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Nora und der Regen im Kopf

Hätte man mich an diesem Nachmittag an den Füssen aufgehängt, mir wäre der Kopf wie eine Wassermelone geplatzt, die von der Ladefläche eines Lasters auf ein hartes Pflaster fällt. Nora hatte mich angerufen und mir wohl gelaunt verkündet, ihr sei etwas Herrliches passiert. Sie habe sich verliebt. Ich solle mir nun bloß keinen Kopf machen, sie erkläre mir alles am Abend. Küsschen.

Daraufhin hatte sie kurzerhand aufgelegt, wohl mit der Absicht, es zu keiner Diskussion kommen zu lassen, denn als ich sie sofort zurückrief, klingelte das Freizeichen ins Unendliche.

Ich hatte mir keinen Kopf gemacht, der Kopf machte sich von selbst. Alle meine Gehirnzellen hatten ihre schwarze Kampfkluft angelegt und stürzten sich nun mit unzähligen Hämmern und Meißeln auf die frische Baustelle. Es klopfte und dröhnte in meinem Schädel, dass ich sicher war, es wäre von außen zu hören.

Nora, meine Liebe, die Frau meines Lebens, hatte sich verliebt! Wir hatten die ersten drei Jahre lodernder Leidenschaft hinter uns, ohne dass die kleinste Flamme erloschen war. Immer noch entdeckten wir uns täglich, nicht die Spur von Routine lenkte unsere Zärtlichkeiten, und wachten wir am Morgen nebeneinander auf, war es, als ob nicht nur ein neuer Tag begönne.

 Und nun stürzte ihr Anruf auf mich herab wie ein göttliches Strafgewitter. Ich wusste zwar, was es zu tun gäbe – anstatt mir einen Kopf zu machen denselben für das Übersetzen der „Gegengeschichte der Philosophie“ zu nutzen und gelassen auf unsere abendliche Aussprache zu warten. Eine Aussprache, in der ich wohl, davon ging mein rotierender Verstand aus, in den Stand der Freundschaft zurückgestuft würde, das Schrecklichste, was eine Frau ihrem Geliebten als Trostpflaster anbieten kann.

Ich überflog die letzte am Vortag übersetzte Seite, um mich auf andere Gedanken zu bringen und vielleicht, so hoffte ich innig, besinnungslos bis in die Abendstunden hinein das Kapitel über das „nihilistische Europa  Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts“ zu beenden.

Doch die letzte Seite war schlecht, die Seite davor war schlecht, und die Seite vorher noch schlechter. Mein Kopf dröhnte trotz der zwei Hexa Ibu Akut (2x400 Mg) und wollte partout den Satz nicht betäuben lassen, der, als er zum ersten Mal ausgesprochen wurde, mich wie ein Zauberstab berührt hatte, und der nun wie ein Basketballschläger auf mich einprügelte: Nora hat sich verliebt! Nora hat sich verliebt! Nora hat sich verliebt!

 Als sie am Abend die Wohnungstür aufschloss (sie hatte seit zwei Jahren einen Schlüssel und kehrte bei mir ein und aus, wie es ihr beliebte), saß ich noch immer vom Blitz getroffen auf dem Sofa. Eine Salzsäule. Ein Schuldiger, der auf Noras Schritte wie auf das Maß seines Urteils wartete und sich nicht zu atmen traute!

Nora stürmte wie üblich ins Wohnzimmer, warf ihren südamerikanisch gehäkelten Beutel in einen der Sessel und zog eine Frau aus dem Flur in den Türrahmen.

„Das ist Marina!“, rief sie aus und strahlte erst mich an, dann besagte Marina. „Wusstest Du, dass es in Kolumbien keine Straßennamen gibt? Nur Nummern! Wie in New York.“

Na, ganz so ist es in New York nicht und wird es wohl auch in Kolumbien nicht sein, irgendwo gibt es bestimmt einen Santos Boulevard, einen Medellinstadtring oder eine FARC Sackgasse, ging es mir durch den Kopf, während ich mich erhob, um zur Begrüßung die Wangen dieser bildhübschen, kolumbianischen Blume zu küssen. Denn eine bildhübsche Blume war diese Marina allemal, daran war nicht zu zweifeln: lange, schwarze Haare, die ihr tief auf den Rücken fielen, große, braune Knopfaugen, ein voller, rot geschminkter Mund, das Kleid, ebenfalls rot mit einem weiten Dekollete, in dem ein schneeweißer Busen haltlos auf- und abbebte (ich schrieb dies ihrer Nervosität zu), die Haut an Armen und Beinen von einem Weiß, als ob sie in den letzten Monaten der Sonne ausgewichen wäre oder in Einzelhaft gesessen hätte.     

 Sie hat sich also mit einer Freundin bewaffnet, für den Fall des Falles, dachte ich, doch Nora umarmte und küsste mich, als wären wir nach wie vor das verliebteste Paar der Welt.

„Das ist Marina“, wiederholte sie.

„Hallo Marina.“ Marina antwortete nicht. Sie blickte auf den Boden. Ich nahm den gehäkelten Beutel Noras vom Sessel. „Komm, setzt Dich. Möchtest Du etwas trinken? Einen Saft? Kaffee, oder Wein?“

„Wein“, kam Nora Marinas Antwort zuvor und eilte zur Küche. Ich folgte ihr.

„Wir müssen reden“, tuschelte ich. „Dein Anruf heute Morgen…“

„Ist sie nicht süß? Du musst sie mal sprechen hören. Ich liebe diesen Akzent. Wie sie das R rollt…“ Sie nahm drei Gläser aus dem Regal. „Kümmerst  Du Dich um den Wein?“

„Nora, Du hast gesagt, Du hast Dich verliebt.“

„Sie hat noch eine Schwester. Viel jünger als sie. Wahrscheinlich läuft die gerade mit nackten Füssen in einem Dschungel herum.“

Ich fasste Nora am Arm. „Nora, sag, was los ist. Bitte.“

„Du magst sie nicht. Ist es das?“

„Ich weiß nicht, ob ich sie mag oder nicht. Sie ist eine hübsche Frau. Aber darum geht es hier nicht.“

„Doch. Darum geht es. Aber mach dir keinen Kopf.“

„Nora, Du sagst, Du hast Dich in einen anderen verliebt, und ich soll mir keinen Kopf machen?“

Nora lachte laut auf. „Liebster, ich hab mich in Marina verliebt. Nicht in einen anderen!“

Einen Augenblick wusste ich nicht, ob ich vor Erleichterung zusammensacken sollte – meine Knie schlotterten, seit ich in der Küche neben ihr stand, sie, die drei Weingläser in der Hand, ich, mit einer Hand ihren Arm haltend, als müsste ich sie am Fortlaufen hindern.

