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Nicht einfach, das Unterfangen. Pfarrer Lenhart hockt gelockert auf der Stufe vor dem Altar unserer Kapelle und wartet auf eine Antwort. „Was kann man über den Verstorbenen sagen?“ hatte er die vier Hinterbliebenen gefragt, die ihm, dunkel gekleidet, in der ersten Bankreihe gegenübersitzen. Schwester Amelie und ich halten uns im unbeleuchteten hinteren Teil neben dem Sarg und lauschen gespannt.
Ein Onkel mit Ehefrau, eine Cousine mit Ehemann blicken sich an, offenbar ratlos.
„Wissen Sie, Herr Pfarrer, wir leben im Norden, er im Süden“, sagt zögernd der Onkel und die Cousine nickt.
„Ja, ich weiß“, sagt Pfarrer Lenhart, „aber es gibt doch das Telefon, Internet, die Feier- und Geburtstage, zu denen Postkarten geschrieben werden….“
Schweigen.
„Er mochte das Fahrrad“, sagt die Frau des Onkels schließlich. „Anne, wir haben einmal zusammen eine Fahrradtour gemacht, da waren wir 12 gewesen.“ Ihr Mann scheint nicht überzeugt.
„Was hat Herr Teurer beruflich gemacht?“ will Pfarrer Lenhart nachhelfen.
Die Cousine hebt die Hand und bittet um das Wort. „Ich glaube, er war Beamter.“
„Quatsch“, erwidert der Onkel. „Dann wäre doch jemand von der Stadt hier.“
„Er war Rentner, da wird man leicht vergessen.“
„Hatte er ein Hobby?“ fragt der Pfarrer.
„Welches Hobby?“ fragt der Mann der Cousine.
Pfarrer Lenhart seufzt. „Briefmarken, Schach, Kegeln, Tennis, Modelleisenbahn, was weiß ich!“
„Nicht, dass ich wüsste.“ Der Onkel blickt die anderen an, die die Schultern zucken.
„Wie haben Sie vom Ableben des Verstorbenen erfahren?“
„Eine Schwester des Krankenhauses, eine Nonne, hat uns im Internet gefunden.“
„Ja, Schwester Amelie hieß sie.“
„Gut.“ Der Pfarrer reibt sich die Hände. „Sie waren in seiner Wohnung?“
„Ja.“
„Und haben Sie, worum ich Sie gebeten hatte?“
„Alles wertloses Zeug. Die Auflösung wird kaum die die Bestattungskosten einspielen.“
„Das habe ich nicht gemeint.“
Die Frau des Onkels zieht einen kleinen Zettel aus der Tasche. „Musik: Mozart und Lou Reed.“
„Das ist doch schon was.“
„Bücher: Reiseführer und Grass, Heine und….“ Sie kann das Selbstgeschriebene nicht entziffern und zeigt den Zettel ihrem Mann. „Hermann Hese“, liest dieser gedehnt und blickt den Pfarrer erwartungsvoll an. „Sagt Ihnen das was?“
„Reiseführer wohin?“ Der Pfarrer notiert etwas in seinem Notizblock.
„Rom und Warschau.“
„Ah.“
„Können Sie damit etwas anfangen?“
„Weiß ich noch nicht.“
„Aber lassen Sie bitte Gott aus dem Spiel.“
„Er war nicht gläubig?“
„Wir sind nicht gläubig, und darum geht es doch, oder?“
„Das wird nicht einfach sein“, sagt der Pfarrer, einen resignierten Unterton in der Stimme.
„Und kurz muss es sein. Wir haben einen Zug um drei.“

Jetzt ist es Zeit für meinen Auftritt. Ich trete aus dem Schatten und gehe auf die Gruppe zu. In wenigen Worten erkläre ich unsere Pflegeleistungen und die Gebühren. „Basic“ soll alles bleiben, heißt es übereinstimmend. Die vorgeschriebene Pflege, die sie selbst nicht übernehmen können, da im hohen Norden wohnend. Unkrautjäten, Gründpflanzen gießen, einmal im Monat einen frischen Blumenstrauß, dessen Wahl mir überlassen wird. Aber Saisonblumen müssen es sein, wegen der Gebühren. Die Pauschale beläuft sich auf 22,50 Euros im Monat. Billiger geht es nicht, will man es nicht selbst machen. Der Onkel unterschreibt das Formular, das ich vorbereitet und während unseres Gespräches ergänzt habe.
Wir schütteln uns die Hände.

