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Der Geschichtenerzähler und die Frau von nebenan




„Mensch, da ist er schon wieder!“
Sie schalten das Blaulicht an, überholen den Mann und fahren auf die Notspur, wo sie wenige Meter vor ihm anhalten. Der Mann schlendert gelassen auf der rechten Seite der Leitplanke, bis er auf ihrer Höhe stehenbleibt. Er lächelt sie höflich an.
„Na, schon wieder unterwegs nach Rom?“
„Immer noch, ja.“
„Na dann, einsteigen, wie gehabt!“
Der Mann klettert über die Leitplanke und zieht die Seitentür des Polizeifahrzeugs auf. Umständlich nimmt er auf der Hinterbank Platz. Der beifahrende Wachtmeister dreht sich zu ihm um. „Zwei Kilometer weiter als vorhin. Mensch Fürwirth, wohin soll das führen!?“
„Das wisst Ihr doch“, antwortet der Mann trocken, legt die Hände gefaltet in den Schoss und lehnt sich zurück, „nach Rom.“

„Hat er sie noch alle?“
Der Kommissar steht mit seinen zwei Inspektoren vor der einsichtigen Glaswand, hinter der, an einem runden, braun polierten Tisch, der Mann sitzt, der kurz vorher von einer Polizeistreife auf der Autobahn aufgelesen wurde.
„Er hat keinen Widerstand geleistet, macht einen ruhigen Eindruck, drückt sich klar und verständlich aus. So weit, so gut. Ein Grandpa wie im Bilderbuch.“
„Wie heißt er?“
„Fürwirth. Alfred Fürwirth.“
„Wie alt?“
„62.“
„Beruf?“
„Nachtportier.“
Der Kommissar kratzt sich den Kopf. Es ist Mitternacht. Der 3. Mai. Die letzten Tage waren ungewöhnlich heiß gewesen. Für diese Jahreszeit zumindest. Nicht warm, sondern heiß. Nichts scheint mehr so zu sein wie vorher, jedenfalls seit die Amerikaner die Fahne auf den Mond gepflanzt haben. Ein sibirischer Winter. Hochsommer im Mai. Erdbeben und Tsunami in Japan. Letzte Woche ist vor der Küste Nizzas ein Hai gesichtet worden. Ein Hai! Unglaublich. Und nun dieser Irre, der auf der Autobahn zu Fuß nach Rom will. In die ewige Stadt. Zu Fuß!
„Macht Ihr den Anfang. Einer nach dem anderen. Ich bleibe erst einmal außen vor.“
„Wir können den Schnellrichter anrufen.“
„Damit er morgen Abend wieder an der Leitplanke unterwegs ist? Nein, noch nicht. Versucht, herauszubekommen, was diesen Opa umtreibt.“


„Warum Rom, Herr Fürwirth?“ Der junge Inspektor sitzt dem Mann gegenüber und beugt sich wohlwollend über die Tischkante.
„Ich liebte diese Stadt, damals.“
„Damals?“
„Vor zwanzig, dreißig Jahren, ja.“
„Ganz schön weit weg.“
„Kann man wohl sagen.“
„Ich meine weit weg zu Fuß. Warum nehmen Sie nicht den Wagen, oder den Zug?“
„Zu teuer. Zu teuer für mich. Außerdem mag ich Gehen.“
„Zu Fuß…“
„Gehen Sie anders als zu Fuß, Herr Inspektor?“
Der Beamte will auffahren, hält sich jedoch zurück.
„Sagen Sie, sind Sie sich eigentlich der Gefahr bewusst, für sich und andere, wenn Sie so einfach die Autobahn entlanglaufen?“
„Immer auf der rechten Seite der Leitplanke.“
„Die ersten beiden Male haben die Beamten Sie auf der linken Seite aufgelesen. Auf der Notspur.“
„Weil rechter Hand zu viel Müll lag. Unglaublich, was die Menschen aus ihren fahrenden Autos werfen.“
Der junge Inspektor atmet tief durch, stützt sich von der Tischlatte ab und erhebt sich.
„Gut, fangen wir es anders an. Sie sind Nachtportier, sagen Sie.“
„Ja, im Drei Blumen. Nicht weit von hier. Dreisternehotel. Unverdient, wenn Sie mich fragen.“
„Unverdient?“
„Die drei Sterne, ja. Der Aufzug, der Teppichbelag in der Treppe. Die Badezimmer. Alles nicht normgerecht. Aber ansonsten stinkgemütlich. Wenn sie verstehen, was ich meine.“

Alfred Fürwirth war vor einigen Jahren in die Empfangshalle des Hotels getreten und hatte die dunkelhäutige Rezeptionistin gefragt, ob ein Nachtportier gesucht würde. Samira hatte nach seinen Sprachkenntnissen gefragt, wollte wissen, wann er beginnen könnte und hatte anschließend ihren Chef angerufen. So einfach war es. Zwei Tage später hatte Alfred Fürwirth seinen Dienst angetreten. Zwölf Doppelzimmer in einem zentral gelegenen Hotel einer Stadt, in der es vor Touristen aus allen Herren Ländern nur so wimmelte. Brasilianer, Spanier, Russen, Amerikaner, Deutsche, Chinesen. Der Dienst begann und endete um acht. Zwölf Stunden hinter dem Empfangstresen, von denen er vier auf einer Pritsche in der Nische hinter dem Empfang verbringen durfte, wenn alle Gäste eingekehrt waren und keine Wünsche mehr hatten. Das Hotel war in zehn von zwölf Monaten komplett. Die zentrale Lage, wie gesagt. Und stinkgemütlich. Ja, der Inspektor versteht.
„Und jetzt haben Sie Urlaub genommen?“
Der Mann druckst ein wenig herum. Zum ersten Mal ist Verlegenheit in seinem Gesicht zu lesen.
„Nicht direkt“, sagt er schließlich und weicht dem Blick des Inspektors aus.
„Sondern?“

Eine Auszeit. Alfred Fürwirth wollte eine Auszeit. Die Fassade vor seinem Mietshaus wurde renoviert, Betonmaschinen, Gerüstbauer, Bohrmaschinen machten schon seit Tagen seinem Schlaf den Garaus. Offenbar war er der einzige in der Straße, der das Leben auf den Kopf gestellt lebte. Niemanden schien das geschäftige Handwerkeln der zahlreichen Arbeiter zu stören. Punkt acht fingen sie an, wenn Alfred seine Haustür aufschloss. An Schlaf war nicht zu denken. Er hatte es versucht. Mit Kissen auf dem Kopf, Watte in den Ohren, geschlossenen Fenstern, was bei der Hitze, zu früh in diesem Jahr, eine regelrechte Tortur war.
„Und da entschließen Sie sich spontan, von heute auf morgen, nach Rom zu marschieren.“
„So ist es.“
„Und wer ersetzt Sie im Hotel?“
„Samira. Oder ein Student. Der Chef hat eine Liste mit Studenten, die kurzfristig einspringen können.“
„Sie setzen Ihren Job aufs Spiel.“
Der Mann schweigt, starrt auf seine Hände, die vor ihm liegen. „Noch bin ich ja nicht weg“, sagt er dann.
„Aber Sie wollen immer noch nach Rom?“ fragt der Inspektor.
„Natürlich.“
„Natürlich.“ Der Polizeibeamte macht einige Notizen und erhebt sich. Wortlos verlässt er den Raum. Der Kommissar, die Arme auf der Brust verschränkt, betrachtet Alfred Fürwirth durch die Glaswand.
„Harte Nuss“, sagt der Inspektor. „Eigentlich haben wir nichts gegen ihn. Von dem hirnrissigen Fußmarsch abgesehen. Eine Ordnungsstrafe, mehr ist da nicht drin.“
„Ja schon. Aber irgendwas stimmt da nicht“, antwortet ihm der Kommissar nachdenklich. „Sag Paolo, er soll im Hotel anrufen und fragen, ob dort alles in Ordnung ist.“

Als der Inspektor wenige Minuten später erneut den Verhörraum betritt, überrascht er Alfred Fürwirth, wie dieser in seinen Notizen liest.
„Tun Sie sich keinen Zwang an“, sagt der Beamte und stellt einen Kaffeebecher neben den Mann.
„Warum schreiben Sie alles in Grossbuchstaben?“ fragt dieser. „Schwierigkeiten mit der Groß- und Kleinschreibung?“
„Wenn ich mich gehen lasse, kann ich mich selbst nicht mehr lesen. Bitte gehen Sie wieder an Ihren Platz.“
Alfred Fürwirth gehorcht und setzt sich, wie gehabt, dem Inspektor gegenüber. „Wen meinen Sie, wenn Sie schreiben, der Mann „irrt“ in der Gegend herum?“
„Na, was meinen Sie?“
„Jedenfalls nicht mich. Wenn jemand irrt, dann weiß er nicht, wo er hin will. Ich weiß, wohin ich will.“
„Nach Rom,
„Richtig. Von irren kann keine Rede sein.“
„Herr Fürwirth, 1000 Kilometer zu Fuß….“
„896. Bleiben wir bei den Tatsachen.“
„Okay. 896 Kilometer zu Fuß, nachts auf der Autobahn.. Das ist, als wollten Sie nirgendwo ankommen.“
„Ich wollte… Ich wollte zu unserer letzten Stadt zurück.“ Der Mann hält dem Blick des Beamten eine Weile stand. Dann gibt er nach und bedeckt mit den Händen sein Gesicht. Der Inspektor notiert.

Die Ehe zwischen Sybille und Alfred Fürwirth schlug, gemein ausgedrückt, mit lahmen Flügeln. Obschon dieses Bild unzutreffend war. Denn nichts schlug mehr, weder Flügel noch Herz. Sie waren eines Morgens wie an all den anderen Tagen ihres gemeinsamen Lebens aufgewacht und waren sich fremd. Sie hatten ihre Liebe über Nacht verloren.
Erst taten sie, als würden sie es nicht wissen. Die Mechanismen einer Ehe erlauben dieses Schauspiel, jedenfalls eine Weile lang. Niemand von beiden machte den anderen verantwortlich für das, was nicht mehr empfunden wurde, weder von ihr noch von ihm. Sie waren eingespielt in ihren Gewohnheiten, die wie ein Gerüst ihr gemeinsames Leben aufrecht erhielten. Leichtes Abendessen, salzlos, nie mehr als ein Glas Wein, das Frühstücksei weich gekocht, 5 Minuten im brodelnden Wasser, nicht mehr, nicht weniger. Neue Unterwäsche jeden Tag. Uhrenvergleich mit den Radionachrichten. Ein Kuss auf die Stirn, wenn er frühmorgens die braune Tasche und den Autoschlüssel nahm und ins Büro aufbrach. „Pass auf Dich auf“ als Abschiedsgruss passte in jedes Lebensgefühl, ob mit Liebe oder nicht. Er war stets der erste im Verkehr gewesen.
So wie sie sich widerstandslos ihrer Liebe hingegeben hatten, damals, gaben sie sich nun widerstandslos deren Auflösung hin. Kein Aufbegehren, kein lautes Wort, kein stilles Jammern. Beide mochten vielleicht hin und wieder einen Kloß im Hals verspüren. Mithin, bei einer Erinnerung, wurde dem einen oder dem anderen die Brust eng. Doch Tatsache war, dass das, was sie früher ihre süße Ewigkeit genannt hatten, vom kantigen Leben ernüchternd eingeholt worden war.

Eines Tages fand Sybille in dem gemeinsamen Briefkasten eine Werbebroschüre für Wochenendflüge, im Preis erschwinglich, selbst für ihr Portemonnaie, das nie sonderlich üppig gewesen war.

Die Spanische Treppe in Rom.

In Rom hatten sie, als sie noch nicht von sich lassen konnten, eine Woche stürmischen Begehrens erlebt. Von der Stadt selbst hatten sie nicht viel gesehen, das Kolosseum vielleicht, oder einige andere Ruinen, fein abgesteckt und beschildert, wie ein Freilichtmuseum. Dort, in der ewigen Stadt, hatten sie die „Dolce Eternita“ für sich gefunden, im Langenscheidt. Alfred fand das Substantiv, Sybille das Adjektiv. Einen Monat nach ihrer Rückkehr hatte das Substantiv das Adjektiv um die Ehe gebeten. Sie hatte nicht eine Sekunde mit ihrer Antwort gezögert. Dolce Eternita.

Sybille hatte Alfred die Broschüre neben den Teller gelegt, abends, wortlos. Er hatte die Serviette auseinandergefaltet und wie beiläufig auf das Farbglanzfoto der Spanischen Treppe geschaut. Als er die Augen hob, sah er, dass seine Frau fast flehendlich seinen Blick suchte. Er verstand, diese Bitte würde er ihr nicht abschlagen können.

„Natürlich war es Blödsinn, zu denken, wir könnten uns so neu erfinden. Als Paar. Als könnten tausend Kilometer Kerosin die Distanz zwischen uns beiden überwinden.“

„Blödsinn, natürlich“, notiert der Inspektor.

Es kam wie es kommen musste. Rom war eine Katastrophe. Wider Erwarten hatte es geregnet, im Hotel am Fuß der Spanischen Treppe knarrten die Stufen, die Klospüle rieselte ununterbrochen, einzig die Vorhänge im Zimmer gaben sich friedvoll. Natürlich hatte das alles nichts mit dem Rom von früher zu tun. Sie stapften über die Ruinen, oft als einzige Touristen, während die anderen in den Tavernen Capuccinos oder Rotweine tranken und darauf warteten, dass sich der Himmel gnädiger zeigte. Sie waren am Freitagabend angekommen, hatten eingecheckt und anschließend in der Hotelbar Spaghettis gegessen. Es hatte nach abgestandenen Bier und kaltem Rauch gerochen, Sybilles Migräne stellte sich ein und Alfred, dem es endlich gelungen war, sein im Flugzeug verstopftes rechtes Ohr freizugähnen, hatte vorgeschlagen, zeitig zu Bett zu gehen, um Kraft für den folgenden Tag zu sammeln. Gemeinsam hatten sie vom engen Doppelbett aus einen amerikanischen Actionfilm mit Sylvester Stallone auf Italienisch angesehen. Alfred erinnerte sich vage an die Handlung – zwei Straßenbullen jagen einen Terroristen in New York -, hatte Sylvie jedoch, die den italienischen Stallone lächerlich fand, nichts von der erinnerten Handlung verraten.

Es regnete inzwischen in Strömen. Die wenigen Menschen auf den Straßen hasteten unter ihren Schirmen, die Festerschreiben der Tavernen waren von innen von den Gesprächen und der dampfenden Kleidung beschlagen. Alfred und Sylvie beschlossen, ins Hotel zurückzugehen und einen Mittagsschlaf zu halten.

Sie mochten erst einige Minuten rücklings in Unterwäsche auf dem Bett gelegen haben, als es geschah. Plötzliche Frauenschreie in dem Nachbarzimmer, Geräusche umgestoßener Möbel, jemand trommelte mit den Fäusten gegen Alfreds und Sylvies Wand. Alfred, den Reiseführer in der Hand, fuhr erschrocken hoch. „Geh, sieh nach, was passiert ist“, flüsterte Sylvie verängstigt. Alfred zog sich seine regennasse Hose über und öffnete vorsichtig die Zimmertür. Im Flur standen bereits andere Gäste und spähten durch die sperrangelweit geöffnete Tür des Zimmers, das an das ihre grenzte. Alfred mischte sich unter die Gaffer und sah das Unglück in seinem blutigen Ausmaß. Auf dem Bett, dessen Kopfende nur durch die dünne Wand von ihrem Bett getrennt war, lag eine unbekleidete, blonde Frau. Aus ihren Handgelenken pulsierte das Blut, mit dem die Wände, der Teppich und das Bettgestell beschmiert waren. Die Frau schien besinnungslos zu sein. Alfred stürzte im Reflex ins Badezimmer, ergriff die ordentlich aufeinander gestapelten Hotelhandtücher und schnürte mit ihnen die Handgelenke der Frau ab. Ob dies das war, was es zu tun galt, wusste er nicht. Er hatte diese Geste in einem TV-Krimi gesehen. Jemand hatte die Polizei und einen Krankenwagen gerufen, denn auf einmal standen uniformierte Polizisten und rot gekleidete Krankenwärter im Zimmer und trennten Alfred von der jungen Frau. Sie sagten etwas auf Italienisch zu ihm, was er nicht verstand. „Your wife?“ wiederholte der Carabiniere seine Frage. Alfred schüttelte den Kopf und deutete mit dem Arm auf die dünne Wand, hinter der er Sylvie wusste. „Okay“, sagte der Beamte nur und drängte ihn zu den anderen auf den Flur.

„Hat die Frau überlebt?“ Der Inspektor blickt von seinem Notizblock auf und schaut den Mann fragend an.
„Ich weiß es nicht“, erwidert dieser. „Als ich in unser Zimmer zurückging, packte Sylvie unseren Koffer. Nicht eine Sekunde länger wollte sie in diesem Hotel, dieser Stadt, diesem Land bleiben. Wenn sie vom Leben hätte wegreisen können, sie hätte das auf der Stelle getan. Einen Monat später hat sie die Scheidung eingereicht.“

Die Tür öffnet sich, und der Kommissar betritt den Raum. Er geht zu seinem Kollegen, beugt sich zu ihm hinunter und flüstert ihm etwas ins Ohr.

„Ist ja alles sehr ergreifend, lieber Herr Fürwirth. Und deshalb wollten Sie also nach Rom. Zu Fuß. Eine Art Gang nach Canossa.“

Der Mann blickt zu dem Kommissar hoch, der wuchtig vor ihm steht und auf ihn wie auf einen Gnom herunterblickt.
„Und das alles spielte sich vor dreißig Jahren ab, sagten Sie?“
„So in etwa ja. Auf den Tag genau weiß ich es natürlich nicht mehr.“
„Natürlich. Kennen Sie die japanische Touristin, die vorgestern bei Ihnen eingecheckt hatte?“
„Ich checke niemanden ein. Wenn mein Dienst beginnt, ist die Gästeliste bereits komplett.“
„Meinetwegen. Aber die japanische Touristin, die sagt ihnen doch was, oder?“
„Ein junges Ding, ja. Takima heißt sie, denke ich. Takima Suzuki oder so ähnlich. Kam zu mir ins Foyer und wollte sich nach guten Restaurants im Viertel erkundigen.“
„Und?“
„Ich habe ihr eines empfohlen. Ganz in der Nähe. Warum fragen Sie?“
„Hm, Takima, die junge japanische Touristin, wurde seit gestern nicht mehr gesehen. Auch jetzt ist sie nicht auf ihrem Zimmer.“
„Wer sagt das?“
„Ihre Kollegin, Samira.“
„Das kommt vor. Weiß der Himmel, was die in der Nacht so anstellen. Ich hatte mal einen Deutschen, der sich am ersten Tag seines Aufenthaltes verliebt hat. Hat sich die ganze Woche nicht sehen lassen. Bis er kam, die Rechnung zahlte und abreiste. Sie wird schon wieder auftauchen.“
„In dem Zimmer der Frau sind noch alle ihre Sachen. Portemonnaie, Kreditkarte, Pass.“
Alfred Fürwirth zuckt die Schultern. „Na und?“
„Und wenn Sie gar nicht nach Rom, sondern, ein wenig kopflos, einfach auf und davon laufen wollten?“
„Aus welchem Grund?“
„Sagen Sie ihn uns.“
„Ich wollte nach Rom. Das hat mit der japanischen Touristin nichts zu tun.“
„Das werden wir sehen.“
Die Tür öffnet sich. Der zweite Inspektor tritt ein, ein beschriebenes Blatt Papier in der Hand, das er dem Kommissar reicht. Dieser setzt sich auf den freien Stuhl am Tisch und liest das Blatt.
„Unser Kollege hier hat ein zweisprachiges Elternhaus. Französisch und Italienisch. Seine Mutter kommt aus Rom, der Vater aus Avignon. Richtig Paolo?“
„Richtig.“
„Dann sag uns bitte, was Dir unsere italienischen Kollegen am Telefon berichtet haben.“
„Am 2. Mai vor fünf Jahren, also gestern vor fünf Jahren, hatte es im Dreisternehotel Tre Fiori an der Spanischen Treppe den Selbstmord einer Frau gegeben.“
„Wie heißt das Hotel, in dem Sie arbeiten?“ unterbricht der Kommissar den Inspektor, zu Alfred Fürwirth gewandt.
„Drei Blumen, das wissen Sie doch.“
„Seltsamer Zufall, finden Sie nicht?“
Der Mann schweigt.
„Weiter Paolo.“
Der Inspektor räuspert sich. „Der Name der Selbstmörderin ist oder war… Sylvie Fürwirth.“

Alfred Fürwirth lag, den Reiseführer Roms in der Hand, neben seiner Frau im Hotel Tre Fiori. Es regnete immer noch, sie hörten die Tropfen gegen die Scheiben prasseln. Das gelbe Licht der beiden Nachtischlampen erleuchtete nur spärlich das Zimmer. Alfred Fürwirth musste sich anstrengen, die klein geschriebenen Empfehlungen für Besichtigungen zu entziffern.
„Und wenn wir uns in den Vatikan flüchten?“ schlug er vor. „Das dauert gut und gerne einige Stunden, und bis dahin wird der Regen wohl aufgehört haben.“
Sylvie antwortete nicht. Sie starrte an die Decke, an der ein regungsloser Ventilator hing.
„Alfred, warum tun wir uns das an?“ fragte sie schließlich, den Kopf ihrem Gatten zugewandt.
„Das war Deine Idee. Rom an einem Wochenende“, antwortete er. „Als Abwechslung gar nicht so übel. Zu Hause würden wir jetzt im Supermarkt unsere Runden drehen.“
„Nein, nicht das.“
„Was dann?“
„Alfred, was ist aus uns geworden?“ Aus dem Nachbarzimmer drangen italienische Stimmen. Ein Mann und eine Frau. Offenbar stritten sie sich heftig.
„Jedenfalls nicht das“, sagte Alfred und zeigte mit dem Daumen auf die Wand hinter ihren Köpfen.
„Wenn sich ein Paar streitet, dann bedeutet das doch, dass es noch etwas gibt zwischen beiden, nicht?“
„Was ist, Vatikan oder nicht?“
Sylvie setzte sich im Bett auf. Ihr Blick war zornig. Sie riss ihrem Mann den Reiseführer aus der Hand und begann, mit beiden Fäusten auf ihn einzutrommeln. Alfred wehrte sich zunächst nicht. Erst, als ihre Schläge gefahrvoll in Hals- und Gesichtsnähe kamen, packte er sie an den Handgelenken. „Jetzt ist es genug“, sagte er ruhig und drückte ihre Hände auf ihre Brust zurück. Er erhob sich, ging ins Bad, wo er seine regennassen Hosen aufgehängt hatte, und zog sich an. Seine Frau verfolgte jede seiner Gesten mit einem unruhigen Blick. Als er sich das Hemd zuknöpfte und Anstalten machte, das Zimmer zu verlassen, sagte sie: „Wenn Du jetzt gehst, ist es zu spät.“
„Ach Sylvie“, erwiderte er nur und stand Sekunden später auf dem Hotelflur. Er hatte die Tür hinter sich lautlos zugezogen.

