"Die Lüge ist ein sehr trauriger Ersatz für die Wahrheit, aber sie ist der einzige, den man bis heute entdeckt hat."
(Elbert Hubbard)
Zwei stark kurzsichtige Männer sitzen auf einer Bank, dem reißenden Fluss zugewandt, auf dessen gegenüberliegendem Ufer sich die Skyline eines Geschäfts- und Bankenzentrums abzeichnet. Das braun-schwarze Wasser vor ihnen gurgelt heftig. Die beiden Männer erkennen die Hände nicht, die hilfesuchend aus den Wogen herausragen und an ihnen vorübertreiben. Für sie ist es Frühling, alles quillt über in seiner Üppigkeit, selbst der Papierkorb neben der Bank. Ab und zu zischt ein strampelnder Radfahrer mit eingezogenem Kopf an ihnen vorbei. Die beiden Männer sind Mitte fünfzig und haben spitze Mausgesichter. Der eine von ihnen trägt eine Baskenmütze und eine braune Hornbrille mit dicken Gläsern. Er hat eine schwarze, in der Innenseite abgewetzte Aktentasche neben sich. Der andere hat schütteres, blondes Haar, das kaum seine rosa Kopfhaut bedeckt. Mit dem rechten Auge zwinkert er unablässig, sein blaues Hemd ist aufgeknöpft. Seine Hose wird von breiten Hosenträgern gehalten. Auch er hat eine Aktentasche bei sich, flacher als die seines Banknachbarn, anscheinend Dokumenten und Akten gewidmet.
Beide Männer verfolgen mit ihren Blicken wortlos die vorbeizischenden Radfahrer, den Kopf mal nach rechts, mal nach links gewandt. Die Anstrengungen der eifrigen Radler kommentieren sie verständnislos und abfällig mit Stirnrunzeln. Sie sind sich anscheinend einig – eine Mittagspause ist für das Ausruhen geschaffen und nicht für das schweißtreibende Pedal. Als einem der Fahrer vor ihren Augen die Kette abspringt und dieser, die Beine gespreizt, die quitschenden Handbremsen zieht und sein Rad anflucht, beginnt der Mann mit der Hornbrille ein Gespräch.
Hornbrille: Welch ein Tag!
Hosenträger: Ja, welch ein Tag.
Hornbrille: Und das ganze Wasser. Es steigt und steigt.
Hosenträger: Finden Sie?
Hornbrille: Ja. Es taut überall. Nur gut, dass es abfließt.
Hosenträger: Ja. Von links nach rechts. Wie jedes Jahr. Aber ich fürchte, heute wird es noch schlimmer kommen.
Hornbrille: Wie das?
Hosenträger [deutet auf eine dicke Wolke über ihnen]: Wissen Sie, was so eine Wolke wiegt?
Hornbrille: Wie sollte ich? In solchen Sachen stecke ich nicht drin..
Hosenträger: Tausende Tonnen. Wenn das Ding über uns platzt, dann gnade uns Gott.
Hornbrille: Es sei denn, man sitzt auf der anderen Uferseite. Da sind die Schäfchen immer auf dem Trockenen. Auf dem Weg zur Schlachtbank, aber auf dem Trockenen.
Hosenträger: Na, lieber hier auf einer richtigen Bank sitzen, selbst mit der Wolke da oben.
Hornbrille: In welcher Branche sind Sie, wenn ich fragen darf?
Hosenträger: Versicherungen. Und Sie?
Hornbrille: Entsorgungen.
Hosenträger [lacht]. Sie entsorgen?
Hornbrille: Ich befreie die Menschen von einer Sorge.
Hosenträger: Lassen Sie mich raten. Atommüll? Autofriedhof?.... Bestattungen?
Hornbrille: Wenn man so will.
Hosenträger: Bestattungen also. Hm, muss es ja auch geben. Und wie läuft das Geschäft?
Hornbrille: Kann nicht klagen. Ich habe gleich einen Termin. Nicht weit von hier. Und bei Ihnen?