„Ich wusste nicht, dass du auf Frauen stehst“, zischte ich und nahm meine Hand zurück.

„Ich auch nicht“, antwortete sie lapidar. „Außerdem stehe ich nicht auf Frauen. Ich habe mich in Marina verliebt. Nuance, bitte schön.“

„Nuance, Nuance! Marina ist eine Frau, wenn ich nicht irre.“

„Sag mal, der Kleine da“ – sie deutete mit dem kleinen Finger auf meinen Hosenschlitz – „ist doch nicht etwa eifersüchtig? Auf eine Frau?“

„Dass es eine Frau ist, weiß ich erst seit Sekunden.“

„Ich hatte dich bislang für einen besseren Beobachter gehalten.“ Sie grinste.

„Den ganzen Tag habe ich gemeint, es ist aus zwischen uns.“

„Ist es nicht, Liebster. Im Gegenteil. Du bist und bleibst der Mann meines Lebens.“

„Und Marina?“

„Marina ist Marina. Komm, wir sollten sie nicht so lang allein lassen. Denk an die Weinflasche.“

Sie schickte sich an, ins Wohnzimmer zu gehen. Ich ergriff erneut ihren Arm. „Nora, wie soll das gehen?“

Nora blickte mich an, zuckte die Schultern und seufzte. „Du bist eifersüchtig, stimmt’s?“

Ich antwortete nicht. Die Frage war von meinem Kopf abgeprallt, und plötzlich war mir, als hielte ich nicht ihren Arm, sondern er wäre es, der meinen ganzen Körper stützte, und ließe er mich los, der Boden rutschte unter mir weg.

„Wenn ich mich morgen in einen Baum verliebe – wärest Du dann eifersüchtig auf einen Baum?“

„Man verliebt sich nicht in einen Baum.“

„’Man’ wahrscheinlich nicht, aber wer weiß, vielleicht ich?“

Ich mochte kein intelligentes Gesicht gemacht haben, denn sie begann zu kichern und legte ihre Hand auf meine Wange. „An dem Tag, an dem ich mich in einen Baum verliebe, mein Schatz, dann bist Du mein Wald.“

Mich wollte eine Vielzahl an Stämmen nicht trösten, zudem bedarf es, so sagte ich mir, einer Distanz, um einen Wald von einem Baum zu unterscheiden, und so gesehen zöge ich es vor, ihr einziger Baum zu sein, allein auf weiter Flur.

Eine Assoziationskette rasselte durch meinen Kopf und zeigte mir die Bilder eines Ausflugs, ein Nachmittag im Spätsommer auf einer kniehohen Wiese, Reste eines Kondensstreifens am Himmel, weiße Flocken, die sich ins Nichts auflösten und mit der tiefen Bläue eins wurden, in die ich, nach Atem japsend, hineinstarrte. Nora saß auf mir, den Oberkörper zurückgebeugt und hatte die Finger in meine entblößten Schenkel gekrallt. Ich nannte diese Momente mein Nirwana, doch Nora meinte, ich wüsste nicht, wovon ich redete, denn das Nirwana sei durch und durch unfleischlich, eine von allem Irdischen sich loslösende Ich-Enthebung. Nora jedenfalls löste sich von meinem Ich-Nirwana, band sich ihre krausen Haare hinter dem Kopf zusammen, zupfte den Rock zu den Knien, um dann summend zu der grünen Eiche zu hüpfen, die sie inbrünstig umarmte. „Ich liebe dich!“, rief sie aus und drückte inbrünstig ihre Wange an die Rinde. „Ich liebe dich aus ganzem Herzen.“ Damals hatte ich tatsächlich gedacht, sie meinte mich.

 Wir hatten im Flüsterton gesprochen, Marina hatte sich in den Sessel gesetzt und nestelte mit den Fingern an ihrem roten Kleid. Verlegen. Verlegen war auch ich, als ich die Weinflasche öffnete, ein Glas einen fingerbreit füllte und den Wein kostete. Nora sprang zwischen den Möbelstücken umher, stellte dies und das auf den Teaktisch und forderte Marina auf, von sich und ihrer Heimat zu erzählen.

Zum ersten Mal hörte ich Marinas Stimme. An die Laute, die aus ihrem roten Mund kamen, musste ich mich gewöhnen. Da war das gerollte „R“, natürlich, aber auch das Zungenschnalzen, mit dem sie ein Wort einleitete, wenn sie nach diesem suchen musste. Und so erfuhren wir – wusste Nora dies alles schon? – von einem patriarchalischen Vater, der unweit von Bogota eine Bananenplantage leitete, von ihrer Mutter, die ihr ganzes Leben nur weiße Kleider getragen hat und mit der Gouvernante, einer kleinwüchsige Chilenin mit einer prallen Warze am rechten Mundwinkel, die Kinder, das heißt sie, Marina, und eine zehn Jahre jüngere Schwester aufzog. Während sie stockend und schnalzend erzählte, füllte ich die Bilder, die sie in mir entstehen ließ, mit den Eindrücken des „Geisterhauses“ aus (ich hatte nichts Passenderes im Erinnerungsfundus), der Verfilmung von Allendes Roman, und ich sah Marinas Vater Jeremy Irons hoch zu Ross zwischen Bananenalleen peitschen, ihre Mutter Meryl Streep ganz in Weiß in einer weiten Villa Chopin spielen, und die kleine Marina auf dem Schoss eines Stallknechtes sitzen, ein unehelicher Bastard in einem ärmellosen, schmuddeligen Unterhemd, den Marinas Vater mit einer feurigen Mexikanerin gezeugt hatte, die er vergewaltigt hatte.

 Natürlich war dies alles glatter Unsinn. Doch Nora, die die Schuhe abgestreift hatte und unter dem Tisch mit den Zehen gegen meine Waden strich (in der Regel machte sie dies, wenn sie MIR zuhörte, sich langweilte, mich aber nicht unterbrechen wollte), lauschte ihr mit der gleichen Hingebung, mit der sie mit mir den Film angeschaut hatte.  

