Heute will ich es wissen. Ich stehe mit Marcia in der Schlange vor dem Museum Granet. „Le Grand Atelier du Midi“ heißt die Ausstellung, die wir uns ansehen wollen. Die Stiftskapelle Saint Malte, die jeden Morgen zu früh in unsere Wohnung hinein läutet, grenzt an das Museum an. Vor uns steht eine amerikanische Großfamilie, ein hochgewachsenes, blondes Ehepaar um die fünfzig mit sechs Jungen, allesamt wie aus dem Ei gepellt. Marcia hat ein Gespräch mit der Mutter begonnen. Sie seien aus Ave Maria, der kürzlich gegründeten Stadt in Florida, nur für Katholiken gebaut, ein Paradies auf Erden, wie die Mutter immer wieder betont, zwei Messen pro Tag, keine Kriminalität, keine Armut, jeder kenne jeden, jeder wüsste, woran er sei und man greife sich gegenseitig unter die Arme. Ja, ein Paradies, stimmt der Vater ein. Die sechs Knirpse sagen nichts.
Unter der prallen Sonne wird die Schlange der Wartenden immer länger, und plötzlich sehe ich, wie ein Pater das schwere Holztor der Stiftskapelle aufdrückt, als wolle er uns das Kapelleninnere zur Besichtigung freigeben.
Ich löse mich aus der Schlange und gehe auf den Geistlichen zu, ein kleiner Mann, dem ein Kreuz an einem Rosenkranz über die graue Kutte auf der Brust hängt.
„Pater, erlauben sie bitte eine Frage. Warum läuten sie jeden Morgen zehn Minuten zu früh?“
Der Mann blickt mich erstaunt an und hebt die Augen zum Himmel, wo gerade die Marssonde nach Gesteinen kraxelt.
„Zu früh wofür?“, fragt er zurück.
„Anstatt um acht Uhr läutet es zehn Minuten vorher. Um zehn vor acht. Drei Mal drei Glockenschläge, dann zwölf Mal kurz hintereinander.“
„Und warum sollte es um acht läuten?“
Ich überlege. “Na, um acht, um neun oder um zwölf, immer zu vollen Stunde, jedenfalls nicht so beliebig zwischendurch.“
„Du verwechselst uns mit den Nachrichten, oder mit der Zeitansage, mein Sohn. Wir haben unsere Gebetszeiten, aber die haben mit der vollen Stunde nichts zu tun.“
Bravo, denke ich mir. Da zerbreche ich mir seit Jahren den Kopf über die zehn Minuten „zu früh“, und nun so was. Mit hängenden Schultern gehe ich zur Schlange zurück. Meine Frau samt amerikanischer Ave Maria-Familie ist inzwischen ein Stück vorwärts gerutscht.
„Guck mal, wie artig die sind“, flüstert mir Marcia zu und nickt zu den sechs Sprösslingen, die in Reih und Glied hinter ihre Eltern hertrippeln. „Hast du das gewusst, das mit der Stadt Ave-Maria? Eigens für Katholiken gebaut. Sie sind erst fünfhundert, wollen aber in den kommenden Jahren auf zwanzigtausend anwachsen. Stell dir mal vor. Alles so brave Katholiken. Keine Diebstähle, keine Verbrechen! Und jede Familie hat mindestens fünf Kinder.“
„Friede Butter Eierkuchen“, entfährt es mir. „Seit wann denkst du denn katholisch?“
„Tue ich nicht“, sagt sie etwas pikiert. „Aber so was beeindruckt doch. Dich etwa nicht?“
„Du würdest in Ave Maria vor Langeweile wie eine Primel eingehen;“
„Besser an Langeweile eingehen als auf der Straße zusammengeschlagen und vergewaltigt zu werden, das sag ich dir.“
„Das ist dir bislang noch nie passiert.“
„Gott sei Dank!“, ruft sie aus. „Aber man hört doch so allerlei. Außerdem, neunundneunzig Mal geht’s gut, und einmal nicht. Und das reicht. Denn dann ist es zu spät.“
„Ach, Marcia.“
„Ach Marcia!“, äfft sie mich nach. „Und was ist gestern in Nizza passiert? Schon wieder ein Juwelierladen ausgeraubt.“
„Und der Besitzer ist den Ganoven nach und hat einem von beiden auf der Flucht in den Rücken geschossen. Tot. Fertig aus“
„Recht ist diesem Gauner geschehen. Hat’s nicht anders verdient.“