Hosenträger: Herrje, bei mir ist die Hölle los. Ich komme kaum nach. Je größer die allgemeine Verunsicherung, umso mehr klammern die Leute sich an mich. Die Idioten glauben doch tatsächlich, alles versichern zu können. Den Hund, das Haus, das Auto. Sogar das Leben. [wendet sich Hornbrille zu und hebt den Zeigefinger] Das Leben vor dem Tod versichern, stellen Sie sich vor! So eine Art Leibwächter gegen monatliche Kontoabbuchung. Als ob es so etwas gäbe…
Hornbrille: Wieso? Gibt es das nicht?
Hosenträger: Wo denken Sie hin! Früher hatten sich ja andere um solche Sachen gekümmert. Komisch, mir fällt ein, dass auch sie es alle mit so hohen Gebäuden hatten. Kathedralen, Synagogen, Moscheen, Tempel. Heute sind’s die Türme da drüben [nickt zur Skyline]. Wie auch immer - Was aus ihrem Leben wird, ist allein ihr Ding. Damit hat meine Firma nichts zu tun.
Hornbrille: Was versichern sie denn dann, wenn nicht das Leben?
Hosenträger: Genau genommen – aber das behalten Sie bitte für sich – nichts.
Hornbrille: Nichts?
Hosenträger: Nichts. Sie zahlen ein, wir zahlen aus, manchmal mit Abstrichen, aber etwas Geld kommt da immer raus. Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, natürlich. Wir zwischenlagern und verwalten die Beiträge, sozusagen.
Hornbrille: Und damit verdient man Geld?
Hosenträger: Aber hallo! Denken Sie, wir könnten uns sonst so hohe Türme leisten?
Hornbrille: Seltsam, dass die Leute trotzdem zu Ihnen kommen.
Hosenträger: Wo sollen sie sonst hin? Die Welt hat die Wiese der Hoffnungen abgegrast. Die französische Revolution mündete in Napoleons Kaiserreich. Das kommunistische Manifest in Stalins Gulags und Ulbrichts Staatsgefängnissen. Und Erhardts Wirtschaftwunder in Jobvermittlungen, Hartz IV und Merkel. Herrje, Luthers I Have a Dream… so viele Leichen sind mit der Hoffnung bestattet worden. Jetzt stürzen sich die Leute pragmatisch auf Versicherungen. Monatsbeiträge gegen ewige Rückendeckung. Das ist es, was zählt. Bei Ihnen ist es doch genauso, nicht?
Hornbrille: Nicht ganz.
Hosenträger: Würde mich trotzdem nicht wundern, wenn Ihre Firma mit meiner gemeinsame Sache macht. [lacht, sieht aber den fragenden Blick Hornbrilles] Na, Tod und Leben, Leben und Bestattung. [sieht das ausdruckslose Gesicht Hornbrilles] Bestattung!! Capito? [Hornbrille scheint immer noch nicht zu verstehen] Wie auch immer – außer uns beiden gibt es nichts.
Hornbrille: Außer den Versicherungen?
Hosenträger: Unsinn! Außer Leben und Tod, natürlich. Das eine bekommt seine Bedeutung vom anderen. Besonders das eine. Es nährt sich aus der Furcht, dem anderen zu nahe zu kommen.
Hornbrille: Hm. Und dazwischen ist nichts?
Hosenträger: Rien. Nada. Nothing. Nichts. Wir sind wie eineiige Zwillinge. Nur wir zwei zählen.
Hornbrille: Mann o Mann, da bekommt man ja Gänsehaut!
Hosenträger: Sagt meine Frau auch. Aber ich bleibe dabei. Ohne Netz und doppeltem Boden! Entweder man bleibt oben auf dem Seil, oder man stürzt ab. Nichts, was einen auffängt. Und wissen Sie, warum man vielleicht nicht abstürzt?
Hornbrille: Nein, aber Sie werden es mir sagen.
