Hier hatten ihn alle vor gar nicht langer Zeit Lari gerufen. Einfach Lari. Bei den Gartenfesten hieß er einen Tag lang „Lari, der Blumenkohlkönig“. Oder „Lari, der Rettichhengst“. Oder „Lari, der Spargelprinz“. Nur Kurt, der einarmige Frisör, dessen Tomaten es nie zu der Faustdicke von Laris Schattengewächsen gebracht hatten, hatte sich zum Spitznamen Larifari vorgewagt, ihn den angeberischen Quasselkönig der Laubenkolonie genannt. Neid eines Mannes, dem ein Gliedmaß fehlte in einer Welt, die für Zweibeiner und Zweiarmige geschaffen war. Das konnte Lari verstehen.
Doch für Paul nebst Anhang, und Erwin nebst Anhang, und Klaus und Hans, die beiden hartgesottenen Junggesellen von den benachbarten Parzellen war Lari ein Künstler. Denn Laris Beete hatten nichts von der preußischen Ordnung der übrigen Parzellen. Hülsenfrüchte, Blatt- und Frucht-, Gewürz-, Wurzel-, Zwiebel-, und vor allem Kohlgemüse wuchsen, nein, wucherten quer durch den Garten und hatten doch ihren ihnen eigenen Platz. Ihren Beetplatz, wie Lari erklärte, wenn er nach dem wöchentlichen Herrenabend mit seinen Kegel- und Laubenbrüdern über Gartengeheimnisse plauderte. Lari betete sein Gemüse an. Wenn er noch im Morgengrauen als Erster das Tor zur Kolonie aufschloss und seinen rostigen Drahtesel über den knirschenden Kieselsteinweg zu seiner Parzelle schob, sich dort mitten zwischen seine Zöglinge auf einen niedrigen Hocker setzte und seinen Kohl, seine Zwiebeln, seinen Lauch, seine Möhren und Ingwergewächse murmelnd anflehte, zur Pracht zu gedeihen.
Lari war die wilde, aber üppige Unordnung des Gartens an sein verwitwetes Herz gewachsen. Aus ihm bezog das kräftige Grünzeug seinen einigartigen Geschmack und erlaubte ihm, jeden Samstagmorgen am Flussufer auf dem Flohmarkt zwischen zerfledderten Comics, gebrauchten Radiogeräten, alten Türschlössern und Secondhand-Kleidern kiloweise seine erbärmliche Rente aufzubessern. Einen trefflicheren Ort, sein Gemüse an den Mann zu bringen, würde es nie geben, dessen war Lari sicher..
An einem dieser Samstage fand sich Lari mit seinen überquellenden Kisten in der Nachbarschaft eines asiatischen Kornhändlers wieder, der neben Müslizutaten auch kleine Tütchen mit seltsamem Samengut anbot. Der kleine Chinese mit dem dünnen Zwirbelbart plapperte in einer hellen Sopranstimme wie ein exotischer Papagei auf die flanierenden Spaziergänger ein. Diese belächelten den Asiaten nur und ließen dessen Auslagen links liegen. Lari tat dieser kleine Mensch leid. Als sich das Gemüse in seinen Kisten lichtete und die Sonne bereits nahe am Zenit stand, hatte der Chinese immer noch kein einziges Korn verkauft. Entschlossen packte Lari den letzten Weißkohl am Schopf und bot ihn dem Chinesen an.
Dieser verbeugte sich vor ihm und gab ihm mit einer einladenden Geste zu verstehen, er hätte in seinem Kornsortiment die Wahl. Lari, dessen kulinarisches Leben ganz und gar aus selbstangebautem Gemüse bestand und der sich daher aus Müsli nichts machte, ergriff mit spitzen Fingern wahllos eines der dünnen, mit chinesischen Zeichen beschriftete Tütchen. Erst in seiner Laube begutachtete Lari das Ergebnis seines Tausches. Von der fernöstlichen Kaligraphie verstand er kein einziges Wort..
