An einem der letzten Dezembertage wurde Alfons D. per Einschreiben das Datum seines Ablebens mitgeteilt. Noch in der Gegenwart des aus allen Lungen pfeifenden Postboten (4. Stock ohne Fahrstuhl!), der mit seinem massiven Leib den Türrahmen ausfüllte und routiniert den Kugelschreiber und das blaue Heft mit den Empfängersignaturen in die Seitentasche mit dem albernen Posthorn zurücksteckte, riss Alfons D. den aschgrauen Briefumschlag aus Recyclingpapier auf, fingerte das amtliche Schreiben heraus und las mit bewegten Lippen die förmliche Nachricht.
Er brauche sich um nichts zu kümmern, hieß es, Gas und Strom (mit der Bitte, am Vortag den Kühlschrank abzutauen), Zeitungsabonnements, Internet und Telefonanschluss, Abmeldung beim Einwohnermelde- und Finanzamt, Kündigung der Mietwohnung, Auflösung des Bankkontos und Haushalts würden amtlicherseits übernommen. Da Alfons D. sich nichts habe zuschulden kommen lassen, würden seine sterblichen Überreste nach der städtischen Einäscherung mittels handelsüblicher Feuerwerksköper (zwei Leuchtsterne, ein Heuler) in den Himmel geschossen. Hochachtungsvoll.
Mit einem Schlag hatte Alfons D. sein Leben hinter sich. Er musste etwas verdattert ausgesehen haben, denn der Postbote, immer noch in der Wohnungstür, stellte besorgt die Frage: „Und? Ist es noch rechtzeitig?“
Alfons D. blickte ihn entgeistert an. „Hätte ich Ihnen sonst aufmachen können?“
„Na hallo, nicht gleich an die Decke gehen. Wann ist es denn soweit?“
„Morgen.“
„Sie Glückspilz. Na ja, ein bisschen kurz. Wir hatten in den letzten Tagen einige Zustellprobleme. In der Regel kommt die Kündigung eine Woche vor dem Termin. Das lässt Zeit. Bei ihnen bin ich spät dran. Aber Hauptsache, ich bin da, oder?“
„Das mit dem Kühlschrankabtauen wird knapp.“
„Machen Sie sich mal keinen Kopf. Die Entsorger haben schon ganz andere Sachen gesehen. Einige der Empfänger hauen sogar vor dem Termin ab. Mit Sack und Pack. Unter dem Motto ‚Ein anderer Ort, ein neuer Anfang’. Dümmer geht’s nicht. Den Letzten hat es auf dem Weg in eine andere Zeitzone pünktlich in einem Flugzeug erwischt. Lächerlich, wenn Sie mich fragen. Als könnte man seiner Zeit davonfliegen. Ein Tipp: Bleiben Sie bis auf Abruf zu Hause und genießen Sie die letzten Stunden.“
„Wenn Sie es sagen….“
„Darf ich kurz reinkommen? Die Stockwerke haben’s in sich.“
Ohne auf eine Antwort zu warten, schob sich der bullige Postbote an Alfons D. vorbei und ging schnurstracks auf den Wohnraum zu. Wuchtig ließ er sich dort auf einen Sessel fallen, klatschte seine Posttasche auf den Tisch und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
„Und wissen Sie, auf was andere kommen?“
„Sie werden es mir sagen.“
„Sie werfen alle Kalender in den Müll und drehen an dem Computerdatum. Stellen Sie sich vor, die Naivlinge!!“ Der Postbote krümmte sich vor Lachen. „Nee, nee, prustete er, „wem die Stunde schlägt, der sollte nicht an den Uhren drehen.“
„Ich habe übermorgen einen Termin beim Frisör. Und in zwei Wochen einen beim Zahnarzt.“
„Sehen Sie?! All das bleibt Ihnen nun erspart. Positiv bleiben, in allen Lebenslagen. Das ist meine Devise. Schließlich hat alles auch seine guten Seiten. Hätten Sie ein Glas Wasser für mich?“
Alfons D. ging in die Küche und ließ ein wenig laues Leitungswasser abfließen. Als es kalt wurde, füllte er ein Glas bis zum Rand und reichte es dem Beamten.
„Haben Sie heute noch andere Zustellungen?“
Der Postbote tat einen tiefen Schluck, nahm seine Tasche und blickte hinein.