Hosenträger: Weil man sich versichert weiß! Von mir! Hier oben [deutet mit dem Zeigefinger auf seinen Kopf], hier oben hat sich schon immer alles abgespielt. Ich verkaufe das Gleichgewicht, das uns auf dem Seil hält.
Hornbrille: Das Prinzip Hoffnung.
Hosenträger: Quatsch. Eine Hoffnung ist eine Vision, sie hat ein Ziel, ein Ideal. Das sind Fossilien aus Vorzeiten. Meinen Sie, ein Seiltänzer könnte sich solche Gedankensprünge leisten? Stillhalten, nicht runtergucken und weitermachen wie zuvor, das ist die Devise. Wenn nicht, dann kommt der Absturz.
Hornbrille: Ins Nichts.
Hosenträger: Sie sagen es, ins Nichts. [sieht Hornbrilles skeptischen Gesichtsausdruck] Oder nicht? Na, da bin ich ja an den richtigen geraten. Noch einer von diesen Uneinsichtigen.
Hornbrille [rückt sich die Brille zurecht und schaut Hosenträger in die Augen]: Sieht so aus, ja. Im Grunde genommen verkaufen Sie eine Lüge.
Hosenträger: Langsam mit diesen starken Worten, lieber Kollege. Eine Lüge verdeckt eine Wahrheit. Verdecke ich was? Nichts! Was zählt, ist das Ergebnis. Dank mir bleiben Sie auf dem Seil.
Hornbrille: Vielleicht, haben sie gesagt.
Hosenträger: Vielleicht, ja. Sie müssen Vertrauen haben, sonst geht das nicht.
Hornbrille: Vertrauen in etwas, was es nicht gibt.
Hosenträger: So ist das im Leben, guter Mann.
Hornbrille [wiegt den Kopf hin und her]: Dachte ich mir – Sie gehören zu der schlimmen Sorte.
Hosenträger: Jetzt machen Sie mal halblang.
Hornbrille: Es gibt die Lügen, die sie erwähnten. Die, die dazu dienen, die Wahrheit zu verdecken. So gesehen haben sie sogar einen guten Zweck, denn sie führen zu dem, was sie eigentlich verdecken wollen. Und dann gibt’s welche, hinter denen gar nichts steckt. Das ist sie, die schlimme Sorte. Man deckt die Unwahrheit als solche auf, und was sieht man?
Hosenträger: ……..
Hornbrille: Nichts. Es gibt Menschen, die die Energie eines ganzen Lebens darauf verwenden, eine Unwahrheit aufzudecken. Und womit werden sie belohnt? Mit nichts. Nada. Rien. Nothing. Ein Leben für die Katz.
Hosenträger: Jetzt sind Sie genauso weit wie ich – beim Nichts.
Hornbrille: Ja.
Hosenträger: Aber ich, ich soll einer von der Schlimmen Sorte sein….?
Hornbrille: So einer sind Sie.
Hosenträger [erst nachdenklich, dann entschlossen]: Und wenn schon! Soll ich mich zur Strafe jetzt ersäufen?
Hornbrille: Haben Sie eine gute Lebensversicherung?
Hosenträger: Ich??? Ich falle doch nicht auf mich selber rein.
Hornbrille: Dann machen Sie’s trotzdem. Springen Sie. Dann hätte unsere Mittagspause einen Sinn.
Hosenträger: [leicht verunsichert] Sie sind mir einer… Woraus besteht denn Ihre Entsorgung genau, wenn man mal fragen darf?
Hornbrille: Ich bin Kammerjäger.
Hosenträger: Sie sind was?
Hornbrille: Kammerjäger. Oder Rattenfänger, wenn sie so wollen.
Hosenträger: Igitt! Und warum sagten Sie das nicht gleich und erzählen mir was von ‚Entsorgung’??