Der junge Amerikaner mit dem Yale-University-T-Shirt pflanzte sich vor ihm auf, eine Flasche Whisky in der Hand. Bereits reichlich angetrunken, zog er den freien Stuhl vom Tisch zurück und ließ sich auf ihn fallen.
„You’re welcome“, brachte Alfred nur heraus und nippte an seinem zweiten Bier.
„Damned rain“, sagte der Amerikaner.
„Damned rain, yes“, erwiderte Alfred, dessen Englisch aus Schulzeiten stammte, ungeeignet, dem Wortschwall eines Amerikaners mit starkem Akzent, angetrunken zudem, lückenlos zu folgen. Er verstand dennoch, dass Rom die schönste Stadt der Welt war. Dass er sie liebte. Dass die Römerinnen die schönsten Frauen der Welt waren, dass er sie liebte. Dass er am nächsten Tag nach Barcelona fliegen würde und er bereits wüsste, dass er Barcelona liebte. Und dass es dann in den Irak zurückginge, in diesen fuckin War against fuckin People.
Alfreds Bierglas war längst mit Whisky gefüllt, der Amerikaner nannte ihn Al, wie den Vize-Präsidenten, den fuckin democrate, und Al wollte mehr darüber wissen, wie es um den Irak bestellt war, doch Jeason Junior sprach von Berlin und Paris, Stationen auf seinem Europatrip, den ihm sein Daddy bezahlt hatte, der fuckin old Dad.
„Du bist wohl überall zu Hause?“ hatte ihn Al auf Deutsch gefragt, die Zunge bereits schwer. „Yeah“, antwortete Jeason Junior und erzählte von den Berlinerinnen, allesamt so lovely, wobei er die Stadt nicht besonders lovely fand, gemessen an Paris und Rom, was Al durchaus nachvollziehen konnte, obschon er Berlin nur mit der Mauer kannte. Jeason Junior wollte wissen, was Al in Rom treibe und bestellte beim Ober eine weitere Flasche, weil es draußen immer noch regnete. Holprig erklärte Al ihm, dass er auf verspäteten Flitterwochen sei, mit seiner Frau natürlich, mit seiner Frau in dieser Dolce Eternita.
„Dolce Eternita?“
„Yes, sweet Eternity.”
“Yeah”, rief Jeason Junior aus und prostete Al zu. „Dolce Eternity! Sweet Home!“
„Du bist tatsächlich überall zu Hause, mit Deinem I Love, Deinem lovely Fuckin, Du Scheißamerikaner“, dachte Al und musste plötzlich an die Kellerwohnung denken, die er im ersten Jahr nach der Hochzeit für sich und Sylvie gemietet hatte. Die obere Hälfte des einzigen Wohnraumfensters ragte auf den Bürgersteig, sodass von den vorbeigehenden Passanten nur die Schuhe und die Beine zu sehen waren. Außer dienstags und freitags. Tage, an denen der Blick von den dunkelgrünen Mülltonnen verstellt gewesen war. Wie Kinder hatten sie beide vor dem Fenster gestanden und geraten, welcher Beruf zu dem oder dem Unterleib passen würde. Stöckelschuhe - Sekretärin. Schwarze Straßenschuhe und Hosenanzug - Bankbeamter. Oder Steuerprüfer. Weiße Kniestrümpfe in roten Sandalen – „Das bin ich!“ hatte Sylvie ausgerufen und aufgeregt in die Hände geklatscht. „So war ich, wenn ich in die Schule ging.“ Das war, als die Zukunft noch vor ihnen gelegen hatte.
Jetzt wohnten sie im zweiten Stock desselben Hauses. Mit Fahrstuhl. Nachträglich eingebaut. Die Dreizimmerwohnung erstreckte sich über die Hälfte der Etage. „Welch ein Aufstieg“, dachte Alfred und musste lächeln, was Jeason Junior nicht verstand. „Fünfzehn Jahre Zukunft abgetragen und zwei Stockwerke geschafft. Jetzt verstellt ihr Müll anderen die Sicht.“ Jeason Junior schenkte nach.
„Könntest Du jemanden lieben, der mit 60 KmH über die Autobahn schleicht?“ fragte Alfred ihn auf Deutsch.
„What are you talking about?” rief der Amerikaner fast verärgert aus.
„Kannst Du oder kannst Du nicht? Flüssiger Verkehr, Tempolimit 130, Dein Auto kriecht auf der rechten Spur mit sechzig, es wird überholt, die Fahrer der anderen Autos suchen Blickkontakt mit Dir, zeigen Dir den Vogel, hinter Dir blinken die Scheinwerferhupen. Könntest Du so jemanden lieben?“ Jeason Junior guckte Alfred an wie einen Marsmenschen.
„Meine Frau schon. Sylvie schon. Sie hat mich trotzdem geliebt. Prost!“

Wenige Augenblicke später stand Alfred auf der Straße. Die Toilettentür der Taverne war zugesperrt gewesen. Mit großen Schritten war er vom Keller in die Bar und auf den Bürgersteig geeilt, hatte sich dort breitbeinig hingestellt und sich in die Hosen gepinkelt. Der Kopf drehte sich ihm. Er ging zu der runden Fontäne Barcciacia und wusch sich das Gesicht. Er spürte die Blicke der anderen Touristen, einige machten sogar Fotos von ihm: ein Mann, die Hose bepisst, schon am Nachmittag ganz offenbar betrunken, für einen Obdachlosen zu gut gekleidet. Es hatte aufgehört zu regnen. Alfred wankte auf sein Hotel zu.

Schon in der Empfangshalle bemerkte er eine gewisse Hektik. Der Portier sprach aufgeregt ins Telefon, eine Hostesse weinte. Einige Gäste in den Foyersesseln unterhielten sich laut und aufgeregt. Alfred wartete vergebens auf den engen Fahrstuhl. Er nahm die mit einem lausigen roten Teppich ausgelegte Treppe, stützte sich mühsam am Geländer ab. Auf dem Gang auf seiner Etage herrschte allgemeiner Wirrwarr. Eine Menschentraube hatte sich vor einer Zimmertür versammelt und spähte durch die sperrangelweit geöffnete Tür. Zimmer 237. Alfred wollte zunächst nicht verstehen, dass es seine Zimmertür war. Er näherte sich den Gaffern, die Frau vor ihm mochte seine Alkoholfahne gerochen haben, denn sie wich angewidert zur Seite. Alfred drängelte sich bis in die vorderste Reihe und blieb dort versteinert stehen. Sylvie, von der nur die nackten Beine auf dem Bett zu sehen waren, hatte ihr Blut auf die Wände, den Vorhang, die niedrigen Möbelstücke, auf das Poster mit dem Stadtplan Roms verspritzt. Als hätte sie sich bis zur letzten Sekunde gegen ihren eigenen Entschluss gewehrt. Oder als hätte sie das Zimmer auf immer brandmarken wollen, mit dem, was ihr rot aus den Handgelenken pulsierte. Oder beides.
„Wo ist der Mann der Frau?“ fragte eine Frauenstimme. Die Menge murmelte, Köpfe drehen sich in seine Richtung. Alfred stand, wie wenige Minuten zuvor auf dem Bürgersteig, mit gespreizten Beinen, die Arme hangen an seinem Körper herab, und er stammelte, für die anderen kaum vernehmbar: „Wir hatten ein Leben.“

Die drei Polizeibeamten schweigen.
„Warum das alles?“ fragt der Notizen machende Inspektor schließlich.
„Ich weiß es nicht“, antwortet der Mann.
„Nein, ich meine, warum erst die Geschichte von der Frau aus dem Nachbarzimmer, und warum die dreißig Jahre? Ihre Frau hat sich vor fünf Jahren umgebracht.“
Alfred Fürwirth spielt mit den Fingern. „Was macht das schon? Fünf, zwanzig, dreißig Jahre? Alles ist“ – er zeigt mit dem Finger auf seinen Kopf – „alles ist hier drin. Und da spielt Zeit keine Rolle.“
„Und warum „Die Frau von nebenan“?“
„Sie können nicht verstehen…“
„In der Tat, wir verstehen Sie nicht. Was wichtiger ist, Herr Fürwirth: Wo ist Takima?“ Die Stimme des Kommissars ist nachdrücklich, fast bedrohlich.“ Wo ist die japanische Touristin?“
„Sie wird schon noch auftauchen“, antwortet der Mann leise. “Rufen Sie Samira an. Vielleicht ist die Japanerin ja schon zurück.“
„Zurück wovon?“
„Na, von da, wo sie war.“
„Herr Fürwirth, es ist vier Uhr morgens. Wir haben uns die halbe Nacht über ihre Geschichtchen angehört. Geduldig. Sie haben uns angelogen, an der Nase herumgeführt. Was ist mit Takima passiert? Wovor laufen Sie davon?“
„Ich laufe nicht davon. Ich wollte nach Rom. Sie wissen jetzt, warum.“
„Ja, ja, Ihr Gang nach Canossa. Zurück ins Hotel Tre Fiori? Das gibt es nicht mehr. Abgefackelt, vor fünf Jahren, fast auf den Tag genau. Die italienischen Kollegen sind formell. Das Hotel, in dem sich ihre Frau vor fünf Jahren umgebracht hat, während Sie sich mit einem amerikanischen Soldaten besoffen haben, gibt es nicht mehr. Abgebrannt und nicht wieder aufgebaut.“
„Doch hier. Gleich nebenan, Drei Blumen. Ich arbeite dort als Nachtportier.“

Alfred Fürwirth war vor einigen Jahren in die Empfangshalle des Hotels getreten und hatte die dunkelhäutige Rezeptionistin gefragt, ob ein Nachtportier …..

„Stopp!“ Der Kommissar schlägt mit den flachen Händen auf den Tisch und stöhnt.
„Schluss jetzt mit Ihren Geschichten! Ihre Wohnungsschlüssel, bitte.“
Alfred Fürwirth zieht umständlich einen Schlüsselbund aus der Hosentasche. „Zweiter Stock, dritte Tür links. Die müssen Sie leicht anziehen. Das Schloss hakt.“
Der von dem Kommissar mit Jean angesprochene Inspektor nimmt den Schlüsselbund. „Welcher ist es?“
„Der gold-braune, der in der Mitte. Und die Tür leicht anziehen, sonst kommen Sie nicht rein.“

Alfred Fürwirth saß hinter dem Tresen des Empfangs und ging die Gästeliste durch. Hinter jeder Zimmernummer waren die Namen vermerkt, die Uhrzeit des Weckdienstes, sofern gewünscht, und das Frühstück, wo entweder die Kästchen für Kaffee, Tee oder Schokolade angekreuzt waren. Das Hotel war, wie fast immer, komplett. Zwölf Doppelzimmer, elf mit Paaren, zwei mit zusätzlichen Klappbetten für Kinder, ein einziges war mit einer einzelnen Person belegt. Eine Japanerin, wie er dem Namen entnahm. Takima Suruki war erst an diesem Tag angereist, die anderen Gäste waren ihm bereits vom Sehen bekannt. Er blickte hinter sich aufs Schlüsselbrett. Nahezu alle Schlüssel waren vergeben, die Gäste befanden sich auf ihren Zimmern. Nur das australische Ehepaar stand noch aus. Alfred erinnerte sich, dass es auch am Vorabend erst spät und leicht beschwipst als letztes eingekehrt war. Er schaltete die Radionachrichten an, stellte sie leise, hörte von massiven Entlassungen der krisengeschüttelten Autoindustrie, einem gewagten Raubüberfall auf einen Juwelierladen in der Hauptstadt, der Ernennung eines neues Verkehrsministers, einem gestorbenen Schauspieler, und dass einige der Reaktoren in Fukushima immer noch glühten. Für halb zwölf war das Klavierkonzert Tschaikowskys angesagt, mit Daniel Barenboim am Stehpult und einer nordkoreanischen Pianistin, ein neues asiatisches Wunderkind, wie es hieß. Aufgezeichnet im letzten Jahr im Pariser Konzerthaus Pleyel.

Gerade, als Barenboim mit den Dirigentenstäben vernehmlich auf den Notenständer klopfte und sein Orchester um Ruhe bat, ging die Fahrstuhltür auf. Alfred Fürwirth hob den Blick und sah sich einer kleinen Japanerin gegenüber, deren Kopf knapp über den Tresen ragte. Sie waren sozusagen auf Augenhöhe.
„Guten Abend“, grüsste sie höflich.
„Guten Abend Fräulein Suruki“, erwiderte Alfred gleichen Tons.
„Ich möchte nicht weit von hier zu Abend essen. Können Sie mir ein Restaurant empfehlen?“
„Ein japanisches?“ fragte er, erstaunt über ihr akzentfreies Französisch.
„Muss nicht sein. Irgendeines, in dem es gute Salate gibt.“
Alfred Fürwirth war schon seit Jahren in keinem Restaurant gewesen, weder in seinem Viertel noch sonst wo. Er wohnte zwei Seitestraßen vom Hotel entfernt und besorgte sich sein Mittagsessen beim Fleischer nebenan, der täglich preiswerte Fertiggerichte anbot, die er, wenn er ausgeschlafen hatte, am Nachmittag in seinem Mikrowellenherd aufwärmte. Sylvie hätte, wäre sie noch am Leben, mit dem Kopf geschüttelt über sein Leben aus der Dose. Aber da er auch sonst verkehrt herum lebte und die Nacht zum Tag machte, war ihm auch dieses Detail egal. Zumindest ersparte ihm der Fleischer das Kochen. Und den Abwasch, denn meistens aß er das Gericht aus dem steifen Aluminiumbecher, in dem das Essen verkauft wurde.
„Es gibt ein kleines französisches, hier gleich um die Ecke. Es macht um Mitternacht zu. Sie hätten noch eine knappe halbe Stunde Zeit.“
Die Japanerin blickte auf ihre Armbanduhr und schien zu zögern. „Und Sie, Sie haben hier nichts zu essen?“
Alfred errötete. Neben ihm lag das Schinkensandwich, das er auf dem Hinweg wie jeden Abend beim Bäcker erstanden hatte.
„Nein, nur Erdnüsse und Chips, da im Automaten.“ Er zeigte auf den blinkenden Getränkeautomaten neben dem Fahrstuhl. Eine kleine Neonröhre der Innenbeleuchtung war defekt.
„Hm.“ Takima Suruki schien unentschlossen. „Haben Sie etwas Kleingeld für mich?“ fragte sie dann verlegen. „Ich habe noch nichts umtauschen können. Schreiben Sie es mir auf die Hotelrechnung, wenn es Ihnen recht ist.“
Alfred fingerte aus der Portokasse einige Geldstücke und reichte sie ihr. „Geben Sie es meiner Kollegin morgen zurück. Oder mir, morgen Abend.“

Sie ging zu dem Automaten, warf die Geldstücke ein und zog ein Päckchen mit ungesalzenen Erdnüssen und eine Dose Orangensaft aus den Fächern. Dann setzte sie sich in einen der Foyersessel, öffnete zischend die Getränkedose und zerrte an dem Plastik der Erdnusstüte. Alfred nahm eine Schere, verließ seinen Stammplatz und ging auf sie zu.
„Erlauben Sie?“ fragte er und nahm ihr, ohne auf eine Antwort zu warten, die Tüte aus der Hand. „Ein Kinderspiel für eine Schere.“

So hatte es angefangen. Im Land der aufgehenden Sonne war es bereits Tag. Beim dritten Satz des Klavierkonzerts kannte Alfred bereits ihr Alter, wusste, dass sie Wirtschaft und Sprachen studierte, ihr der japanische Kaiser vor einigen Tagen die Hand geschüttelt hatte, sie mit einem Deutschen in Tokyo befreundet war, der für irgendeine nichtstaatliche Hilfsorganisation arbeitete, und nun in diesem Land ihr Studium beenden wollte. Mit einer Doktorarbeit über den internationalen Währungsfond. Mit dreiundzwanzig.
„Soweit die Kurzfassung“, meinte sie und lachte, als sie das Gesicht Alfreds sah. „Und Sie?“

Zum Glück stolperte das australische Paar besäuselt ins Foyer. Es war nicht klar auszumachen, wer von den beiden wen stützte. Alfred erhob sich, ging hinter den Tresen und reichte dem Mann den Zimmerschlüssel. „Have a good night“, wünschte er dem Paar, das die Treppe mit dem abgewetzten roten Teppich nahm. „Sweet dreams“, kam es ausgelassen von der Australierin, die, ohne sich umzudrehen, Alfred zuwinkte. Takima saß immer noch in dem Foyersessel und schien auf ihn zu warten. Alfred nahm sein Sandwich und brach es in zwei in etwa gleiche Stücke. Aus dem Radio erklang leise brausender Beifall. Er schaltete es aus und setzte sich neben Takima, der künftigen Doktorandin.