Pfarrer Lenhart, in zivil gekleidet, führt die kleine Trauergemeinde an. Paul, der Laubfeger, und drei seiner vom Arbeitsamt abgestellten, in etwa gleichgroßen Kollegen tragen den schlichten Holzsarg an den eisernen Griffen. Bedächtig schreiten sie auf den Erdhügel zu, in dem noch Kurts Spaten steckt. Kurt selbst hält sich etwas abseits und wartet auf ein Zeichen von mir.

Die Laubfeger stellen den Sarg neben der Grube ab. Die vier Trauernden stellen sich neben den Sarg. Pfarrer Lenhart zieht einen Zettel aus der Tasche und räuspert sich. Dann schallt seine Stimme wie die eines Operntenors. Mit einem Schlag sind alle anderen Geräusche um sie herum verstummt.

„Am Anfang“, dröhnt seine Stimme über die Gräber hinweg, „am Anfang war duftender Sonnaufgang und aufsteigende Hitze. Dann folgte ein aufgeregtes Gewitter. Nun wolkt am Himmel ein greises Gebirge, in das die späte Stunde einen blutroten Schimmer schiebt. Der Abend ringt mit dem Licht. Es fleht um ein letztes morgen, wird aber fahl. Erschöpft gibt es nach. Unfassbar geworden weicht das Licht des Lebens der Nacht.
Ruhe in Frieden, Rudolf Teurer, ruhe in Frieden!
Amen.“

Pfarrer Lenhart blickt vom Blatt auf und vergewissert sich der Wirkung seiner Worte auf die Hinterbliebenen. Diese stehen versteinert und ausdruckslos neben dem Holzsarg. Der Pfarrer gibt Paul ein Zeichen. An zwei Seilen lassen die vier Laubfeger den Sarg ins Loch. Wie verabredet ergreifen, einer nach dem anderen, die Hinterbliebenen die kleine Schaufel und werfen kleine Erdschollen auf den Sarg. Trommelnd fallen sie auf den Holzdeckel.

„Mensch, Pfarrer, das war klasse! Grosse klasse!“ Ich bin aufrichtig gerührt.
„Finden Sie?“ Pfarrer Lenhart spielt geschmeichelt mit seinem Kragen.
„Und so ganz ohne Gott. Wie haben Sie das gemacht?“
„Gott ist überall, auch zwischen den Worten. Aber davon wollten die ja nichts wissen.“ Er deutet vorwurfsvoll auf die vier dunkel gekleideten Hinterbliebenen, die Kurt wie Zeugen beim Zuschaufeln des Grabes zuschauen.
„Kommen Sie, jetzt sind die Karten dran.“ Ich nehme den Pfarrer bei der Schulter. Gemeinsam gehen wir zu meinem Wachhaus, in dem Schwester Amelie und der Stadtabgeordnete Schmelzer warten. Die Nonne hat bereits gemischt und wartet darauf, dass ich abhebe. Erwin hockt auf der Ablage und kaut an seinem Butterbrot. Es ist Mittagspause, und wie gewöhnlich gönnen wir uns eine Partie Tarot, die Wiener Variante mit 54 Karten. Es ist ein herrlicher Tag, die Luft flimmert in der Mittagshitze, kein einziges Blatt rührt sich – ein Friedhof, der keine Zeit mehr braucht.