„Ich freue mich, dass Sie es mit Fassung tragen. Nein, Sie sind der letzte auf der Liste. Gestern war ich bei der Nummer Fünfzehn, eine Witwe. Höchste Zeit, wenn Sie mich fragen. Die gute Frau war längst überfällig.“
„Aber bei mir sind Sie sicher, dass das Datum kein Irrtum ist?“
„Ha, das fragen die meisten. Absehen von denen, die es nicht erwarten können. Ausgeschlossen, lieber Herr. Außerdem, mit dem Datum habe ich nichts zu schaffen. Ich bin nur der Überbringer, nichts weiter. Den Rest macht die Verwaltung. Und die weiß, was sie tut.“
„Strom, Telefon und so weiter….“
„Und so weiter, Sie sagen es. Das volle Programm. Bis auf den Kühlschrank, versteht sich.“
„Natürlich.“
Der Postbote blickte sich um. „Schön haben Sie es hier.“
Alfons D. nickte. „Danke.“
„Darf ich mal ne Runde drehen? Durch die anderen Zimmer?“
„Wenn Sie darauf bestehen. Machen Sie es bei den anderen genauso?“
„Nein. Nicht jeder wohnt in einem Haus ohne Fahrstuhl. Zudem im vierten Stock. Bei meinem Gewicht kommt das der Zugspitze gleich.“
Er erhob sich mühsam, Alfons D. hörte das Knirschen der schwarzen Lederuniform. Wahrlich eine Riese, dieser Postbote. Wählte man das Personal für solche Botengänge nach physischen Kriterien aus? Alfons D. hatte gehört, dass etliche Empfänger solcher Einschreiben auf die Überbringer losgegangen waren. Mit Stühlen und Messern und anderen Gebrauchsgegenständen, die ein geordneter Haushalt dem Affekt in greifbare Nähe rückte. Denn was hatte man schon zu verlieren? Das Spiel war eh aus. Auch bei ihm war die Versuchung groß, dem Beamten eins über den mächtigen Schädel zu ziehen. Da, mit der Fruchtbarkeitsstatue zum Beispiel, ein robustes Mitbringsel aus Mali, die….
„Denken Sie nicht im Traum daran“, unterbrach der Bote seine Gedanken. „Vergessen Sie nicht Ihre Leuchtraketen. Sie wollen doch nicht sang- und klanglos als Zusatzfutter in einer Hühnerfarm aufgepickt werden?“
Erschrocken verschränkte Alfons D. die Hände im Rücken und folgte dem Postboten, der Schritt für Schritt die Zimmer abging, an diesem oder jenem der alten Möbelstücke verweilte und manchmal bewundernd zwischen die Zähne hindurch pfiff. „Schöne Stücke, muss man schon sagen.“
Alfons D. gab ich einen Ruck. „Gibt es denn nicht einen Funken Hoffnung?“
„Einen Funken? Ein ganzes Feuerwerk bekommen Sie!“
„Wenn ich die Wahl hätte, würde ich darauf verzichten.“
Als hätte Alfons D. etwas Unzüchtiges gesagt, blieb der Postbote plötzlich stehen und blickte seinem Gegenüber streng in die Augen.
„Jetzt mal ehrlich – haben Sie nicht genug davon?“
„Wovon?“
„Von der Hoffnung natürlich, wovon sonst? Sie bekommen sie an jeder Straßenecke, an jeder Litfasssäule, bei jedem Computerklick nachgeworfen. Hoffnung auf ein gesünderes Leben, auf das Ausbleiben einer Natur- oder Atomkatastrophe; auf Zehen ohne Hühneraugen; auf eine bessere Note in Mathe; auf eine Regierung ohne Merkel, einen neuen Staubsauger, ein neues Waschpulver oder auf ein Leben ohne Krieg.“
Alfons D. schien bei jeder Erwähnung der Hoffnung ein Stück kleiner zu werden. Doch der Postbote war erst richtig in Fahrt gekommen.
