Zettel erinnerte sich an einen Traum, der ihn vor wenigen Tagen heimgesucht hatte. Er hatte auf einer Bank gesessen - es war im Majorelle-Garten in Marrakesch gewesen, er wusste es, noch während er träumte, genau - und war, von dichten Palmen vor der sengenden Sonne geschützt, in die Lektüre eines Reiseführers versunken. So bemerkte er nicht, dass, während er las, das Gelände um ihn herum für eine kommende Festlichkeit abgesperrt wurde, und zahlreiche Arbeiter Barrieren, wie sie bei Demonstrationen verwendet wurden, aufstellten und die Abstände zwischen diesen mit bunten Seilen verbanden. Zettel bemerkte nichts von dem, was um ihn herum geschah, die Arbeiter verrichteten wortlos und routiniert ihre Aufgaben, sodass Zettel, als er schließlich den Blick hob, sich plötzlich von einem dichten Gewebe aus Seilen und Stahlgerüsten eingekreist sah, das die tätigen Menschen wie Spinnen um ihn herum in seiner Abwesenheit gewebt hatten.
Zettel beschloss, an einem der farbigen Seile entlang zu gehen, sich sicher, dass es irgendwo einen Anfang gäbe, an den es geknüpft sein und zu einem Ein- oder Ausgang führen müsste. Doch solange er ging, er gelangte immer wieder an seinen eigenen Ausgangspunkt zurück, dorthin, wo er vorher den Reiseführer verschlungen hatte.
Das Gehen hatte Zettel ermüdet, zumal es zu nichts geführt hatte. Resigniert setzte er sich auf den Platz, auf dem er Minuten vorher gesessen hatte, schlug das Buch auf und begann, nach der Zeile zu suchen, an der er aufgehört hatte, es zu lesen. Er fand sie nicht. So oft er auch zurückblätterte, jede beschriebene Sehenswürdigkeit war ihm unbekannt.
Nun vollends ermüdet, klappte er den Reiseführer zu, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Unvermittelt entließ sein schwindendes Wachsein ihn in einen Traum, der ihn in ein weites, von roten Kornblumen übersätes Feld führte. Mit langen Schritten ging er durch das Farbenmeer, Blütenstaub heftete sich an seine Hosen, und ein Heer von Bienen, Mücken und Libellen stob bei jedem seiner Schritte auf, es summte und brummte um ihm herum, als wollte es ihn auf seinem Weg durch das Feld symphonisch begleiten. Für einen Augenblick hörte Zettel das Wort Liebe in sich, getragen von einem milden Maiwind, bis er plötzlich Titania vor sich liegen sah, nackt und zum Greifen nahe. Sie hatte den Zeigefinger ihrer rechten Hand auf die Lippen gelegt, als verböte sie ihm, die Augen zu öffnen und die Welt in ihren verwobenen Wachgrenzen zu sehen.
Zettel gefiel dieser Traum, obschon er nicht mehr wusste, an welcher Stelle – der Bank, den fleißigen Arbeitern oder dem Kornblumenfeld? – er begonnen hatte. Wie bei allen Träumen hatte er beim Erwachen befürchtet, das Geträumte sogleich und unwiederbringlich zu vergessen. Nur eins war ihm sicher – er hatte in seinem Leben diesen Majorelle-Garten nie betreten.
Der Traum hing an Zettel. Was aber nun? Was sollte er mit ihm anstellen? Ihn ignorieren wie ein Magenzwicken, das vorüber geht, indem man nicht daran denkt? Damit es sich klammheimlich und unerhört aus Rache zu einem Geschwür auswächst? Titania träumte nie und hatte nie etwas von seinen Träumen gehalten. Erst recht nichts vom „zerklären“ – wie sie es nannte – derselben.
„Und warum bitte schön mischst du sich dann in meinen Schlaf, wenn du nicht willst, dass ich verstehe, was du mir mit dem Finger auf den Lippen sagen willst? Und überhaupt – was ist ein Mensch, ohne den Traum? Ein bloßer Zettel, auf dem nichts geschrieben steht?“
Zettel beeilte sich auf dem Heimweg, während er dies dachte. Erregt schloss er die Tür zu seiner Wohnung auf und zog eilig die Vorhänge beiseite. Er setzte sich in den Sessel neben den Telefontisch, auf den er den Reiseführer ablegte. Dann nahm er ein Blatt Papier, einen Stift und begann zu schreiben.
„Zettel erinnert sich an einen Traum, den er vor einigen Tagen gehabt hatte. Er hatte auf einer Bank gesessen - es war im Majorelle-Garten in Marrakesch gewesen, er wusste es, noch während er träumte, genau - und war, von dichten Palmen vor der sengenden Sonne geschützt, in die Lektüre eines Reiseführers versunken.“
Als das letzte Wort seines Traumes niedergeschrieben war, lehnte er sich zufrieden in den Sessel zurück. Nun war ein Vergessen ausgeschlossen, dachte er erleichtert. Er faltete den Zettel, schlug eine beliebige Seite des Reiseführers auf und wusste plötzlich, zu welchem Ort er im Traum nicht zurückgefunden hatte.
Texte: Alle Rechte liegen beim Autor
Tag der Veröffentlichung: 04.07.2013
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Widmung:
Beitrag zum KG-Wettbewerb July 2013 zum Thema "Sommernachtstraum"