 Als Marina für eine Weile im Badezimmer verschwand, nutzte ich die Gelegenheit, Nora eine Frage zu stellen, die mir bereits seit geraumer Zeit auf der Zunge brannte.

„Sag, weiß Marina überhaupt, dass Du in sie verliebt bist?“

Nora, die gerade an ihrem Glas nippte, prustete mir den Wein ins Gesicht.

„Liebster, Marina ist eine Frau. Eine Frau weiß so was. Außerdem….“

„Was außerdem?“

 Sie seufzte. „Es ist spät. Lass uns nachher zu Bett gehen. Du wirst sehen, alles wird gut.“

Aus dem Badezimmer war die Klospüle zu hören, und kurz darauf kam Marina aufgeräumt zu uns zurück und bat um ein weiteres Glas Wein.

 Erst sehr viel später sollte ich erfahren, dass Marina ein unansehnliches, dickliches Kind gewesen ist, das in dem Internat in Bogota von allen anderen Kindern ob ihrer Schwergewichtigkeit gehänselt worden war. Ich hatte Fotografien von ihr gesehen. Sie hatte sie mir in ihrer Wohnung gezeigt, ein Fotoalbum mit den üblichen, von knisterndem Pergamentpapier getrennten Kindheitserinnerungen : Marina auf einer Schaukel mit ihrer Mutter, einer schmächtigen, spitznasigen Frau, von der sie ihre herrliche Haarpracht hatte; Marina im Zoo vor dem Gehege zottelig verschmutzter Eisbären, ihr Vater in einem kragenlosen Hemd, mit Hosenträgern, platter Boxernase und dem Blick eines Steckbriefes; Marina auf einem Dampfer zwischen Vater und Mutter an die Reling gelehnt  („das Foto wurde von einem besoffenen Matrosen gemacht“); Marina allein auf dem Rücken eines Ponys, Marina mit einem gelben Schwimmreifen im Meer. Marina mit kräftigen Armen und pummeligen Beinen, dick und vor allem ernst, zu ernst  Mit zwölf Jahren hatte sie ihren grausigen Racheplan für die erlittenen Hänselungen geschmiedet, und sie hatte begonnen, radikal abzuspecken.

Das erste Opfer war der Sohn einer Offiziersfamilie, dem das linke Bein zwei Zentimeter zu kurz geraten war; das zweite ein buckliger Straßenbahnfahrer; das dritte ein Philosophiestudent mit einer Hasenscharte. Und so fort. Bei allen hatte es, wenn sie ihnen den Laufpass gab, nachdem sie sie wie eine Anakonda mit ihren Zärtlichkeiten und fleischlichen Versprechen umschlungen hatte, „in den Kopf geregnet, bis ihnen das Wasser aus den Augen geschossen kam“, woraus ich schloss, dass es auch bei ihr so manchen Schauer gegeben haben muss, wenn die Internatjungen „Porky“ hinter ihr hergerufen hatten, grausame, junge Bengel, die nicht ahnen konnten, welch herrlichen Schmetterling diese unansehnliche Raupe barg.

Marinas Rachefeldzüge hatten ein abruptes Ende gefunden, nachdem sie vom tödlichen Reitunfall des Offizierssohns gehört hatte, „dem Jüngling, dem zwei Zentimeter gefehlt hatten“, nicht etwa, weil sie vermutet hätte, „der Regen in seinem Kopf“ stünde irgendwie in Zusammenhang mit dem tragischen Ereignis. Ihr wäre, so ihre Überlegung, bewusst geworden, dass sie vielleicht nicht nur die erste, sondern auch die letzte Geliebte dieses Grünschnabels gewesen ist, im buchstäblichen Sinne des Wortes die Frau seines kurzen Lebens.

 Der Schmetterling saß nun in dem Sessel vor uns und hatte die Beine übereinander geschlagen, als wären wir Modefotografen. Nora schlug vor, ihr das Bett in meinem Arbeitszimmer zu richten (mein Protest, ich könnte ihr ein Taxi rufen, blieb ungehört). Während Marina im Bad unter der Dusche stand, wagte ich mich zu einem erneuten Vorstoß vor, wohl wissend, dass dies purer Unsinn war, denn zum einen war die Uhr zu weit vorgeschritten, als dass sie uns faire Überlegungen erlaubte, zum anderen waren wir beschwipst, was unter normalen Umständen zu unbändigen Umarmungen führte, oder zu nichtsagenden, wenn auch amüsanten Zankgesprächen, in denen keiner von uns beiden nur einen Millimeter von seinem Standpunkt wich. Jedenfalls sie nicht. Oder ich?

Egal, ich musste es wagen, solange das Wasser im Bad rauschte.

„Nora, ich habe Angst, Deine Liebe zu verlieren.“

„Zu verlieren, oder sie teilen zu müssen?“ Da war er wieder, dieser lauernde Ton. Ein Sniper stellte sein Zielfernrohr scharf.

„Läuft beides nicht auf das Gleiche hinaus?“

„Bist Du Dir eigentlich im Klaren, wie kindisch das ist?“ Der Sniper zog den Kammverschluss zurück – Zack, Zack – und führte eine Patrone ein.

„Kindisch oder nicht. Es ist, wie es ist.“

„Für den kleinen Jungen bricht das Universum zusammen, weil jetzt ein Brüderchen auf die Welt gekommen ist.“  Der Sniper schob den Kammverschluss vor – Zack, Zack –, hob die Waffe an die Wange, schloss das linke Auge, verzog den Mund und visierte mit dem rechten Auge das Ziel an.

„Was würdest Du denn sagen, wenn ich mich plötzlich in einen Kerl verlieben und ihn heimbringen würde?“

„Wenn er so knackig aussieht wie Marina, why not?“ Sie schlang ihre Arme um meinen Hals und zog meinen Kopf auf ihre Brüste. Der Sniper drückte ab. Ich sackte in eine erregte Gedankenlosigkeit ab.

