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Der Mörder ist immer der Gärtner

Marseille, 2. Februar 1994. Omar Raddad, ein marokkanischer Gärtner, wird für den Mord an einer reichen Witwe, für die er gearbeitet hatte, zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt. Während des Prozesses gibt es zahlreiche Hinweise darauf, dass die Ermittlungen nicht korrekt durchgeführt wurden. So wurden der Zeitpunkt der Tat verändert, keine Fingerabdrücke am Tatort genommen, der Leichnam verdächtig hastig eingeäschert und ein Zeuge, der Omar Raddad hätte entlasten können, verschwand. Doch all das reichte nicht aus, um ein selbstgefälliges Justizsystem umzustimmen, das in nicht geringem Maße rassistisch ist und unfähig, eigene Fehler einzugestehen. (Synopsis des Films „Omar m’a tuer“ (2011))

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 Marseille, 2. September 2013.Er steht auf dem Bahnsteig und wartet. Die Hände baumeln an seinen dürren Schenkeln, eine dünne Windjacke, deren Reißverschluss geöffnet ist, ist ihm zu weit. Seine Haut ist matt, auf dem schmalen Kopf trägt er das mittlerweile graumelierte Haar kurzgeschnitten und nach hinten gekämmt. Ich sehe eine hohe Stirn, einen langen Hals, einen Oberlippenbart, wie damals schon. Keine fünf Meter stehe ich von ihm entfernt, ich will den Zug nehmen, auf den offenbar auch er wartet. Mir ist es unangenehm, dass mein Blick immer wieder zu ihm hinüber will. Wir sind nicht allein auf dem Bahnsteig. Zig andere schauen ungeduldig auf die Bahnuhr, auf das Schild mit der Gleisnummer, auf ihn. Er muss es spüren, vielleicht ist er es gewohnt, dass er die Blicke anderer auf sich zieht, vielleicht will er wie immer im Boden versinken, oder einfach davon laufen, oder vielleicht sagt er sich, jetzt erst recht, ihr könnt mich alle mal. Oder vielleicht sagt er sich gar nichts von alledem und hat sich von der Zeit immunisieren lassen gegen den öffentlichen, verstohlenen Blick. Ich weiß es nicht.

„Omar m’a tuer“ (Omar hat mich getöten) ist einer der berühmtesten, falsch geschriebenen Sätze der französischen Rechtsgeschichte. Am 23. Juni 1991 von dem dahinsiechenden Opfer mit Blut an die Tür eines Weinkellers geschrieben. So jedenfalls wollte es die Rekonstruktion des Tathergangs: Das Opfer liegt in den letzten Zügen, taucht den Zeigefinger in das eigene Blut und schmiert mit diesem Omars grammatikalisch falsch formulierte Beschuldigung an die Weinkellertür. Name des Opfers: Ghislaine Marchal, eine 65jährige, wohlhabende Witwe. Der vermeintliche Mörder: Omar Raddad, 28 Jahre jung, verheiratet mit Latifa, mit der er zwei kleine Kinder hat. Ein marokkanischer Gärtner, der bei der Ermordeten seit fünf Jahren in Diensten stand. Der Tatort: Mougins, eine mittelalterliche provenzalische Postkartenkleinstadt mit roten Ziegeldächern, Pinien, Zedern und grünen Eichen, wo von Juni bis September die Zikaden zirpen, und die wenigen Einwohner in der bebenden Hitze ihren Mittagsschlaf halten.

Die Tat liegt nun schon fast zwanzig Jahre zurück. Mougins kenne ich nur als Ausfahrtschild auf der Autobahn A8, die zum Flughafen von Nizza führt. Ich versuche, mich an den Prozess zu erinnern, der damals (1994) tagtäglich und über Wochen hinweg durch alle Medien ging.

Kann ich natürlich nicht. Jedenfalls nicht im Detail. Nach so langer Zeit sind mir lediglich die „Rübe-ab“ Kommentare geblieben, von aufgebrachten Passanten in die gestreckten Mikros gesprochen; die Statements des zwielichtigen Staranwalts Jacques Vergès, dem Freund Pol-Pots, dem Klaus Barbie- und Carlos-Verteidiger, der von einem zum Himmel schreienden Justizskandal sprach, weil serienweise Ermittlungsfehler begangen worden seien; an den Urteilsspruch (18 Jahre), trotz fehlender, zum Teil getürkter Indizien (einziger Beweis: der blutige Satz mit Omars Namen); an die abgelehnten Revisionsanträge, an die Teilbegnadigung durch den Präsidenten Chirac (vier Jahre und acht Monate statt 18 Jahre); an die darauf folgende Entlassung Omar Raddads (1998), an den erneuten Medienwirbel um den schmächtigen, marokkanischen Gärtner („nun läuft ein Mörder unter uns frei herum“), dem, was immer er trug, die Kleidung am Leib schlotterte, der in den Talkshows nicht wusste, was er mit den Händen anstellen sollte, der nach seiner Entlassung auch kein Gärtner mehr sein durfte (Auflage des Gerichts), sondern Konserven für eine Fleischfabrik ausfahren musste.