„Unter uns – die Schlimmsten sind die sogenannten Hoffnungsträger. Die tragen die Hoffnung im Huckepack, damit die Dame sich die Füße nicht schmutzig macht. Nee, nee. Das ist nichts für mich. Ich lasse die Hoffnung denen, die sich nicht wehren können oder wollen, weil sie es vorziehen, sich widerstandslos dem Leben zu ergeben und dabei ‚Dalli Dalli’ glotzen.“
„Da kann ich mich ja gleich aus dem Fenster werden.“
„Wollen Sie, dass die Nachwelt Sie so in Erinnerung behält? Am Boden zerstört?“
„Herrgott…“
„Bei dem können Sie’s ja mal versuchen.“
„Bei wem?“
„Bei Ihrem Herrgott. Ich hab da als Trostpflaster ein paar passende Bewerbungsformulare. Falls es Sie interessiert. Bei welcher Nachsorge sind Sie?“
Der Postbote zog seine Tasche an sich heran, kramte in ihr und brachte einige Vordrucke zum Vorschein. Einen nach dem anderen legte er sie fein säuberlich wie Reiseprospekte vor Alfons D. auf den Tisch. „Hier - Gott, Allah, Buddha, Marx…“
„Marx?“
„Zugegeben, das hat mich auch stutzig gemacht. Aber bei dem soll die Chance, angenommen zu werden, am größten sein. Ins Arbeiterparadies will nämlich keiner mehr. Deshalb nimmt er jetzt alles und jeden. Aufgepasst - bei Allah stehen die Kandidaten Schlange. Die wollen alle ihre zweiundsiebzig Jungfern. Die Wartezeit soll, auch wenn’s noch so geknallt hat, unendlich sein.“
„Herrgott!“
„Sie sagen es. Also – bei welcher?“
„Bei keiner.“
„Auch gut – lassen wir das Spinnige. Unter uns – vom Fenster weg hätten Sie trotzdem gemusst, Nachsorge hin oder her. Da kennt die Verwaltung kein Pardon. Mit wem Ihre Seele“ – er vertreibt mit der Hand eine imaginäre Fliege über seinem Kopf - „es hinterher treibt, ist denen so was von schnurzegal.“
Alfons D. blickte den Postboten ungläubig an. „Sagen Sie, sind Sie sicher, ein Postbote zu sein?“
Der Beamte raffte die Vordrucke zusammen und steckte sie in die Posttasche zurück.
„Mein lieber Mann! Zwanzig Jahre bin ich bei dem Verein. Was denken Sie, was einem da so alles vor Augen kommt? Die einen fallen in Ohnmacht, die anderen schreien herum, wollen sich prügeln oder setzen sofort einen Beschwerdebrief auf und jammern, sie hätten Diät gemacht, sich das Saufen und Rauchen abgewöhnt, hätten pünktlich die Steuern bezahlt und wären zehn Kilometer täglich durch die Wälder gerast – alles für die Katz. Was vorbei ist, ist vorbei. Das alles schult, sage ich Ihnen, ich könnte einen Sammelband mit den Erfahrungen aus dem Kurzdavor schreiben. Ich weiß, wovon ich rede. Nur, weil man Postbote ist, darf einer sich nicht damit begnügen, Fremdgeschriebenens die Stockwerke hoch zu schleppen und den Kopf als Ablage für die Mütze zu benutzen.“
„Dann bleibt mir nur ein Wunder…“
„Das hat gerade noch gefehlt. Der Herr glaubt an Wunder.“
„Ich glaube nicht an Wunder. Ich wünsche mir eins.“
„Das eine geht nicht ohne das andere. Aber sei’s drum. Welches Wunder darf es denn sein?“
„Zum Beispiel, dass sich ein einfältiger, überbezahlter oder verkaterter Verwaltungsbeamter beim Tippen des Datums geirrt hat. Ein Tippfehler. Ist das zuviel verlangt?“
„Sie haben das Wünschen an die Stelle des Hoffens gesetzt. Ha, la belle Epoque der Kindheit, als das Wünschen noch geholfen hat. Nee, so einfach kommen Sie uns nicht davon.“
„Jetzt hören Sie doch endlich mit Ihrer Schwarzmalerei auf!!! Ein Wunder will ich. Ein einziges Wunder!!!! Sechs Buchstaben, nicht mehr.“
„Der Vatikan hat acht Jahre gebraucht, um das Wunder vom alten Paul anzuerkennen. Und Sie kommen da her, und wollen eines von heute auf morgen? Sozusagen im Handumdrehen?“
„Ein Tippfehler. Einen winzigen, erbärmlich kleinen Tippfehler. Von einem erbärmlich kleinen Verwaltungsbeamten, der nach Mottenkugeln stinkt und sein Butterbrot mit einem Apfel und einer Banane in die Schublade einschließt. Ist nicht mal das drin?“
Der Postbote seufzte und schüttelte resigniert den Kopf. Anschließend ergriff er seine Posttasche, erhob sich und schritt auf die Wohnungstür zu. „Vergessen Sie nicht, den Kühlschrank abzutauen“, war sein letzter Rat, ohne sich umzudrehen.