Hornbrille: Inkognito. Ein Rattenfänger ist immer inkognito. Niemand gibt zu, dass er einen Rattenfänger braucht. Das ist halt so. Die Nachbarn denken sonst, bei Ihnen ginge es zu wie bei Hempels unterm Sofa.
Hosenträger: Verstehe. Wobei - wo Rauch ist, ist auch Feuer.
Hornbrille: Irrtum, lieber Mann. Ratten kommen in den besten Häusern vor.
Hosenträger: Ach ja?
Hornbrille [äfft ihn nach]: „Ach ja?“ Ja!! Ratten sind ungemein intelligente Wesen.
Hosenträger: Deshalb kommen sie auch in guten Häusern vor?
Hornbrille: Unsinn. Obschon…. Ich sag Ihnen was. Wussten Sie, dass die Ratten Vorköster haben?
Hosenträger: Vorköster?
Hornbrille: Ja, bevor Ratten etwas Unbekanntes fressen, muss eine von ihnen den Vorköster machen. Überlebt sie, frisst die Meute. Stirbt sie, rührt keine andere Ratte den Fraß an.
Hosenträger: Sie nehmen mich auf den Arm, oder?
Hornbrille: Nicht im Geringsten. Deshalb gibt es jetzt das Rattengift der zweiten Generation. Mit Spätwirkung. Hier, in meiner Tasche. [schlägt mit der flachen Hand auf seine Aktentasche]
Hosenträger: Wie soll das funktionieren?
Hornbrille: Die Ratte, die von dem Gift frisst, stirbt nicht sofort, sondern erst nach vier Tagen. Wenn sie stirbt, dann denken die anderen Ratten, ihre Kollegin sei eines natürlichen Todes gestorben.
Hosenträger: Das ist ja ein heimtückischer Trick. Widerlich!
Hornbrille: Lieber Mann, wir reden von Ratten.
Hosenträger: Intelligente Wesen, haben Sie gesagt.
Hornbrille: Ja leider! Und zwar so intelligent, dass auch die zweite Generation noch verbessert werden muss. Jetzt fragen Sie bestimmt, warum?
Hosenträger: …..
Hornbrille: Weil die Ratten, wenn sie an einem Ort eine ungewöhnlich hohe Todesrate sehen, sich in ihrem Rattenkopf sagen, da stimmt was nicht. Und dann machen sie die Mücke.
Hosenträger: Unglaublich! Ganz schön clever die Burschen. Die Ratten machen die Mücke. [kichert]
Hornbrille: Sag ich doch. Jedenfalls sind die Biester, obschon kurzsichtig wie wir, cleverer als viele von uns. Wir haben nicht diesen Riecher.
Hosenträger: Um abzuhauen?
Hornbrille: Zum Beispiel.
Hosenträger: Aber jetzt arbeiten Sie an der dritten Generation.
Hornbrille: Ja. Das heißt, nicht ich. Meine Firma arbeitet an ihr. [deutet auf einen der Türme am anderen Ufer] Ich lege das Gift nur aus.
Hosenträger: Und da meinen Sie im Ernst, Sie sind nicht von der schlimmen Sorte?
Hornbrille: Was wollen Sie damit sagen?
Hosenträger: Na, Sie kommen so trallala inkognito. Sie täuschen die Nachbarn, die Ratten.
Hornbrille: Mein lieber Mann, ich tue das für einen guten Zweck.
Hosenträger: Die gute Nachbarschaft und die Vernichtung der Ratten.
Hornbrille: Richtig.
Hosenträger: Ihre Lügen haben Sinn.[kichert]
Hornbrille: Natürlich. Wenn Sie sie aufdecken würden, hätten wir die Plage am Hals.
Hosenträger: [spöttisch] Die von Hempels unterm Sofa und die der Ratten.
Hornbrille: Wenn Sie so wollen, ja.
Hosenträger: Das macht natürlich Sinn. [lacht laut und schlägt sich mit den Händen auf die Schenkel]
Hornbrille: Dass Sie noch lachen können.