Zehn Bücher sind über diesen Fall geschrieben worden. Vier abendfüllende TV-Magazine haben ihn im Stil „Aktenzeichen XY“ neu aufgerollt, alle Fakten wurden für uns wissbegierige Zuschauer umgestülpt, neu beleuchtet, bis schließlich möglich gewordene DNA-Analysen des blutigen Satzes „Omar m’a tuer“ einwandfrei ergaben, dass es in dem Blut zwei verschiedene genetische Fingerabdrücke gab – von dem Opfer natürlich, aber auch eine weitere, männliche. Diese stimmte nicht mit der DNA Omar Raddads überein, was dessen erwiesene Unschuld nahelegte und die Neuaufnahme des Prozesses durch das Revisionsgericht in greifbare Nähe rückte.

Omar Raddad schien endlich ans Ziel gelangt zu sein. Seine Freiheit nicht durch einen gnädigen Teilerlass eines Staatsoberhauptes zu erlangen, sondern vor aller Welt von dem Gericht seine Unschuld bewiesen zu bekommen, damit er endlich erhobenen Hauptes durch die Straßen gehen kann.

Entgegen aller aufblühenden Hoffnungen ist es zu einer neuen Verhandlung nicht gekommen. Der Fall wurde 2011 ein für allemal zu Grabe getragen, weil, wie das Revisionsgericht befand, keiner der genetischen Abdrücke mehr zu verwerten sei, so sehr sei an ihnen herumgepfuscht worden. Ein Prozesswiederaufnahme und somit ein möglicher Freispruch wegen erwiesener Unschuld sei deshalb schlicht unmöglich. Omar Raddad bleibt schuldig frei, und die französische Justiz hat ihr Gesicht gewahrt. Was zählen schon Leben, Ruf und Selbstachtung eines schmächtigen marokkanischen Gärtners, der Französisch zudem nur radebricht? 

Der Mann, der keine fünf Meter von mir entfernt auf dem Bahnsteig steht, muss die Hölle durchgemacht haben. Verhaftung, Vernehmung, Verhandlung, Urteil und sieben Jahre Haft, davon vier in einer französischen Strafanstalt, wo Witwenmörder und Kinderschänder (obendrein nordafrikanischer Herkunft) die sexuellen Haustiere aller Mithäftlinge sind. Hungerstreik und Selbstmordversuch liegen hinter ihm, er hat mit Hilfe eines Journalisten ein Buch geschrieben („Pourquoi moi?“ – Warum ich?). 2011 ist sein Fall verfilmt worden.

Die Medien haben zwischen unsere Netzhaut und die Wirklichkeit eine solche Distanz geschoben, dass sie, die Wirklichkeit, zu einem künstlichen Schauspiel wird, wo es anstatt realer Menschen nur Akteure gibt, denen wir, die bequem in unseren Sesseln sitzen, zuschauen oder sie wegdrücken, wenn sie beginnen, unbehaglich zu werden oder wenn das Abendessen ruft.

Dass ich neben dem mittlerweile gealterten Omar Raddad stehe, kann ich nicht wegdrücken. Gewissenmassen hat mich die Wirklichkeit eingeholt, sie steht in Fleisch und Blut keine fünf Schritte von mir entfernt. Ein Mensch, ein wirklicher, keine Fernseh- oder Romanfigur. Wir blicken gemeinsam in Marseille auf einem Bahnsteig dem einfahrenden Zug entgegen. Ich habe mir niemals im Leben etwas zuschulden kommen lassen, geht es mir durch den Kopf. Wie einfach das Leben doch ist, zumindest in dieser Hinsicht! Ich begehe nichts Schlimmes, und schon gehört die Freiheit mir. Und wenn ich eines Tages zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort sein sollte, wird der Rechtsstaat seine beschützende Hand über mich legen, dessen bin ich mir sicher. Ob das für jeden von uns gilt?

Omar Raddads Schuld besteht darin, dass seine Unschuld nicht bewiesen werden kann. Dafür erntet er noch heute verstohlene Blicke. Wo Rauch ist, ist auch Feuer, sagt der Volksmund. Für ihn ist Omars Unschuld wie dessen Windjacke – sie ist ihm zu weit, sie passt ihm nicht, sie passt nicht zu jemand wie ihn. So mag es sich auch mit seiner Freiheit verhalten: er darf sich in ihr bewegen, sie jedoch niemals sein eigen nennen. Im Kopf wird Omar Raddad das Leben lang ein Freigänger bleiben.

 

Impressum

Bildmaterialien: Plakat zum Film "Omar m'a tuer" (Auszug)
Tag der Veröffentlichung: 04.09.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Beitrag zum KG-Wettbewerb "Der Schein trügt" (September 2013)

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