Nachdem der Postbote gegangen war, strich sich Alfons D. die Kleidung wie nach einer unpässlichen Begegnung glatt, putzte die Küche blitzsauber, fuhr mit dem Staubwedel über alle Möbel, leerte den Kühlschrank und ordnete seine Papiere. Dann setzte er sich auf sein Sofa, schaltete das Radio an und lauschte den Nachrichten von der inzwischen alten Welt.
Am darauffolgenden Tag ging wie angekündigt die Deckenbeleuchtung aus. Das Transistorradio verstummte nach einem leisen Knackgeräusch. Ängstlich nahm Alfons D. den Telefonhörer ab und hatte in der Tat einen toten Gegenstand in der Hand. Unter der offenen Tür des Kühlschranks, den er Vortag abgestellt hatte, glitzerte eine Wasserlache. „Nun ist es soweit“, dachte er und rührte sich nicht von der Stelle. Er stand dort bis in die Dämmerung hinein, bewegungslos, als wollte er vom Schlag, der ihn treffen sollte, nicht verfehlt werden.
Als schließlich die Nacht hereinbrach und seine Wohnung sich lichtlos der Dunkelheit übergab, überkam ihn der Eindruck, nach einer Theateraufführung als letzter Darsteller auf der Bühne zu stehen. Die Scheinwerfer, die ihn vorher geblendet hatten, waren ausgeschaltet, der Saal vor ihm war leer. Einige Umzugsarbeiter polterten mit klobigen Schuhen auf die Bühne und begannen schweigsam, die Dekoration abzubauen und hinauszutragen. Die Sessel, die Regale, Tisch und Stühle, den Kühlschrank, das Bett landeten in dem Fundus.
Ungeübt darin, wie jemand abzugehen hatte, verbeugte Alfons D. sich sperrig vor dem abwesenden Publikum. Dabei wurde er von den Arbeitern hin- und hergeschoben, bis er, an den äußersten Bühnenrand gedrückt, den gepolsterten Sitzbänken den Satz zurief: „Die Hoffnung stirbt zuletzt“. Allein der bullige Postbote saß in seiner knirschenden Lederuniform in der zweiten Reihe und lächelte ihm anerkennend zu. Behäbig klatschte er in seine fetten Hände und nickte auffordernd mit seinem riesigen Schädel. ‚So ist’s recht, schien er zu sagen, ‚und nun den Abgang, den allerletzten. Nur einen Schritt noch, dann darf das Stück mit neuer Besetzung von vorne beginnen.’
Ein schwerer, bordeauxroter Vorhang wollte sich herabsenken, klemmte jedoch auf halbem Weg knapp über Alfons Kopf. Von draußen war weit entfernt erst ein knatterndes Moped zu hören, dann brach plötzlich, wie eine Revolte, das Getöse eines Feuerwerks aus. Auf die Menschen, die kurz vorher aus dem Theater geströmt waren, rieselte ein Meer aus Aschekörnchen herab. Auf Bürgersteigen und Fahrwegen sahen sie unzähligen erloschenen Hoffnungsschimmern entgegen. Sie jubelten ihnen ausgelassen zu, als sähen sie in diesem Ereignis das Anbrechen eines neuen Jahres und die unendliche Fortsetzung des Stückes von der letzten Hoffnung, die nicht sterben darf.
„Zufrieden?“, rief Alfons D. dem Postboten zu.
„Prost Neujahr!“, antwortete dieser ihm. „ Ich wünsche Ihnen ein glückliches, neues Jahr, lieber Herr!“ Der Postbote erhob sich, zwängte seinen massiven Körper durch die engen Sitzreihen und ging auf den spärlich beleuchteten Notausgang zu.
„Das Wunder!“, rief Alfons D. dem Postboten nach, „Sie haben die Rechnung ohne das Wunder gemacht. Stimmt’s? “
Der Postbote drehte sich zu ihm um.
„Ist doch alles nur ein Spiel, lieber Herr. Wann kapieren Sie das bloß?! Ein Spiel, in dem Sie und ich Zuschauer und Darsteller zugleich sein dürfen. Eines vom Anfang und vom Ende. Und von dem, was es nicht gibt und doch zwischen beiden ist und alles und jeden miteinander verbindet.“
Tag der Veröffentlichung: 11.10.2013
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Widmung:
Beitrag zum KG-Wettbewerb Oktober 2013 "Die Hoffnung stirbt zuletzt"