Am Abend bohrte Lari mit dem rechten Zeigefinger neben dem Stachelbeerstrauch ein Loch in den lockeren Boden. Er riss eine kleine Ecke des Papiertütchens ab und schüttete vorsichtig ein Samenkorn in das winzige Loch. Er ahnte nicht, dass er hiermit den Grundstein zu seinem Elend gelegt hatte.
Zwei Wochen gingen ins Land. Lari kümmerte sich wie gehabt um seine geliebten Pflanzungen, jätete Unkraut, gewann im Skat, punktete beim Kegeln, flirtete mit Anna, der pummeligen Bedienung und goss spät am Abend mit seiner bulligen Zinngießkanne die Beete, wonach er als Letzter die Kolonie verließ. Um am Morgen erneut das Zauberreich der Düfte zu genießen, wenn er auf dem Hocker seine Beete beschwor, ihr Bestes zu geben. Das Tütchen, die Saat und der Chinese waren gänzlich in Vergessenheit geraten.
An einem Morgen – es hatte die ganze Nacht über schleusenartig geregnet - bemerkte Lari an eben jener vergessenen Stelle neben dem Stachelbeerstrauch etwas, was er zunächst für Kaugummipapier hielt. Er bückte sich und wollte es aufheben, als er jedoch an dem Papierfetzen zog, spürte er einen Widerstand, als hielte ihn eine unsichtbare Hand in der Erde zurück.
Lari kniete neben den Stachelbeerstrauch nieder und blies die Erdkrumen von dem Papierstück. Was er sah, nahm ihm den Atem. Kein Zweifel, ein 5-Euroschein steckte in der Erde unter den Stachelbeeren. Er konnte deutlich die Ziffer erkennen, der Schein ragte zu einem Drittel zu ihm herauf, er versuchte zaghaft, erneut an ihm zu ziehen, doch der Schein, noch metallen steif, gab nicht nach und blieb der Erde verbunden.
Lari richtete sich auf und strich sich die Haare aus der Stirn. Unfassbar! Auf seinem Boden, in seinem Garten wuchs Geld! Bares Geld! Natürliches Geld! In Laris Kopf ratterten die Schaltstellen. Der chinesische Winzling. Sein großzügiger Weißkohl. Die Samentüte. Das Fingerloch. Das begnadete Samenkorn. Das Ende seines armseligen Rentnerdaseins. Der überraschende, aber verdiente Wohlstand!
Das Folgende spielte sich wie in einem Zeitraffer ab. Lari stürzte in die Laube und suchte panisch das fahrlässig weggelegte Samentütchen. Er fand es, als Lesezeichen in ein Gärtnerhandbuch geklemmt, das er vor Tagen nach Anweisungen für den Anbau vietnamesischen Kohlrabis durchforstet hatte. Mit zitternden Fingern riss er das Tütchen gänzlich auf und schüttelte den Inhalt in seine hohle Hand. Neununddreißig Samenkörnchen zählte er ab, eins nach dem anderen, was summa summarum zweihundert Euro ergab, wenn ihm gelang, was ihm sogleich vor Augen schwebte. Alles in Allem eine bescheidene Ernte. Doch wer sagte denn, dass in jedem Körnchen nur 5 Euro steckten? Warum nicht zehn, zwanzig, hundert oder gar fünfhundert? Und vielleicht, überlegte er, würde der 5-Euroschein im Laufe des Wachstums zu einem Hunderter mutieren? Wer weiß, wo ein Wunder gedieh, war sicherlich noch Platz für ein weiteres.
