Nuria ist der Schrecken eines jeden Baumunternehmers. Trifft in meiner Stadt eine ahnungslose Spitzhacke oder eine tumbe Baggerschaufel auf Altes (von dem es hier vieles gibt), tritt die Frau meines Lebens auf den Plan. Mit abgesperrtem Terrain wie nach einem Kapitalverbrechen, Messgeräten, Scheinwerfern, elektronischem und manuellem Handwerkszeug. Sie ist auf das Ausbuddeln von untergründigen Zivilisationsresten spezialisiert, eine ganze Fußballmannschaft an Doktortiteln fällt von ihr angeführt über etwas her, was es seit langem nicht mehr gibt und auf das sich Schichten anderer Zeiten getürmt haben.
Wenn es nach Nuria ginge, könnte die ganze Stadt „abgedeckt“ werden (dixit Nuria) - Häuser und Geschäfte weg, Parklätze und Strassen aufreißen – um an das Wesentliche der Stadt zu gelangen, das heißt an das, was unter ihrer Oberfläche ist. Wir sitzen, gehen, lümmeln und schlafen auf unsagbaren Schätzen, meint sie, womit sie Recht haben mag, denn auch in meinen ungeübten Augen ist vieles, was mir im Alltag draußen begegnet, wenig sehens- noch wissenswert. Das Meiste habe weder Hand noch Fuß (sie meint das Urbane, das von Menschenhand Erschaffene, die Natur ließe sie am liebsten unberührt), lediglich augenblickliche Notwendigkeiten haben sie entstehen lassen und dürfen, sobald letztere nicht mehr bestehen, alsbald vergessen werden. Selbst die geschmacklich gewagtesten Architekturen finden in ihren Augen keine Gnade. Firlefanz sagt sie, kurzweilige Blickfänger, von größenwahnsinnigen Architekten mit Computerprogrammen auf den Bildschirm geklickt, an denen der Betrachter sich nach dem zweiten Blick satt gesehen hat.
Nun, auf- und abreißen darf Nuria nicht beliebig (dem Himmel sei Dank), sie muss auf Gelegenheiten, sprich Baustellen und unselige Baggerschaufeln warten, um in Aktion treten zu dürfen. Wenn sie im Frühjahr meint, der Garten müsste umgegraben werden (von mir), beschleicht mich zuweilen der Verdacht, die frische Erde und die neuen Pflanzungen interessierten sie nicht im Geringsten. Sondern dass sie, schaut sie mir vom Balkon aus zu, darauf wartet, dass ich aufschreie, eine lehmverklebte römische Keramik in den Händen, worauf sie mit ihrer Mannschaft anrücken und meinen Gemüsebeeten eine Saison lang den Garaus machen würde.
Das hört sich radikal an, dabei sind Nurias Lieblingswerkzeuge klitzekleine Zahnbürsten. Eine harte für die groben Schichten, eine feine, wenn’s dem gefundenen Objekt an den eigentlichen Leib geht. Nuria bürstet an ihm, feilt, pustet und bläst. Sie hat es studiert. Protogeschichte und Antike. Nebenfächer: archäologische Zoologie und Geomorphologie. Nuria ist ein As. Eine nicht nur von mir begehrte Koryphäe mit 12 Studienjahren auf dem Buckel und zwei Doktortiteln an unserer Wohnzimmerwand (neben dem Foto, auf dem ein fossiler Ex-Kultusminister ihr die Hand schüttelt, und dem ihrer Dogge, die sie, kurz bevor sie mich entdeckt hatte, auf dem städtischen Hundefriedhof eingebuddelt hatte).
Gemessen an Nurias wissenschaftlicher Tiefgründigkeit bin ich ein oberflächlicher Esel, der nur ebenerdig zu gehen versteht und bei dem geringsten Höhenunterschied widerspenstig bockt (ich mag Flugzeuge und Berge nicht). Ich gestehe sogar, an vielem von dem Gegenwärtigen – so sinnlos und vergänglich es auch sein mag – zu hängen. Wahrscheinlich, weil Nuria dazu gehört. Ich weiß, wir beide sind von kurzem Glück, aber wir sind, auch wenn sie es nach unten treibt, fest ins Heute eingeschrieben, und ihm allein gehört mein schlagendes Herz.