Takima Surukis Heimatdorf hieß Agatshuma. Eigentlich war es kein Dorf, auch keine Stadt. Eher eine Art Siedlung verstreuter Häuser, wie aus Papier gemacht, von denen niemand zu sagen wusste, seit wann und warum es sie gab, hier, unweit der Küste und im Einzugsbereich Fukushimas. Stets tief hängender Himmel, Meeresnebel in der ersten Tageshälfte, und eine ganze Fußstunde bis zur Schule, tagaus, tagein, in Uniform, mit Zöpfen und einem schweren Tornister auf dem Rücken.
Die Papierhäuser, denen das Erdbeben nichts anhaben konnte, wurden wie Streichhölzer vom Tsunami weggeschwemmt. Takima, die in Tokyo studierte, hatte das Wochenende bei ihren Eltern in Agatshuma verbracht, als die Erde bebte. Die Evakuierung in höher gelegenes Hinterland hatte nur einige Stunden gedauert. Nach dem Tsunami war die Familie Sukuri obdachlos. Sie wurde mit tausenden anderen japanischen Familien in Bauklötzen untergebracht, die in riesigen Lagerhallen aneinandergereiht wie Pilze aus dem Boden schossen. Der japanische Kaiser hatte diesen Notbehelfen mit großem Pomp einen Besuch abgestattet und unzählige Hände geschüttelt, auch die Takimas und ihrer Eltern. Für diese stand fest, dass sie, trotz kaiserlichen Händeschüttelns, nicht einen Tag länger in diesem Baukastenghetto bleiben würden. Sie wollten zurück, dorthin, wo einst ihr Papierhaus gestanden und ihr Vater Heilkräuter gesammelt, getrocknet und verkauft hatte. In die Zwanzigmeilenzone zurück, die nun verseucht war. Takima sollte auf ihr Studium verzichten und den Eltern helfen, Haus und Geschäft neu aufzubauen. Koste es, was es wolle.
„Das ist Selbstmord“, hatte die Tochter den Eltern gesagt und von zweiköpfigen Tieren erzählt, die bei Tschernobyl geboren wurden. Von einer Kuh, einem Untier mit einem einzigen riesigen Auge auf der Vorderstirn. Von Leukämie und anderen Krebserkrankungen. Es war nichts zu machen. Die Eltern bestanden auf ihre Rückkehr und darauf, dass die Tochter sie begleitete.
„Aber Du bist nach Tokyo zurück?“ fragte Alfred, der die Geschehnisse nur vage aus dem Transistorradio kannte, das hinter dem Tresen stand..
„Selbst in Tokyo wussten wir nicht, ob wir von der Seuche verschont bleiben würden“, antwortete Takima. Es würde auf den Wind ankommen, ob Niederschläge oder nicht, hat es geheißen. „Über uns hing das Damoklesschwert. Das für uns Wichtigste der Nachrichten waren die glühenden Reaktoren und das Wetter. Stell Dir mal vor. Zehn Jahre später, bei der Geburt meines Kindes, hätte ich erfahren, ob der Wind günstig war oder nicht.“
Herbert, der Freund, der für die deutsch-schwedische Hilfsorganisation arbeitete, hatte ihr ein Flugticket nach Marseille besorgt.
„Und hier bin ich.“
„Und Deine Eltern?“
„Sie haben ihre Entscheidung getroffen. Und die respektiere ich. Sie werden schon verstehen – wenn nicht jetzt, so dann eines Tages -, dass sie nicht über mein Leben entscheiden dürfen. Ich allein trage die Verantwortung für mein Leben und für das, was ich aus ihm mache. Auch, wenn sie es waren, die es mir vor dreiundzwanzig Jahren geschenkt hatten.“

Alfred Fürwirth hatte eine Weile betreten in dem Foyersessel ihr gegenüber gesessen. Ein japanischer Dreikäsehoch, fast dreimal jünger als er, in einem Papierhaus am anderen Ende der Welt geboren, teilte mit ihm ihre Erdnüsse… Was hatte er getan, als er so alt war wie sie? Oder sollte er besser fragen, was er nicht getan hatte? Oder nicht hätte tun sollen? Mit dreiundzwanzig hatte er zum zweiten Mal das Studium geschmissen, sich einen Gebrauchtwagen, einen alten, verbeulten VW-Käfer gekauft, dem, wenn er hart auf die Bremse trat, die Augen aus der Halterung fielen. An einem Sylvesterabend mit Freunden hatte er grölend einen Knaller gezündet und aus dem Fahrerfenster geworfen. Und dabei vergessen, dass dieses hochgekurbelt war. Brandnarben an den Oberschenkeln und einen geringfügigen Gehörverlust, das war es, was er aus seinen dreiundzwanzig Jahren mitgebracht hat. Zwei Jahre später stand er mit Sylvie auf dem Standesamt, wo ihm der Beamte die entscheidende Frage zweimal stellen musste, weil er die erste überhört hatte.

Takima prustete laut und verschluckte sich fast an einer ungesalzenen Erdnuss.

Tja, und dann Rom.

„Welche Version bekam sie serviert? Die erste oder die zweite?“ Der junge Inspektor schaut seinen Vorgesetzten vielsagend an.

„Beide“ ist die einsilbige Antwort.

„Weißt Du, so einfach, wie es sich erzählt, war mir der Entschluss, meine Eltern zu verlassen, nicht gefallen. Herbert, mein Freund, hatte mir reichlich zusetzen müssen, damit ich das Flugticket annehme. Rette Dich, hatte er gesagt, als ginge es um Tod und Leben. Erst wollte ich weiter in den Süden, was viele gemacht haben, weil es dort sicherer sei. Doch Herbert hat mir einen deutschen Satz übersetzt: In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Und da hatte ich mich entschieden.“
„Daran hast Du gut getan.“
„Ja, vielleicht. Aber Du hast den Mittelweg gewählt.“
„Ich habe was?“ rief Alfred verwundert aus. „Den Mittelweg?“
„Du bist mit Sylvie geblieben.“
„Takima, Sylvie ist tot.“
„Ja ich weiß. Sie hat sich umgebracht, weil sie den Schmerz nicht weiter ertragen wollte.“
„Wollte? Sie konnte nicht mehr!“
„Mag sein. Sie ertrug nicht mehr den Schmerz über ihren verlorenen Traum. Ein Leben in Liebe, ohne Streit, ohne Probleme, ohne Ecken und Kanten, ohne Gefahren, ohne Gleichgültigkeit. Das Leben hat sie enttäuscht. Nicht Du. Das Leben! Sie muss an das Ende ihrer Kräfte angelangt gewesen sein. All die Energie, die sie pausenlos aufwenden musste, die Risse in ihrem Traum abzudichten. Ein Full-Time Job, wenn Du mich fragst, den man macht, bis man nicht mehr kann. Wessen Idee war es, die Reise nach Rom?“
„Ihre.“
„Ein letzter Rettungsring, den sie ausgeworfen hatte.“
„Ich hätte bei ihr bleiben sollen, anstatt mich mit dem Amerikaner zu besaufen!“
„Wer bist Du? Gott? Sie ist ihr eigenes Opfer, Alfred. Behalte sie nicht am Leben. Nicht für Dich und Deine Zwecke. Du sprichst von Deiner Schuld. Du sagst, sie hat Dich verurteilt. Denke endlich Deine eigene Wahrheit, Alfred.“
„Welche Wahrheit? Es gibt nur eine, eine einzige: Die der Schuld, weil ich nicht bei ihr war, als sie es getan hat.“
„Wessen Schuld? Deine oder ihre? Mit dem Leben das Du führst – wenn man das Leben nennen kann – sprichst Du sie schuldig. Du hast sie verurteilt! Ja, in dieser Hinsicht bist Du ihr Richter. Jede Nacht, in der Du wachst, sprichst Du ihre Sentenz aus. Wieder und wieder. Mit jedem Schlaf, den Du Dir verwehrst, drehst Du den Schlüssel zu ihrer Zelle um. Es war ihre Entscheidung! Sie wollte es. Du nimmst eine Bürde auf Dich, die nicht Dir gehört. Nicht, dass sie zu schwer wäre, oh nein. Sie gehört Dir einfach nicht.“
„Du weißt nicht, was Du da sagst. Du warst nicht dabei. Das Blut, das Blut überall.“
„Hör auf, Dich selbst zu bemitleiden! Das ist Selbstbetrug. Als Du die anderen im Flur gesehen hast, haben sie durch die offene Tür geschaut, hast Du gesagt?“
„Ja.“
„Und Du hast Dich nach vorne gedrängelt und sie auch gesehen, stimmt’s?“
„Ja.“
„Und für die anderen war es die Frau von nebenan, die sich umgebracht hat. Und wer war es für Dich?“
„Takima, welch eine Frage. Meine Frau war es, meine Frau!“
„Nein, es war nicht mehr Deine Frau. Du warst es. Deine Frau hat Dich umgebracht. In Deinen Augen ist sie schuld, DEINEM Leben ein Ende gesetzt zu haben.“
„Das spielt nun keine Rolle mehr. Das, was es wert ist….“
„Es ist nichts mehr wert, weil Du willst, dass so ihr Urteil lautet. Du meinst, sie will, dass Du den Rest Deines Lebens auslöschst. Wegen ihr bist Du lichtscheu geworden und gehst dem Tag aus dem Weg. Das ist Deine Strafe. Du denkst, Dich zu bestrafen. In Wirklichkeit bestrafst Du sie. Rette Dich, Alfred, und lass von ihr ab. Spreche sie frei.“

Wie gesagt, auf der anderen Seite der Erde war es schon lange Tag. Alfred erhob sich und blickte aus dem Fester. In der Wohnwand der gegenüberliegenden Straßenseite war wie gewohnt das erste Fenster erleuchtet, dritte Etage, zweites Fenster von rechts. Ein Frühaufsteher, der bald, Alfred wusste es, gebeugt mit einer braunen Aktentasche an der Hand aus der Haustür treten, in seinen Gebrauchtwagen steigen und als erster den Verkehr beginnen würde. So verhielt es sich immer, Nacht für Nacht, das Wochenende und die Feiertage ausgenommen. Einmal, so erinnerte Alfred sich, es war an einem Samstag, trat der Mann wider Erwarten aus dem Haus, bestieg seinen Wagen und ließ den Motor an. Alfred hatte die Glut einer Zigarette im Wageninnern gesehen. Der Mann war eine Weile im Wagen sitzen geblieben und hatte dann den Motor ausgeschaltet. Alfred war, als hätte der Mann die Wagentür mit Wut zugeschlagen. Wenig später leuchtete das Fenster kurz auf und Alfred glaubte, einen Schatten in dem Licht zu sehen, doch dann lag die Wohnwand erneut in ihrer lückenlosen Dunkelheit.

Alfred spürte die Hand Takimas auf seiner Schulter. Sie stand hinter ihm. „Suchst Du den Mond?“ fragte sie. Alfred blickte auf seine Armbanduhr. „Nein“, erwiderte er. „Der geht gleich bei Deinen Eltern auf.“
„Und ich gehe jetzt zu Dir nach Hause“, sagte Takima. „Ich warte dort auf Dich.“
Wie selbstverständlich zog Alfred seinen Schlüsselbund aus der Hosentasche und erklärte ihr das Notwendigste – „die Tür leicht anziehen, das Schloss klemmt ein wenig“. Dann berührte er mit seinen Lippen die Stirn der kleinen Frau. „Wusstest Du“, fragte er, „dass der Mund ein Teil der Erde ist? Ein Meteorit war in sie eingeschlagen, eine riesige flüssige Masse war von ihr abgesprengt, in den Raum geschleudert worden und dreht sich nun erkaltet über unseren Köpfen.“
„Du hast Mund gesagt.“
„Ich meinte Mond.“
„Du hast aber Mund gesagt.“
„Meinetwegen. Dann hat eben gerade Deine Stirn den Mond berührt.“

„Der alte Knacker“, entfährt es dem Inspektor vor der einsichtigen Scheibe. „Holt sich so ein junges Ding in die Wohnung. Mit so einem Mondgeschwätz.“
„Ich hatte den Weckdienst besorgt, die Tische für das Frühstück gedeckt, und als Samira kam, bin ich nach Hause gegangen. Zu Takima“, hört der Inspektor den Mann hinter der Glaswand sagen.
„Und?“ fragt der Kommissar.
„Wir haben geredet, geredet und geredet. Sind auf dem Sofa eingeschlafen, waren wieder aufgewacht, haben am Nachmittag gefrühstückt, bis der Abend kam.“
„Und?“ wiederholt der Kommissar.
„Rette Dich“, hatte Takima gesagt. „Rette Dich und spreche sie frei.“
„Und Sie sind nach Rom aufgebrochen? “
„Ich wollte gehen. Einfach nur gehen. Nachdenken und gehen. Gehen und Nachdenken.“
„Nach Rom.“
„Nach Rom, nach Moskau, nach Singapur, zur erdabgewandten Seite des Mondes.“

Es ist Tag. Ein heller, lebendiger, wohlriechender Tag. Alfred Fürwirth verlässt die Polizeiwache, die Sonne blendet ihn.
Auf dem Bürgersteig steht die kleine Japanerin. Sie lächelt ihm entgegen. Alfred geht auf sie zu, nimmt ihr die Sonnenbrille ab und setzt sie sich auf.
„Das Licht“, meint er. „Ich muss mich an das Licht gewöhnen.“
Takima hakt sich bei ihm ein. „Lass Dir Zeit“, sagt sie zu ihm hinauf. Beide versuchen einen missglückten Gleichschritt, bleiben stehen, versuchen es erneut. Dieses Mal klappt es.
„Versprich nur eins“, sagt Takima und bleibt abrupt stehen. „Nie wieder fackelst Du etwas ab. Okay?“
„Es war eine defekte Steckdose.“
„Ja, ja, natürlich.“
„Oder die Zigarettenkippe eines unvorsichtigen Gastes.“
„Na klar.“
„Ein Kurzschluss im Lagerraum?“
„Alles was Du willst. Aber sag nur einmal die beiden Worte: Nie wieder.“
„Nie wieder.“


Nachtschicht




Tja, da gehen sie. Eine junge Frau, die schulterlangen pechschwarzen Haare zusammengebunden, ein grauhaariger Mann, leicht gebeugt, in einem Cordanzug, den er möglicherweise schon vor zwei Jahrzehnten getragen hat. Löcher in den Socken, und Schuhwerk, das im Leben noch keine Schuhcreme gesehen hat. Sie von der anderen Seite des Erdballs, er aus dem Diesseits. Ungleicher ginge das nicht, könnte man meinen. Was hat sie zusammengeführt? Ein missglückter Aufbruch nach Rom? Die Flucht vor radioaktiven Teilchen? Eine Selbstmörderin, die in einem schmuddeligen Hotel, das es heute nicht mehr gibt, die zerplatzte Luftblase ihres Lebenstraums nicht aushalten wollte? Ein japanisches Ehepaar mit zerfurchten Gesichtern, das auf verseuchtem Grund und Boden weggeschwemmte Papierhäuser neu errichten möchte? Was hat all dies gemein? Außer, dass es Geschichten sind, erzählt von einem Mann, der verkehrt herum lebt und sein Leben auf ein beispielloses Maß ereignisloser Dinge reduziert hat?

Hier stimmt etwas nicht. Nein, hier stimmt nichts.“ Jean, zeig mir Deine Notizen“, fordert der Kommissar den Inspektor auf.
„Chef, unsere Schicht ist aus, wir sollten…“
„Deine Notizen, bitte.“
Der Kommissar überfliegt die zahlreichen handgeschriebenen Seiten.
„Du schreibst ja tatsächlich alles groß.“
„Wenn ich mich gehen lasse…“
„Ich weiß, ich weiß. Dann kannst Du Dich selbst nicht mehr lesen.“

„Wie gesagt, auf der anderen Seite der Erde war es schon lange Tag. Alfred erhob sich und blickte aus dem Fester.“

„Sag mal, warum erzählt jemand Geschichten?“
Der Inspektor zuckt mit den Schultern. „Weil es ihm Spaß macht?“
„Seinen Spass hat er sich mit uns gemacht, in der Tat. Die Geschichte mit der Frau von nebenan, die Papierhäuser der Japanerin, dieser Psychokram mit der Schuld usf. Alles Humbug, sag ich Dir.“
„Und warum das alles? Nur, um zu entschuldigen, dass er auf der Autobahn herumlief?“
Der Kommissar schweigt.
„Sag mal, wie gross ist die Chance, ungesehen, ich meine von uns ungesehen, über die Autobahn zu kommen?“
„Gleich null.“
„Siehste? Das ist es! Er wollte aufgelesen werden“
„Um uns seine Geschichten zu erzählen?“
„Wer weiß. Manche gäben viel dafür, dass man ihnen zuhört.“

Die Frau des Kommissars sitzt ihrem Gatten gegenüber und beobachtet, wie dieser sein Frühstück zu sich nimmt. Ein Ritual, nicht dass sie ihm gegenübersitzt, denn Nachtdienst macht er erst seit einigen Monaten, sondern wie er seinen Kaffee einschenkt, tropfenlos, den Zucker umrührt, auf den Kaffee bläst und einen kleinen Schluck nimmt, einen ganz kleinen nur, um hernach mit dem Plastiklöffel auf das Ei zu schlagen, da, wo er den Kopf vermutet, und die kleinen Schalenteilchen abnimmt, eines nach dem anderen, und sie auf das Holzbrett vor sich legt. Marianne hat schon gefrühstückt und ist angekleidet. Es bleiben ihr noch einige Minuten bis zum Aufbruch in die Berufsschule, in der sie Gesellschaftskunde Halbwüchsigen unterrichtet, die mit der Gesellschaft nichts am Hut haben.
„Allein die Szene mit der Ehekrise“, sagt der Kommissar und blättert mit der freien Hand in den grossbuchstabigen Notizen des Inspektors.

„Sie waren eines Morgens wie an all den anderen Tagen ihres gemeinsamen Lebens aufgewacht und waren sich fremd. Sie hatten ihre Liebe über Nacht verloren.
Erst taten sie, als würden sie es nicht wissen.“

„Das geht doch so nicht. Niemand wacht eines Tages so einfach auf und stellt fest, mein Mann oder meine Frau ist mir fremd. Man verliert doch eine Liebe nicht wie einen Regenschirm! Was meinst Du?“
Marianne schiebt mit der Handkante die Krümel ihres Brötchens zu einem Häufchen zusammen. „Es ist schon lang her, dass wir zusammen aufgewacht sind“, sagt sie leise.
„Und dann die Sache mit Rom, mit der sogenannten Frau von nebenan. Erst eine Unbekannte, dann seine eigene Frau“, fährt der Kommissar fort.
„Ich hab Dir ein Rindergoulasch in den Kühlschrank gestellt“, sagt Marianne und erhebt sich. „Zweieinhalb Minuten im Mikrowellenherd, das reicht.“ Sie geht um den Tisch herum und küsst ihnen Mann auf die Stirn. „Bis morgen früh, Herr Kommissar.“
„Und vor allem“, er steht auf und folgt seiner Frau in den Wohnungsflur, „und vor allem – warum macht er sich nach der gemeinsamen Nacht mit der Japanerin auf den Weg nach Rom? Was sag ich! Zu Fuss auf der Autobahn nach Rom. Das macht doch überhaupt keinen Sinn!“
„Pass auf Dich auf“, sagt Marianne zu ihrem Mann, als sie die Wohnungstür öffnet und auf den Hausflur tritt. „Du auch.“ Der Kommissar schließt die Tür leise hinter ihr.

Er liegt auf dem Bett. Die Melodie von Selah Sue’s Summertime geht ihm nicht aus dem Kopf. Er hatte die CD nach dem Weggang seiner Frau in den Player gelegt und vergebens versucht, den Text zu verstehen.
Marianne zieht klassische Musik vor. Das war nie ein Streitpunkt zwischen beiden gewesen. Er konnte zwanglos stundenlang ihren Konzerten und Streichquartetten zuhören, wenn sie abends dasaßen, sie mit ihrem aus Überzeugung grünen Filzstift Hefte korrigierte, und er in einem beliebigen Buch blätterte. Wenn sie plötzlich den Blick hob, einen Faden auf seiner Strickjacke wahrnahm, der nicht an seinem Platz war, sich zu ihm hinüberbeugte und ihn mit dem Zeigefinger und Daumen wortlos entfernte. Das war ihre Liebe, ja, das wortlose sich Beachten, das Wissen, dass der andere jede Falte, jedes Grübchen an dem Körper des anderen kannte und eines Tages missen würde. Tschaikowsky fällt ihm ein. Das erste Klavierkonzert. Mit einem Ruck erhebt er sich, nimmt das Handy vom Nachttisch und wählt die Nummer des Kommissariats. Plötzlich erscheint ihm die Frage alles andere als beiläufig. Wurde in der Nacht vom 2. auf den 3. Mai das Erste Klavierkonzert von Tschaikowsky gesendet, dirigiert von diesem Barenboim und mit einer nordkoreanischen Pianistin? Die Praktikantin verspricht, sich darum zu kümmern. Der Kommissar legt den Kopf in das Kissen zurück, schließt die Augen und riecht den Zimtduft seiner Frau. Er wartet auf den Schlaf.

Die Schwerelosigkeit seines Körpers wird abrupt gestoppt von dem Geklimper, das aus der Wohnung über ihm kommt. Tonleiter rauf, Tonleiter runter. Ein Hocker rutscht, wird lautstark zurechtgerückt, Tonleiter runter und rauf. Der Kommissar blickt auf die Armbanduhr. Dreißig Minuten hatte er geschlafen, nicht mehr. Eine Klavierstunde ist eine Klavierstunde, denkt der er. Das würde er auch noch überstehen. Er geht in die Küche, um sich einen Kräutertee zu kochen. Während dieser in der Kanne zieht und er in dem tiefen Wohnzimmersessel sitzt, kommt ihm die Passage in den Sinn, in der Alfred Fürwirth und seine frischgebackene Frau die Unterbeine der vorübergehenden Passanten nach ihren Berufen abwiegen. Eine Parterrewohnung. Nein, eine Kellerwohnung, zu halber Höhe auf der des Bürgersteiges gelegen, der durch das halbe Fenster nur Unterleibe hergibt. Das mochte ein Zeichen gewesen sein für das, was ihm heute widerfährt, von seiner nächtlichen Loge aus, die seinem Blick nur einen Teil des Lebens zeigen will. Den Rest denkt er sich, überlegt der Kommissar. Und erfindet sich Geschichten. Er bezweifelt, dass Sylvie Fürwirth je in ihrem Leben weiße Kniestrümpfe getragen hatte, auch als Kind nicht, auf dem Schulweg. Marianne und er hatten einen solchen Aufstieg von Kellerwohnung in den zweiten Stock nicht nötig gehabt. Sie hatten spät geheiratet, statistisch gesehen. Beide waren schon beamtet, hatten sich bereits, wie es heißt, beruflich etabliert, als sie sich das Ja-Wort gaben. An das Gesicht des Standesbeamten kann er sich partout nicht erinnern. Nur, dass er klein gewesen war, und deshalb wahrscheinlich die Ernsthaftigkeit seiner Worte betont hatte, leicht näselnd. Der Kommissar hatte die Ringe vergessen, ja, das fällt ihm jetzt ein. Was der Zeremonie keinen Abbruch getan hatte, denn schließlich war ja alles nur der Form halber geschehen, nicht mehr und nicht weniger. Alfred Fürwirth hatte die erste Frage des Standesbeamten überhört, er hat die Ringe vergessen. Dafür hatte er sich die Oberschenkel nicht verbrannt. Ob auch die Geschichte mit den Knallern nicht stimmte? Wozu diese Geschichten? Außerdem: einem Käfer fallen nicht die Augen aus dem Gehäuse, auch bei einer scharfen Bremsung nicht. Humbug, alles Humbug.
Die kleine Elisabeth Schneider aus der Wohnung über ihm hat offenbar ihre Pflicht getan. Endlich kein Klavierspiel mehr, denkt der Kommissar erleichtert und erhebt sich schwer aus dem Sessel. Noch fünf Stunden Schlaf bräuchte er, um einigermaßen lebenstauglich zu werden. Dann würde er sich zu der Leitplanke begeben, wo die Nachtstreife den Mann aufgegriffen hatte. Ein Entschluss, den er gefasst hatte, als er vor dem Herd dem Wasser beim Brodeln zugesehen hatte.