In dieser Hoffnung riss Lari entschlossen die vier Stachelbeersträucher aus, grub die Erde um und harkte mit einer Sorgfalt, als wollte er etwas ungeschehen machen. Anschließend steckte er in regelmäßigen Abständen den bewährten Zeigefinger neununddreißig Mal in die Erde und ließ in jedes Loch ein Samenkörnchen ein. So muss Gott die Welt erschaffen haben, flüsterte Lari und fasste einen Plan. Es war Freitag. Am kommenden Tag würde er am Flussufer den Chinesen suchen und dessen Vorrat aufkaufen, das musste sein, wobei ihn sogleich die Furcht beschlich, andere hätten es im gleich getan und spekulierten nun wie er mit dem Geldsegen. Geteiltes Leid mochte vielleicht halbes Leid sein, ein geteiltes Wunder jedoch gab es nicht, sonst wäre es kein Wunder mehr. Zu der Furcht gesellte sich ein anderes Gefühl, eines, das er seit langer Zeit nicht gespürt hatte. Misstrauen. Er misstraute den Blicken seiner Parzellennachbarn, die ihm über die niedrigen Zäune hinweg zuwinkten und, wie ihm schien, auf freundschaftlich gutmütig machten, wobei sich die Schurken sicherlich ihren Teil gedacht hatten, als er die Stachelbeersträucher mit den Beeren auf einen Haufen geworfen und die Erde platt geharkt hatte. Scheinheilig winkte er zurück. Morgen würde er den restlichen Tütenbestand aufkaufen. Morgen würde er beginnen, seinen Garten vor neidischen Augen zu schützen. Nein, dieses Wunder wollte er nicht teilen. Mit niemandem.
Am Samstagmorgen holte er sich den Rest seines Guthabens aus dem Geldautomaten und strampelte schnurstracks auf seinem Drahtesel ans Flussufer, dieses Mal – zum ersten Mal – ohne seinen mit Gemüsekisten beladenen, tiefliegenden Handwagenanhänger. Wann war er zuletzt so beschwingt, so leichtfüßig gewesen? Selbstsicher steuerte er seinen Drahtesel durch die flanierende Flohmarktmenge, bis er neben einem Currywurststand den Zwirbelbart seines kleinen Chinesen erblickte, der gerade mit einer Handschaufel Körner in Papptüten abfüllte, sie einem jungen Paar reichte und sich vor diesem, als sie ihm einen Geldschein entgegenstreckten, dankbar verneigte. Lari wartete, bis der Chinese allein war. Er stellte sein Fahrrad an einem anderen Stand ab, verkettete das Vorderrad und ging gelassen auf den Chinesen zu, der ihn, wie es schien, lächelnd erwartet hatte. Lari wollte seine Erregung nicht an den Tag legen, sie würde unnötig den Preis in die Höhe treiben. Zudem wusste er um die geschichtliche Handelstradition der Chinesen, schlitzäugige, durchtriebene Füchse waren es, die selbst auf den entlegensten Orten des Erdballs ihre zwielichtigen Geschäfte betrieben, obschon dieser hier nicht gerade von Kunden gestürmt wurde, beruhigte Lari sich. Er zeigte sich zunächst an einer Müslimischung interessiert, wies mit der Hand erst auf diese Zutaten, dann auf jene, und während der Chinese mit seiner Sopranstimme fröhlich vor sich hin schnatterte und eine Papptüte füllte, schielte Lari auf die hintere Auslage, der er vor Wochen das Papiertütchen mit dem Wundersamen entnommen hatte. Erleichtert stellte er fest, dass es sie immer noch gab. Wie viele mochten es sein? Hundert, zweihundert? Plötzlich war er sich nicht sicher, genügend Geld bei sich zu tragen. Der Chinese blickte ihn bereits erwartungsvoll an, wohl in der Hoffnung auf weitere Wünsche. Lari deutete mit der rechten Hand auf die Tütchen hinter dem kleinen Mann. Dieser drehte sich um, nahm die ganze Kiste und stellte sie vor Lari ab. „Wählen Sie aus“, piepste er auf Chinesisch. Lari griff in die Brusttasche seines Jacketts und zog das Bündel mit den Geldscheinen hervor.