„Schwester Amelie, wenn Sie unseren Pfarrer gehört hätten – Spitzenklasse!“ Die Nonne blickt mich neugierig an. „Hat er ‚nun wolkt im Himmel ein greises Gebirge’ gesagt?“
„Hat er. Woher wissen Sie?“
„Ich hab’s gewusst!“ ruft sie in Richtung des Pfarrers, der verlegen im Türrahmen steht. „Ich hatte ‚quillt’ geschrieben, aber er wollte unbedingt ‚wolkt“. Wo es das Wort doch gar nicht gibt!“
„Sie haben die Grabrede geschrieben, Schwester Amelie?“ Ich traue meinen Ohren nicht.
„Na, katholisch oder evangelisch versteht er sich auf Gott, unser lieber Herr Pfarrer. Aber wenn’s um Ungläubige geht, das verlässt ihn das Wort. Da muss seine Nonne ran, wie immer.“
„Wolkt – Wolken, ist doch nicht übel“, mischt sich der dicke Schmelzer ein. Er war gerade erst von einer Studienreise aus den USA zurückgekommen. Als Mitglied des Friedhofrates hatte er den New Yorker Friedhof besichtigt, wo senkrecht begraben wird – aus Platzgründen. „Das steht uns auch bevor“, hatte er uns erzählt. „Auch bei uns wird’s langsam eng.“
„Das ist ja so, als wenn die Toten unter den Lebendigen stramm stünden. Nur über meine Leiche!“ hatte Pfarrer Lenhart ausgerufen. Jetzt ragt er bedeppert im Türrahmen und möchte vor Scham am liebsten im Boden versinken. Paul, der Laubfeger, der plötzlich hinter ihm steht, rettet ihn aus der prekären Situation. „Herr Verwalter“, ruft der arbeitslose Buchhalter über des Pfarrers Schulter hinweg, „schon wieder.“
„Schon wieder was, Paul?“ frage ich.
Als Antwort hebt Paul seine Papierzange, an deren Ende ein Präservativ baumelt. „Paul!“ rufe ich aus und zeige auf Schwester Amelie. Doch Paul ist ein Pedant und versteht nicht. „Sie müssen was tun, Herr Verwalter“, insistiert er, worauf die Nonne nüchtern fragt: „Benutzt oder unbenutzt?“
„Unbenutzt, wie gestern“, antwortet Paul, was dem Stadtabgeordneten den Schluss erlaubt: „Also kein Liebespaar.“
„Auf einem Friedhof! Letzte Woche waren es leere Bierdosen und Flachmänner…“
„Paul, schmeiß das Ding weg“, unterbreche ich ihn, denn ich fürchte, er kommt wieder auf Kurt zu sprechen, unseren Totengräber, der nüchtern nicht eingraben kann. „Wir kümmern uns später darum.“
„Was Du heute kannst besorgen….“
„Paul, raus!“ rufe ich ungeduldig. „Du siehst, wir haben zu tun!“
Und zu Erwin, der immer noch auf der Ablage hockt, „Und Du, Erwin, hör auf, von der Liebe zu träumen. Das ist eine Nummer zu groß für Dich.“ Erwin schießt das Blut in den Kopf. Ich hebe ab. Der Abgeordnete hängt seine Jacke über den Stuhl und krempelt die Ärmel hoch. Schwester Amelie teilt aus.
Als Schmelzer mit dem Ansagen beginnen will, klopft es zaghaft an der Wachhaustür. Erwin springt flink von der Ablage und öffnet.

Die Frau mit dem Kirschhut und der knallgrünen Handtasche, die sie gegen die Brust drückt, ist kaum größer als der Zwerg, der vor ihr steht. Sie steckt stark geschminkt in einem grauen Zweiteiler. „Ich will nicht stören“, begrüßt sie uns und stört natürlich. Ich habe sieben Tarots, den Joker und zwei Könige auf der Hand.
„Kann es nicht warten?“, frage ich mürrisch, sehe aber, wie sie schwankt. Die Mittagstemperatur macht ihr zu schaffen, denke ich.
„Erwin, gib der Dame bitte einen Stuhl.“ Erwin beeilt sich und setzt die Frau neben mich an unseren Tisch.
„Ich passe.“ Schwester Amelie macht ein entschuldigendes Gesicht. Der Pfarrer steht hinter ihr und nickt ihr zustimmend zu.
„Ich passe auch.“ Der Stadtabgeordnete sortiert sein Spiel. Ich nehme die ersten drei Karten vom Stock auf.
„Mein Bruder ist letzte Woche gestorben“, sagt die Frau, während ich die gefundenen Tarots und eine Dame in mein Blatt einstecke. Die drei flachen Karos drücke ich weg.
„Das tut mir aufrichtig leid, liebe Frau“, sage ich ihr. „Dann werden wir uns ja bald wiedersehen.“
Ich spiele den Kreuzkönig aus. „Das ist ja eben“, sagt die Frau und schaut mir beiläufig in die Karten.
„Ich hätte die Trümpfe gezogen“, flüstert sie. Die Nonne und der Abgeordnete bedienen, mein König kommt durch. Ich streiche die Punkte ein und ziehe mit der Damekreuz nach.
„Oh Gott“, stöhnt die Frau entsetzt, „das hätte ich nicht gemacht.“
„Frau…“, hebe ich an.
„Kandarian“, sagt sie.
„Frau Kandarian, wollen Sie sich bitte aus dem Spiel raushalten und zur Sache kommen.“ Schwester Amelie sticht, Schmelzer schmunzelt zufrieden und streicht die Karten ein.
„Das war vorauszusehen“, kommentiert die Frau.
„Frau…“
„Kandarian, das ist Armenisch.“
„Gut Frau Kandarian.“ Ich lege die Karten bäuchlings auf den Tisch. Alle Augen sind nun auf sie gerichtet. „Jetzt sagen sie uns, was wir für sie tun können.“