Als junger Mann war der Kommissar getrampt. Nicht so oft wie die anderen seiner Wohngemeinschaft damals, das musste er sich eingestehen. Trampen war immer eine Notlösung gewesen für ihn, kein Lebensstil mit Blumen im Haar und Rucksack als Gepäck. Notoriger Geldmangel hatte ihn auf die Rastplätze gestellt, die Fernfahrer anbetteln oder an der Parkplatzausfahrt den berühmten Daumen strecken lassen. Bis nach Florenz hatte ihn die weiteste Tour gebracht. Freunde, die mit dem Zug angereist waren, warteten dort schon seit Tagen auf ihn. Zweihundert Kilometer mit einem Brummi, mit gefrorenem Fisch als Ladung. Fünfzig Kilometer in einem Cabriolet durch die Alpen, bis der italienische Fahrer ihm die Hand auf den Oberschenkel gelegt und er gebeten hatte, anzuhalten und ihn aussteigen zu lassen. Dann der Studienrat mit seiner Tochter und das Restaurant auf der anderen Seite der Grenze, an der die Zollbeamten den künftigen, aber nackten Kommissar nach Haschisch durchsucht hatten. Das Vorankommen war müßig, aber schließlich war er ans Ziel gekommen. Als die Freunde bereits abgereist waren, per Zug. Sein erster Wagen war ein Fiat gewesen, so einer, bei dem die Vorderfront als Einstieg diente; und den man am nächsten Morgen in einer Seitenstraße auffand, weil irgendwelche besoffenen Idioten das Ding nachts einfach weggetragen hatten.
Heute fährt Marianne mit ihrem gemeinsamen Wagen, Mittelklasse, sparsam im Sprit, dennoch, wie sie meint, eine Drecksschleuder. Sie plädiert für ein Gefährt mit Biokarburant. Elektrisch will sie nicht, wegen der Kernkraft. Aber auf den Gedanken, zu Fuß nach Florenz zu marschieren, noch dazu auf einer Autobahn, auf den wäre selbst sie nicht gekommen.

Der Kommissar gähnt und setzt sich auf die Leitplanke, das Gesicht der Böschung zugewandt. Hier muss es gewesen sein. Am Mittag war sein ohnehin flüchtiger Schlaf ein weiteres Mal unterbrochen worden. Ein städtischer Laubbläser hatte mit seinem Motorblasebalg den Hinterhof terrorisiert. In solchen Momenten vermisst der Kommissar die Zigarette. Eine Wutzigarette, hatte er gedacht und vom Balkon auf den Laubbläser hinuntergeguckt. Auch jetzt, auf der Leitplanke, würde er gerne an einer ziehen. Hinter ihm dröhnen die Autos mit der vorgeschriebenen Geschwindigkeitsbegrenzung an ihm vorbei.
„Könntest Du jemanden lieben, der mit 60 KmH über die Autobahn schleicht?“ Die Frage ist grotesk. Zum einen, weil das niemand macht, zum anderen… Marianne ist es einmal passiert, in eine Einbahnstraße verkehrt einzufahren. Sie hatten vorher miteinander gestritten, sie wollte keine Pink Floyd im Stadtverkehr, er kein Konzert für Oboe, ob nun Mozart oder nicht. Sie hatte hart auf die Bremsen treten müssen, denn der Kleinlaster vor ihr bestand auf seiner Durchfahrt. Da sie sich jedoch nicht traute, die falsch gefahrene Streck rückwärts zurückzufahren, hatte er ans Steuer gemusst. Der Kleinlastfahrer hatte ihm den Vogel gezeigt, worauf der Kommissar zornig wurde, aus dem Wagen gestiegen war und dem Fahrer seinen Dienstausweis gegen die Windschutzscheibe geklatscht hatte. „Na und, Du Arsch? Mach, dass Du davon kommst!“ hatte dieser unbeeindruckt durch das heruntergekurbelte Seitenfester geschrienen.
„Das hast Du nun davon“, hatte Marianne auf dem Beifahrersitz trotzig gemeint, als er sich den Hals verrenkte und die zweihundert Meter im Rückwärtsgang zurücksetzte. Auch da hätte er eine Wutzigarette gebraucht.
„Na, Herr Kommissar, auch auf dem Weg nach Rom?“ Der Angesprochene fährt herum und sieht auf der Notspur den Polizeiwagen, der mit Blaulicht auf seiner Höhe angehalten hat. Das Blut schiesst dem Beamten in den Kopf, wie auf frischer Tat ertappt.
„Ne, ne“, ruft er dem grinsenden Polizisten zu. „Ich will nur was nachprüfen.“
„Wir fahren den Weg heute Abend noch mal ab. Sicher ist sicher.“ Der Polizist berührt mit dem Zeigefinger sein Käppi.
„Macht das!“ ruft der Kommissar zurück und sieht dem wegfahrenden Dienstfahrzeug nach. In der Tat, ungesehen kommt man nicht zu Fuß über die Autobahn, weder zu Tage, noch bei Nacht.
Marianne hatte darauf bestanden, dass er mit dem Rauchen aufhöre. Erst in der Wohnung, sodass ihm nur noch der Balkon geblieben war. Dann überhaupt. „Selbstzerstörung“, hatte sie das genannt. „Ich will nicht zusehen, wie Du Dich, Stängel um Stängel, umbringst.“ Wie weit darf man, in der Sorge um den anderen, gehen? Anfangs hatte er sich nicht einen Deut um ihren gesundheitlichen Einwand gekümmert. Der Balkon war sein Reich, die Unterteller der Balkonpflanzen sein Aschenbecher, wenn Alkohol im Spiel war, auch der Hinterhof. Dann hatte er sich am Riemen gerissen – Marianne hatte ihn einmal, als er auf dem Balkon qualmte, „aus Versehen“ ausgeschlossen. Es war Winter gewesen, seine Strickjacke war ein recht spärlicher Schutz gewesen gegen die klamme Kälte, zumal seine Füsse nackt in den Pantoffeln gesteckt hatten. Er musste mit den Fäusten gegen das Balkonfenster trommeln, bis sie in Lockenwicklern, den Körper dampfend, aus dem Bad gekommen war und ihn befreit hatte. „Das haste nun davon“, war erneut ihr Kommentar, als er schlotternd im Wohnzimmer gestanden hatte. „Mit 60 KmH über die Autobahn schleichen“ ist dagegen glatter Kinderkram, denkt der Kommissar jetzt an der Leitplanke, wo er einen Kamm aufhebt, einen nagelneuen, schuppenreinen Kamm, der sich in ein Grassbüschel eingehakt hat. Ein Frauenkamm mit breiten, weit auseinander stehenden Zähnen, der dichtes, lockiges Haar gehalten haben muss. So einen Kamm wirft man nicht aus einem fahrenden Auto, Herr Fürwirth, so einen Kamm verliert man allenfalls, wobei – wer kann hier, wo niemand bis auf hirnrissige Nachtportiers oder nachdenkliche Polizeikommissare entlanggehen, einen Frauenkamm verlieren? Hatte die junge Japanerin an diesem Morgen, als der Kommissar beide im Gleichschritt davongehen sah, in ihrem dichten, schwarzen Haar, einen Kamm getragen? Er ist sich nicht sicher. Es war zusammengebunden, mit einem Gummiband wahrscheinlich, oder einem Pfeifenreiniger, aber ein Kamm? Das mit dem Pfeifenreiniger, der dergestalt zweckentfremdet wurde, kannte er von Marianne. Früher, als er, um die Anzahl der Zigaretten zu verringern, auch an Pfeifen gezogen hatte – er hatte bis zu sechs Stück davon, ordentlich auf seinem Schreibtisch aneinandergereiht – hatte sie ihm die bunten Pfeifenreiniger stibitzt, um sich ihre langen, welligen blonden Harre zusammenzubinden. Originell, hatte er gedacht, ansehnlicher jedenfalls als der Einmachring, mit dem er die Frau Schneider von oben einmal im Fahrstuhl überrascht hatte. Bis er sich einmal, bei einer spontanen Umarmung, mit dem Draht fast ein Auge ausgestochen hatte. „Das haste nun davon“ hatte sie nicht gesagt. Nur gelacht. Sie hatte sich die Haare bubenkurz schneiden lassen, er hatte wegen dem Zungenbrand auf die Pfeife verzichtet. Die restlichen Pfeifenreiniger waren im Mülleimer gelandet.

Entgegen seinen Gewohnheiten sitzt der Kommissar nun, zwei Stunden vor dem Dienstantritt, auf der Terrasse eines Cafés, die Notizen des Inspektors auf dem runden Tisch, neben einer halb geleerten Espressotasse und einem Glas Leitungswasser. Zu dieser Zeit pflegte er ein Bad zu nehmen und zu essen, was Marianne ihm am Vorabend gekocht und in der Frischhaltefolie für ihn im Kühlschrank bereit gestellt hatte. Dem Rindergoulasch waren heute die Klavierstunde der kleinen Elisabeth Schneider, der Laubbläser und sein Entschluss mit der Leitplanke dazwischengekommen. Er würde sich gleich, auf dem Hinweg zum Kommissariat, beim Bäcker ein Sandwich oder eine kalte Pizza kaufen.

„In Rom hatten sie, als sie noch nicht von sich lassen konnten, eine Woche stürmischen Begehrens erlebt.“

Nun ja, das kennt man. Der Kommissar schaut den vorübergehenden jungen Frauen nach, die, knapp bekleidet, mit winzigen Handtaschen und ihrem Handy in der Hand, durch die Fußgängerzone schlendern. Ja, das kennt man. Dieses Feuerwerk an Lust, das sich immer und überall entzündet, vormittags, nachmittags, in der Nacht, am Morgen, auf der Waschmaschine, im Park, auf dem Küchentisch, im Fahrstuhl, auf der Motorhaube. Und im Bett, natürlich. Wann aus dem Feuerwerk eine Wunderkerze wird, hängt von der körperlichen Verfassung ab. Und der seelischen, versteht sich. Irgendwann jedenfalls geht entweder ihr oder ihm die Luft aus, anderes wird plötzlich dringlicher, und überhaupt, man könnte schließlich gesehen werden. Man stellt sich aufeinander ein, geht nicht mehr wie selbstverständlich davon aus, der andere wolle auch, könne auch, jederzeit und überall. Zunächst wird aus dem Überall ein begrenzter Ort, das Bett, wenn auch immer noch mit Licht, gedämpft oder Kerzen. Das Jederzeit beugt sich der Regelmäßigkeit, bis man sich einreiht in statistische Werte, nicht mehr, nicht weniger. Der Kommissar hatte diesem eine Zeit lang nachgetrauert, gedacht, dass es an ihm läge. Beruflicher Stress, finanzielle Sorgen, Mariannes ewiger Kinderwunsch und sein Verdacht, sie hätte die Pille abgesetzt, hinter seinem Rücken. Oder war es ein rein biologischer Abbau? Immerhin, das Alter macht nicht jünger, auch Männer nicht. Aber jetzt, so wie er hier sitzt mit den Notizen des Inspektors, und so, wie die jungen Frauen provokant an ihm vorbeistolzieren, kann er sich dieses stürmische Begehren derart gut vorstellen, dass er die Beine übereinander schlägt.
Er ist noch voll da, er sollte mit Marianne darüber reden, vielleicht empfindet sie es ja ähnlich, vielleicht trauert auch sie dieser allgegenwärtigen Lust nach. Obschon, über Sex hatten sie nie gesprochen. Als er noch da war, als Lust, gab es nichts zu besprechen, er war halt da. Und als aus der Flut Ebbe wurde, traute sich keiner von beiden, nachzuhaken, aus Angst… Aus Angst wovor?
Der Kommissar bestellt einen zweiten Espresso. Der knöchrige Ober, an dem das Hemd, die Weste und Hose flattern, als wäre die Kleidung über ihn hinausgewachsen, knallt ihm Unterteller und Tasse auf den Tisch. Er will abkassieren, doch der Kommissar tut so, als verstünde er nicht, warum dieses Gerippe neben ihm stehen bleibt und mit der Banane spielt, der an ihm auf Bauchnabelhöhe baumelt.
„Wie geht’s Ihren Augen, Herr Inspektor?“ Die Chirurgin, die ihn vor einem Jahr operiert hatte, steht mit einem Einkaufsnetz neben ihm, aus dem große, mit brauner Erde beklebte Lauchblätter ragen. Sie trägt einen breitkrempigen Strohhut und eine ovale Sonnenbrille. Unter ihrem luftigen Kleid sieht der Kommissar ihre sehnigen Beine, eine Sportlerin, Jogging jeden Morgen, Fitness einmal die Woche und Schwimmen im eigenen Pool. Gehobener Mittelstand, selbstständig an einer Privatklinik, an die sich der Kommissar seinerzeit gewandt hatte, weil die Warteliste des öffentlichen Krankenhauses ins darauf folgende Jahr deutete.
„Kommen Sie, setzten sie sich“, fordert der Kommissar sie freundlich auf und erhebt sich. Das Schlottergerippe steht immer noch neben dem Tisch und wartet auf das Geld.
„Ich setze mich nicht neben bewaffnete Männer“, sagt die Chirurgin, und der Kommissar weiß nicht, ob sie es ernst meint.
„Hier“, er öffnet seine Jacke und zeigt Gürtel und Achseln, „ich trage nie eine Waffe.“
„Dann bringen Sie mir bitte einen roten Martini“, sagt sie dem Gerippe, setzt ihr Einkaufsnetz auf dem freien Stuhl ab und zieht sich einen anderen vom Nachbartisch heran. „Mit zwei Eiswürfeln.“ Der Ober macht kehrt und verschwindet im Innern des Bistros.
„Und, Ihre Augen?“
„Ich bin befördert worden. Zum Kommissar. Wenn ich nicht sehen könnte, hätten sie mich wahrscheinlich in Frührente geschickt.“
„Zeigen Sie mal.“ Die Chirurgin schiebt die Sonnenbrille auf ihre Stirn und beugt sich zu ihm vor. Sie legt die Hand an seine Schläfe und zieht mit dem Daumen das rechte Augenlid herunter. „Sieht gut aus“, meint sie. „Sie wollten doch zu einer Nachuntersuchung kommen, oder?“
Als er damals bemerkte, dass seine Sehschärfe immer geringer wurde und sich zwischen ihn und der Außenwelt eine Art grauer Schleier schob, war ihm zunächst Angst und Bange geworden. Ein Inspektor, der alles nur durch einen Grauschleier sieht, sei gemeingefährlich, hatte Marianne ihm gesagt. Womit sie nicht ganz Unrecht hatte. Insbesondere mit der Fahruntüchtigkeit, zuförderst in den Abendstunden, wenn die Sonne untergegangen war und die Stadt in ein Halblicht eintaucht, in dem auch für Unversehrte alle Katzen grau sind.
Erst vermutete er eine vorübergehende Ermüdung, die auf seine Sehnerven drücken würde. Im Einkaufszentrum hatte er sich eine dieser Billigbrillen gekauft, mit standardmäßigen Sehkorrekturen. Doch als er auf dem Bildschirm den Tennisball nicht mehr sehen konnte, ja sogar die Fußballer balllos auf dem Feld hin- und herrannten, hatte er einen Augenarzt aufgesucht. Grauer Star. Von heute auf morgen. Eines Morgens musste er aufgewacht sein und das Sehen verlernt haben, hatte er gedacht, was Marianne natürlich lächerlich fand. Das Auge korrigiert sich, hatte sie gemeint. Es mache Anstrengungen, um den Verlust wieder wettzumachen. Angefangen hätte das Ganze wohl schon sehr viel früher, nur bemerkt hätte er es nicht. Daher seine Kopfschmerzen, seine ewigen Kopfschmerzen, derart heftig, dass er sich zeitweilig wünschte, sich den Kopf abschrauben zu können.
„Ihre Frau lag richtig“, hatte ihm die Chirurgin in einem Vorgespräch gesagt. Sie hatte dem Fenster den Rücken zugewandt, breite, graue Lamellen hatten das Licht gefiltert, und der Kommissar konnte von ihr nur die Umrisse sehen, ein beabsichtigtes Rollenspiel, hatte er schon damals gemeint, damit er sich der Ernsthaftigkeit seiner Krankheit bewusst und widerspruchslos in den hohen Tarif einstimmen würde.
„Blödsinn“, hatte Marianne seinen Einwand abgetan und ungefragt zum Telefonhörer gegriffen. „Papa legt uns das Geld aus.“
Ihre sehnigen Beine hatte der Kommissar erst wahrgenommen, als sie ihm drei Tage nach der Operation mit der Lasergerät die erste Augenklappe – die rechte – abgenommen hatte und er mit seinem neuen Auge wie mit einem Spielzeug die Umgebung erkundete. Jetzt weiss er, was ihr fehlt.
„Warum haben Sie keinen Hund?“ fragt er auf gut Glück und denkt an einen weissen Spitz, oder einen ondulierten Pudel. Das Gerippe kommt mit dem roten Martini und stellt ihn vor die Chirurgin. Wortlos.
„Woher wollen Sie wissen, dass ich keinen Hund habe?“ Sie hebt das Glas, schwingt es unmerklich in der Hand, die Eiswürfel klimpern. Sie prostet ihm zu.
Der Kommissar antwortet nicht.
„Mein Mann mag keine Hunde. Jedenfalls keine kleinen. Wenn schon, denn schon, hat er gemeint und an einen Schäferhund oder eine Bulldogge gedacht. Eine Bulldogge! Widerlich.“
„Macht es Ihr Mann auch mit den Augen?“
Die Chirurgin verschluckt sich fast, als sie lacht. „Mein Mann sammelt Briefmarken“, sagt sie dann. Einen Moment lang stellt sich der Kommissar ihr Zusammenleben vor. Sie, wie sie in dem Pool ihre Längen schwimmt, er, mit einer Lupe bewaffnet, wie er die vollständige Zahnreihe einer seltenen Marke überprüft und den Wert mit dem Katalog abgleicht. Beide stehen auf roten Martini. Mit Eis. Jedenfalls sie. Sie sitzt ihrem Gatten in einem Bademantel gegenüber, er hockt breitbeinig vor seinem Album und blättert die knisternden Pergamentseiten um, die die Marken voreinander schützen. „Ich habe heute einen Polizeiinspektor operiert.“ „Wenn diese Zahnlücke nicht wäre, sie wäre doppelt so viel wert.“ Sie öffnet unbeabsichtigt einen Spalt breit ihren Bademantel, die Beine übereinandergeschlagen, das Poolwasser zwischen ihren Brüsten flimmert im Kaminlicht…
„Herr Kommissar, wo sind Sie in ihren Gedanken?“
„Ich werde bei Ihrer Sekretärin nächste Woche einen Termin abfragen, wenn es Ihnen recht ist“, sagt der Kommissar und zieht sein Portemonnaie aus der Hosentasche. „Wenn Sie gestatten, lade ich sie ein.“
Sie antwortet nicht, wohl, weil sie davon ausgegangen war, er würde die Rechnung übernehmen. Sie schaukelt den Rest des Martinis in ihrem Glas und schluckt den Rest mit einer abschließenden Geste hinunter. „Bis dann“, sagt sie, steht vor ihm und streckt ihm energisch die Hand entgegen. Wenig später ist sie mit ihren sehnigen Beinen in der Menge der Fußgängerzone verschwunden. Neben dem Kommissar steht das Einkaufsnetz mit den schlappen Lauchblättern, an denen braune Erde klebt. Wie zum Beweis, wo sie aufgewachsen waren.
Er hatte das Einkaufsnetz an sich genommen und in den Augenwinkeln gesehen, wie das Gerippe den Geldschein in die Banane steckte, die leeren Gläser, die Tasse und den Unterteller auf das Tablett stellte und den Tisch abwischte. Das Kommissariat liegt in einer Seitenstraße am Ende der Fußgängerzone. Bis dorthin wäre er ein Ehemann, der vom Markt seiner Frau die Zutaten zu dem Abendessen eingeholt hatte. Lauch mit Vinaigrette, salzlos, versteht sich.
Im Kommissariat hat der Kommissar wieder festen Boden unter den Füssen. Sophie, die mit Sommersprossen übersäte Praktikanten, erwartet ihn bereits. Sie will ihrem Chef das Ergebnis ihrer Nachforschungen, wie sie es nennt, persönlich überbringen. Nein, kein Klavierkonzert in besagter Nacht, weder von Tschaikowsky, noch von Beethoven noch – sie blickt auf ihren Zettel - von Rachmaninov. Jedenfalls nicht auf dem UKW. Was auf den Langwellen lief, konnte nicht überprüft werden. Eine Konzertaufzeichnung auf Radio Moskau…
„Sophie“, unterbricht der Kommissar sie. „Danke.“ Sie reicht ihm ihren Spickzettel, auf dem mit kindlicher Schrift gekritzelt ist, was sie ihm gerade berichtet hat.
„Was liegt an?“ fragt der Kommissar mit lauter Stimme. Das Briefing der Übernahme der Tagesgeschehnisse dauert eine knappe Viertelstunde. Der diensthabende Inspektor der Nachmittagsschicht liest von der Liste das Wesentliche ab. Nichts, was in die Nacht überlappen könnte. Der Kommissar schließt hinter sich die Tür seines Büros und wählt, noch stehend, seine eigene Telefonnummer. Nach dem sechsten Freizeichen legt er auf. Die Nacht kann beginnen. Er hatte das Sandwich vergessen.