„Wie viel? Für das alles hier?“, fragte er gewichtig. Erschrocken wich der Chinese einen Schritt zurück, die Augen aufgerissen, als hätte Lari eine Pistole auf ihn gerichtet. Dann fasste er sich rasch, seine Augen nahmen die gewohnten Formen an, und an beiden Händen streckten sich sieben Finger.
„Sieben Euro?“
Kopfschütteln.
„Siebzig?“
Kopfschütteln.
„Ah, Du Schlitzauge, siebenhundert willst Du für dieses Gemüse.“
Kopfnicken.
Lari befeuchtete mit der Zunge seinen Zeigefinger und zählte in Kassierermanier die verhandelte Summe ab. Flink wie ein Wiesel ergriff der Chinese die Scheine, wonach Lari zufrieden das restliche Geld in seine Brusttasche zurücksteckte und sich die Kiste unter den Arm klemmte. Als er das Schloss an seinem Vorderrad öffnete und er in seinem Rücken das fröhliche Sopranschnattern des Chinesen vernahm, drehte er sich ein letztes Mal zu ihm um. Der kleine Mann winkte ihm zu und schien, irgendwie, gewachsen zu sein.
Die darauffolgenden Wochen vergingen wie im Flug. Lari, der sich auf einem Zettel eine Liste mit Dingen notiert hatte, die es der Reihe nach zu verrichten galt, arbeitete wie ein Berserker. Mit dem verbliebenen Geld hatte er auf dem Baumarkt alles Nötige eingekauft, um seine Parzelle in Fort Knox zu verwandeln. Mannshohe, undurchsichtige Schutzwälle aus zentimeterdicken Hartgummiplastik; Stacheldrahtrollen, ein zwei Meter hohes Gartentor aus Metall, eine elektrische Warnanlage und, last but not least, ein Jagdgewehr, mit dem er Wildschweine vertreiben wollte, wie er dem neugierenden Verkäufer im Waffengeschäft erklärt hatte.
In Sachen Eurozucht hatte er etwas Wichtiges gelernt. Geduld. Er hatte, als die neununddreißig Körnchen mit ihren Papierköpfen zaghaft aus der Erde hervorlugten, kräftig an dem ersten Fünf-Euroschein gezogen. Zu früh, wie sich herausstellte, denn das untere Drittel des ansonsten erwachsenen Scheins, den er nun in der Hand hielt, war nicht mehr als ein sehniger, unfertiger Unterleib. Mit zwei Dritteln eines Geldscheins war nicht viel Staat zu machen, das hatte Lari eingesehen und den Schein in der vagen Hoffnung auf ein weiteres Wunder in die Erde zurück gebuddelt. Wer weiß, vielleicht würde aus ihm ja ein Zwanziger werden?
Wie auch immer - trotz dieses Vergrößerungsversuches blieb ihm eines weitgehend unklar. Wie sollte sich das in der Erde gewachsene Geld vermehren? Woher hatte der Chinese die Saat, womit gewann man sie? Jetzt, wo er den Beweis vor sich sah, dass Geld etwas Organisches war, stand für ihn fest, dass es auch bei diesen Scheinen einen Überlebenstrieb geben musste, quasi zur Erhaltung und Fortpflanzung der eigenen Gattung. Geld war in seinem Leben bislang eine Mangelware, man hatte es ihm wie einem kränkelnden Patienten tröpfchenweise eingeflösst, um es ihm auf gleichem Wege wieder auszutreiben. Übrig blieb selten etwas. Und nun lag Geld mit einem Male in der Natur der Sache, hier in seiner Erde und wollte, so wie er es mit seiner verstorbenen Frau versucht hatte und wie es jedes Lebewesen tat, vermehrt werden. Er wusste noch nicht, wie er es anstellen sollte. Fest stand lediglich, dass er nicht blauäugig darauf hoffen konnte, der chinesische Winzling stünde auf immer bereit, um ihm Gottes Samen zu verkaufen!