„Mein Mann und ich wohnen seit vierzig Jahren hier“, sagt sie stolz, „drei Straßenzüge weiter.“
„Und?“ Schmelzer trommelt ungeduldig mit den Fingern.
„Mein Bruder war zu Besuch bei uns.“
„Ah“, sage ich, „er wohnt nicht in unserer Stadt.“
„Nein, in Armenien.“
„Und gestorben ist er hier.“
„Das sagte ich bereits.“
„Das ist ein Problem.“
„Auch das sagte ich schon. Im Rathaus verweigert man ihm die hiesige Bestattung.“
„Regeln sind Regeln“, kommentiert Schmelzer. „Außenstehenden ist nur in Ausnahmefällen die Aufnahme erlaubt.“
„Aber er war kein Außenstehender! Er war mein Bruder.“
„Aber nicht bei ihnen gemeldet.“
„Nein.“
„Welcher Konfession gehört er an?“ will der Pfarrer wissen. „Katholisch oder protestantisch?“
„Weder noch. Er war Muslim.“
„Oh Gott, auch das noch.“ Pfarrer Lenhart bekreuzigt sich.
„Aber kein praktizierender Muslim“, beeilt sich Frau Kandarian hinzuzufügen.
„Was tut das schon zur Sache“, mischt sich Schwester Amelie ein. „Jetzt ist er tot. Und vor dem Herrn sind sich alle Toten gleich. Als solche sollten wir sie auch behandeln.“
Der Stadtabgeordnete überhört den Einwand der Nonne und wendet sich an Frau Kandarian. „Wir haben keinen Platz für Ihren Bruder, liebe Frau. Die paar Stellen, die noch frei sind, müssen wir unseren Bürgern zugestehen. Das sind wir ihnen schuldig. Ja, wenn wir senkrecht…“
„Herr Stadtabgeordneter“, unterbricht der Pfarrer ihn, „ich bitte sie.“
„Nächsten Monat pflügen wir das Feld 22 um, das sind 50 neue Positionen“, versuche ich einzulenken und bekomme Beifall von Erwin.
„Regeln sind Regeln“, beharrt Schmelzer.
„Aber das hier ist ein Ausnahmefall“, sage ich unbeirrt. Erneuter Beifall von Erwin.
„Da könnte doch jeder kommen.“ Schmelzer schlägt mit der Faust auf den Tisch. „Und wenn wir das machen, dann kommt jeder, darauf können Sie sich verlassen.“
„Männer“, stöhnt die Nonne, „als wenn die ganze Welt darauf aus wäre, in unsere Erde zu kommen.“.
„Sie waren also schon im Rathaus?“ fragt der Pfarrer.
„Ja, die Friedhofkommission hat abgelehnt. Ich soll meinen Bruder überführen lassen. Dabei hat er niemanden mehr dort.“
„Tja, wenn die Kommission Nein gesagt hat, dann können wir auch nichts machen.“ Ich sehe an seinen Augen, Schmelzer will zum Spiel zurück.
„Sie könnten bei der Kommission ein Wort für mich und meinen Bruder einlegen, wurde mir im Rathaus gesagt.“ Frau Kandarians und Schwester Amelies Blicke kreuzen sich.
„Ich?“ Schmelzer zeigt mit seinem Finger auf seine Brust. „Liebe Frau Kandarian, ich habe nichts gegen Sie, oder Ihren Bruder, auch wenn…“ Er stockt.
„Auch wenn was, Herr Stadtabgeordneter?“ fragt die Nonne scharf.
„Auch wenn er ein Außenstehender war.“
„Nicht etwa weil er Muslim war?“ Die Nonne lässt nicht locker.
„Das kommt aufs Gleiche heraus, liebe Schwester. Unterstellen Sie mir bitte nichts.“
„Ah, die Gleichung ist mir neu. Alle Außenstehende sind Muslims und alle Muslims sind Außenstehende. Das ist ja sehr interessant.“
„In diese Schublade kriegen Sie mich nicht, liebe Schwester. Mich nicht. Was ist, spielen wir weiter?“ Schmelzer blickt mich ungeduldig an.
„Also nein?“ Frau Kandarians Blick ist bittend.
„Nein“, erwidert Schmelzer fest.
Frau Kandarian erhebt sich von ihrem Stuhl und wankt. Erwin und die Nonne eilen zu ihr und stützen sie.
„Einen schönen Tag wünsche ich den Herren“, sagt die Frau leise zum Abschied und geht geleitet hinaus. Pfarrer Lenhart übernimmt das Spiel der Nonne.