Die bunt bemalte Amerikanerin klopft ungeduldig mit einem Geldstück auf den Tresen. Ihr Begleiter ist auf einem der Schalensitze eingenickt. Die Arme hängen schlaff an ihm herab. Die behaarte Brust unter dem aufgeknöpften Blumenhemd hebt und senkt sich.
„Was gibt’s Jean?“ Der Kommissar tritt hinter seinen Inspektor, der mit großen Buchstaben ein Formular ausfüllt.
„Das Übliche“, antwortet der Polizist. „Kreditkarte.“
„Kommst Du zurecht?“
„Kein Problem, Chef.“
„Und was machen Sie jetzt?“ Die Amerikanerin wendet sich an den Kommissar. „Was tun Sie jetzt?“
„Wir werden den Diebstahl protokollieren. Mit dem Durchschlag können Sie dann Ihre Bank oder Versicherung…“
„Dem Durchschlag?!“ unterbricht ihn die Frau. „Und die Diebin?“
„Es war also eine Frau.“
„Wie ich es Ihrem Wachmann bereits erzählt habe.“
„Eine dunkelhaarige, etwa vierzigjährige Frau südländlicher Abstammung mit einer Cleft Lip“, liest der Inspektor aus seinen Notizen. „Was ist das, eine Cleft Lip, Chef?“
Die Amerikanerin legt den Mittel- und Zeigefinger unter ihre Nase. „Ein Schnautzer?“
„Quatsch Jean. Hasenscharte. Schreib Hasenscharte, da.“ Der Kommissar legt den Finger auf die Rubrik „Besondere Kennzeichen des / der Tatverdächtigen“.
Das Telefon klingelt. Der Kommissar nimmt den Hörer ab. Das städtische Krankenhaus. Die Notaufnahme. Ein Pärchen sei blutüberströmt vorstellig geworden und will behandelt werden. Es habe auf sich eingeprügelt, sagt die diensthabende Ärztin dem Kommissar. „Platz- und Schnittwunden.“
„Und was sollen wir da?“ fragt er und sieht, wie der Begleiter der Amerikanerin auf den Boden sackt. Die Ärztin muss sein Grinsen gehört haben.
„Na, Herr Kommissar. Das sieht mir ganz nach Gewalt in der Ehe aus.“
„Hat einer von beiden nach uns verlangt?“
„Nein.“
„Dann flicken sie sie zurecht und schicken sie sie nach Hause.“
„Und wenn er wieder auf sie einprügelt?“ In ihrer Stimme schwingt Vorwurf.
Der Kommissar überlegt. „Okay, ich schicke jemanden vorbei.“
Als er den Hörer auflegt, öffnet sich zischend die automatische Schiebetür. Ein Gigolo, jedenfalls sieht er wie einer aus, kommt auf die Beamten zu und stellt sich neben die Amerikanerin. Schwarzes Hemd, weit geöffnet, schwarze Hose, schwarze Schuhe, schwarze, glänzende, kurz geschnittene Haare, braungebrannt und einen Zweitagebart. Und Sonnenbrille, trotz stockdunkler Nacht. An seinem rechten Zeigefinger kreiselt ein Autoschlüssel.
„Was darf’s sein?“ fragt der Kommissar.
Der Gigolo klatscht seinen Autoschlüssel auf den Tresen. Der Begleiter der Amerikanerin zuckt in seinem Tiefschlaf zusammen. „Mein Wagen. Gestohlen. Gerade eben.“
„Mein Kollege wird sich um Sie kümmern. Wenn Sie bitte so lange warten wollen.“ Der Kommissar deutet mit der Hand auf den schlafenden Begleiter der Amerikanerin. Wortlos setzt sich der Gigolo auf den entferntesten Schalensitz und schiebt sich einen Kaugummi in den Mund. Das Silberpapier landet auf dem Boden.
„Jean, ein Notfall. Ich muss ins Krankenhaus.“
Der Inspektor nickt. „Und ich, ich bin vielleicht kein Notfall?“ fragt die Amerikanerin pikiert.
Der Kommissar geht um den Tresen herum und hebt das Kaugummipapier auf. Zerknüllt wirft er es dem Gigolo zwischen die Beine und verlässt das Kommissariat.

„Wo sind die beiden?“ Der Kommissar steht in der Tür Dr. Servoras, so das Namensschild. Sie ist über den Schreibtisch gebeugt und füllt Formulare aus. Papierkram auch hier, alles will festgehalten, protokolliert und aufbewahrt werden. Das Archiv im Keller seines Kommissariats platzt bereits aus allen Nähten. Jetzt gibt es alles sogar doppelt – im Computer auf der Festplatte eines Servers, und als Papierausdruck, dem etwaige handschriftliche Notizen beigefügt werden müssen. Ein Schicksal, das auch die Grossbuchstaben des Inspektors ereilen wird, mit denen er den Romausflug Alfred Fürwirths festgehalten hat. Noch liegen die Blätter auf seinem Schreibtisch, die Streife hat nicht Neues von der Autobahn gemeldet. Kein Nachtportier, keine Japanerin, die auch diese Nacht nicht in ihrem Hotelzimmer zu verbringen scheint. So die Auskunft des Studenten, als der Kommissar am frühen Abend im Hotel Drei Blumen angerufen hatte. Auch Alfred Fürwirth macht also blau, wozu der Student sich nicht äußern wollte.
Dr. Servora, eine verhärmte blonde Frau um die fünfzig, zu der dem Kommissar spontan das Wort „trocken“ in den Sinn kommt, erhebt sich und reicht dem Beamten die Hand.
„Sie werden gerade.. wie haben Sie gesagt? ach, ja - zurechtgeflickt“, sagt sie mit auffallend dunkler Stimme. Ihre blutleeren Lippen lächeln. Eine Raucherin, denkt der Kommissar sofort und sucht mit den Augen den versteckten Aschenbecher. Ein kleines Bullauge in der Hinterwand des Büros ist weit geöffnet.
„Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wo Sie ungestört warten können.“ Der Kommissar lässt sie vorangehen und folgt ihr in einen Gang, der zu einer weiten, geschlossenen Falttür führt, über der das Schild „Notaufnahme“ rot leuchtet.
„Da kommen die Turteltauben gleich raus“, sagt Dr. Servora. „Setzen Sie sich.“
„Turteltauben? Ich dachte, sie hätten sich…“
„Ja, ja!“ lacht die Ärztin. „Aber offenbar haben sie sich wieder versöhnt. In der Aufnahmehalle“, sie zeigt auf das andere Flurende, wo der Kommissar eine Reihe von Wartenden ausmacht, die vorübergebeugt auf Stühlen sitzen oder ungeduldig hin- und hergehen, „in der Aufnahmehalle haben sie sich abgeknutscht.“
„Dann kann ich ja wieder gehen“, meint der Kommissar und breitet hilflos die Arme aus.
„Sie hat ganz schön was abbekommen“, erwidert die Ärztin. „Er auch, aber vor allem sie. Ich denke, Sie sollten auf jeden Fall mit den beiden sprechen. Man weiß ja nie.“
Der Kommissar nickt.
„Wenn Sie einen Kaffee wollen, in der Aufnahmehalle steht ein Automat. Ich muss wieder“, sagt sie entschuldigend und verschwindet in der Richtung, aus der beide gekommen waren.

Geschlagene zwei Minuten hält es der Kommissar in dem leeren, neonbeleuchteten Gang aus. Er hätte die vertrocknete Frau nach den beiden befragen sollen, bereut er und spielt mit dem Gedanken, zurück in ihr Bullaugenbüro zu gehen. Doch dann entschließt er sich für einen Kaffe und drückt die Tür zur Aufnahmehalle auf. Sofort sind alle Augen auf ihn gerichtet. Er blickt in die Runde, lächelt verlegen und wünscht laut einen guten Abend. Der Automat steht gleich neben der Tür, durch die er gekommen war. 30 Cents der Kaffee. Der braune Plastikbecher plumpst mit einem lauten Knacks in den Greifer, in den Automaten kommt Leben.
Der Kommissar setzt sich neben einen Mann, der sich eine geschwollene Backe hält. Von hier aus hat er die Notaufnahme im Auge, deren Tür immer noch geschlossen ist. Der Mann neben ihm grunzt vor Schmerz. Eine junge Mutter redet leise auf ihren Jungen ein, der sich offenbar die Hand verbrannt hat. Einer betrunkenen, sabbernden Frau blutet die Stirn. Ein Mann mittleren Alters läuft in der Halle umher, die Hände auf dem Rücken verschränkt, und murmelt Unverständliches.
„Sie haben’s mit dem Magen stimmt’s?“ fragt der Mann mit der dicken Backe.
„Ich hole nur jemanden ab“, erwidert der Kommissar leise.
„Ah, das Paar.“
„Das Paar, ja.“
„Sie sollten mehr an die Sonne.“
„Ja, wahrscheinlich haben Sie recht.“
„Den Mann kenne ich vom Sehen.“
„Der Mann von dem Paar?“
Der Mann grinst schief. „Ja. Der hat’s auch am Magen. Hundertprozent.“
„Deswegen ist er jedenfalls nicht hier.“
Der Mann lacht ruckend und drückt sich auf die Backe. „Nee, seine Frau hat ihn ganz schön vermöbelt. Wenn meine Alte das mit mir versucht hätte… Auf dem Friedhof wäre sie jetzt, nicht hier.“
„Und Sie wären jetzt im Knast.“
„Alles hat seinen Preis. Und seine Grenzen. Sie soll bloß wagen, die Hand zu heben.“

Nur ein einziges Mal wäre es bei beiden fast soweit gewesen. Marianne hatte ihn zur Weißglut gebracht. Er hatte ihr stolz von seiner Beförderung zum Kommissar berichtet. Das war die gute Nachricht.
„Und die schlechte?“ hatte sie sofort nachgehakt. „Sag jetzt nur nicht, wir müssen nach Dünkirchen ziehen.“
Dünkirchen war für beide der Neck-Plus-Ultra der Lebensunqualität. Darüber waren sie sich immer schon einig gewesen. Wenn sie sich gewahr werden wollten, welches Glück sie hätten, hier in der Sonne, unweit vom Strand zu leben. Dreißig Sonnentage dort oben, dreihundertzwanzig hier unten. Die betonierte Küste im Norden, der Sandstrand im Süden. Unilever dort, gefüllte Bistroterrassen hier. Und so weiter.
„Nein, das ist es nicht.“ Er war fast erleichtert gewesen, dergestalt aus der schlechten eine vergleichbar gute Nachricht machen zu können.
„Was, Du musst Nachdienst machen? Ein ganzes Jahr???“
„Davon geht die Welt nicht unter“, hatte er beschwichtigend gesagt.
„Ein Jahr lang? Zwölf Monate? Und ich?“
Das war der harmlose Anfang des Disputes gewesen. Ein Wort hatte das andere ergeben. Die Lautstärke schwoll an. Er und seine verdammte Karriere, warf sie ihm vor. Er wolle nach oben, um jeden Preis. Die persönliche Wachstumsrate, hatte sie seine Ambitionen genannt. Mehr verdienen, mehr kaufen, alles andere bliebe auf der Strecke. Das Wesentliche.
„Das Wesentliche! Was weißt Du schon, was wesentlich ist!“ hatte er gerufen und jeden Moment damit gerechnet, dass die Nachbarn an die Wände klopften. Sie hatte ihn mit vertränten Augen angeschaut, eine Vase wurfbereit in der Hand. „Das Wesentliche. Ich dachte… ich dachte.. das wären wir. Unsere Liebe“, hatte sie stotternd hervorgebracht, während er die Vase auffing, die sie losgelassen hatte.
Dann ist es unter die Gürtellinie gegangen. Sie wollte ihn ganz offenbar verletzen. Mit scharfer Munition. „Schlappschwanz, und nicht nur im übertragenden Sinne“, schoss aus ihrem Mund und nannte das Kind beim Namen. Und so weiter. Er muss sich eingestehen, hier und jetzt, in diesem Aufnahmesaal neben dem Mann mit der geschwollenen Wange, ja, er war kurz davor gewesen. Aber er hatte es nicht getan.

„Da sind sie.“ Der Mann mit der geschwollenen Backe stößt den gedankenverlorenen Kommissar in die Seite. In der Tat schließt sich die Notaufnahmetür hinter einem Paar, er, einen Kopf größer als sie, in einem, nun befleckten hellen Anzug. Der Kommissar erlebt sich, wirft den Plastikbecher scheppernd in den Papierkorb und will auf den Gang gehen. Vor der breiten Tür der Aufnahmehalle versagen seine Beine.

Marianne streichelt dem Mann an ihrer Seite zärtlich den Arm und blickt zu ihm hoch. Ihr Gesicht ist mit einigen Pflasterstreifen geziert, sie hat ein blaues Auge und trägt den rechten Arm in einer Schlinge. Der Mann hat eine Halskrause, auf der Stirn klebt ein Pflaster, ansonsten scheint er unversehrt, das Bein hatte er wahrscheinlich schon vorher nachgezogen. Beide bewegen sich auf die Tür des Aufnahmesaals zu, hinter der der Kommissar wie angewurzelt steht. In letzter Sekunde setzt sich der Beamte auf den Stuhl neben der Tür. Diese wird von dem Mann aufgestoßen, das Paar schreitet würdevoll, ohne den Wartenden einen Blick zu gönnen, durch den Saal auf den Parvis des Krankenhauses. Der Kommissar sieht, wie der Mann mit dem Arm ein Taxi heranwinkt. Wenig später steht er auf dem Vorplatz und schaut den roten Mercedesrücklichtern nach.
„Und, haben Sie mit ihnen gesprochen?“ Die trockene Ärztin steht neben ihm und fingert eine Zigarettenschachtel aus ihrer Kitteltasche. Die Nachtluft ist lau, aus der Innenstadt ist das Martinshorn eines Krankenwagens zu hören, eine Katze streicht surrend an den Steinbänken vorbei. Dr. Servora friert. Fröstelnd zieht sie sich mit beiden Händen den weißen Kittel enger an den dürren Körper.
„Ja, ich habe sie vorgeladen“, lügt der Kommissar und nimmt die Zigarette, die ihm die blonde Ärztin reicht. Erst nach dem dritten Zug bemerkt der Kommissar, dass er raucht. Zum ersten Mal seit zehn Jahren. Der Kopf drehte sich ihm. Er geht zu einer der Steinbänke und setzt sich. Die Ärztin folgt ihm lautlos. Der Kommissar hebt den Kopf und sucht den Mond.
„Woran erkennt man, ob der Mond zu- oder abnimmt?“ fragt er sie.
„Das kommt darauf an, von wo aus man ihn betrachtet.“
„Von hier aus.“
„Auweia, das ist lang her.“ Die Ärztin setzt sich neben ihn und zieht das Feuerzeug aus der Tasche. Mit der umgekehrten Seite malt sie ein kleines „a“ auf den Sandboden.
„Wenn der Bauch links ist, dann nimmt er ab. Ja, so muss es sein.“
„Und umgekehrt, natürlich.“
„Natürlich.“
„Und in Japan?“
„Da fragen Sie mich zuviel. Sie scheinen es nicht eilig zu haben, ins Kommissariat zurückzufahren.“
„Und Sie nicht, sich um Ihre Patienten zu kümmern.“

Servora ist ein slowakischer Name. Jana war mit achtzehn in dieses Land gekommen, zum Studium der Medizin. Verliebt in die französische Sprache, und verliebt in einen französischen Sprecher, natürlich. Ein Medizinstudent wie sie, den sie in einem Austauschprogramm in ihrem Land kennengelernt hatte. Ob sie ihn liebte, um aus ihrem Land herauszukommen, oder ob er es war, den ihre Liebe meinte, vermag sie nicht zu sagen. Er hat ihr die Staatbürgerschaft gegeben, mit einigen Hindernissen, wie sich schnell herausgestellt hatte. Denn ihr Vater war hoher Parteifunktionär und in der Rüstungsindustrie tätig. Auf sein Konto ging der Entwurf für die Verschlussdeckel der Panzer. Immerhin genug, um die hiesigen Abwehrdienste zu bewegen, ihr einen Deal anzubieten. Doch Jana hatte von Panzern und Spionage wenig im Sinn. Ihr war es darum gegangen, Leben zu heilen und zu retten, und nicht irgendwelche Zeichnungen dem Vater aus der Aktentasche zu ziehen. Auch wenn sie diesen Vater nicht liebte. Ein sehr kluger Mann mit sehr kräftigen Armen. Und Händen wie Bratpfannen.
„Wo die hinschlugen, wuchs kein Gras mehr“, erzählt Jana dem Kommissar. Dieser ahnt, was es mit diesen Bratpfannen auf sich hatte, damals, als Jana mit Schulfreunden flügge werden wollte. Sogar Jeannot, der französische Medizinstudent mit seiner runden Trotzkibrille aus braunem Horn, wäre um ein Haar nicht ungeschoren davongekommen. Wenn Jana sich nicht zwischen sie gestellt hätte.
„Das war gewissermaßen unsere Verlobungstat“, meint die Ärztin, die, wie der Kommissar bemerkt, keinen Ehering trägt. Sie war zwischendurch in ihr Büro zurückgekehrt, um die Aufnahme und Diagnostik eines neuen Patienten zu erledigen und hatte dem Kommissar die Schachtel mit den Zigaretten zurückgelassen. Als Pfand, sozusagen, damit er bliebe.

Er hatte in ihrer Abwesenheit im Kommissariat angerufen und nach dem rechten gefragt. „Im Westen nichts Neues“, hatte Inspektor Jean sein Lieblingsbuch zitiert. Eine Schlägerei vor einem Restaurant in der Innenstadt, die von einer Bedienung gemeldet wurde. Drei Halbstarke hätten sich über ein Paar hergemacht, das dort zu Abend gegessen hatte. Beim Eintreffen der Streife seien jedoch Täter und Opfer verschwunden gewesen. Zwei weitere gestohlene Kreditkarten, eine Frau, die ihren Mann als vermisst melden wollte, zwei Betrunkene, die im Brunnen der Einkaufsstraße nackt gebadet hätten und nun in der Ausnüchterungszelle ihren Rausch ausschliefen.
Das Übliche für einen Wochenbeginn. Nur an den Sonntagen war es ruhiger. Sogar so ruhig, dass ein herumirrender Nachtportier eine unterhaltsame Abwechslung war. Nein, keine Spur von den beiden, kam Inspektor Jean der Frage des Kommissars zuvor.
„Ich habe noch im Krankenhaus zu tun. Ruf an, wenn was ist“, hatte der Kommissar abschließend gesagt und das Gespräch weggedrückt.
„Ich weiß nicht, ob ich etwas versäume. Tagsüber meine ich. Aber dieser Duft. Diese Stille. Die Nacht erholt sich vom Tag.“ Jana kommt zurückgeschlendert, sie lächelt, als wäre ihr gerade etwas Gutes widerfahren. „Warum schlagen Sie sich denn die Nacht um die Ohren?“
Der Kommissar will von seiner Beförderung erzählen, und von der Bedingung, die an sie geknüpft war.
„Ich denke, ich wollte für einige Zeit meiner Ehe aus dem Weg gehen. Eine Art Auszeit, verstehen Sie?“
„Ich kann es versuchen.“ Sie sieht nicht mehr so trocken aus wie am Anfang, denkt er. Hat sie sich die Lippen nachgezogen? Die Wangen ein wenig geschminkt? Auch geht von ihr nicht mehr dieser Krankenhausgeruch aus, diese Mischung aus Chlor und Kampfer. Er meint, durch ihren Kittel ihre Haut riechen zu können. Ein angenehm heimischer Duft von kleinen Schweißperlen, die er in ihrem Ausschnitt ahnt.
„Ehen sollten auf Zeit abgeschlossen werden. Eine Art Zeitvertrag, drei Jahre, oder sechs, meinethalben zwölf. Dann läuft sie aus und muss, wenn beide es wünschen, neu geschlossen werden.“
Dr. Servora lacht. „Ganz schön teuer, das Ganze. So viele Hochzeiten.“
„Billiger als die Scheidungen, oder?“
„Und wenn Kinder sind?“
„Haben Sie Kinder?“
„Ja, zwei. Eine Tochter und einen Jungen. Jelena studiert Biologie. Janus Medizin. Wie der Vater.“
„Und die Mutter.“
„Ja, aber er will es wie sein Vater machen. Ärzte ohne Grenzen. Mal in Somalia, mal im Irak. Mal da, mal dort. Haben Sie Kinder?“
„Nein.“
„Das macht die Sache einfacher.“
„Welche Sache?“
„Ihre Auszeit. Was sagt Ihre Frau dazu?“
„Bis gestern meinte ich, sie würde auf mich warten.“
„Und heute?“

Der Kommissar erzählt von dem Paar, das vor einem Restaurant von drei Halbstarken überfallen wurde. Von der Restaurantbedienung, die die Polizei verständigt hatte. Und dass, als die Streife eintraf, sowohl die einen, die Täter, als auch die anderen, die Opfer, verschwunden waren.