„Selbstjustiz nennt man das, meine Liebe. Das wird bestraft.“
„Na und? Was bleibt uns denn anderes übrig?“
„Uns? Marcia, wir haben keinen Juwelierladen, du und ich. Was geht uns dann an, was in Nizza mit einem solchen passiert?!“
„Ja, ja, mach nur die Augen zu und schlaf weiter. Was um dich herum geschieht, war dir eh immer egal.“
„Ach Marcia.“
„Was wolltest du denn von dem Pater vorhin?“
„Wegen den zehn Minuten. Ich hab gefragt, warum es nicht um punkt acht läutet.“
„Und?“
Ich zucke die Schultern. „Nichts und. Die Glocken läuten zur Andacht, und nicht zur vollen Stunde.“
„Ja, aber warum zehn Minuten zu früh?“
„Zu früh wofür?“
„Senne, jetzt tue doch nicht so, als wenn dich das nicht auch aufgeregt hätte. Nicht mal auf die Glocken kann man sich in diesem Land verlassen.“
„Weißt du, wie lange ein Bild von der Sonde auf dem Mars zur Erdstation braucht?“
„Von welcher Sonde?“
„Na von der, die auf dem Mars rumkraxelt und Steinproben sammelt.“
„„Macht die das?“
„Ja, die macht das. Zehn Minuten!“
„Zehn Minuten wofür?“
„Ein Bild braucht zehn Minuten, bis es vom Mars zur Erde gelangt.“
„Ja und?“
„Mensch Marcia, verstehst du das nicht? Wenn die Nasaheinis auf ihren Bildschirmen die Sonde auf dem Mars sehen, dann ist es vielleicht schon zu spät!“
„Was redest du da?“ Sie blickt zu mir hoch und tätschelt meine Wange. „Weißt du was? Du solltest dich ne Weile in den Schatten stellen.“
„Ich brauch keinen Schatten! Was die Naseheinis auf dem Bildschirm sehen, gibt es vielleicht gar nicht mehr. Die Sonde wurde vielleicht inzwischen von einem Steinschlag zertrümmert oder ist in einen Marsspalte abgestürzt.“
„Komm, geh da unter die Zypresse. Ich ruf dich, wenn wir an der Reihe sind. Ich werd dieweil mit unseren amerikanischen Freunden sprechen. Vielleicht laden sie uns nach Ave Maria ein.“
Unter der Zypresse mit dem müden Grün steht eine kleine Fontäne, in welche die Touristen, weiß der Himmel warum, Münzen werfen, die nun einfarbig rostig auf dem Brunnengrund liegen. Ich tauche ein Papiertaschentuch ins Wasser und klatsche es mir in den Nacken. Plötzlich habe ich keine Lust mehr auf Picasso, Matisse, Cézanne und Konsorten. Auf den Katalog, der uns ein Heidengeld kosten und den Marcia staubfrei halten und auf die Anrichte in der Wohnstube legen, was sag ich, „posieren“ wird, damit unser Besuch sieht, wir waren im Museum. Mein Gott, wie klein doch das alles hier ist, denke ich, so klein, so bieder und spießig wie ich selbst. Und meine Frau träumt von Ave Maria, irgendwo östlich von Miami, wo es keine Pariser gibt, keine Abtreibungen, kein Bier, kein Haschisch, wo die Kinder auch wochentags Sonntagskleidung tragen und tapfere Studenten nachts mit dem Fahrrad, auf dessen Lenkrad ein Jesusbild thront, auf Streife fahren statt die Sau rauszulassen. Mein Gott, so weit entfernt, und noch spießiger und langweiliger als hier, stöhne ich in mich hinein.
„Was ist so weit entfernt und spießig?“, fragt eine junge Stimme neben mir. Ich muss wohl laut gedacht haben und drehe mich zu der Stimme um.
„Der Mars“, antworte ich der jungen Frau von dem anderen Stern, denn so hübsch kann kein Erdenmensch sein.
„Doch, doch,“ antwortet sie mir und lächelt mich an. „Aber trotzdem, Danke für das Kompliment.“
Die Sonne, denke ich, die Sonne hat mir das Hirn verbrannt. Zerstreut nehme ich mir vom Nacken, was von dem Papiertaschentuch nicht über den Rücken in meine Hose gelaufen ist. Nasse Papierfetzen sabbern an meinen Fingern, eklig das Ganze, doch die junge Frau lächelt immer noch.
