Cover




Edward Hopper, "Gas" (1940)

Ich will das Bild früh am Morgen sehen. Wenn die Grenze von der nächtlichen Frische zur Wärme noch fern ist, und die ersten Sonnenstrahlen es noch nicht über das dichte Baumgewölk geschafft haben.

Die Zeder auf der rechten Seite lebt vom künstlichen Licht. Es scheint auch auf den Boden, beliebig, ungewiss, woher es kommt. Zackenartig fließt es ab, so sehe ich es, auf die Straße zu, zu einem leeren, dunklen Fahrstreifen linkerhand, von rost-braun verwelktem Gras gesäumt. Im Gebäude, das vor der Zeder auf einem flachen Sockel steht, ist kein Leben. Ich denke es aus Holz, es ist weiß gestrichen und innen grell erleuchtet. Auf seinem Dach thront als Türmchen sein verkleinertes Ebenbild: der Hausleib, der Sims, das rote Dach - eine kindliche Wiederholung

Ein Mast an der Ausfahrt– es ist wohl eher eine Fahnstange – ist bis auf Mannshöhe rot gestrichen. Der Wimpel hat mir als einziges Objekt das Gesicht zugewandt. Über der Inschrift „Mobilgas“ hechtet das Firmenlogo „Pegasus“ wie eine Schimäre. Ich sehe es auch auf den drei symmetrisch gereihten Zapfsäulen – große, rot gerahmte, weiße Scheiben, ein beflügeltes Pferd als Kopf jeder Säule.

Hinter der Zapfsäule im Vordergrund steht der Mann. Hochgewachsen, den Oberkörper leicht gebeugt. Ich gebe diesem blonden Amerikaner nicht mehr als vierzig Jahre, mache ihn so alt wie das Jahrhundert, als das Bild gemalt worden ist. Gekleidet ist er, wie ich mir einen Buchhalter aus jener Zeit vorstelle. Eine dunkle Hose und Weste, die in Schulterhöhe ins Gold übergeht. Er trägt eine Krawatte, und aus der Weste ragen helle Hemdsärmel. Ich sehe seinen rechten Arm, die Hand ist von der Zapfsäule verdeckt. Er scheint an etwas zu hantieren. Sein Blick ist konzentriert.

Was tut er? Wer ist er? Ich sehe kein Auto weit und breit. Ist er mit dem Fahrrad gekommen? Ja, so wird es sein. Er hat es an der Hinterseite des Häuschens abgestellt, hat die Hosenklammern auf den Gepäckträger geklemmt, mit geübten Gesten das Häuschen aufgeschlossen, den Lichtschalter gedreht und macht nun die Zapfsäulen betriebsbereit. Bereit für den kommenden Verkehr, der sicherlich nur tröpfelnd an dieser Tankstelle hält, wenn es endlich Tag ist und die Dinge, die jetzt in der Dämmerung so bedrängend nah liegen, ins rechte Licht auseinandergerückt sind.

Ja, so wird es sein. Er trägt noch die Kleidung, die ihm seine Frau am Abend über den Stuhl gelegt hat, frisch gebügelt und staubfrei gebürstet. Und die er gleich gegen den Blaumann austauschen wird, angemessene Arbeitskleidung für eine Tankstellenwacht, die Benzin eingießt, Windschutzscheiben wischt und unter geöffneten Motorhauben Ölstände prüft. Und einsilbig mit den Kunden, wenn das Wechselgeld gereicht wird, über das Wetter spricht, das ist und das es geben wird. Wie jeden Tag.

Doch noch ist es nicht so weit. Ein, zwei Handgriffe bleiben dem Mann, Noch fließen die Lichtzacken wie auslaufende, weiße Farbe auf die Strasse zu. Noch lodert das rost-braune Gras am dunklen Waldrand. Noch ragt der Zedernzweig vor der Maststange wie eine gestreckte Hand. Doch gleich wird alles anders sein. Die Sonne erlöst die Nacht von der blauen Stunde. Ein lichter Tag wird sein mit einem anderen Namen als gestern.






Edward Hopper, "Gas" (1940)

Impressum

Texte: Alle Rechte liegen beim Autor
Bildmaterialien: Edward Hopper "Gas" (1940), MOM New York
Tag der Veröffentlichung: 09.10.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Beitrag zum Wortspielwettbewerb 47/2012 „Tritt ein, in meine Welt" Ausstellung „Edward Hopper“ im Pariser Grand-Palais, 10 Okt. 2°12 - 28. Jan. 2013. Siehe auch ARTE am 14. Oktober 2012, besonders den Beitrag von Wim Wenders um 16h45, der dem Gemälde „Benzin“ eine ihm eigene Interpretation gibt, die mit dieser hier nichts gemein hat.

Nächste Seite
Seite 1 /