 Das Nachfolgende hätte gut und gerne einen Ehrenplatz in einem Comic-Streifen verdient. Wir drei saßen aufrecht im Bett, ich in der Mitte, die beiden Frauen jeweils an meiner Seite. Alle drei hatten wir die Arme auf der Brust verkreuzt, die Bettdecke bis zum Kinn hochgezogen, die Augen auf die gegenüberliegende Wand mit dem Matisse-Gemälde gerichtet („L’odalistique à la culotte rouge“, 1922), das barbusige Haremmädchen aus dem Orient, das Nora und mir als gerahmtes Poster seit Jahren gleichgültig bei unseren Liebesspielen zugeschaute. Kurz zuvor hatte Marina urplötzlich in unserem Zimmer gestanden, nackt, die Brüste mit ihren schwarzen, noch feuchten Haaren bedeckt. Als wäre es eine abgesprochene Sache, hatte sie sich neben mich gelegt und begonnen, meine Brust zu küssen, während Nora unter der Bettdecke auf Erkundschaft ging. Einen Augenblick lang glaubte ich zu träumen und ließ die beiden Frauen fassungslos gewähren. Dann schob ich den Kopf Marinas zur Seite und schlug die Bettdecke zurück. Nora blickte mich erschrocken an.

„Was soll das?“, fragte ich zur ihr herunter. Sie richtete sich auf.

„Sag nicht, dass Du von so was nie fantasiert hast.“

„’Von so was!!!“ Nora, wenn ich fantasiere, dann von Dir.“

„Dann fantasiere von mir und lass uns machen.“

„So nicht.“ Meine feste Stimme erstaunte mich selbst.

Sie stieß einen trotzigen Seufzer aus und zog sich die Bettdecke zum Kinn hinauf. Linkerhand hörte ich Marina schnalzen, offensichtlich suchte auch sie nach Worten. Plötzlich tat sie mir leid. Wahrscheinlich war sie davon ausgegangen, dass alles so verlaufen würde, wie es von Nora – dafür hätte ich in diesem Moment meine Hand ins Feuer gelegt – ausgeklügelt worden war. Sex zu dritt, womit ich stillschweigend das Einverständnis zu unserer Dreierbeziehung gegeben hätte.

„Pardon“, stammelte ich, den Kopf zu Marina gewandt. Dann saßen wir drei wie Schaufensterpuppen in dieser wortlosen Comic-Stellung und rumorten mit unseren Gedanken in unseren Köpfen herum, auf das Haremmädchen starrend.

 Wenig später saßen Nora und ich am Küchentisch. Marina hatte sich in mein Arbeitszimmer zurückgezogen  Ein Lichtstrahl fiel durch die nur angelehnte Tür auf den Flur, aus der Wohnung über uns murmelte leise eine Fernsehdiskussion.

„Ich hätte nicht gedacht, dass Du so spießig sein könntest.“

 „Ich und spießig? Das höre ich jetzt zum ersten Mal.“

„Dabei wollte ich Dir doch nur ein Geschenk machen.“

„Du wolltest Marina verschenken? Sag mal, für wen hältst Du Dich eigentlich?“

„Marina war einverstanden.“

„Wahrscheinlich wollte sie DIR einen Gefallen tun.“

„Sei nicht kindisch. Sie findet Dich lieb.“

„Hör mit Deinem ewigen kindisch auf! Manchmal denke ich, die Welt ist für Dich eine Spielzeugkiste, aus der Du Dich je nach Laune bedienen willst.“

„Bislang bist Du damit recht gut gefahren.“

 Wie Recht sie hatte. Nora hatte die Fähigkeit, alles immer wieder erneut zu erleben und noch an der Xsten Wiederholung staunenden Gefallen zu finden. Für sie sah die Sonne jeden Morgen anders aus, auf der Mondfläche entdeckte sie stets neue Krater  Wenn sie von einem Einkaufsgang heimkam, berichtete sie darüber, als hätte sie gerade einen Erlebnisurlaub am anderen Ende der Welt verbracht. Und ich genoss es. Ich hätte ihr stundenlang zuhören können. Sie hatte ein im reinsten Sinne des Wortes fabelhaftes Gespür für Einzelheiten, kleine Details, auf die ich nie aufmerksam geworden wäre, feine Risse in Hausfassaden, die zu schlingenden Flüssen wurden, eine auf den Kopf gedrehte Hausnummer mit dem Schild „hier wohne ich nicht mehr“, zwei verstrickte Fahrräder („Schau mal, ein Radpaar!“), ein wedelnder Scheibenwischer in einem geparkten Wagen mit abgeschaltetem Motor, ohne Fahrer („ein Einsamfahrer“), eine Blumentopfgalerie auf einem Balkon mit künstlichen Blumen, die eine Oma mit Wasser besprenkelte, und die dabei ein Liebeslied sang („die Piaf in Rente“), eine Wespe, die in meinen Gardinen zu überwintern versuchte („das bin ich“), eine Grabinschrift mit einem Schreibfehler („Unserer liben Mutter“).

Nora sah alles, und ich, gesättigt von meinem Alter und bis zur Übelkeit überfressen von dem, was ich glaubte zu wissen und zu kennen, ich sah nichts. Nora war zu meinem Blindenführer geworden. 

Nein, als ich sie kennengelernt hatte, hatte ich nichts von ihr erwartet. Aber alles gefunden.  

 Eine Krankheit. Der Gedanke musste mir gekommen sein, während ich mich an all das erinnerte. Sie musste eine unheilbare Krankheit in sich tragen, die an ihr zehrte und sie dazu trieb, das Leben an allen Ecken und Kanten anzuzünden, um mit ihm zu lodern und zu verbrennen. Ich wagte nicht, diesen Verdacht auszusprechen (er hätte einem tränendrückenden TV-Film im SWR alle Ehre gemacht). Wie hätte ich ihn auch formulieren sollen? Stattdessen legte ich meine Hand auf ihre Hand, suchte mit meinen Augen ihren Blick und fragte: „Nora, was ist los? Was treibt Dich dazu? Geht es Dir gut?“

Blitzschnell zog sie ihre Hand zurück. Zum ersten Mal, seit wir uns kannten, sah ich wirklichen Zorn in ihrem Gesicht.