Oft habe ich gar den Eindruck, selbst ausgegraben worden zu sein. Von ihr. Ich sehe noch, wie sie über mich gebeugt ist, außer Atem auf den Schweiß meiner Stirn pustend wie auf eine vom Sand versteckte Tretmine, um inmitten verstaubter Unwissenheit meine explosive Liebe für sie freizulegen.
Wir hatten uns vor Jahren in der Stadtbibliothek kennengelernt. In der Warteschlange vor der Buchausgabe stand ich hinter ihr, als ihr der Leseausweis aus einem tonnenschweren Band auf den falschen Marmorboden gefallen war. („Architektur der Zisterzienserkloster“, ich erinnere mich genau). Mein kleines, 30 Seiten dünnes Heftchen („The Dumb Waiter“ von Harold Pinter), mit dem ich mir frische Luft zugewedelt hatte, ließ mich in meiner gewichtslosen Ahnungslosigkeit fast erröten.
Das eine hatte das andere ergeben. Bei einem Espresso hatte ich ihr (ich liebte damals Absurdes) den Inhalt des Stückes von Pinter erzählt (zwei Männer lümmeln in einem kalten Zimmer herum, in das sie von einer anonymen Firma beordert worden sind, wo sie ein namenloses Opfer erwarten und erschießen sollen). Als Antwort auf meine Frage hatte sie mir in groben Zügen die Einzigartigkeit der Zisterzienserkloster erklärt – ein weit verbreiteter Orden aus dem 12. Jahrhundert mit überall identischen sozialen Gefügen: hier die denkenden, betenden und klugen Mönche, allesamt adliger Herkunft; dort die Laienbrüder aus dem Volk, die die Knochenarbeiten verrichteten und nichts Grosses zu melden hatten – sie hatte dies wohl anders gesagt, aber so will ich es heute verstehen).
Trotz der zwei in jeder Hinsicht gegensätzlichen Bücher waren wir uns einig gewesen. Ich hatte den Kaffee beglichen, sie hatte mich für den darauf folgenden Sonntag zu einem Ausflug ins Hinterland Nizzas eingeladen – zu eben einem der besagten Klöster. Ich erinnere eine unerträglich drückende Hitze, das grelle Zirpen der Zikaden, die erhabene Akustik der erfrischend kühlen Kapelle und das kleine Muttermal an dem Haaransatz in ihrem Nacken. Nuria ist durch und durch eine schöne Frau. Das steht außer Frage.
Im Alltag hingegen ist sie durch und durch eine köstliche Katastrophe. Sie kann nicht kochen (isst aber gern, insbesondere meine Rouladen), sie ist fünf Mal bei der Führerscheinprüfung durchgefallen (wir waren damals in meinem Wagen zu dem Kloster gefahren), sie weiß den Staubsauger nicht zu bedienen und wäscht ständig 30 Grad zu heiß, sodass meine Unterwäsche immer kleiner wird. „Wenn Du nicht wärst“, sagt Nuria häufig und unterdrückt ein Lachen, wenn ich mich in die zu enge Unterhose zwänge.
Wenn Nuria vernarrt ist in das, was unter der Stadt liegt, so ist das, was über ihr geschieht, für sie nebensächlich. Die Steuerflucht der Reichen („Nuria, in China steht da die Todesstrafe drauf“) interessiert sie nicht die Bohne, der zweiten Revolution in Ägypten gönnt sie allenfalls ein halbes Auge.
„Nicht jetzt“, sagt sie mir, der mit dem Finger fassungslos aufs TV zeigt.
„Und Inspektor Barnaby?“
„Nicht jetzt“, wiederholt sie. Sie müsse noch mal kurz in die Stadt. Sie hätte ein Rätsel zu lösen, das des Einhufers mit den gebrochenen Hinterbeinen.
