ausstieg demonstrativ den Rücken gekehrt.

 Das andere Mal hatte ich in einem dieser gigantischen Supermärkte eine Frau angesprochen. An einem Regal mit über hundertzwanzig Buttersorten aus aller Welt wollte ich meine vorgebliche Qual der Wahl nutzen, sie in ein ausführlicheres Gespräch zu verwickeln. Es hatte nur wenige Sekunden gedauert, bis ich von zwei Sicherheitsmännern, eigentlich Fremde wie Du und ich, von den Butterregalen zu den Obst- und Gemüseauslagen gedrängt war, wo mir die beiden Hünen in einer verbastelten Sprache zu verstehen gaben, gefälligst die Kundinnen in Ruhe zu lassen, „sonst Du was in die Fresse kriegen.“   

 Wenn ich allein denke, denke ich nicht gut. Du kennst mich, ich neige zu einfachen Schlüssen. Doch was blieb mir anderes übrig? Anfangs meinte ich naiv, die Hast sei die Wurzel allen Übels. Denn wie ansteckend sie ist, habe ich am eigenen Leibe erfahren. Nach einem Tag nur mit ihnen in dem allgegenwärtigen Strudel, begann auch ich, schneller zu gehen, und wenn ich mich bei diesem aberwitzigen Tempo ertappte und meinen Gang verlangsamen wollte, wurde ich von hinten gestoßen und getrieben, sodass ich wohl oder übel mit ihnen Schritt halten musste. Als ich dann jedoch an einer roten Ampel den Augenblick des Stillstands wahrnehmen wollte und nach meiner schmerzlichen Erfahrung mit dem Mann und der Frau einem Kind die Hand auf die Schulter legte, um es nach dem Weg zu befragen, und dieses Kind sich erschrocken und mit weit aufgerissenen Augen zu mir umdrehte und schützend die Arme in Kopfhöhe hob, sah ich die Angst der Menschen in diesem Land. Angst, vor Fremden wie Du und ich. Im Nu waren wir, obwohl die Ampel auf Grün gesprungen war, von anderen Fußgängern bedrohlich umringt, und hätte ich nicht eine Unachtsamkeit von ihnen genutzt – ein Auffahrunfall mit erheblichen Blechschaden - und die Beine in die Hand genommen und mich wie ein Blitz auf- und davon gemacht, ich weiß nicht, ob ich Dir heute diese Zeilen schreiben und je wieder in unser geliebtes Marsulina zurückkehren könnte.

 Woher diese Angst? Befürchten sie, ihrem eigenen Rhythmus nicht standhalten zu können und eines Tages rettungslos auf der Strecke zu bleiben? Denn dass es Menschen gibt, die abgehängt werden und liegen bleiben, steht außer Frage. Menschen jeden Alters! So alt wie Du und ich, jüngere, ältere, ganz junge, ganz alte. Du weißt, bei uns ist das halbe Glas stets halb gefüllt und nicht halb leer. ‚So sind es wohl jetzt die einzigen, die das Leben gemächlicher angehen dürfen’, sagte ich mir deshalb.

Wie fehl ich lag! Da sie immer zahlreicher wurden, stritten sich die armen Gestalten um den Inhalt der Mülltonnen, schlugen aufeinander ein, um die besten Bettelplätze zu erlangen, und so mancher soll den Kampf um eine gefahrlose Schlafstätte unter einer Brücke mit dem Leben bezahlt haben. „Im Land der letzten Dinge“ steht es von Auster besser beschrieben als ich es vermag. Doch hier war ich ja nicht im Land der letzten Dinge, sondern dem der Fülle, des Reichtums, der sich stetig ändernden und somit neuesten Dinge!  

Wie war das zu erklären? Ist etwa das Land der vielen, neuen Dinge nichts anderes als die Vorkammer zu Austers Roman, der von einem Land berichtet, in dem zu guter Letzt kein Stein mehr auf dem anderen steht, und die Menschen sich, weil es nichts Essbares mehr gibt, gegenseitig verzehren?

 Am Tag vor meiner Abreise glaubte ich mich einer Antwort nahe. Auf einem verwaisten Gelände, das einmal ein Spielplatz gewesen war, wo sich in früheren Zeiten in Sandkästen, auf Klettergerüsten und Rutschbahnen Kinder getummelt hatten, beobachtete ich auf einer Bank sitzend eine Mutter mit ihrem etwa zehnjährigen Jungen. Dieser hatte von der Beuge bis zu den mittleren Handknöcheln den rechten Arm eingegipst. Mit der unversehrten Hand und den Fingern der anderen, die bleich aus dem Gips herausragten, tippte er auf einem Tablett einen Text, der, wie ich dem Gespräch zwischen Mutter und Kind entnahm, ein Schulaufsatz werden und ein vorgegebenes Thema behandeln sollte. Immer, wenn der Junge sich am Ende glaubte und der Mutter, die klickend an einem Pullover strickte, stolz sein Tablett reichte, antwortete diese mit dem Satz. „Gut, aber Du kannst es noch besser.“ Daraufhin löschte sie den Text, und der Junge musste von Neuem beginnen.

So ging es zwischen beiden unzählige Male hin- und her. Der Junge schrieb, die Mutter las, drückte auf die Löschtaste und sprach besagten Satz. „Gut, aber du kannst es noch besser.“ Bis einer der Texte in den Augen der Mutter offenbar Gnade erfuhr. „Na ja“, sagte sie, „für heute lassen wir es gut sein.“

Siehst Du, was ich meine, liebe Freundin?

Auch ich lasse es für heute gut sein. Der Winter steht in diesem Land vor der Tür. Mich sehnt es nach Deiner Wärme. Ich schreibe Dir diese letzten Zeilen von eben jener Bank aus. Von einem Spielplatz, der einmal ein Spielplatz war. Die ersten Schneeflocken tänzeln um mich herum. Zwei Jogger hecheln in weit ausholenden Schritten an mir vorbei, die Arme angewinkelt, den Körper leicht vornüber gebeugt, den Atem grau. Wenn ich mich jetzt nicht aufmache, zurück zu uns, ins geliebte Marsulina, zu Dir, liebe Freundin, wird mich zweifelsfrei die Kälte einholen. Und womöglich wird jemand auf meine Löschtaste drücken, mich anschauen und meinen, „Gut. Aber du kannst es noch besser“. Und anstatt, zurück in Marsulina, in Deine Arme zu sinken und den Duft Deiner Haut zu riechen, müsste ich die ganze Geschichte von vorne beginnen, immer wieder, von „du kannst es noch besser“ zu „du kannst es noch besser“, bis mich in der Endlosschleife der Schlaf überfiele und mir ohne mein Wissen das Herz einfröre. Dann erst wäre ich einer von ihnen und dürfte bleiben, für immer, in diesem seltsamen Land.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 19.10.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
In Erinnerung an Paul Austers Novelle "Im Land der letzten Dinge. Beitrag zum 59. Wortspiel

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