„Was mich dazu treibt?! Du meinst die Zuneigung, die ich für Marina verspüre? Ob es mir gut geht? Mir ging es nie so gut wie heute Abend. Ich war bis über beide Ohren verliebt in Dich. Und wahrscheinlich war es auch diese Liebe zu Dir, die mir das Herz groß gemacht hat, groß genug jedenfalls, dass auch Marina in ihm ihren Platz hätte. Bis Du mit deinem albernen ‚Mutti, Mutti, ich habe Angst, deine Liebe zu verlieren’ angefangen hast Ich habe nicht gewusst, dass du in deiner Liebe so egoistisch, so kleinmütig und angstverkrümmt sein kannst.“

Und dann der Satz, der alles Erdenkliche in mir niederschmetterte, von ihr, meiner Blindenführerin. „Ich habe es ein wenig geahnt, oder besser – befürchtet. Aber wahrscheinlich wollte ich es nicht wahrhaben und stellte mich blind.“

 Der Sniper hat ein ganzes Arsenal auf mich abgeschossen. Getroffen hat er das, was ich in mir bislang für das Größte, das Werstvollste gehalten hatte. Ein innerer Adel, der mich erhaben gemacht hatte. Meine Liebe zu ihr. Die nun egoistisch sein sollte. Und kleinmütig und angstverkrümmt. Hätte mich jemand aus dem Haus gejagt, mir meinen Job gestohlen, mein Auto zu Schrott gefahren oder meine Wohnung in Schutt und Asche gelegt – es wäre an mir abgeglitten wie eine oberflächliche Nebensächlichkeit. Aber dass meine Blindenführerin die Liebe zu ihr mit solchen Augen sah? 

 Einen Augenblick lang spielte ich mit dem Gedanken, aufzustehen, in mein Arbeitszimmer zu stürmen und Marina für immer aus unserem Leben vertreiben. Im Geiste tat ich dies auch – ich riss Marina aus dem Schlaf, packte ihre Sachen und stieß sie auf den Hausflur, warf ihr ihre Sachen nach und knallte die Wohnungstür zu, dass die Wände zitterten.

Stattdessen saßen wir uns gegenüber, Nora und ich. Sie schwieg und spielte mit imaginären Brotkrümeln auf dem Küchentisch. In diesem Moment dachte ich, sie wäre verbittert, wütend, um ihr Spielzeug Marina gebracht worden zu sein. Später erfuhr ich von Marina, dass Nora enttäuscht war, nicht von mir, sondern von der Hoffnung, die sie in uns gelegt hatte, und die nun wie ein zusammengefallenes Kartenhaus vor ihr lag, das mich und Marina gleichermaßen unter sich begrub.

 Noch Jahre nach dieser Nacht hatte ich überlegt, ob es auch anders hätte kommen können. Wieder und wieder bedrängten mich unzählige „Wenn-und Ob-Sätze“ in den verschiedensten, hirnspinstigsten Varianten.  Wir hatten  eine Zeit lang versucht, weiter zu machen wie bisher. Hatten uns geliebt, waren verreist, hatten einen Salsa-Kurs belegt, einen angefahrenen Hund in lebensgefährlichem Tempo zur Tierklinik gefahren (das Tier, eine Mischung aus Lassie und einem Schäferhund, hatte überlebt)  und zum ersten Mal unsere Eltern gemeinsam zu einem Abendessen eingeladen (eine harte Prüfung!), welches sogar recht glimpflich verlaufen war, wahrscheinlich, weil es Nora zum ersten Mal geglückt war, dem Lammbraten ein wenig von dem Rosa zu lassen und ihn nicht knüppeltrocken durchzugaren.

 Einmal glaubte Nora gar, schwanger zu sein. Das war Befürchtung und Hoffnung zugleich, auf beiden Seiten, nehme ich an. Befürchtung, uns wider Willen in das, was wir zu der Zeit lebten, unwiderruflich einzuschreiben. Hoffnung, ein kommendes Kind würde den Schatten, der uns beide umgab, als Trugbild entlarven und uns den Weg in unser Happy End bahnen. Noch auf dem Weg zur Apotheke (ich hatte darauf bestanden, den Schwangerschaftstest sofort zu kaufen) setzten ihre Regeln ein, heftig blutend wie nie zuvor. Wir waren geneigt, alles Mögliche zur dieser Zeit als Ohmen zu sehen: so gesehen nahm unsere Beziehung auf dem Beifahrersitz meines Golfs ein blutiges Ende.

 Die Nacht mit Marina steckte wie ein Giftpfeil in uns, und als Nora wenige Tage später sagte, sie würde in eine fremde Stadt ziehen, nickte ich nur und half ihr schweigend unbeholfen beim Packen.

 Marina traf ich etwa zwei Jahre nach dem Auszug Noras wieder. Sie arbeitete als Aushilfsbedienung in einem Mexikanischen Restaurant. Als ich gerade die Speisekarte studierte (eine furchtbare Übersetzung aus dem Spanischen) und mit dem Finger die einzelnen Gerichte abfuhr, hörte ich plötzlich das Schnalzen neben mir (sie hatte mich erkannt und überlegt, ob sie mich ansprechen sollte. „Ich suchte nach Deinem Vornamen, kam aber nicht drauf“). Auf meine Frage, ob sie Neuigkeiten von Nora hätte, bat sie mich, nach Dienstschluss vor dem Restaurant auf sie zu warten.

Die Stunde, die ich auf einer Bank der gegenüberliegenden Straßenseite verbrachte, war die längste in meinem Leben. Zwei Jahre lang war es mir fast gelungen, nicht mehr an Nora zu denken (den unerträglichen Verdacht, sie sei sterbenskrank, hatte ich weggeschoben), und nun stürmten in der Gestalt Marinas (ausgerechnet Marinas!) all die vergangenen, gemeinsamen Jahre wie ein tosendes Unwetter auf mich herein.

 Ihre Wohnung lag knappe zehn Gehminuten (wir gingen schweigend nebeneinander her, sie hatte meine Hand genommen und gedrückt) von dem mexikanischen Restaurant entfernt. Marina stellte mich Elvira vor, einer Buchhändlerin (bereits im Nachthemd und mit einer bombastischen Eulenbrille aus dunklem Horn), mit der sie seit einiger Zeit ihr Leben teilte. Ich brannte darauf zu erfahren, ob es Nora gut ginge, hatte mir jedoch vorgenommen, nur dies von Marina erfahren zu wollen. Ich wollte nicht wissen, ob Nora noch immer in der fremden Stadt weilte, mit einem anderen Mann oder einer Frau zusammen lebte oder etwa ein Kind hatte. Nora sollte in meiner abstrakten, wortlosen Erinnerung verweilen als eine andere Galaxie, die über mir existierte, ohne dass ich ihn sehen musste.