„Ist ja nur aufgeweichtes Papier. Nun, was ist mit dem Mars?“
„Der ist weit entfernt. So weit und so leer. Und so langweilig.
„Und was hat es mit den zehn Minuten auf sich?“
„Die Glocken“, stammle ich. „Die Glocken läuten zehn Minuten zu früh. Nein, nicht zu früh“, berichtige ich mich, „nur vor der Zeit.“
„Und der Mars?“
„Wenn ich an den Mars denke, brauchen meine Gedanken zehn Minuten, bis sie dort angelangen. Anders gesagt – es ist schon alles geschehen, bevor ich irgendwas Tatsächliches denken und bewirken kann. Ich bin in Wirklichkeit immer zu spät, denn alles war schon vor mir da.“ Und deshalb werde ich nie etwas ändern, sondern immer dem, was schon ist, ähnlicher werden, geht es mir durch den Kopf. Ähnlicher, spießiger und langweiliger. Basta.
„Mein lieber Scholli“, ruft die junge Frau aus. „Soll ich ihnen eine Peitsche besorgen, mit der sie sich so richtig bestrafen können?“
„Wieso mich bestrafen? Ich bin von Geburt aus nicht langweilig. Denke ich jedenfalls. Ich bin es geworden. Spießig und langweilig. Ich bin ein Ergebnis des Lebens, ja, so verhält es sich.“
„Armer Mann.“
„Sie haben gut Reden. Passen sie nur auf, dass es ihnen nicht auch so ergeht. Sie haben das ganze Leben ja noch vor sich.“
„Woher wissen sie das?“
„Ich bin nicht blind.“
„Und wenn uns nur zehn Minuten trennten? Zehn lächerliche Minuten? Noch ist es nicht zu spät. Reißen sie sich aus der Umlaufbahn heraus und werden sie unberechenbar. Für keinen und niemanden. Jetzt oder nie!“
„Mit wem redest du da?“ Marcia steht neben mir und legt ihre Hand auf meine Stirn. „Hast du Fieber? Ich hab dich gerufen, warum hast du nicht geantwortet?“
„Marcia, ich kündige!“
„Was heißt das, du kündigst? Wir haben unseren Eintritt versäumt und müssen uns wieder hinten anstellen.“
„Hinten anstellen? Das ganze Leben haben wir uns hinten angestellt. Das geht mir zu weit. Ich kündige, fertig aus!“
„Wem kündigst Du? Dem Arbeitsamt?“
„Egal, ich kündige. Lass uns fortgehen.“
„Senne, fortgehen wohin, wovon?“
„Von hier, Von allem.“
„Jessus Maria!“
„Nix mit Maria. In dieses Katholikendorf der Amis kriegen mich keine zehn Pferde.“
„Jessus Maria!!“
Marcia springt von mir weg auf einen Körper zu, der leblos einige Meter vom Brunnen entfernt auf den Pflastersteinen liegt. Sie beugt sich zu ihm herunter, richtet sich wieder auf und wedelt wild mit den Armen. „Einen Krankenwagen!“, schreit sie. „Ruft einen Krankenwagen!“ Irgendwie weiß ich, was ich sehen werde. Ich erhebe mich und gehe auf den Körper und Marcia zu. Eine junge Frau liegt meiner Frau zu Füssen, die Augen verdreht, das dichte, braune Haar wie ein Kissen unter ihrem Kopf. Marcia ist in Panik, weiß nicht, was sie anstellen soll, außer immer wieder nach einem Arzt und einem Krankenwagen zu rufen. Mittlerweile sind wir von neugierigen Gaffern umringt. Zwei Museumswärter versuchen, in das plötzlich ausgebrochene Menschenchaos Ordnung zu bringen, zumindest einen Zugang zu schaffen für den Krankenwagen, dessen Martinshorn immer lauter wird. Ich knie neben der jungen Frau nieder und nehme ihre Hand. Sie ist warm, trocken und weich. Ich drücke sie, will sie nicht mehr loslassen, selbst als die Sanitäter mich von ihr wegzerren wollen und Marcia lauthals an meine Vernunft appelliert, halte ich ihre Hand, bis ich endlich weiß, es ist nicht zu spät.
Tag der Veröffentlichung: 14.09.2013
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Beitrag zum 58. Wortspiel