„Marianne wollte die Polizei nicht. Wegen mir.“

Jana schweigt. Als ihr Mann sie von einer Mission, sie denkt, es war der Kongo gewesen, angerufen hatte und sagte, er werde bleiben, fürs erste, wusste sie, dass er wegen einer anderen Frau dortblieb. Sie hatte es ihm auf den Kopf zugesagt, am Telefon, und er hatte nur Ja gesagt. Und Entschuldigung.
„Und dann hatte er aufgelegt. Und ich habe zwei Jahre lang nichts von ihm gehört.“
„Und dann?“
„Dann hatte ich ihn eines Tages im Fernsehen gesehen. Ein Interview, in dem er von seinen Notoperationen erzählte, von den Regierungssoldaten, die die Krankenhäuser bombardierten, den typischen Kriegsverletzungen, Granatsplitter, Schusswunden, und dass es an Medikamenten fehlen würde. Und, und, und. Ein weißbärtiger Mann, das Gesicht sonnendurchfurcht. Aber immer noch mit seiner runden Trotzkibrille aus braunem Horn. Er hat gut ausgesehen.“ Sie greift in die Kitteltasche und hält einen Ring zwischen Zeigefinger und Daumen. „That’s It“.
„Und wo ist er jetzt?“
Sie zuckt mit den Schultern. „Irgendwo, wo geschossen wird. Vielleicht ist er auch tot.“
Sie verstummt, spielt mit dem Ring. „Nein, er ist nicht tot. Ich würde es fühlen“, meint sie schließlich und lässt den Ring in der Tasche verschwinden. Der Kommissar spürt, dass sie einen wunden Punkt angesprochen haben und wechselt das Thema. Der Nachtportier. Die Autobahn. Rom. Der Selbstmord der Frau von nebenan. Dem der eigenen Frau. Er erzählt, als wenn es eine Erinnerung wäre, eine Geschichte, die ihm gerade jetzt durch den Kopf geht. Die Japanerin verschweigt er.
Jana hört ihm zu, ohne Fragen zu stellen. „Es ist manchmal schwierig, vom Schmerz abzulassen“, sagt sie dann. Der Kommissar muss an den Ring denken, den die Ärztin in ihrer Tasche trägt, griffbereit.

„Ich habe Sie vorhin mit dem Mann mit den Zahnschmerzen gesehen. Als Sie ihren Kaffee getrunken haben.“
„Ich dachte, Sie wären in ihrem Büro. Mit Ihren Zigaretten.“
Die Ärztin lächelt. „Ja, aber dann bin ich noch einmal auf den Gang zurück und habe Sie neben dem Mann mit den Zahnschmerzen gesehen. Er ist jede Nacht hier.“
„Warum das?“ fragt der Kommissar erstaunt.
„Er weiß, dass wir hier keine Zahnoperationen durchführen. Wir sind dazu nicht ausgerüstet. Und Zahnschmerzen sind nicht richtige Notfälle, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
„Na, gegen die Wand rennen möchte man schon, wenn das so richtig losgeht.“
„Eine Spritze tut es auch. Oder Schmerztabletten. Die bekommt er auch, jede Nacht. Und den Rat, dass er zum Zahnarzt gehen soll, oder in eine Zahnklinik. Aber er macht das nicht. Jede Nacht steht er erneut auf der Matte, hält sich die Backe und stöhnt vor Schmerzen.“
„Und warum lässt er sich den Zahn nicht ziehen? Tagsüber meine ich.“
„Weil er dann keinen Grund mehr hätte, in der Nacht zu uns zu kommen.“
„Dann schmeißt ihn doch einfach raus. Ohne Spritze. Ohne Schmerzmittel. Dann würde er garantiert zum Zahnarzt gehen, am nächsten Tag.“
„Was ist schon eine Spritze. Oder eine Tablette. Der will in der Nacht nur nicht allein sein. Schmerz kann auch eine Bitte um Aufmerksamkeit sein.“
„Und seine Frau? Er ist doch verheiratet, hat er gesagt.“
„Der und verheiratet?“ Jana lacht. „Da träumt er vielleicht von.“
„Ich verstehe das nicht“, sagt der Kommissar nach einer Weile. „Die Menschen sind kompliziert.“
„Meinen Sie, ich versteh das alles? Kann ich gar nicht. Und will ich auch gar nicht. Ich könnte den Job nicht einen Tag länger machen, wenn ich all das verstehen würde, was uns nachts an Elend vor Augen kommt.“
„Ja, sicher liegt das an unseren verschiedenen Berufen. Ich muss verstehen, bei Ihnen reicht ein Pflaster. Oder eine Halskrause. Oder eine Spritze.“
„Armer Kommissar.“ Sie lacht und schlägt ihm kräftig mit der Hand auf den Rücken. „Und deshalb lassen Sie von diesem Nachtportier nicht los? Nur, weil Sie nicht verstehen, warum er Rom zu Fuß erobern will?“
„Zu Fuß auf der Autobahn. Nuance. Und in der Nacht! Seltsam ist das schon, oder?“
Jana scheint unschlüssig. „Und außerdem“, hebt er an, um sie zu überzeugen, „außerdem wurde Tschaikowsky, Barenboim und die koreanische Pianistin nicht übertragen. Nicht an diesem Abend!“
„Na dann. Das mit dem Klavierkonzert Tschaikowskys beweist natürlich alles.“
Sie summt das Leitthema des ersten Satzes. „Ein Vorschlag: Ich lade Sie zu einer Baggerfahrt quer durch die Eifel ein. Wie halten Sie davon?“
Der Kommissar blickt sie ungläubig von der Seite an. Dann lacht er.
„Na, bin ich nun reif für die Klapsmühle? Oder gar verdächtig?“
Sie zünden sich eine Zigarette an.
„Und was werden Sie jetzt tun?“
„Ich werde beim Frühstück auf meine Frau warten. Ich werde den Tisch decken, die Eier und den Kaffe kochen und auf sie warten. Aber sie wird nicht kommen.“
„Weil sie Ihnen die vielen Pflaster im Gesicht nicht erklären kann?“
„Vielleicht. Oder nein. Ich denke, der Überfall auf sie und ihren Typen war ein Zeichen. Es hilft ihr, sich zu entscheiden. Und zur Stunde“, er blickt auf die Uhr, „ hat sie sich bereits entschieden.“
„Nein, Sie haben sich entschieden.“ Der Kommissar spürt Janas Hand auf seinem Schenkel. Ihr Piper geht. „Werden Sie noch da sein, wenn ich zurückkomme?“ Sie steht auf und blickt ihn an. Sein Handy vibriert, und geht zu „Summertime” von Selah Sue über. “It's out there summertime bring me joy.” Sein Song. Er ist der Handynummer Mariannes zugeordnet. Der Kommissar zieht das Gerät aus der Hosentasche und nimmt das Gespräch an. Jana beisst sich auf die Lippen. Mit einem Ruck macht sie kehrt und schlendert in die Richtung ihres Büros. Langsamer, als sie will. Den Kopf eingezogen. Die Hände tief in die Taschen gegraben, wo sie in den Ehering weiß, aber nicht spürt.

Die Blaue Stunde




Marianne sitzt, nein, sie hockt zusammengesunken auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch. Noch sieht sie den Kommissar nicht. Er wechselt einige Worte mit Inspektor Jean, sagt ihm, dass das Ehepaar aufeinander eingedroschen, sich inzwischen aber versöhnt habe und eine Aktion seitens der Polizei nicht notwendig sei. Der Inspektor nickt und lenkt den Blick des Kommissars auf den Gigolo, der immer noch auf der Wartebank sitzt und Kaugummi kaut. Zu seinen Füssen liegen unzählige Streifen Silberpapier. Er hat die Vorderarme auf die Beine gestützt und kaut vor sich hin, die Sonnenbrille auf den Kopf geschoben. Immerhin.
Der Kommissar überfliegt kurz die Grossbuchstaben des Inspektors, der den Überfall auf seine Frau protokolliert hat. Kurz vor Mitternacht, Kinobesuch, zwei vermummte Männer jungen Alters, ihr Bargeld. 35 Euros, so in etwa. Genau weiß es Marianne nicht. Er öffnet die Tür zu seinem Büro, Marianne dreht sich zu ihm um, lächelt verkrampft. Sie hat die Pflaster immer noch im Gesicht. Nur die Armbinde trägt sie nicht mehr. Mit der rechten Hand hält sie sich das linke Handgelenk.
Noch in diesem Moment weiß der Kommissar nicht, was er sagen, wie er sich verhalten sollte. Auf dem Herweg, er hatte das Blaulicht seines Dienstwagens angeschaltet, war er keines vernünftigen Gedankens fähig gewesen. Er hatte die beiden Seitenfenster heruntergefahren, wollte den Luftzug der Nacht spüren, die, wie Jana gesagt hatte, sich von dem Tag erholt. Romantisch, diese blonde Ärztin, die, als er das kurze Gespräch mit Marianne beendet hatte, verschwunden war. „Nein, Sie haben sich entschieden“, hatte Jana gemeint, und er spürt noch den Druck ihrer Hand auf seinem Schenkel. Wenn das so einfach wäre. Jedenfalls hatte er seine Dosis an Wutzigaretten gehabt, das war schon was.
„Marianne, was machst Du bloß!“ kommt es recht tonlos aus ihm heraus. Er beugt sich zu ihr hinunter und küsst zwischen zwei Pflaster ihre Stirn.
„Das hast Du nun davon“, erwidert sie, „Deine arme Frau alleine ins Kino gehen zu lassen.“
Attacke ist immer noch die beste Verteidigung, geht es ihm durch den Kopf. Er setzt sich ihr gegenüber. „Erzähl.“
Kino, kurz vor Mitternacht, zwei junge Männer mit Pudelmützen…
„Mit Pudelmützen? Bei dieser Temperatur?“
„Na ja, sie wollten wohl nicht erkannt werden“, meint sie. Sie hätten an ihrer Handtasche gerissen, die sie nicht loslassen wollte. Deshalb die Schläge. Mit der Faust.
„Hat Euch niemand gesehen? Kein Zeuge?“
Sie stockt. „Wieso Euch?“
„Na, Dich und die Männer.“
Tiefes Durchatmen. Sie weiß es nicht. Sei erst wieder zu sich gekommen, als die Männer bereits das Weite gesucht hatten. Mit ihrem Bargeld.
Der Kommissar lehnt sich in seinem Stuhl zurück und betrachtet seine Frau. „Du Lügnerin“, denkt er, „Du elende Lügnerin. Wenn Du wenigstens die Stirn hättest, mir reinen Wein einzuschenken. Bin ich es nach all den Jahren nicht wert?“ Die Hände des Kommissars umklammern die Lehne seines Sessels, bis die Knöchel weiß hervortreten. Er muss den Kopf wegdrehen. Weg von ihr.
Durch die Lamellen seines Bürofensters sieht er zum Glück, wie der Gigolo erregt auf den Inspektor einredet. Der Kommissar springt auf und stürmt aus dem Büro. „Was ist hier los?“ ruft er unangemessen wütend, dem Gigolo zugewandt. Dieser fährt erschrocken zurück. „Meine Kiste…“ stammelt er, „die haben meine Kiste geklaut, und hier passiert nichts!“
Der Kommissar packt den Gigolo an seinem schwarzen Hemd und schleift ihn zu den Silberstreifen. „Aufheben“, sagt er ruhig, wie vor einem Sturm.
„Sie haben nicht das Recht…“
„Aufheben, oder ich stopfe Dir das Zeug in Dein Maul.“
Der Gigolo, den Kopf schräg zum Kommissar gehoben, sammelt mit einer Hand seine Kaugummireste auf.
„Mach, dass Du raus kommst!“
Wenige Augenblicke später steht der schwarz gekleidete Gigolo auf der Straße und streckt dem Kommissar den Mittelfinger zu.
„Ruf meiner Frau bitte ein Taxi, Jean“, sagt der Kommissar.
„Alles in Ordnung, Chef?“ Der Inspektor zieht besorgt die Augenbraunen hoch. Der Kommissar antwortet nicht.

„Entschuldige bitte“, sagt der Kommissar zu seiner Frau, die dem Ganzen mit offenem Mund zugeschaut hatte. So hatte sie ihren Mann bislang nicht erlebt. Er konnte Worte austeilen, ja, aber handgreiflich hatte sie ihn noch nie gesehen.
„Wie war der Film?“ will der Kommissar wissen, nun die gewohnte Ruhe selbst.
„Mir ist jetzt nicht, über Kino zu sprechen“, sagt Marianne.
„Ich verstehe.“
Sie sitzen sich eine Weile schweigsam gegenüber.
Dann erhebt Marianne sich. Der Kommissar begleitet sie zum Ausgang. Er küsst sie erneut auf die Stirn. „Da ist Dein Taxi“, sagt er. „Und pass auf Dich auf.“

Sie hat sich für die Lüge entschieden, denkt der Kommissar. Nun ja, gelogen hatte sie schon vorher, seit sie diese Affäre mit diesem Hinkelbein hat. Nur hatte er nichts davon gewusst, das ändert alles. Er könnte der Sache ein sofortiges Ende bereiten, sie zur Rede stellen, jetzt sofort. Sie würde zusammenbrechen und weinen. Um Entschuldigung bitten, vielleicht. Oder ihre Sachen packen und fortgehen, endlich erlöst von dem Schein, den sie vor ihm zu wahren hatte. Was wäre ihm lieber? Der Kommissar geht nachdenklich in sein Büro zurück, gefolgt von den Blicken des Inspektors, der ebenfalls seinen Chef nie handgreiflich gesehen hat. Der Kommissar zieht die Zigarettenschachtel aus der Tasche, die Jana ihm gelassen hatte. Genüsslich zündet er sich eine Zigarette an und bläst durch den Rauch. „Ich spiele mit, Marianne, ich spiele Deine Lüge mit“, denkt er und sucht vergebens in der Schreibtischschublage nach einem Aschenbecher. Dort hatte es immer gelegen, dieses kristallene, flache Ding. Jetzt liegt dort nur noch, über diversen Papieren, seine Dienstwaffe, matt-schwarz.

Er hatte es sich einfacher vorgestellt. Einfach so tun, als ob. Als ob alles beim Alten sei. Die Gesten, die kleinen, belanglosen Worte, die Blicke, die sich wie verabredet treffen. Die Rücksicht, die sie aufeinander nehmen. Den anderen nicht unterbrechen. Ihm helfen, die Dinge wieder an ihren Platz zurückzustellen. Die Aufmerksamkeit, der wenig entgeht. Der Fussel auf seinem Pullover, die Masche an ihrer Ferse. Das erste graue Haar, das der andere lachend entdeckt. Die kleinen Falten in den Augenwinkeln, die vom Staunen kommen, wie er scherzhaft meint. Staunen über das gemeinsame Leben, das Falten wirft.

Nein, schon mit dem verabredeten Blick hat es sein Leiden. Als zögen an seinen Pupillen unsichtbare Kräfte und zwängen sie, woanders hinzublicken. Die kleinen, belanglosen Worte machen seinem Redeschwall Platz, wenn er, was er nur äußerst selten getan hatte, von seinen nächtlichen Einsätzen berichtet.

Ihre Pflaster hat sie bereits vor Tagen abgenommen. Sie hätte einen vorbeifahrenden Notarztwagen angehalten, hatte sie auf seine Frage geantwortet, und um eine ambulante Behandlung gebeten, vor dem Kino. Einfach so. Er hätte ihr ein bisschen mehr Fantasie zugetraut. Nun sind unter der Schminke nur beim genauen Hinsehen kleine, rote Male zu sehen. Wie vergangene Mückenstiche. Er hätte ganz, ganz nah mit seinem Gesicht an das ihre gemusst, um es deutlicher zu sehen. Doch das kann er nicht. Ihr Arm lässt sich inzwischen auch wieder normal bewegen.

An einem Morgen beschließt er, ihr noch am selben Nachmittag nachzugehen. Er will sie sehen, beide. Um Zweifel wegzuschieben. Zweifel, ob das, was er in Janas Notaufnahme gesehen hatte, tatsächlich stattgefunden hatte. Zweifel und Hoffnung.
„Was fehlt uns zum Glück, Marianne?“ hatte er sie provokant am Frühstückstisch gefragt und sie zärtlich angelächelt. Marianne hatte nichts gesagt, nur dagesessen und geschaut, wie er das Ei aufschlug.
„Ein… ein Kind?“ hatte er gefragt und die Schalen abgepellt.
Sie hatte den Kopf gesenkt und geschwiegen. Hatten ihre Lügen Grenzen?

Er hätte nicht gedacht, dass es so einfach wäre. Der Kommissar hatte kurz vor sechs vor der Berufsschule Position bezogen. Ein geparkter Lieferwagen, der an beiden Seiten in einer umständlichen Halterung fabrikneue Schaufensterscheiben trug, und ein mannshoher Stromgenerator geben ihm auf der gegenüberliegenden Straßenseite die notwendige Deckung. Der Kommissar erspäht seinen Widersacher, noch bevor die ersten Schüler die Ausfahrt durchreiten. Kein Zweifel, das ist er. Dieselbe Größe. Eine braune Lederjacke, enge Jeans und spitze Halbstiefel, alles in allem zu jung für sein Alter. Wie alt? Zwischen fünfzig und fünfundfünfzig, schätzt der Kommissar. Die letzte Gewissheit bekommt er, als der Mann einige Schritte hin- und hergeht, wohl aus Ungeduld, und er ein Bein steif nachzieht. Der Kommissar ist enttäuscht. Für so ein durchschnittliches Hinkelbein setzt Marianne alles aufs Spiel? Schon kahl auf dem Hinterkopf, die Nase leicht buckelig. Eine schmale Stirn, weil der Haaransatz ungewöhnlich tief sitzt. Die buschigen Augenbraunen liegen zu eng zusammen. Allein die Ohren scheinen dem Kommissar normal. Mittelgroß, ohne Läppchen.
Plötzlich sind sie alle da. Alle auf einmal. In dichten Trauben kommen sie über den asphaltierten Schulhof auf die Ausfahrt zu, die Rucksäcke über die Schultern geworfen, die meisten ausgelassen, wie befreit nach neun Stunden Unterricht, schlaksig die Beine nach vorne geworfen, Coladosen und Zigaretten in den Händen. Auch der Kommissar raucht und späht, wie der Mann, nach Marianne aus.
Sie lässt auf sich warten. Der Kommissar sieht, wie der Mann zu seinem Handy greift. Hinkelbein, aber ungeduldig, denkt der Kommissar, der hier zum ersten Mal steht. Nie war es ihm in den Sinn gekommen, sie von der Schule abzuholen. Und nun lauert er ihr auf!
Der Mann sieht Marianne als erster. Der Kommissar merkt dies, weil sein Widersacher plötzlich eilig sein Handy wegsteckt und einige Schritte in die Richtung der Ausfahrt hinkt. Wenige Augenblicke später liegen sie sich in den Armen. Nicht zu lange, nicht zu heftig. Wie ein Paar, das sich seit den Morgenstunden nicht gesehen hat und nun, nach der Begrüßung, zur freizeitlichen Routine übergeht.
Er folgt ihnen in einem sicheren Abstand. Der Mann hat Marianne nicht die Aktentasche abgenommen, sie baumelt zwischen beiden, er ist es, der spricht, fast auf sie einredet, während sie den Kopf schüttelt. Mitunter bleiben sie mitten auf dem Bürgersteig stehen, er packt sie an ihren Schultern, als wolle er etwas aus ihr herausschütteln. Sie löst sich mit einem Ruck von ihm, hat nun einen kurzen Vorsprung, den er hinkend einholt.
Vor dem Hotel Drei Blumen bleiben sie stehen. Ein kurzer Wortwechsel. Sie möchte weitergehen, er hält sie am Arm zurück. Wie ein Tanzpaar ziehen sie aneinander. Sie zur Straße, er in den Hoteleingang. Schließlich gibt sie nach und lässt sich ins Drei Blumen zerren.
Der Kommissar wartet einige Minuten und drückt dann die Eingangstür zum Hotel auf. Die Empfangshalle ist leer. Hinter dem Tresen liegt eine aufgeschlagene Illustrierte. Neben dem Fahrstuhl steht der Automat, in dem eine Neonleuchte flimmernd knistert. Ungesalzene Erdnüsse und Orangensaft aus der Dose. Aus dem Waschraum am hinteren Ende der Rezeption hört der Kommissar das Rauschen eines Wasserhahns. Der Fahrstuhl steht in der zweiten Etage.
Er entscheidet sich für den Treppenaufgang, der mit einem abgewetzten, bordeauxroten Teppich ausgelegt ist. Und das nennt sich ein Dreisternehotel, denkt er, während er zwei Stufen auf einmal nimmt. Er erinnert sich an die Worte von Alfred Fürwirth. „Aber stinkgemütlich.“ Was hieran stinkgemütlich sein sollte, ist ihm nicht klar. Es riecht muffig. Die Lampen an den Wänden sind staubbedeckt. Er musste die Zimmer gemeint haben, der Nachtportier, denn weder im Empfang, noch auf der Treppe wäre ihm das Wort gemütlich in den Sinn gekommen. Als der Kommissar die zweite Etage erreicht, vibriert sein Handy in der Hosentasche. Er bleibt auf der letzten Stufe stehen und nimmt das Gespräch an.
„Was gibt’s, Jean?“ flüstert er.
„Chef, schon unterwegs?“
„Nein, noch nicht.“
„Ich hab was gefunden.“
„Jean, mach’s kurz. Ich hab nicht viel Zeit.“
„Ich hab noch mal über die Fürwirth recherchiert.“
„Die Selbstmörderin?“
„Ja. Sylvie Fürwirth. Geboren 1968 in Paris, gestorben 2005 in Rom.“
„Gute Adressen. Und weiter?“
„Sylvie Fürwirth ist… war eine geborene Fürwirth.“
„Ich versteh nicht, Jean. Mach’s nicht so spannend.“
„Chef! Geborene Fürwirth. Geburtsname Fürwirth.“
Der Kommissar muss sich am Geländer abstützen. „Und Alfred Fürwirth? Wer ist unser Alfred Fürwirth?“
„Ihr Vater, Chef. Wir haben ihren Vater verhört. Ihr Vater wollte nach Rom. Zu Fuß.“
Für einen Augenblick ist der Kommissar sprachlos, das Handy, aus dem er den Inspektor rufen hört, gegen die Brust gedrückt..