 Marina hatte Nora nach unserer gemeinsamen Nacht nur einmal wieder gesehen. Zwischen Tür und Angel sozusagen, denn Nora hatte bei ihr einige Sachen abgeholt, sie eilig eingepackt, hatte ihr erzählt, wie sie die Nacht „zu dritt“ erlebt hatte, sie dann geküsst und sei wie vom Wind getrieben verschwunden („ich höre heute noch, wie im Hausflur auf der Treppe ihre Sandalen klapperten“). Eine Freundin, die ebenfalls in der fremden Stadt wohnte, hatte Marina dann regelmäßig angerufen und ihr von Nora erzählt.

„Ja, es geht ihr gut, wenn es nur das ist, was du wissen willst.“

Anschließend, wohl mehr, um das Thema zu wechseln und mich auf andere Gedanken zu bringen (ich muss ein seltsames Gesicht gemacht haben), hatte mir Marina von ihrem Rachefeldzug erzählt, von dem toten Offizierssohn und den anderen Männern, in denen es zu regnen begann. Auch in meinem Kopf fielen die ersten Tropfen, die sich endlich aus den dunklen Wolken lösten, die seit zwei Jahren unter meiner Schädeldecke hangen, und die nun begannen, sintflutartig in mir niederzuprasseln. Wären Marina und Elvira nicht gewesen, mein Kopf wäre in tausend Stücke zerborsten.

 

Fünf Jahre später

 

Eines Tages klingelte es an meiner Wohnungstür. Ich hatte gerade die bombastische Eulenbrille eingesteckt, die Elvira bei mir vergessen hatte (ohne sie ist sie blind wie ein Maulwurf) und wollte mich auf den Weg zu ihr in den Buchladen machen. In Eile riss ich die Tür auf. Nora stand auf der Fußmatte ‚Welcome’ (es gab im Baumarkt keine mehr ohne eine blöde Aufschrift) und lächelte schräg.

„Bist du das?“, fragte ich verblüfft.

„Nein, meine Zwillingsschwester.“

Ich wagte nicht, sie einzulassen (das ungemachte Bett, das benutzte Frühstücksgeschirr auf dem Küchentisch, auf dem Wohnteppich verstreute leere CD-Schatullen, eine ebenfalls leere, umgekippte Weinflasche zwischen ihnen).

„Dann bist du das also.“

Nora lachte, und unvermittelt wurde mir klar, dass, machte sie auch nur einen Schritt auf mich zu, ich die ganze Wegschiebearbeit der letzten Jahre vergessen könnte.

„Ich wollte gerade in einen Buchladen. Kommst du ein Stück mit?“

„Ein Kaffee wäre mir lieber gewesen.“

„Das… das geht jetzt nicht. Wir halten unterwegs in einem Bistro. Ich lade dich ein“

Sie versuchte, über meine Schulter hinweg ins Wohnungsinnere zu spähen, stellte sich sogar auf die Fußspitzen, doch ich schob sie zur Seite und zog die Wohnungstür hinter mir ins Schloss.

„Ich war bei Marina“, sagte sie auf dem Gehweg. Sie wartete, für welche Richtung ich mich entscheiden würde. Rechts oder links. Links Richtung Innenstadt. Rechts mein Stammcafé, das Germinal, in dem wir damals als Paar bekannt waren, das aber seitdem den Besitzer und die Bedienung gewechselt hatte. Ich entschied mich für das Germinal, kein neutraler Boden, doch für mich ein Heimspiel. Wenn Sabrina, die kesse Vormittagsbedienung mich auf das Café zusteuern sah, rief sie bereits dem Tresen meine Bestellung zu: „Doppelten Espresso für den Mann auf der Terrasse!“

Ich war der Mann von der Terrasse, stets ohne Begleitung, zuweilen mit einem Buch oder einer Zeitung. Oder dem Ausdruck einer frisch übersetzten Passage, die ich dort Korrektur las.

„Und wie geht’s Marina?“

„Tue doch nicht so. Ihr seid zusammen.“

„Sie ist mit Elvira zusammen.“

„Das hat sie mir gesagt, ja. Und Marina und sie und du…“

„Ja, ja. Wir haben eine Beziehung zu dritt. Na und?“

„Du machst Fortschritte.“

„Wenn man so will, ja. Oder nein. Eigentlich nicht die Bohne.“

„Liebst du sie?“

„Wen?“

„Na, Marina. Oder Elvira. Oder beide?“

„Keine von beiden.“

„Aber ihr habt eine Beziehung zu dritt.“

„Ja.“

„Ohne Liebe.“

„Du sagst es.“

Was ich für mich behielt war, dass ich seit geraumer Zeit keinen Geruchssinn mehr hatte. Ich roch nichts mehr, ich schmeckte nichts mehr. Erst schrieb ich dies einem hartnäckigen Schnupfen zu, dachte, mit einer freien Nase stellten sich auch die Gerüche wieder ein, doch je länger diese Geruchlosigkeit anhielt, um so öfter bemerkte ich, dass ich mich nur noch an die Gerüche erinnern konnte, an den der Erde und des Laubes zum Beispiel, nach einem heftigen Platzregen im Herbst, eine Erinnerung an etwas Verlorenes, getragen von einem Hauch Nostalgie, als wenn der Verlust dieser Sinnesdimension bereits eine beschlossene Sache wäre, auf immer und ewig.

„Was hast du denn an die Stelle der Liebe gesetzt?“, hakte Nora nach.

„An die Stelle der Liebe… Wie du das sagst..“

„Na sag schon.“

„Toleranz. Verständnis. Zärtlichkeit. Rücksicht…. Soll ich weitermachen?“

„Nur zu.“

„Wir stützen uns gegenseitig. Alle drei.“

„Und das schließt Liebe aus?“

„Äh… äh… natürlich nicht.“

„Also warum?“

„Warum was?“

„Warum du sie ohne Liebe liebst.“

„Nora, du solltest eine solche Frage nicht stellen.“

„Hast du da“ – sie zeigt mit dem Finger auf meine Stirn – „einen Schalter drin, den du an- und ausknipst, Liebe an, Liebe aus?“

Ich Idiot habe ihr in meiner Brust ein Taj Mahal gebaut. Für uns. Das Bauen war einfach und geschah wie im Traum. Das Ergebnis war gewaltig. So gewaltig, dass ich Jahre brauchen würde, es Stein für Stein wieder abzubauen. So lange auch nur einer von diesen Steinen in mir übrig war, würde es keine neue Liebe geben. Herrgott, was bin ich tragisch, dachte ich, pathetisch, tragisch, schnulzig und dumm.

„Ich bin mit dir noch nicht fertig“, sagte ich stattdessen.