Das Tabula Rasa seiner Gemüsepflanzen erwies sich schwieriger als gedacht. Er hatte im Fernsehen gesehen, wie ganze Amazonaswälder gerodet wurden, mit Menschenaufwand, gewaltigen Maschinen und Feuerbrünsten, um freie Flächen für künftige Plantagen zu schaffen. So konnte dies bei Lari natürlich nicht geschehen, denn zum einen war er allein auf weiter Flur, zum anderen überkam ihn, während er die herausgerissenen Kürbisse, Weißkohlköpfe, Erdbeerpflanzen, den Fenchel, die Rettiche, den Spargel, die Artischocken, den Knoblauch und die Zwiebeln zu einem Turm in der Mitte des Gartens anhäufte, eine Art Reue, ja ein tiefer Seelenschmerz, als verginge er sich an sich selbst oder täte seinen eigenen Kindern Leid an.
Doch schließlich war auch dies geschafft. Der Turm in der Mitte des Gartens reichte ihm bis zum Kopf, Umgraben und Harken der Erde verlangten einen letzten, mächtigen Kraftaufwand, bis schliesslich niemand mehr hätte erahnen können, dass an dieser Stelle einmal ein prächtiger englischer Gemüsegarten gediehen war.
Mit dem Stil eines Holzkochlöffels drückte er alsdann vierhundert Löcher in die Erde – es waren mehr Tüten als erhofft-, und nachdem er eines nach dem anderen mit einem Samenkörnchen beglückt hatte, blieben nur noch vier Dinge zu tun: wachen, warten, gießen und letztendlich ernten.
Ausgeschlossen, an den wöchentlichen Skatabenden teilzunehmen oder mit den anderen die alberne Kegelkugel zu schieben. Von seinen Parzellennachbarn hatte er im Übrigen schon seit Monaten niemanden gesehen, geschweige denn gesprochen. Und das war gut so. Was sie über ihn, der hinter hohen Mauern sein Unwesen trieb, dachten, war ihm egal. Er hatte nun ein höheres Ziel als das der platten Begegnung mit Menschen. Welches Ziel, war ihm zwar zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar, doch wenn er eines Tages mit seinen Geldscheinen sein Coming Out wagte, würden sie verstehen, und ihn beneiden, so viel stand für Lari fest.
Dergestalt verbarrikadierte er sich in seinem Schrebergarten, Tag um Tag. Nachts saß er auf seinem Hocker, das Jagdgewehr auf den Knien, und lauschte in die Schwärze hinein. Manchmal vernahm er vor seinem Gartentor ein Flüstern und Tuscheln. Einmal hörte er sogar – er meinte die Stimme des einarmigen Kurt zu erkennen – seinen Spitznamen rufen. „Larifari! Larifari!“ Sollte er sich doch über ihn lustig machen! Er würde sich nicht zerstreuen lassen, er würde auf seinen Schatz aufpassen, wie auf seinen – wie sagte man? – wie auf seinen Augapfel. Wenn er trotzdem gegen seinen Willen einnickte und plötzlich mit einem Ruck erwachte, entschuldigte er seine Unachtsamkeit, indem er sich sagte, sogar der Schlaf machte ihn reich.
Morgens, wenn er sich die Müdigkeit aus dem Körper räkelte, und er sich auf die Andacht vorbereitete, mit der er seinen Scheine zum Wachstum verhelfen wollte, bemerkte er, wie sich sein aufgehäufter Gemüseberg immer schneller in einen Komposthaufen verwandelte, der immer heftiger zum Himmel stank. Mittlerweile war der Boden rundherum von wachsenden Geldscheinen übersät, und zur Freude Laris konnte er unter den Zahlen auch größere Werte ausmachen, sogar drei Fünfhunderter thronten wie Könige unter den anderen Scheinen. „Lari der Euroking“, würde es heißen, dachte er vorfreudig und überlegte anschließend zum ersten Mal, was er mit diesem Reichtum anstellen würde. Er war überrascht, dass ihm diese Frage erst jetzt kam, stellte jedoch fest, dass er während der ganzen Aktion überhaupt wenig gedacht hatte, so sehr war er von der Idee eingenommen gewesen, das Geld sprießen und es sich nicht von Dieben stehlen zu lassen.