Jetzt ziehe ich die Trümpfe, einen nach dem anderen. Die Frau hatte Recht gehabt. Meine beiden Gegner bekommen nicht einen einzigen Stich. Draußen hat sich Kurt mit seinem Spaten zu dem Trio gesellt. Ich notiere die gewonnenen Punkte. Der Pfarrer mischt und Schmelzer hebt ab. Ein neues Spiel beginnt.

Das war es also gewesen!
Gestern Abend, als ich das Tor hinter mir schließen und den großen Schlüssel ins Loch schieben wollte, hatte mir die Hand gebebt. Zweimal hatte ich das Schlüsselloch verfehlt, beim dritten Mal - ich musste mich mit der anderen Hand am Gitter abstützen - klappte es schließlich. Der Tatterich bereitete mir Sorgen, verfolgte mich bis in den Schlaf und wurde zum Traum: Ich hatte vor einem neuen, von Erwin, der der Schaufel knapp bis an den Griff reichte, ausgehobenen Grab gestanden und suchte nach Halt, denn ich zitterte, bebte am ganzen Körper. Ich hatte mit den Armen gerudert, meine Beine waren eingeknickt und ich wurde wie von einer Schubkarre vornüber in das schwarze, bebende Loch gekippt.
Fürchterlich…
Jetzt steht auf der Titelseite unserer Regionalzeitung, gestern Abend hätte es gebebt. Ein Erdbeben, das Epizentrum unweit von meinem Friedhof, 4,9 auf Richterskala, von der ich nicht weiß, wie weit sie geht. Die 2503. Erschütterung soll es gewesen sein seit dem letzten Jahr. In unserer Erde brodelt und kocht es unaufhörlich, gigantische Erdplatten erstreiten sich ihren Platz. Nicht ich habe den Tatterich, sondern sie.

Als Schwester Amelie am Morgen Erwin zum Dienst bringt, sehe ich ihren müden Schritt und die schwarzen Ringe unter ihren Augen. Hatte das Beben sie um den Schlaf gebracht?
Erwin hingegen ist ausgelassen und grinst so breit, als hätte er etwas angestellt. Paul, der arbeitslose Buchhalter, war mit seiner Papierzange leer ausgegangen. Erwins Traum von der Liebe kann es also nicht gewesen sein. An meinem Wachhaus stehen bereits die ersten Grabpfleger für die Gießkannen an. Ein Rentner, der bei mir seinen schwarzen Kater vermutet und auf einem Steckbrief besteht, bringt mich auf andere Gedanken.

Am späten Vormittag sehe ich plötzlich Frau Kandarian mit ihrem Kirschhut an meinem Fenster vorbeitrippeln. Im Arm hält sie ihre knallgrüne Handtasche und zwei Rosen.
„Frau Kandarian!“ rufe ich ihr zu und trete aus dem Haus. Sie scheint mich nicht zu hören und beschleunigt ihre Schritte. Neugierig gehe ich ihr nach.

Sie bleibt vor dem frischen Grab vom Teurer stehen, dessen Pflege uns die Hinterbliebenen, die im Norden des Landes leben, am Vortag anvertraut hatten. Gerade will ich Frau Kandarian von hinten ansprechen, als ich eine Hand auf meiner Schulter spüre. Pfarrer Lenhart hatte auch schon mal frischer ausgesehen, denke ich, als ich mich umdrehe.
„Tag, Herr Verwalter“, begrüßt er mich, das Gesicht schmerzverzerrt.
„Was haben Sie Herr Pfarrer?“ frage ich besorgt. „Haben Sie das Erdbeben auch mitbekommen?“
„Welches Erdbeben?“ fragt er müde.
„4,9 auf der Richterskala! An der ganzen Region wurde geschüttelt. Haben Sie nichts bemerkt?“
Er schaut mich ungläubig an, als läge ich im Fieber.
„Nein“, erwidert er. „Es ist mein Kreuz. Ich muss mich gestern Abend verhoben haben.“ Er wischt sich mit dem Taschentuch die feuchte Stirn. „Wir wollten heute die neuen Sitzbänke der Kapelle besprechen, erinnern Sie sich?“
Nein, ich erinnere mich nicht.
„Ich will erst Frau Kandarian begrüßen und sie fragen, ob sie für ihren Bruder etwas erreicht hat“, sage ich ihm. Weiter hinten sehe ich Kurt, der mit seinem Spaten zwischen verschiedenen Gräbern hindurchschlurft und zu uns herüberschielt.
„Ich habe wenig Zeit heute. Lassen Sie es hinter uns bringen.“ Fast drängt er mich in die Richtung der Kapelle.