„Damit sagst du, dass es noch Liebe in dir für mich gibt.“

„Eine Ruine.“

„Immerhin.“

„Eine Ruine, die dich nichts mehr angeht.“

Sie schwieg. Vor uns ging eine schlanke, hochgewachsene Frau, einen Schritt vorsichtig vor den anderen setzend, als wäre sie dabei, die Langsamkeit zu erfinden.

Schließlich fragte Nora: „Willst du nicht wissen, was aus mir geworden ist?“

„Nein.“

„Warum nicht? Schau, ich freue mich, dass es dir offenbar gut geht. Dass du mit Marina und Elvira…“

„Nein, ich möchte von deinem Leben jetzt nichts wissen“, unterbrach ich sie wirsch.

Wir setzten uns auf zwei sonnegeschützte Stühle. Sabrina, die mich zum ersten Mal in Begleitung sah, kam höflich an unseren Tisch. Sie begrüßte uns und blickte uns fragend an.

„Das Übliche“, sagte ich zu ihr hinauf.

„Einen Espresso mit einem Hauch Sahne“. Zumindest dieser Gewohnheit war sie treu geblieben. Ich sah meinen Gedanken an, dass ich ihr immer noch etwas nachtrug.

„Warum bist du gekommen?“

Sie blickte an mir vorbei auf die vorbeigehenden Passanten, auf den Bus, der grobklotzig versuchte, um die Verkehrsinsel herumzusteuern, auf einen Hund, der herrenlos auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig an einem Baumstamm schnüffelte, ein Bein hob und die Pappel anpisste. Das hatte mich damals schon aufgeregt, ihre Art, wenn wir beisammen saßen, mit ihren Augen die Umgebung abzuleuchten, ohne mich anzusehen.  ‚Aufgeregt’ war sicherlich nicht das treffende Wort. Ich war irritiert gewesen. Doch jetzt regte mich ihre Achtsamkeit anderem gegenüber auf.

„Also warum?“, wiederholte ich mit Nachdruck.

„Sehnsucht. Ich sehnte mich danach, dich zu sehen. Überrascht?“

Ob ich überrascht war? Wochenlang hatte mich diese Sehnsucht durch die Stadt getrieben. Ich hatte an ‚strategischen’, uns damals gemeinsamen Punkten gewartet (eine Parkbank, ein Kinoausgang, die Halle im Konservatorium), in der abstrusen (aber auch angstvollen) Hoffnung, ihre Silhouette zu sehen, unter den vielen Menschen auf den Boulevards ihren Gang zu erkennen, ihr Haar. Im Restaurant hatte ich manchmal die Augen geschlossen und versucht, den Geruch ihrer matten Haut herbeizuriechen (in einer solchen Situation hatte ich dann Marina neben mir schnalzen gehört, ich hatte nicht die Speisekarte studiert und war nicht die Gerichte mit den Fingern abgefahren. Ich hatte dagesessen, die Karte in der Hand, die Augen geschlossen, und hatte auf den Geruch Noras wie auf ein Wunder gewartet). Und jetzt klingelte sie an meiner Tür, bei mir, der nichts Weiteres wusste, als dass sie in einer fremden Stadt lebte (ich wusste immer noch nicht, in welcher, nicht einmal, ob diese in unserer Region lag oder gar in einem fremden Land), und sprach von Sehnsucht? Hatte sie in ihrer Spielzeugkiste gekramt ein nostalgisches Gefühl dieses Namens gefunden und wollte sich jetzt damit amüsieren?

Mit einem Schlag war mir klar, was ich ihr in diesem Moment derart verübelte. Nicht etwa, dass sie sich so plötzlich in mein Leben zurückdrängte und mir so schrecklich wirklich gegenübersaß und die Zeit ohne sie so tat, als hätte es sie, die vergangenen Jahre, nicht gegeben. Nein, dass durch ihre Gegenwart die Steine des Taj Mahals tatsächlich begannen, zu bröckeln, weil alles, wirklich alles von diesem Monument bis zum Klingeln an meiner Tür intakt war, in seiner herrlichen, erdrückenden, atemberaubenden Größe, welches ich quasi hinter meinem eigenen Rücken wie meinen Augapfel gepflegt hatte und das nichts und niemand auf der Welt – selbst ich nicht - anzutasten vermochte. Außer sie.

Ich bemerkte ihre brüchigen Fingernägel. Einige Strähnen ihres krausen Haares hatten sich verfilzt. Auf dem rechten Schneidezahn klebte ein Stück Lippenstift. Und plötzlich roch ich ihr Parfüm, das gleiche wie damals, als wir noch zusammen waren, doch jetzt vermischt mit dem Schweiß ihrer Achseln, als trüge sie das Parfüm schon seit Tagen mit sich herum.

Herrgott, ich konnte riechen! Ich wusste, dass die Sinne einem so manche Streiche spielen konnten, stand also auf und gab vor, auf die Toilette zu müssen. Sabrina stand am Tresenende und stapelte das Trinkgeld in unterschiedliche Häufchen. Ich trat hinter sie und beroch ihren Nacken.

„Was soll das?!“, rief Sabrina aus und wich vor mir zurück. Ein Stapel 20 Cent Stücke kippte um.

„Lass mich raten. Shalimar, richtig oder richtig?“

„Shalimar, ja. Aber steck deine Nase gefälligst woanders hin!“

„Ich habe meine Nase wieder! Ich habe meine Nase wieder!“, jubelte ich laut. Sabrina schüttelte den Kopf. Der Mann auf der Terrasse schien seinen Verstand verloren zu haben.

Zum ersten Mal seit unserer Trennung glaubte ich, Nora habhaft zu sein. Vielleicht zum ersten Mal überhaupt. Begann ich erst jetzt, nach all den Jahren, die seit unserer ersten Begegnung vergangen waren, sie zu sehen?

Plötzlich war ich gespannt, wie es mit uns beiden weiterginge. Was sie sonst noch preisgäbe von ihr, vor dem ich bislang die Augen verschlossen hatte. Eilig wusch ich mir in der Toilette die Hände und das Gesicht und hastete an Sabrina vorbei auf die Terrasse. Unser Tisch war leer. Ein junges Paar zwei Tische weiter verglich stolz die Sonnenbräune seiner Arme; ein glatzköpfiger Mann war in die Lektüre seiner Morgenzeitung vertieft; ein kleines Mädchen mit einer dunkelroten Schleife im Haar baumelte ungeduldig mit den kurzen Beinen auf seinem Plastikstuhl herum, während die Mutter „geh zum Teufel, geh zum Teufel“ in ihr Handy stammelte. Die Welt zeigte sich mir, wie ich sie kannte. Nora fehlte mir umso mehr.