Früher hatte er in seiner Laube ab und zu ein Buch gelesen, oder dem kleinen Transistorradio gelauscht, oder an seine verstorbene Frau gedacht und sich gefragt, ob das Leben anders verlaufen wäre, hätte ihnen die Natur Kinder geschenkt. Wenn der Regen auf das Pechdach prasselte und vor ihm das Wasser wie ein dichter Schleier niederrauschte, hatte er aus seiner Gedächtniskiste warme, sonnige Orte hervorgeholt, die er einmal allein oder mit seiner Frau besichtigt hatte. Martinique. Maurizius. Kuba. Kurz - er war mit seinen Gedanken umhergereist und hatte über sie mit Paul nebst Anhang, Erwin nebst Anhang oder den hartgesottenen Junggesellen gesprochen.
Nach vorne, zum Ort, den man Zukunft nannte, hatte er selten gedacht, zumindest nicht in den letzten Jahren. Ganz sicher nicht seit dem Tod seiner Frau. Nie weiter jedenfalls als bis zum nächsten Fälligkeitstermin der Miete und der Stromrechnung. Und dem Samstagvormittag natürlich, an dem er die Frucht seiner Arbeit, seiner Geduld und Gebete auf dem Flohmarkt unter die Leute bringen würde.
Wie weit reicht die Zukunft eines Menschen, der bereits das meiste ihm Mögliche hinter sich weiß? Ab wann wurde das Leben zu einer Sackgasse, in der es nicht mehr weiter ging und deren Enge eine Umkehr unmöglich machte? Ob die Euroernte ihm neue, unbekannte Aussichten bescheren, neue Türen öffnen würde?
Geld mache nicht glücklich, sagten die, die genug davon haben. Sie müssen es wissen. Was jedoch wissen sie von denen, für die das Geld in umgekehrter Weise, weil es ihnen nämlich an allen Ecken und Kanten fehlt, eine Strafe wird?
Lari blickte versonnen auf die wachsenden Geldscheine, man könnte meinen, eine Gartenschau der EZB läge ihm zu Füssen, Lari lächelte bei diesem Gedanken und sah plötzlich mit Schrecken, dass etwas nicht stimmte. Etwas stimmte an den Euroscheinen nicht, es war nicht die Farbe, nicht der fälschungssichere Silberstreifen, nicht die Gravur der Ziffern, nein, es war etwas Anderes, Fürchterliches, das Laris neue Aussichten mit einem Schlag zunichte machte. Die Geldscheine waren, obschon noch nicht ganz aus der Erde, zu groß.
Vierhundertfünfunddreißigtausendsechhundertfünfundfünfzig Euro waren über sich hinausgewachsen. Zu groß. Einfach zu groß. Nicht der einfältigste Dümple der Welt gäbe ihm auch nur einen einzigen Cent für dieses überdimensionale Zeug. Lari sackte wie ein Klotz auf die Knie, als hätte Gott über ihm die Fäden abgeschnitten. Alles war umsonst gewesen. Seine Liebesmüh, seine Hoffnung, seine Gebete. Der faulende Berg in der Parzellenmitte schien ihn vorwurfsvoll anzusehen, und größer noch als der Zorn aller Welt war seine Scham, die er vor seinem zerstörten Lebenswerk empfand.