„Eines Tages bringe ich den Mann um. Ich weiß, ich werde es nicht tun. Aber ich brauche den Gedanken.“ Unvermittelt sind die Sätze da. Er hatte sie schon vorher gedacht, sie aber sofort wieder vergessen. Oder vielleicht war der Satz dagewesen, aber die Worte nicht. Unsinn, ein Satz ohne Worte… Ist das ein Gefühl? Und ein Gefühl, das sich Worten hingibt, ist es ein Gedanke? Wie auch immer, jetzt denkt er ihn. „Wenn Du jetzt gehst, wird es zu spät sein“, hatte Sylvie Fürwirth gesagt. Zu wem?
Der Kommissar hört Inspektor Jean immer noch ins Handy rufen, als eine Tür in der Mitte des Ganges aufgerissen wird. Marianne stürmt aus dem Hotelzimmer auf den Fahrstuhl zu und schlägt hektisch mit der flachen Hand auf den Knopf. Der Kommissar klappt sein Handy zu und tritt eine Stufe zurück. Der Fahrstuhl erscheint behäbig vor Marianne, die Falttür öffnet sich rappelnd. Sie stellt sich ungeduldig mit dem Rücken zum Spiegel und wählt das Erdgeschoss.

Wenig später steht der Kommissar vor der Zimmertür, aus der er Marianne hatte kommen sehen. Nummer 237. Er zögert einen Augenblick. Entschlossen drückt er die Klinke hinunter. Die Tür ist nicht verschlossen.
Sein Nebenbuhler sitzt auf dem Fußende des Bettes, das behinderte Bein gestreckt und schaut starr auf die Minibar vor ihm. Was war vorgefallen zwischen ihm und der Frau des Kommissars?
„Ich werde das Zimmer in ein paar Minuten freigeben“, sagt der Mann, der den Kommissar offenbar für einen Hotelangestellten hält.
„Ich habe Ihre Frau aus dem Hotel gehen sehen. Ist alles in Ordnung?“
Der Mann macht einen ermüdeten Eindruck. Schwerfällig erhebt er sich. Erst jetzt bemerkt der Kommissar, der Geliebte seiner Frau ist betrunken. Er öffnet den kleinen Kühlschrank und nimmt zwei kleine Wodkaflaschen aus dem Türregal.
„Auch einen?“ fragt er den Kommissar.
„Nein, danke. Ich habe noch zu tun.“
Der Mann lacht und schraubt sein Fläschchen auf. „Der Kommissar hat noch zu tun. Na denn, prost.“

Was dann geschah, weiß der Kommissar nur noch bruchstückhaft. Er muss an die Zeit denken, als er begann, die Sehkraft zu verlieren. Ein Schleier schiebt sich zwischen dem Jetzt und dem Moment, an dem der Mann ihm zugeprostet hatte. Was er, als er sich zwischen dem Stromhaus und dem Lieferwagen mit den Schaufensterscheiben versteckte, nicht beachtet hatte: zwei Schaufensterscheiben, die den Lieferwagen wie ein Sandwich einklemmen, sind ein Blickfang. Besonders für Wartende, die den Blick schweifen lassen, aus Zeitvertreib. Hinkelbein hatte ihn gesehen, noch bevor der Kommissar seinen Kontrahenten sah. Nun hätte er ihn für einen Vater halten können, der auf seine Tochter, seinen Sohn wartete; oder auf eine Kollegin. Doch Hinkelmann war sich fast sicher gewesen, dass er es war, der Mann seiner Geliebten. Denn der Kommissar wollte offenbar die Schule aus dem Verborgenen beobachten, zudem – im Gegensatz zu Marianne - hatte er diesen Moment stets befürchtet. Manchmal hatte er sogar den Verdacht, sie liesse es darauf ankommen, wenn sie bei Tageslicht, in dem Viertel des Ehepaars, nebeneinander hergingen, sie sich bei ihm einhakte und sie sich küssten. Auch bei dem Überfall nach dem Restaurantbesuch war er es, der darauf bestanden hatte, die Polizei nicht zu rufen. Nur widerwillig hatte sie sich überreden lassen.

Als sie dann aus der Berufsschule kam und sie sich kurz begrüßten, hatte er wissen wollen, wie der Kommissar aussah. Die Haarfarbe, die Größe, zum Beispiel. Nicht mehr. Als Bestätigung. Doch Marianne wollte nicht verstehen, meinte, der Kommissar, wie sie ihren Mann nannte, ginge ihn nichts an. Dies wollte nun er nicht verstehen. Warum sparte sie ihn von solchen Informationen aus, denn immerhin wären sie ein Paar, und das schon eine gewisse Zeit lang? Von einer flüchtigen Beziehung könnte nicht die Rede sein, das war einmal, am Anfang, als er ihren Wunsch noch exotisch fand, nicht zu ihm nach Hause zu gehen, sondern sich an einem neutralen Ort zu lieben. In einem Hotel, auch wenn es ihm bekannt vorkam, zumindest vom Namen her, mit diesem stinkenden Nachtportier. Doch Marianne mauerte, wurde sogar verärgert ob seiner Hartnäckigkeit. „Nur seine Haarfarbe, seine Größe, ich will doch kein Foto von ihm“, hatte er ihr gesagt, als er sie an den Schultern ergriff und sie schüttelte. Wobei es ihm schon nicht mehr um diese Einzelheiten ging, sondern um das Prinzip, zumal er den Kommissar sehen konnte, hundert Meter weiter unten, auf der anderen Bürgersteigseite, wo er, als hätte er einen Anruf bekommen, so tat, als spräche er in sein Handy.
„Du solltest das Trinken sein lassen“, hatte sie gesagt und wollte sich aus seinem Griff lösen, als sie vor das Hotel gelangt waren.
Kurz, der Mann wusste, wer der Kommissar war. Und er wusste, als Marianne bereits aus dem Zimmer gestürmt war und er kurz danach die Tür aufgehen hörte, dass es der Kommissar war, der nun im Raum stand. Einmal musste es ja so sein, hatte er gesagt und das zweite Wodkafläschchen aufgeschraubt, den durchsichtigen Inhalt in sich hineingeschüttet und gerülpst.

Und danach?

Irgendwie muss der Mann gestolpert sein, vielleicht war er auch betrunkener, als es dem Kommissar zunächst erschienen war. Jedenfalls fiel er plötzlich gegen den Beamten, der wie von einem Sandsack umgerissen auf den Boden geworfen wurde. Ein Wunder, dass bei diesem Sturz keiner von beiden zu Schaden gekommen war. So der erste Gedanke des Kommissars, der mit dem Kopf gegen das Bettgestell gestoßen und den Bruchteil einer Sekunde, so meinte er, besinnungslos gewesen war. Der Körper des Nebenbuhlers lag massig auf ihm. Leblos. Der Kommissar hatte ihn auf die Seite geschoben und sich aufgesetzt. Neben sich sah er seine matt-schwarze Dienstwaffe. Er hob sie auf und roch an ihrer Mündung. Kein Zweifel, aus ihr war nicht geschossen worden.
Kein Zweifel auch, dass der Mann tot war. Zwar konnte der Kommissar weder Blut noch eine Verletzung ausmachen, doch er war überzeugt, der Nebenbuhler war tot.

Die Zimmertür ist nur angelehnt. Er erinnert sich, sie hinter sich geschlossen zu haben. Vom Flur sind Schritte und Stimmen zu hören. Ein Mann und eine Frau. Ein Schlüssel wird in eine Tür gesteckt und umgedreht, die Stimmen verstummen. Der Kommissar steckt seine Dienstwaffe ein und erhebt sich. Vorsichtig späht er auf den Flur. Mit dem Taschentuch wischt er eilig die Türgriffe ab, innen und außen, er hatte nichts anderes in dem Zimmer angefasst. Er hört das Rucken des engen Fahrstuhls, es kommt Leben in das Hotel. Die Gäste scheinen von ihren Stadtbesichtigungen oder Einkäufen zurückzukehren. Bevor sie wieder ausfliegen und die Terrassen der Restaurants in Beschlag nehmen. Ein Hotel ist kein Ort, in dem es sich übermäßig lang wach aushält. Man schläft in ihm, ruht sich aus, kleidet sich um, putzt sich die Zähne, löst Kreuzworträtsel, duscht oder liebt sich. Oder bringt sich um.

Der Kommissar hat Glück. Niemand begegnet ihm auf der Treppe. Als er ins Erdgeschoss in die Empfangshalle kommt, sieht er Alfred Fürwirth mit einem Tablett, auf dem eine Sektflasche, ein Eisbehälter und Gläser postiert sind, vor dem Fahrstuhl stehen und ungeduldig mit den Fußspitzen wippen. Wenig später steht der Kommissar auf der Strasse. Seine Frau Marianne war die letzte Person, die den Mann lebend gesehen hatte, so würde es heißen. „Das hast Du nun davon“, würde sie vielleicht sagen, denkt er. Soweit wird er nicht gehen.

Inspektor Jean scheint den Kommissar mit Ungeduld zu erwarten. Kaum durchschreitet dieser die Tür, wedelt er ihm schon mit einem Zettel entgegen.
„Chef, Chef.“
„Komm ins Büro“, beruhigt der Kommissar ihn und nickt den anderen Beamten freundlich zu.
Der Inspektor kann es kaum erwarten. Er weiß, dass er sich zu gedulden hat, bis ihm sein Vorgesetzter das entsprechende Zeichen gibt. „Leg los“, sagt ihm der Kommissar endlich und hängt seine Jacke über den Stuhl.
„Unser Fürwirth….“
„Der Vater der Toten, das hast Du schon gesagt. Das ist zwar interessant, ändert aber an der Gesichte als solche nichts.“
„Mag sein. Aber stellen Sie sich vor, Chef. Vor dreißig Jahren ist ihm das schon einmal passiert.“
„Was ist ihm passiert?“
„Seine Frau. Seine Frau hat sich umgebracht, in einem Hotel in Rom. Was sagen Sie jetzt?“
Der junge Beamte blickt den Kommissar triumphierend an.
„Und?“ fragt der Kommissar zerstreut. In Gedanken ist er noch bei dem Toten in dem Hotelzimmer, dem Liebesnest seiner Frau. Drei Blumen. Ein ungewöhnlicher Name für ein Hotel. „Hast Du Neuigkeiten von der Japanerin?“
„Abgereist. Beziehungsweise ausgecheckt. Laut Samira, der Negerin…“
„Jean!“
„Pardon. Der farbigen Empfangsdame. Wahrscheinlich hat sie sich bei unserem alten Fürwirth einquartiert.“
„Die Frage ist, ob er bei beiden dabei gewesen war. Vor fünf Jahren mit seiner Tochter. Vor dreißig Jahren mit seiner Frau.“
„Und jetzt mit der Japanerin.“
„Der hat er nur die beiden Selbstmordversionen verklickert. Und vielleicht sind beide wahr, was meinst Du?“
„Ist mit zu kompliziert, Chef. Sylvie Fürwirth war ja tatsächlich verheiratet. Nur dass der Ehemann nicht Fürwirth heißt.“
„Das wissen wir schon, Jean.“
„Sondern“, der Inspektor liest von einem Zettel ab, „sondern Michel Beschart.“
„Was haben wir über ihn?“
„Nicht viel. 60 geboren, hier in unserer Stadt. Hatte eine Professur für Biologie an unserer Uni. Keine Einträge bei uns. Er hatte einen schweren Autounfall, 1985. In Lüttich. Die Feuerwehr musste ihn ausschweißen. Und damit hat es sich schon. Ach ja, Hochzeit mit Sylvie Fürwirth 1990, standesamtlich. In der Schweiz. Lugano. Keine Kinder. Wohnort unbekannt.“
„Professor an der Uni und wir kennen seine Adresse nicht?“
„Er war Professor. Hat abgedankt. Vor fünf Jahren. Und seitdem… Pscht, weg ist er.“
„Na, dann wolln wir mal.“ Der Kommissar nimmt seine Jacke vom Stuhl und schaut auf seine Armanduhr. 20h30. „Ich bin im Drei Blumen.“

„Sie haben sich Zeit gelassen, Herr Kommissar.“
Alfred Fürwirth sitzt hinter dem Tresen, als hätte er den Beamten erwartet. Aus dem kleinen Radio vor ihm klingt leise Kammermusik. Der Kommissar hatte vom Dienstwagen seine eigene Telefonnummer gewählt. Marianne hatte noch während des ersten Freizeichens abgenommen. Ja, es ginge ihr gut, hatte sie seine Frage beantwortet, unwirsch, wie es ihm erschien. Er wolle ihr nur eine gute Nacht wünschen, hatte er scheinbar fürsorglich in das Handy gesprochen. Er sei auf dem Weg zu seinem Nachportier. Ja, der mit dem Selbstmord seiner Frau in Rom. Im Hotel Drei Blumen. Marianne hatte geschwiegen. „Drei Blumen? In Rom?“ fragte sie dann zögernd.
„Ja. Beziehungsweise nein. Der Nachtportier arbeitet im Hotel Drei Blumen. In der Innenstadt. Unserer Innenstadt.“
„Ah.“
„Ja ah. Da fährt Dir der Schreck in die Glieder?“ denkt der Kommissar und lächelt zynisch. „Ich bringe uns frische Hörnchen mit, morgen früh. Schlaf gut, Schatz.“ Er hatte das Handy zugeklappt, ohne eine Antwort zuzulassen.

„Ich habe mir Zeit gelassen womit, Herr Fürwirth?“
„Setzen Sie sich doch, Herr Kommissar. Ich komme gleich zu Ihnen.“ Der Nachtportier zeigt auf die Foyersessel. Im Automaten knistert immer noch die defekte Neonröhre. „Die sollten Sie austauschen lassen. Das Blinken nervt!“ ruft er dem Mann zu.
Der Kommissar setzt sich in den Sessel, in dem einige Nächte vorher die Japanerin gesessen haben mag. Er zieht den Kamm aus der Tasche, den er neben der Leitplanke aufgelesen hatte, und legt ihn vor sich auf den Tisch. Er hört, wie der Nachtportier einem Paar den Zimmerschlüssel aushändigt und einen angenehmen Abend wünscht. Wenig später sitzt Alfred Fürwirth dem Beamten gegenüber.
„Herr Fürwirth, ich will gleich zur Sache kommen.“ Der Kommissar blickt den Nachtportier an und erwartet eine Regung in dessen Gesicht. Doch dieser scheint sich mehr für den Kamm auf dem Tisch zu interessieren. „Darf ich?“ fragt er, beugt sich vor und nimmt den Kamm vorsichtig in die Hand. „Wo haben Sie ihn her?“ fragt er schließlich.
„Gefunden, neben der Autobahn. An der Stelle, an der sie die Streife das letzte Mal aufgegriffen hatte.“
„Aufgegriffen. Wie Sie das so sagen. Ihre Idioten waren über der Zeit. Ich hab schon gedacht, ich müsste tatsächlich nach Rom pilgern.“
Also doch, denkt der Kommissar. Alfred Fürwirth blickt zärtlich auf den Kamm.
„Ist er von der Japanerin?“ fragt der Beamte und hebt die Augenbraunen.
„Takima?!“ lacht der Nachtportier. „Sehen Sie sich diese Kammzähne an. So weit auseinander halten solche Zähne krauses, langes Haar. Braunes Haar. Dichtes Haar. Duftendes Haar. Takima hat glatte, schwarze, schulterlange Haare. Erinnern Sie sich? Sie haben sie doch gesehen, als sie mich abgeholt hatte.“
„Ja. Wo ist sie jetzt?“
„Keine Ahnung, Herr Kommissar. In Paris. Oder Lyon. Oder Biarritz. Da wollte sie auch noch hin. Ein feines Mädchen. So begabt für das Leben.“
„Sie haben den Kamm verloren, stimmt’s? Gehörte er Ihrer Frau?“
Der Nachtportier antwortet nicht, spielt mit dem Kamm.
„Oder Ihrer Tochter?“
Alfred Fürwirth lehnt sich in seinem Sessel zurück. „Beiden, Herr Kommissar, beiden hat er gehört.“

Alfred Fürwirth war kein guter Vater gewesen. Und kein guter Ehemann. Wahrscheinlich war er sogar niemals ein guter Mensch gewesen. Das soll es geben, mehr, als man denkt. Als Kind schon hatten die Erwachsenen ihm Hinterlist nachgesagt. Offenen Blicken war er stets ausgewichen, Kameraden hatte er nur geschlagen, wenn fest stand, er würde nichts zurückbekommen. Einem Gartennachbar seiner Eltern hatte er einmal fast ein Auge ausgeworfen. Mit einem kleinen, unreifen, steinharten, grünen Apfel, den der kleine Alfred absichtlich mit aller Kraft über den Zaun geworfen hatte und der den einarmigen Janus traf, direkt ins rechte Auge. Der Kriegsinvalide…
„Herr Fürwirth, bitte.“
„Sie wollen nicht verstehen?“
„Müssen wir deshalb bis zu den Äpfeln ihrer Kindheit zurück?“
Alfred Fürwirth blickt den Kommissar an, verärgert, wie diesem scheint. Der Nachtportier legt den Kamm auf den Tisch zurück, vor den Kommissar. „Sie enttäuschen mich, Herr Kommissar. Sehr sogar. Vor allem jetzt, wo Sie seine Bekanntschaft gemacht haben.“
„Wessen Bekanntschaft, Herr Fürwirth?“
Der Angesprochene lenkt den Blick des Beamten auf den Treppenaufgang mit dem abgewetzten Teppich.
„Die meines Schwiegersohns“, antwortet er. „Oder Ex-Schwiegersohns, um bei den Tatsachen zu bleiben.“ Genüsslich legt der Nachtportier das rechte Bein über das linke. „Wissen Sie, mit den Jahren lernt man in meinem Beruf, nichts aus den Augen zu verlieren. Und diskret zu bleiben, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
„Nein, ich verstehe nicht.“
„Kommen Sie, Herr Kommissar. Was wird Ihre Frau sagen, wenn sie erfährt, dass Sie ihr nachspionieren?“
„Herr Fürwirth, vertauschen wir die Rollen nicht. Ich bin die Polizei, und Sie…“
„Und ich bin was, Herr Kommissar? Ein Nachtportier, der seine Frau und seine Tochter verloren hat, in dieser verfluchten Stadt Rom? Und der jetzt seinen Schwiegersohn am Hals hat?“
„Meine Frau hat damit nichts zu tun.“
„Sie ist am frühen Abend aus dem Hotel gelaufen. Nicht gegangen, Herr Kommissar. Gelaufen ist sie! Wie jemand, der flieht.“
Der Kommissar will aufstehen. „Bitte bleiben Sie sitzen“, sagt der Nachtportier unvermittelt leise. „Bitte.“
Er räuspert sich. „Ich weiß, Ihre Frau ist unschuldig. Einfältig vielleicht, sich mit einem solchen Nichtsnutz einzulassen. Aber unschuldig.“