 

Zehn Jahre danach

„In der Liebe ist man in jedem Alter ein blutiger Anfänger.“ So steht es in dem Buch, das seit Monaten ausgelesen auf meinem Nachttisch liegt. Warum es sich noch immer dort befindet (bei anderen ist es die Bibel, oder ein nur angelesenes Buch, das mit jeder neuen Seite unweigerlich beim Einschlafen hilft), entgeht mir. Vielleicht ist es der Titel („Une Nuit de l’Erreur“ von Ben Jalloun. Die Geschichte einer Frau, die in derselben Nacht geboren wird, in der ihr Großvater stirbt). Vielleicht ist es aber auch das Titelbild (Auszug aus einem Gemälde), die Seitenansicht einer von der Hüfte an nackten Frau, das Gesicht vom Betrachter abgewandt, und deren gewelltes, langes Haar ihr tief in den Rücken fällt. Doch vielleicht gibt es kein Vielleicht, und das Buch liegt dort, weil kein anderes mich derart an Nora erinnert, und es dort liegen muss, damit ich ihre Nähe spüre.

Ich weiß, das ist Unsinn. Ich weiß aber auch, der Mensch braucht seine Symbolik, seine Metapher, um dem oft aus den Fugen geratenen Leben eine Art roten Faden zu geben, wenn nicht sogar einen Sinn. Ich mache keine Religion aus dieser nostalgischen Anhänglichkeit. Andere Frauen haben in diesem Buch geblättert (ich bestehe nicht darauf, immer auf der gleichen Seite zu schlafen), haben mir Fragen gestellt („Wie ist das Buch?“ „Bist du durch?“), ich habe stets gleichgültig auf sie geantwortet, vorgegeben, ich komme nur schleppend in ihm voran und werde es wahrscheinlich in Bälde gegen ein anderes eintauschen. Einmal hatte eine Nachtbekanntschaft (sehr viel jünger als ich, das heißt nicht so erschlagen wie der japsende Mann, der neben ihr lag) wie eine Sekretärin die Brille aufgesetzt, sich die Haare zusammengebunden und im Schein des Nachtlämpchens ganze dreißig Seiten gelesen (jedes Mal, wenn sie umblätterte, war mir, als klatsche sie mit einem Fliegenfang gegen die Wand). Am anderen Morgen hatte sich mich gefragt, ob ich es ihr ausleihen würde. Ich hatte es – möglicherweise eine Spur zu forsch – abgelehnt. Ohne Begründung. Wir hatten uns nicht wiedergesehen.

Marina ist vor zwei Jahren nach Kolumbien zurückgeflogen. Zu Meryl Streep, von der sie mir auf den drei Postkarten, die ich in sechsmonatigen Abständen erhalten habe, herzliche Grüsse bestellte. Jeremy Irons ist tot. Ein bösartiger Tumor hatte den Vater mit dem Sträflingsgesicht innerhalb weniger Wochen dahingerafft. Marina kümmert sich nun um ihre Schwester und will ein Kind. Mehr konnte ich den gekritzelten Zeilen (in hanebüchener Rechtschreibung) nicht entnehmen.

Elvira hatte sich kurz nach dem Abflug Marinas die Augen operieren lassen und braucht nun keine Brille mehr. Sie arbeitet immer noch in dem Buchladen. Ihre Beziehungen zu den Verlagshäusern schieben mir ab und zu Übersetzungsaufträge zu. Kurz nach der Operation hat sie sich mit einer eifersüchtigen Tiefbauingenieurin liiert, was unserem Verhältnis – ohnehin wackelig, weil Marina fehlte – ein Ende setzte. Zum Andenken hatte Elvira mir die Webadresse eines privaten Pornoservers (Username: ‚Marina’. Passwort: ‚Nora’) gegeben, auf den sie Filmstreifen postet, die sie mit der Tiefbauingenieurin in den akrobatischsten Stellungen und mit den unterschiedlichsten Werkzeugen zeigt (ich hätte nie geglaubt, dass Wäscheklammern als Sextoys Karriere machen könnten). Elvira hat vorgegeben, die Idee zu den Filmstreifen wäre von der Ingenieurin gewesen (deren Vornamen ich einfach nicht behalten will), doch ich kenne Elvira nur zu gut, als dass ich ihr dies vorbehaltlos glaubte. Ich erinnere mich an ihren Vorschlag, das Gemälde von Matisse abzuhängen und dort eine Kamera zu platzieren. Sozusagen den gleichgültigen Blick der Haremsfrau durch eine eiskalte Canon-Linse zu ersetzen, die surrend in sich aufsog, was wir keuchend miteinander trieben. „Nur wenn du deine bombastische Hornbrille aufbehältst“, hatte ich ihr scherzhaft geantwortet. Natürlich hätte ich nie im Leben meinen Matisse abgehängt. Ums Verrecken nicht. Auch er erinnert mich an Nora.

 Ich habe in der Liebe trotz meines Alters nichts hinzugelernt. Wie auch? Ich habe sie weggeschlossen, ein für allemal. Wahrscheinlich bin ich nicht für sie begabt. Ich bin ein einfältiger Dümple, egoistisch bis ins Blut, wenn es mich im Herzen trifft. Besonders, wenn es mich im Herzen trifft. Nein, ausschließlich.

 Ich kann damit leben. Gut sogar. Ein Einbeiniger jammert ja auch nicht jeden Tag, weil ihm eine Gliedmaße fehlt. Oft vergisst er sogar diesen Mangel, und juckt es ihn zuweilen an Stellen, die es nicht mehr gibt, lacht er über sich selbst.

Zudem weiß ich, dass ich damit nicht allein bin. Dass es nur Vereinzelte gibt, deren Herzen nicht enger, sondern größer werden, wenn sie lieben. Wirklich lieben. So groß, dass es unsäglichen Platz bietet für vieles andere und vor allem für jene, in deren Köpfen es regnet, und die dem Schutz der Liebe bedürfen. Und das sind die meisten.

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Texte: Alle Rechte liegen beim Autor
Bildmaterialien: @ Lothar Gunter
Tag der Veröffentlichung: 24.09.2013

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