Als junger Mann war Lari von einer Idee besessen gewesen. Einmal im Leben, nur ein einziges Mal wollte er der Schönheit nahe sein, und wenn ihn danach der Blitz träfe und er umfallen müsste. Immer und immer wieder war ihm diese Idee in den Sinn gekommen, aber anstatt sich nach der Schönheit umzusehen, hatte er auf den Blitz gewartet. War dies nun sein Blitz, diese wertlosen Scheine, dieser vor sich hin faulende Kompost, mit dem sein früheres Leben zum Himmel stank? Hatte er wie so oft auch jetzt wieder das Eigentliche verpasst und das Falsche getan? Lari erhob sich von seinem Hocker, der Morgen graute bereits, er legte das Jagdgewehr in die Laube und schloss das eiserne Gartentor auf. Dann rannte er los, als suchte er den Sonnenaufgang.
Die Versuchung ist groß, an dieser Stelle die Geschichte zu beenden. Der letzte Satz „als suchte er den Sonnenaufgang“ verspricht Hoffnung und Hoffnungslosigkeit zugleich, jeder wird dies für sich bestimmen. Trotzdem stellt sich die Frage: Was wird Lari, der seine Parzelle seit langer Zeit nicht verlassen und keinen blassen Schimmer hat von dem, was in seiner Abwesenheit hinter seinen Baumarkteinkäufen geschehen ist, vorfinden, wenn er sein Gartentor öffnet? Wir wünschen ihm, dass er von dieser gottverfluchten Märchenwelt, in der das vermeintliche Geld aus dem Boden sprießt und alles andere verschlingt, zum wahren Leben zurückfindet, zu seiner Bodenständigkeit, zu seinen Skat- und Kegelabenden, seinem Grünkohl, den Radieschen, dem Dill und dem duftenden Basilikum.
Wenn wir jedoch einige Augenblicke in dieser Geschichte verweilen und den Faden des Imaginären ein Stückchen fortspinnen – was könnten wir entdecken? Versuchen wir es.
Als Lari auf den knirschenden Kiesweg hinaustreten wollte und erstaunt feststellte, dass aus dem Kiesweg eine asphaltierte Strasse geworden war, wurde er von einer apokalyptischen Vision wie vom Schlag getroffen. Ringsherum, dort, wo die hüfthohen Jägerzäune der Laubenbrüder gestanden hatten, über die sie über Jahre hinweg geplaudert und das Für und Wider von Gartenzwergen, natürlichen Düngemitteln und Bierglocken gegen Wespen verhandelt hatten, standen nun enorme Mauern. Glassplitter waren auf ihnen in Zement einlassen. Bewegliche Kameras surrten und verfolgten jede Bewegung und drückten sie auf eine Festplatte. Gemessen an diesen Festungen nahmen sich Laris Hartgummiwände jämmerlich aus.
Etwas weiter entfernt, dort, wo der Eingang zur Laubenkolonie gewesen war, fuhren bullige Lastwagen mit riesigen Anhängern an die Laderampe einer Fertigbauhalle heran. Routiniert luden schwitzende Männer unzählige Kisten aus und stapelten sie auf Holzpaletten, die von Gabelstaplern ins Innere der Fertigbauhalle gefahren wurden. Immer neue Lastwagen kamen angefahren und warteten darauf, entleert zu werden. Lari konnte die Aufschriften auf den Planen nicht entziffern, die Autokennzeichen deuteten jedoch auf die unterschiedlichsten Herkunftsländer hin. Plötzlich hielt ein städtischer Bus an einem Seitentrakt. Der Motor wurde abgeschaltet. Zischend öffneten sich die Falttüren. Männer und Frauen stiegen stumm aus dem Fahrzeug und gingen im Gänsemarsch auf einen Eingang zu, über dem das Schild „Nur für Personal“ stand. Lari war verwirrt. Hatte er nicht unter den Leuten auch Paul und Erwin und deren Frauen gesehen? Und Klaus und Hans? Mit zögernden Schritten ging er auf den Seitentrakt zu. Die Luft roch schwer nach Teer und Benzin. Die Männer und Frauen steiften sich, nachdem sie eine Stechkarte in eine Uhr eingeführt hatten, die mit einem hackenden Geräusch ihren Arbeitsbeginn abstempelten, braune Arbeitskittel über, auf denen in Brusthöhe das Zeichen eines Supermarktes geheftet war. Dann verschwanden sie, wie kurz zuvor die Holzpaletten mit den Kisten, im Innern der Fertigbauhalle.