Der Nachtportier zieht an seinen Fingern. Er spürt den wartenden Blick des Kommissars auf sich. Er zieht, dass es knackt.
„Ich bin ein Trinker. Wenn ich mich mit der Nacht allein lasse, trinke ich. Wie vorher. Aber nach dem Tod meiner Tochter hatte ich wieder angefangen.“
„Dann sollten Sie sich einen anderen Beruf aussuchen.“
„Sie verstehen mich nicht, Herr Kommissar. Hier bin ich nicht allein. Zwölf Zimmer, vierundzwanzig Personen, manchmal mehr, wenn Kinder sind. Nein, allein bin ich nicht. Ich wache über sie. Manchmal gehe ich die Gänge ab, horche von Zimmertür zu Zimmertür. Wie sie atmen, wie sie sich umarmen. Im Schlaf sprechen. Oder schnarchen. Nein, allein bin ich nicht.“

Eines Tages stand er vor ihm. Ein Gast, der mit einer verblühten Frau ein Zimmer wünschte. Für eine Nacht. Sein Schwiegersohn hatte ihn nicht gleich erkannt. Jahre waren vergangen, seit dem Zwischenfall in Rom. Jahre, in denen sich der Nachtportier verändert hatte, innerlich und äußerlich, und nicht zu seinen Gunsten. Die durchwachten Nächte zehren an der Haut, braune Flecken, Jahresnarben, wie er sie nannte, waren ihm auf die Handrücken gekerbt. Das Haar war grau und kurz geschoren, mit sechzig hatte er entdeckt, dass er von Geburt an ein Muttermal hatte, auf der linken Schädelhälfte. Die Frisösin hatte es freigelegt, als er sie gebeten hatte, ihm den Kopf zu scheren. Mit sechzig, das solle man sich vorstellen, lernt man sich wirklich kennen!
Der Schwiegersohn war schon immer untreu gewesen. Auch nach der Hochzeit mit Sylvie, zu der sein Schwiegersohn ihn nicht haben wollte. Weil er ein schlechter Vater gewesen war, Sylvie hatte ihrem Mann alles erzählt, die durchzechten Nächte des Vaters, die Wochen, in denen er verschwunden war, auf Reisen, wie ihre Mutter ihr erzählt hatte. Papa ist unterwegs, hatte sie das Kind belogen, und wenn Papa dann wieder von seinen Ausflügen angestrandet kam, ein wahres Wrack, pflegte sie ihn wie ein verletztes Tier. Bis er wieder bei Kräften war. Er ihr die Haushaltskasse leerte und sich wieder aufmachte. Papa war ein schlechtes Tier. Und sein Schwiegersohn ein Schweinehund. Der seine Frau mit anderen Frauen betrog, weil sie von einem heilen Leben träumte, ein anderes, als das, was sie von den verkorksten Eltern geerbt hatte, und die deshalb die Augen schloss, die Ohren, weil sie nichts hören wollte, und nichts sehen. Ein Übel birgt das nächste in sich.
Eines Tages war sie ihm, die Tochter im Gepäck, nachgereist. Nach Rom. Weiß der Himmel, wie es ihn in diese Stadt verschlagen hatte. Jemand musste sie benachrichtigt haben, Saufkumpanen wahrscheinlich, bei denen er in der Schuld gestanden hatte und die sich von ihr erhofften, was er ihnen nicht zahlen konnte. Jedenfalls stand sie plötzlich, die Kleine an der Hand, im Hotelzimmer, es war ein früher Vormittag, sie mussten den Nachtzug genommen haben. Die billigen Vorhänge hangen friedvoll vor den Fenstern. Sie wollte ihn gesundpflegen und heimbringen. „Wir schaffen es schon“, hatte sie gefleht, doch er war aufgestanden, hatte sich Hose und Hemd angezogen und war aus dem Hotel gewankt, noch halb betäubt von der vorherigen Nacht. Es hatte geregnet an diesem Tag. Als er triefnass am frühen Abend ins Hotel zurückkam, spielte die Tochter im Foyer mit Kindern anderer Feriengäste. Und da hätte er es gewusst.

Der Schwiegersohn hatte den Nachtportier erkannt. Das verletzte, schlechte Tier. Ein Blick von ihm hatte genügt, um aus ihm wieder das zu machen, was er früher war. „Du stinkst“, hatte er ihm gesagt. „Du bist ein stinkendes, feiges Tier!“

„Wegen Dir hat sich Sylvie umgebracht!“ hatten sie sich vor fünf Jahren gegenseitig an die Köpfe geworfen.
„Du, weil Du den Hals mit Deinen Frauen nicht voll kriegen konntest. Selbst in Rom nicht.“ „Und Du, weil Du ihre Mutter hast krepieren lassen, wie eine Hündin“, hatte der Schwiegersohn geschrien. Und da stand er nun, der Herr Beschart, mit dieser verblühten Schlampe, und wollte ein Zimmer. Für eine Nacht. Und der Nachtportier wollte, dass er verschwände, für immer. Koste es, was es wolle. Doch er war zurück gekommen, wieder und wieder. Und jedes Mal mit einer neuen Schlampe. Und eines Abends war er dann mit der Frau des Kommissars gekommen.

„Verstehen Sie nun besser?“

Nein, das tut der Kommissar nicht. Ihm waren schon viele schlechte Menschen begegnet. Der Beruf will das so. Aber niemand, der ein Schild vor sich hertrug, auf dem geschrieben steht: „Schaut her. Ich bin ich schlechter Mensch.“ Im Gegenteil, die meisten beharrten auf ihrer Unschuld, waren vielleicht sogar überzeugt von ihr, oder bestanden auf ihrem guten Kern, der vom Leben zugeschüttet worden war und nur freigelegt werden müsste. Oder sie wiesen die Schuld ab auf andere, oder auf Vergangenheiten, für die sie nichts könnten. Und hatten Geschichten parat, die belegen sollten, wie alles entstanden sei. Erinnerungsfetzen wie Schwimmstöße gegen die Strömung des Bösen, die sie vom Ufer wegzieht.

Die Frau des Kommissars war die erste, mit der der Schwiegersohn wiederholt kam. Eine Art Treue in der Untreue, denn zwischendurch waren noch andere Frauen da, natürlich, denn Bescharts Appetit nach Liebe schien unersättlich. Bis aus ihr die einzige, sozusagen exklusive Partnerin wurde, die der Nachtportier von einem Foto, das anlässlich der Beförderung des Inspektors zum Kommissar durch die lokale Presse ging, kannte. Und da war der Plan in ihm herangewachsen. Der Kommissar sollte das tun, wozu Alfred Fürwirth nicht in der Lage war.

„Den Kamm hatte ich übrigens meiner Frau geschenkt, damals. Ein Mitbringsel aus Genua, in einem Stück aus Holz geschnitzt. Als die Kleine mit den anderen Feriengästen im Foyer gespielt hatte, trug sie es in ihrem Haar. Viel zu groß für einen Kinderkopf, natürlich. Aber als ich den Kamm sah, wusste ich, was geschehen war. Kommen Sie, wir haben noch etwas zu erledigen“, fordert der Nachtportier den Kommissar auf, erhebt sich und drückt auf den Fahrstuhlknopf. Aus seiner Hosentasche zieht er den Schlüssel, der auf dem ovalen Anhängsel die Ziffer 237 trägt. Der Kommissar will sitzenbleiben, etwas wehrt sich in ihm, dem zu folgen, was ihm jetzt augenscheinlich bevorsteht.
„Kommen Sie, Herr Kommissar. Haben Sie keine Angst. Es geht ganz schnell.“

Als Alfred Fürwirth die Tür aufstößt, schlägt beiden sofort der bittere Geruch von Erbrochenem entgegen. Der Kommissar will zurückweichen, doch die kräftige Hand des Nachtportiers in seinem Rücken schiebt ihn ins Zimmer. Michel Beschart liegt auf dem Bett, die Hände an den Gittern des Kopfendes gefesselt. Sein Mund ist mit einem Knebel – der Kommissar meint ein Handtuch zu erkennen – zugebunden. Beim Anblick der Eintretenden reißt er die Augen weit auf.
„Ich hab’s versucht, Herr Kommissar. Als Sie beide auf dem Boden lagen. Mit ihrer Pistole.“ Alfred Fürwirth hält die Dienstwaffe des Kommissars in der Hand. „Das fast perfekte Verbrechen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Der Kommissar überrascht den Geliebten seiner Frau in einem Hotelzimmer. Es kommt zu einem Handgemenge, ein Schuss löst sich. Mord aus Eifersucht. Nein, versehentliche Tötung, oder wie auch immer Sie das nennen mögen.“
„Sie sind doch verrückt, Fürwirth! Geben Sie mir die Waffe zurück.“
Mit einer Behändigkeit, die der Kommissar dem Nachtportier nicht zugetraut hätte, weicht dieser einen Schritt zurück. „Ich hab es nicht gekonnt, Herr Kommissar. Ich hab nicht abdrücken können.“
„Und nun? Wollen Sie uns beide erschießen? Was soll das Theater?“
„Machen Sie es für mich, Herr Kommissar.“ Der Nachtportier nimmt ein Kissen von dem einzigen Stuhl in dem Zimmer und reicht es dem Beamten. „Machen Sie es. Sie können sagen, ich wäre es gewesen. Ich werde gestehen, alles auf mich nehmen. Ich habe Sie bedroht, Sie haben nicht eingreifen können und ich habe den Scheißkerl hier erschossen. Bitte, tun Sie es für mich. Bitte. Ihre Frau ist dann frei.“
Die Stimme des Nachtportiers klingt nahezu weinerlich. Michel Bescharts Augen rennen von einem zu dem anderen, Panikschweiß tritt ihm auf die Stirn. Er zerrt an den Klebestreifen, die seine Handgelenke an das scheppernde Bettgestell binden. Alfred Fürwirth steht jetzt hinter dem Kommissar. Er nimmt die Dienstwaffe in die linke Hand und umschlingt den Beamten von hinten mit beiden Armen. Die Dienstwaffe sucht die rechte Hand des Kommissars, halb hält sie nun der Beamte, halb der Nachtportier. Die Mündung ist auf den Gefesselten gerichtet.
„Tun Sie es, Herr Kommissar. Bitte. Geben Sie mir Ihren Zeigefinger. Tun Sie es für uns.“

Es ist Nacht. Eine klare, warme, duftende Nacht. Der Kommissar hatte an dem Tabakladen gehalten, dem einzigen, der noch so spät geöffnet war. Die hübsche Verkäuferin mit der silbernen Stecknagel auf der Zunge hatte ihn angelächelt. Ihr Parfüm, als sie eine Drehung machte, um die Schachtel aus dem Regal zu nehmen, erreichte ihn wie eine erregende, flimmernde Erinnerung. Sie hatte nach Zimt gerochen. Als sie das Päckchen zu ihm herüber schob, und er die Geldstücke in die Glasschale legte, streiften sich für den Bruchteil einer Sekunde ihre Finger.
Im Wagen hatte er dann Mariannes Nummer gewählt. Er hatte sie geweckt. In zwei Sätzen war das Wesentliche gesagt. Vielleicht würde sie am kommenden Morgen denken, sie hätte die Trennung nur geträumt, und würde auf ihn warten, wie immer.

Im Krankenhaus liegen die oberen Stockwerke im Dunkeln. Nur das Erdgeschoss ist hell erleuchtet und zeigt ärztliche Bereitschaft. Er geht auf die Tür der Notaufnahme zu, sieht, noch von außen, den Patienten mit der dicken Backe auf seinem üblichen Platz. Auch der Mann mittleren Alters macht, die Hände im Rücken verschränkt, leicht nach vorne gebeugt seine Runden in dem Saal und plappert augenscheinlich Sinnloses vor sich hin. Dr. Servora verteilt durchsichtige Plastikbecher mit Wasser an die Wartenden. Als er die Tür zum Aufnahmesaal aufdrückt, dreht sie sich zu ihm um. Ihre Blicke treffen sich, wie verabredet.


SOWEIT, SO GUT. NATÜRLICH SIND WIR DEM KINOÜBERFALL AUF DIE FRAU DES KOMMISSARS NICHT NACHGEGANGEN. ICH DENKE GAR, DER KOMMISSAR HATTE DIE AKTE GESCHREDDERT. WOZU GUT, EINE GESCHICHTE ZU VERFOLGEN, VON DER WIR VON VORNE HEREIN WISSEN, DASS SIE ZU NICHTS FÜHREN WIRD.
DIE AUFGEBLASENE AMERIKANERIN IST VON DER VERSICHERUNG ENTSCHÄDIGT WORDEN. DIE FRAU MIT DER HASENSCHARTE, DIE IHR DIE KREDITKARTE ENTWENDET HATTE, BLEIBT FLÜCHTIG, WIRD JEDOCH NICHT GESUCHT. WAS NATÜRLICH NONSENS IST. NIEMAND IST FLÜCHTIG, DER NICHT GESUCHT WIRD. DER BMW DES GIGOLOS IST AUSGEBRANNT IN EINER BUCHT IN MARSEILLE WIEDERGEFUNDEN WORDEN. KEINE SPUR DER DIEBE, FINGERABDRÜCKE O.Ä., UND EIGENTLICH HATTEN WIR EH GEDACHT, DER WAGEN WÄRE IRGENDWO IN NORDAFRIKA, ODER IN POLEN, ODER SONST WO GELANDET. WIR SIND ZU SCHWACH BESETZT, UM SOLCHEN VORFÄLLEN TATSÄCHLICH NACHZUSPÜREN, SO DER OFFIZIELLE GRUND, WEGEN DEM DER KOMMISSAR SEINEN DIENST QUITTIERT HAT.
ER MOCHTE KEINE GESCHICHTEN. ENTWEDER, SO HATTE ER MIR NACH DEM DIENST BEI EINEM BIER EINMAL GESAGT, ENTWEDER WILL EINE GESCHICHTE WIDERSPIEGELN, WAS WAR; ODER SIE MÖCHTE ZEIGEN, WAS WIRD. ODER SIE VERDECKT, WAS MAN IM GEHEIMEN BEFÜRCHTET. MEISTENS IST ES ALLES ZUGLEICH. WIE SOLLTE MAN SICH DA HINDURCH FINDEN? ETWA EINEN ROTEN FADEN AUFDECKEN, DEN WAHREN, DEN RICHTIGEN, DEN MAN NUR ZURÜCKVERFOLGEN MUSS, UM DEN AUSGANG UND DAS LICHT ZU FINDEN. SICHER, DIE TRENNUNG VON SEINER FRAU MAG IHN DARIN BESTÄTIGT HABEN. DAS BITTERE EINER TRENNUNG SIND DIE LÜGEN, DIE IHR VORAUSGEGANGEN WAREN. ICH WAR DER MEINUNG, EINEN SOLCHEN ROTEN FADEN GÄBE ES NICHT. WIR HOFFEN AUF IHN, WEIL WIR BEFÜRCHTEN, OHNE IHN HERUMZUIRREN UND NICHT AUS DER HÖHLE HERAUS ZU FINDEN. ABER ES GIBT IHN NICHT. WIR MÜSSEN NACH VORNE GEHEN, GERADEAUS, NUR NICHT ZURÜCKBLICKEN UND NACH ETWAS TASTEN, WAS ES NICHT GIBT.
WO DER KOMMISSAR HEUTE IST, IST UNBEKANNT. MANCHE WOLLEN IHN IM CANTAL GESEHEN HABEN, MIT ZIEGEN, SCHAFEN UND EINEM KLEINEN HOF. ANDERE MEINEN, ER SEI MIT DER SLOWAKISCHEN ÄRZTIN IM KONGO ODER SUDAN, AUF DER SUCHE NACH IHREM EHEMANN MIT DER RUNDEN TROTZKIBRILLE AUS BRAUNEM HORN, DEM SIE DEN RING ZURÜCKGEBEN MÖCHTE. DIESE VARIANTE GEFÄLLT MIR. SIE GÄBE EINE SCHÖNE GESCHICHTE, EGAL, OB WAHR ODER NICHT, SIE STÄNDE DEM KOMMISSAR GUT ZU GESICHT.
WAS WIRKLICH AUF DEM ZIMMER 237 IM HOTEL DREI BLUMEN GESCHEHEN WAR, BLEIBT EIN RÄTSEL. ER WOLLTE ES MIR NICHT SAGEN. AUS SCHAM? AUS SCHULD? MICHEL BESCHART JEDENFALLS IST VOM ERDBODEN VERSCHLUCKT. BILDLICH GESPROCHEN, SO HOFFE ICH. ALBERT FÜRWIRTH BEOBACHTET IMMER NOCH, ZUR GEWOHNTEN BLAUEN STUNDE, DAS FENSTER IN DER HÄUSERFRONT GEGENÜBER. DRITTE ETAGE, ZWEITES FENSTER VON RECHTS. DER MANN, DER MIT DER BRAUNEN AKTENTASCHE AUS DER HAUSTÜR TRITT UND MIT SEINEM GEBRAUCHTWAGEN ALS ERSTER DEN VERKEHR BEGINNT, KÖNNTE ER SEIN, WENN NICHT ALLES SO GEKOMMEN WÄRE, WIE ES GEKOMMEN WAR.

AIX EN PROVENCE, IM DEZEMBER 2010

Soweit, so gut. Natürlich sind wir dem Kinoüberfall auf die Frau des Kommissars nicht nachgegangen. Ich denke gar, der Kommissar hatte die Akte geschreddert. Wozu gut, eine Geschichte zu verfolgen, von der wir von vorne herein wissen, dass sie zu nichts führen wird.

Die aufgeblasene Amerikanerin ist von der Versicherung entschädigt worden. Die Frau mit der Hasenscharte, die ihr die Kreditkarte entwendet hatte, bleibt flüchtig, wird jedoch nicht gesucht. Was natürlich Nonsens ist. Niemand ist flüchtig, der nicht gesucht wird. Der BMW des Gigolos ist ausgebrannt in einer Bucht in Marseille wiedergefunden worden. Keine Spur der Diebe, Fingerabdrücke o.ä., und eigentlich hatten wir eh gedacht, der Wagen wäre irgendwo in Nordafrika, oder in Polen, oder sonst wo gelandet. Wir sind zu schwach besetzt, um solchen Vorfällen tatsächlich nachzuspüren, so der offizielle Grund, wegen dem der Kommissar seinen Dienst quittiert hat.

Er mochte keine Geschichten. Entweder, so hatte er mir nach dem Dienst bei einem Bier einmal gesagt, entweder will eine Geschichte widerspiegeln, was war; oder sie möchte zeigen, was wird. Oder sie verdeckt, was man im Geheimen befürchtet. Meistens ist es alles zugleich. Wie sollte man sich da hindurch finden? Etwa einen roten Faden aufdecken, den wahren, den richtigen, den man nur zurückverfolgen muss, um den Ausgang und das Licht zu finden. Sicher, die Trennung von seiner Frau mag ihn darin bestätigt haben. Das Bittere einer Trennung sind die Lügen, die ihr vorausgegangen waren. Ich war der Meinung, einen solchen roten Faden gäbe es nicht. Wir hoffen auf ihn, weil wir befürchten, ohne ihn herumzuirren und nicht aus der Höhle heraus zu finden. Aber es gibt ihn nicht. Wir müssen nach vorne gehen, geradeaus, nur nicht zurückblicken und nach etwas tasten, was es nicht gibt.

Wo der Kommissar heute ist, ist unbekannt. Manche wollen ihn im Cantal gesehen haben, mit Ziegen, Schafen und einem kleinen Hof. Andere meinen, er sei mit der slowakischen Ärztin im Kongo oder Sudan, auf der Suche nach ihrem Ehemann mit der runden Trotzkibrille aus braunem Horn, dem sie den Ring zurückgeben möchte. Diese Variante gefällt mir. Sie gäbe eine schöne Geschichte, egal, ob wahr oder nicht, sie stände dem Kommissar gut zu Gesicht.

Was wirklich auf dem Zimmer 237 im Hotel Drei Blumen geschehen war, bleibt ein Rätsel. Er wollte es mir nicht sagen. Aus Scham? Aus Schuld? Michel Beschart jedenfalls ist vom Erdboden verschluckt. Bildlich gesprochen, so hoffe ich. Alfred Fürwirth beobachtet immer noch, zur gewohnten blauen Stunde, das Fenster in der Häuserfront gegenüber. Dritte Etage, zweites Fenster von rechts. Der Mann, der mit der braunen Aktentasche aus der Haustür tritt und mit seinem Gebrauchtwagen als erster den Verkehr beginnt, könnte er sein, wenn nicht alles so gekommen wäre, wie es gekommen war.

 

Aix en Provence, im Dezember 2010

JEAN PICHEL, POLIZEIINSPEKTOR

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Texte: Alle Rechte liegen beim Autor
Tag der Veröffentlichung: 07.09.2012

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Widmung:
Eine Kriminalgeschichte

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