Hosenträger: Sie mit Ihren sinnvollen Lügen und denen von der schlimmen Sorte. Wie putzig! Welche von denen haben denn kürzere Beine??
Hornbrille: Meine Frau sagt die Ratten.
Hosenträger: Es gibt auch eine Frau Rattenfängerin?
Hornbrille: Hilde sagt immer, ein guter Lügner ist zwangsläufig ein intelligentes Wesen.
Hosenträger: Zwangsläufig.
Hornbrille: Sagt meine Frau.
Hosenträger: Wie die Ratten.
Hornbrille: Wenn Sie so wollen.
[Beide schweigen eine Weile]
Hosenträger [beugt sich anschmeichelnd zu Hornbrille]: Sagen Sie, haben Sie schon eine Lebensversicherung?
Hornbrille [weicht empört zurück]: Mensch, sind Sie meschugge? Nachdem, was ich Ihnen gesagt habe?
Hosenträger: Denken Sie an das Seil! Ich spüre da eine gewisse Unsicherheit in Ihnen. Wir haben im Moment ein sehr gutes Angebot. In den ersten drei Monaten werden Ihnen die Beiträge erlassen…
Hornbrille: Sparen Sie sich die Mühe. Bei mir ist nichts zu holen.
Hosenträger [öffnet seine Aktentasche und fingert eine Reihe von Formularen aus ihr]: Schauen Sie. Die Dauer können Sie selbst bestimmen. 15, 20, 25 Jahre oder lebenslänglich. Unter uns, für Sie ist lebenslänglich am preisgünstigsten. Wenn Sie wollen…
Hornbrille: Verehrter Kollege, ich bin 55, was heißt da schon lebenslänglich?!
Hosenträger: Eben! Eben!!! Die Beitragszeit ist kürzer, die Ausschüttung die gleiche!
Hornbrille: Und wenn mir was in den ersten drei Monaten passiert?
Hosenträger: Kein Problem! Voller Anspruch! Keinen Cent bezahlt und schwups, voller Anspruch! Stellen Sie sich die Erleichterung Ihrer Frau Hilde vor….
Hornbrille: Es sei denn, Ihr Kleingedrucktes und Ihre Anwälte kommen meiner Hilde dazwischen.
Hosenträger: Wie dazwischen? Dazwischen gibt es nichts, hab ich Ihnen doch gesagt. Einfacher geht das nicht. Wir sind eine redliche Firma. Hätten wir sonst die hohen Türme da?
[Hornbrille greift zu seiner Tasche und bringt zwei in Silberpapier gewickelte Päckchen hervor. Schon will er sich ans Auswickeln des einen machen, als er auf dem anderen einen Zettel bemerkt. Überrascht faltet er diesen auseinander und hält ihn sich zwei Zentimeter vor seine kurzsichtigen Augen. Dann reicht er ihn seinem Nachbarn]
Hornbrille: Mein nächster Termin. Können Sie die Adresse lesen? Soll eine Sackgasse sein. Mit biederen Häusern. Allesamt unterkellert. Idealer Rattenunterschlupf.
Hosenträger [entziffert mühselig die Anschrift] : Elbert Hubbardstraße?! Das ist ja bei mir.
Hornbrille: Sehen Sie? Die Welt ist klein. Wie es aussieht, haben Sie nagende Untermieter.
Hosenträger: Das kann nicht sein.
Hornbrille: Steht aber da, von Hilde notiert. Offenbar hat Ihre Frau…
Hosenträger: Meine Straße…Sagen Sie, Sie wollen doch jetzt nicht zu mir mit Ihrer zweiten Generation?
Hornbrille: Geht nicht anders. Die erste ist obsolet und die dritte ist erst in Arbeit, da drüben. [nickt in Richtung Skyline]
Hosenträger: Vielleicht sollten wir warten, bis die da drüben fertig sind. Sonst hauen die Biester ab.