Wir gehen die Bänke durch, setzen uns auf sie und probieren, ob sie unter unserem Gewicht wackeln. „Diese hier sollten wir austauschen“, meint der Pfarrer zerstreut. Er scheint nicht wirklich bei der Sache zu sein. Mit einem roten Filzstift markiere ich die besagte Bank. Insgesamt werden es drei Reihen, die von mir die rote Marke bekommen. Karge Ausbeute. Zudem kann ich mich immer noch nicht daran erinnern, dass wir diesen Banktermin ausgemacht hätten, der Pfarrer und ich. Nach 45 Minuten treten wir ins Freie und werden von der Sonne geblendet.
Plötzlich ergreift der Pfarrer meinen Arm.
„Für Sie gibt es keinen Gott, nicht wahr, Herr Verwalter?“
„Die Frage hat sich für mich nie gestellt, Herr Pfarrer.“
„Dann gibt es für Sie auch die Sünde nicht?“
Ich überlege. „Doch, nur nenne ich sie anders.“
Er nickt. Dann, nach einer kurzen Pause: „Gesetzt den Fall, es gibt einen Gott, glauben Sie, er würde einen blinden Passagier bei sich aufnehmen?“
Ich lache. „Wenn er wirklich Gott ist, dann wird er besonders solche Passagiere bei sich aufnehmen.“
„Warum?“ fragt er erstaunt.
„Weil er für die Überfahrt zu Ihm nicht bezahlt hat. Der Weg in Gottes Reich sollte nicht käuflich sein, Herr Pfarrer.“
Es ist, als hörte ich den Stein, der dem Geistlichen vom Herzen fällt.
„Schade, dass Sie nicht an Gott glauben“, seufzt er.
„Warum?“
Er klopft mir mit der Hand auf den Rücken. „Er hätte seine Freude an Ihnen.“

Ich spähe nach Frau Kandarian aus, vergebens. Der Pfarrer scheint erleichtert. „So, das hätten wir hinter uns.“ Er reicht mir die Hand.
„Kein Tarotspiel heute, Herr Pfarrer?“
„Ein andermal“, entgegnet er und geht steif auf der Hauptallee dem Ausgang zu.

Die zwei Rosen liegen gekreuzt auf dem Teurergrab neben einer Texttafel, die ich gestern nicht bemerkt hatte. In Holz geschnitzt lese ich: „Der Abend rang mit deinem Licht und wich unserer Nacht.“
Ruht in Frieden.“

„Ruht? Unsere Nacht“? Ich werde stutzig und drehe mich zu meinem Wachhäuschen um. Paul besprüht dort mit dem Gartenschlauch den Rasen und bewirkt einen schillernden Regenbogen. Der Rentner von vorhin befestigt mit Reißnägeln das Foto seines verschwundenen Katers an meiner Tür und sieht nicht, dass dieser zu seinen Füssen hockt. Zwei Spaziergänger kommen aus dem Nirgendwo mit dicken Wanderstöcken und marschieren durch die Hauptallee, als wollten sie den Friedhof erklimmen. Eine alte Frau mit einem blauen Kopftuch schläft auf einer Bank, ihr kleines Gießkännchen auf dem Schoss, an dem sie sich festhält. In der Mittagshitze entschließen sich sogar die Vögel für eine Singpause. Plötzlich steht Erwin neben mir, streckt seinen kleinen Arm zu mir hoch und ergreift meine Hand.
„Der Buchhalter hat Dich auf dem Kieker, Erwin. Du musst aufpassen.“
Erwin antwortet nicht und schaut auf das Grab. Das Beben ist kaum vernehmlich. Die beiden Rosen zittern, Von der Sonnenhitze getrocknete Erde rieselt. Das Laub der Erle neben uns raschelt. Ein Rotkehlchen fliegt direkt vor unseren Augen erschreckt auf.
„Pfleg es gut, kleiner Mann.“ Er drückt mir zum Dank meine Hand.

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Texte: Alle Rechte liegen beim Autor
Bildmaterialien: Cover: @ Michel PEYRAMAURE "Beaux nuages du soir"
Tag der Veröffentlichung: 20.05.2012

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