In sechs Metern Tiefe hatten ihre Leute ihn ausgebuddelt. Dort, wo demnächst ein Apple-Store entstehen soll. Bei der Aushebung des Fundaments waren die unglücklichen Bagger auf ein Abwassersystem aus dem 16. Jahrhundert gestoßen, unter welchem Nuria nun eine antike Nekropole wittert. Die Fundstelle des Tieres – die archäologische Zoologin in ihr vermutet eine Kreuzung aus Stute und Esel (oder umgekehrt, obschon ich nicht weiß, wie das ginge) - glich einem mit Opfergaben geschmückten Grab. Die C-14 Analysen gaben dem Skelett ein Alter von sechs Jahren. Ein Maulesel, der dort stehend und „erhobenen Hauptes“ (dixit Nuria) bestattet worden war - eine Sensation! Dem Tier wurden post-mortem absichtlich die Hinterbeine gebrochen und nach vorne gebogen. Es hatte an Arthrose gelitten, was auf eine erhebliche Arbeitslast zurückzuführen sei, sagt Nuria, mitfühlend aber sachlich.
„Du verstehst doch?“, fragt sie und meint nicht etwa die Erklärung für die verbogenen Hinterbeine. Natürlich verstehe ich. Ich schalte die Bilder der aufgebrachten Menge auf dem Tahrir-Platz aus, strecke meine Knochen und fahre Nuria zu der Fundstelle in die Stadt. Der Verkehr ist dicht – Sommerschlussverkauf bei dreißig Grad im Schatten. An einer roten Ampel schlürft ein altes Paar vor uns vorbei über die Zebrastreifen. Ein kleines Mädchen übt sich, die wachende Mutter hinter sich, mit rudernden Armen im freihändigen Gang. Nuria legt eine Hand auf mein Bein und meint, sie könne die restliche Strecke zu Fuß gehen. Als sie die Wagentür zuschlägt und mir eine Kusshand zuwirft, springt die Ampel auf grün. Auf dem Beifahrersitz liegt ihre Zahnbürstensammlung, in der Eile vergessen.
Nuria, mein Glück und meine Wonne, was würde eine Archäologin in tausend Jahren freilegen? Nein, nicht von dem architektonischen Firlefanz von heute. Von uns beiden meine ich, von mir, dem stummen Diener, und dir, der Protogeschichtlerin, die wir nun Hand in Hand unter der Stadt liegen? Ob wir - von den Zeitgenossen längst vergessen - auf einen unseligen Bagger warten, damit dieser die neugierige Leidenschaft einer wunderbaren Frau mit einem winzigen Muttermal im Nacken auf den Plan ruft? Wenn es nicht anders geht, dann werde ich Esel in die Erde, unter die Stadt kriechen, mir sogar die Beine brechen und nach vorne biegen, damit sie mich erneut frei pustet und mich zur Sensation ausruft. Das ist absurd, ich weiß, die Zahnbürsten liegen vergessen neben mir, aber ein Gedanke an Ewigkeit sei mir gewährt, so durch und durch unwissenschaftlich er auch sein mag.
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Für die Zweifler – alle hier erwähnten archäologischen Gegebenheiten entsprechen den Tatsachen. Der Esel mit den gebrochenen Hinterbeinen (sechs Wochen lang hatte das fossile Vieh den städtischen Verkehr lahmgelegt), Nuria (das Muttermal im Nacken hat sie jedoch von einer anderen Frau), das Projekt Appel-Store, der Tahrir-Platz in Kairo, Harold Pinter und der „Stumme Diener“ (womit vom englischen Autor ein Speiseaufzug gemeint war), die Zisterzienserklöster (absolut sehenswert!) und natürlich Inspektor Barnaby – all das gibt es oder hat es gegeben. Ob dies alles lohnt, ausgegraben zu werden, sei dahin gestellt.
Texte: Alle Rechte liegen beim Autor
Tag der Veröffentlichung: 11.07.2013
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Beitrag zum July Wortspiel mit dem Thema "Unter der Stadt"