Hornbrille: Darum geht es ja. Die Ratten überfallen Ihren Nachbarn. Nicht übel, was? Sie sind die Viecher los, und Ihr Nachbar ruft bei uns an. Das belebt das Geschäft.
Hosenträger: Und dann kommen Sie mit der zweiten Generation angedaddelt und die Biester machen die Mücke zu uns zurück.
Hornbrille: Na klar. Fressen muss jeder. Aber für eine Weile sind Sie sie los. Ihre Frau wird erleichtert sein.
Hornbrille [wickelt ein Packchen aus dem Silberpapier und bringt zwei unförmige Brotbatzen zum Vorschein. Er will in einen hinein beißen, hält jedoch in letzter Sekunde in seiner Geste inne]: Möchten Sie? Hildes Stullen sind umwerfend.
Hosenträger [weicht erschrocken zurück]: Sie zuerst. Sie machen den Vorköster.
Hornbrille [lacht]: Jetzt haben Sie sich nicht so. Die erste Generation ist nicht mehr im Handel. Und die zweite Generation habe ich hier [klopft auf seine Aktentasche]
Hosenträger: Lieber nicht.
Hornbrille: Ich bitte Sie. Einen Happen nur. Sie werden sehen, nichts passiert. [rückt ein Stück näher an Hosenträger heran und hält diesem den Brotbatzen vor den Mund] Nachher werde ich mir auch Ihren Vertrag ansehen. Aber nur, wenn’s eine Rückzugsklausel gibt.
Hosenträger: Umwerfend haben Sie gesagt. Die Stullen Ihrer Frau werfen um.
Hornbrille: Rückzugsklausel oder nicht?
Hosenträger: Ich will nicht. Nein! Ja!
Hornbrille: [packt Hosenträger an der Schulter und drückt den Brotbatzen gegen dessen Mund]. Friss! Friss jetzt! Rückzugsklausel oder nicht frage ich!
Hosenträger [zwischen den Zähnen hindurch]: Natürlich gibt es sie. [schlägt mit den Formularen nach Hornbrille] Vier Tage!
Hornbrille: Na denn, auf die vier Tage Bedenkzeit. Mund aufmachen! Schön den Mund aufmachen! Brav!
In diesem Moment klatscht dem spärlich behaarten Hosenträger der erste Regentropfen auf den Kopf. Auch Hornbrille trifft es unvorbereitet und sozusagen aus heiterem Himmel. Sekunden später prasselt es förmlich auf die beiden Männer ein. Die Wolke scheint sich auf sie einzuschießen, jedenfalls fällt sie wie ein biblischer Schauer wuchtig auf sie herab, während Meter weiter der Radfahrer im strahlenden Sonnenschein mit seiner widerspenstigen Kette kämpft. Hosenträger versucht, die Wassermengen mit den Vertragsformularen abzuwehren, als ob er Fliegen verscheuchen wollte. Hornbrille hebt schützend seine Aktentasche mit der zweiten Generation Rattengift über den Kopf. Natürlich sind beide Versuche für die Katz. Eigentlich müssten sie nur aufstehen und zu dem Radfahrer ins gleißende Sonnenlicht gehen, aber diesen Riecher haben sie nicht. So steigt das Wasser ungehindert an ihnen hoch und spült sie schließlich in den brodelnden Fluss, als hätte eine Höhere Gewalt im richtigen Moment den Auslöser gedrückt.
Als der Radler von seiner störrischen Kette aufblickt, ist es zu spät. Er erinnert sich, dass auf der Bank Augenblicke vorher zwei Herren mittleren Alters gesessen hatten. Nun putzen sich dort zwei triefend nasse Ratten mit den Vorderbeinen die spitzen Schnauzen.
Für Sekunden bildet er sich ein, die beiden Tiere würden miteinander streiten. Doch dann schüttelt er den Kopf, gewiss, sich das vorherige Gespräch nur eingebildet zu haben.
Texte: Alle Rechte liegen beim Autor
Tag der Veröffentlichung: 13.05.2013
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