„Larifari, da bist du ja endlich!“
Lari drehte sich um. Zunächst blendete ihn der aufsteigende Kreis des Sonnenballs. Dann erkannte er ihn. Der einarmige Kurt stand, an die Betonwand des Seitentrakts gelehnt, und rauchte. Er trug eine Pförtnermütze auf dem Kopf, auf dem lässig aufgeknüpften Hausmeisterblaumann erkannte Lari das Logo des Supermarktes.
„Was soll das alles hier?“, fragte Lari entsetzt.
„Du stellst Fragen. Willst du dich endlich bewerben?“
„Wozu?“
Kurt musterte Lari. „Na, für einen Ex-Rettichprinzen gibt es in einem Gemüsegroßhandel immer Arbeit.“
„Und unsere Lauben? Unsere Beete?“
Kurt lachte und verschluckte sich fast an dem Rauch. „Nun sag bloß nicht, du hast es nicht versucht…“
„Was versucht?“
„Na, das mit dem chinesischen Winzling und den zu großen Scheinen!“
‚Ein Albtraum’, dachte Lari, ‚dieses konnte nur ein Albtraum sein.’
„Sag, Kurt, ich habe dich nie danach gefragt. Aber heute möchte ich es gerne wissen.“ Lari blickte auf den leeren Ärmel, der Kurt an der linken Seite schlaff herabhing. „Wie hast du deinen Arm verloren? Im Krieg?“
Kurt verschluckte sich erneut. „Mensch Lari, ich bin wie du im Wirtschaftwunder geboren. Nix mit Krieg oder so.“
„Und wie dann?“
„Mich hat ein Blitz getroffen.“
„Ein Blitz??“
„Ein Blitz, ja. Sozusagen aus heiterem Himmel. Zack, weg war er.“
„Hast du…“ Lari räusperte sich und wagte kaum, seinen Satz zu Ende zu sprechen. „Hast du vorher was gesehen?“
„Was gesehen?“
„Na, irgendetwas Besonderes, etwas Schönes.“
„Mensch Larifari, was quasselst du da?! Meinst du, man hat für was anderes Augen, wenn einem der Arm abgehackt wird?“
„Vorher meine ich. Kurz davor!“
Kurt blickte Lari verständnislos an und schüttelte resigniert den Kopf. „Lari, Lari, du alter Spinner. Sag, hast du die Scheine nun geerntet oder nicht? Weil Paul, Erwin und Klaus, die haben nämlich…“
Die Sonne war nun gänzlich ein Ball und begann blass ihren aufsteigenden Weg zum Zenit. Lari ließ den einarmigen Kurt stehen und ging grußlos in die Richtung, aus der er gekommen war. „Larifari!“, rief Kurt hinter ihm her, „zu dem Chinesen brauchst du nicht zu gehen. Das haben wir alle schon versucht.“
Lari antwortete nicht und drehte sich nicht um. Aus der hinteren Hosentasche zog er einen der beiden Fünfhunderter von der Größe eines Schreibmaschinenblattes hervor. Er faltete das Blatt auseinander und zerriss es in unzählige Teile. Dann warf er den zerstückelten Geldschein wie Konfetti in die Höhe und begann zu tanzen. Die Papierstücke rieselten auf ihn herab, Lari drehte sich wie ein Indianer auf der Stelle, stampfte mit den Füßen auf den Asphalt und stieß Siegesschreie aus, die, wäre jemand dabei gewesen, ihm ins Mark und Bein gefahren wären. Dann wartete er und lauschte. Kein Donnern, kein Blitz. Der Himmel blieb ihm wohlgesinnt königsblau. Lari, der Rettichkönig, war wieder einer von uns.
Tag der Veröffentlichung: 22.08.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Beitrag zum 57. Wortspiel