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Der Verwalter eines Friedhofs hat mehr Ärger mit den Lebenden als mit den Toten. Ich weiß, das liegt in der Natur der Sache, aber nur wenige sind sich dessen bewusst.
„Komm rein!“ rufe ich Kurt zu, der angeklopft hat, während ich im Kreuzworträtsel nach einem italienischen Fluss mit zwei Buchstaben suche. Kurt reißt die Tür auf und pflanzt sich mit seinem Spaten vor meinem Schreibtisch auf. Er ist außer Atem, ich rieche seine Schnapsfahne. „Erwin! Erwin!“ stammelt Kurt und zeigt mit seinem Spaten zur Tür. „Was ist mit Erwin?“ frage ich ihn, doch er gibt mir zu verstehen, ich solle ihm folgen.

Ich traue meinen Augen nicht, als ich mit dem humpelnden Kurt zur Kapelle gehe.
Da steht er, knappe vierzig Zentimeter hoch, ein Gartenzwerg auf dem Altar, der uns mit seinem greisen Kindergesicht versteinert angrinst.
„Erwin!“ wiederholt Kurt. Der Stumpen zwischen den rissigen Lippen bebt.
„Mach Dich nicht lächerlich, Kurt. Das ist nicht Erwin.“
Erwin ist es nicht, aber Jesus auch nicht. Da, wo jetzt die bunte Gipsfigur steht, befand sich gestern noch der gekreuzigte Heiland, ein schnörkelloser Holzschnitt ohne künstlerische Ambitionen, vor dem es Pfarrer Lenhart dennoch zu herzergreifenden Predigten bringt.
„Hast Du eine Ahnung, wo das Kreuz ist?“ Ich gehe suchend um den Altar herum und klemme mir den Gipszwerg unter den Arm. Kurt zuckt die Schultern und starrt mich zahnlos an. Wir verlassen die Kapelle. „Kurt, weißt Du, wo Erwin ist?“
„Da!“ Kurt zeigt auf den zurückgebliebenen Knirps, der, hinter einem Grabstein versteckt, uns misstrauisch beobachtet.
„Erwin, ins Häuschen!“ rufe ich ihm zu und stiefle wütend, ohne auf eine Antwort zu warten, zurück ins Wachhaus.

„Erwin, ach Erwin.“ Der unterbelichtete Winzling, den Schwester Amelie jeden Morgen vom psychiatrischen Kloster zum gemeinnützigen Unkrautjäten und Giessen zu uns bringt, sitzt mir gegenüber auf dem für ihn viel zu hohen Stuhl. Er baumelt mit den Beinen, hält den Blick gesenkt. Ich sehe Schweißperlen auf seiner Stirn.
„Nimm doch wenigstens diese alberne Pudelmütze vom Kopf.“ Trotzig zieht er sie mit seinen kleinen Händen noch tiefer ins Gesicht. Ich deute auf den Gartenzwerg, der seitlich auf meinem Schreibtisch steht.
„Das geht nicht, Erwin. Wir sind ein Friedhof hier, und kein… kein Schrebergarten.“
Erwin schweigt und schwitzt unter seiner Mütze.
„Und dann noch die Kapelle. Das geht doch nicht, Erwin. Sag, wo hast Du Jesus versteckt?“
Erwin weicht meinem Blick aus, schaut nach rechts, nach links. Ich schlage mit der flachen Hand auf den Tisch.
„Das ist Diebstahl, Erwin. Ist Dir das klar? Wo kämen wir hin, wenn jeder einen Gartenzwerg oder Jesus entführt?! Wo ist das Kreuz mit Jesus?!!!!“
Erwin schielt zu mir auf, sagt aber nichts.
„Dann sag mir zumindest, wo Du den Knirps her hast.“ Keine Antwort.
„Wie Du willst“, sage ich schließlich resigniert. „Mach Dich ans Unkraut.“ Und, ein wenig versöhnlicher: „Vergiss das Giessen nicht.“ Erwin hüpft erleichtert vom Stuhl.

Wenn der Zwerg nicht aus dem Kloster kommt, dann kommt er von unterwegs. Ich beschließe, am Abend den Weg vom Friedhof zum Kloster abzugehen. Einer der Vorgärten der alten Bürgerhäuser wird es schon sein, beruhige ich mich, entschlossen, die Statue dem rechtmäßigen Eigentümer zurückzubringen.
Pünktlich um fünf holt Schwester Amelie ihren Zögling ab. Ich wickle den Zwerg in Packpapier und klemme mir das Ding unter den Arm. Kurt und ich sind die letzten Lebenden des Friedhofs. Ich verschließe das Eisentor hinter uns. Kurts Gangart ist bedenklich, wie immer. Aber solange er graben kann und zuschüttet, erspare ich mir jeglichen Kommentar. Nüchtern würde ich vielleicht auch niemanden unter die Erde bringen.

Über brusthohe Mauern hinweg spähe ich in die Vorgärten der Klosterallee und suche, was fehlt. Die ersten beiden erscheinen mir für einen Gartenzwerg völlig ungeeignet. Hier, neben Schnittlauch und Tomatenstauden, würde ich mich als Zwerg jedenfalls nicht wohl fühlen. Im dritten steht bereits ein Zwergpaar, einer starr mit einer Laterne in der Hand, ein anderer mit einer ewigen Schubkarre. Ein dritter wäre fehl am Platz.
Im vierten Vorgarten werde ich fündig. Auf einem runden, mit großen Kieselsteinen eingerahmten Rasen mit einer winzigen Fontäne in der Mitte ist handbreit das Gras dunkel plattgedrückt. Da muss er gestanden haben, sage ich mir und drücke auf den Klingelknopf über dem Briefkasten.
Der Hexenritt der Walküre dröhnt im Hausinnern. Eine Gardine bewegt sich. Ich wickle den Zwerg aus dem Packpapier und rücke meine Amtsmütze in Pose. Als im Stockwerk ein Fenster geöffnet wird und im Rahmen ein Bündel Lockenwickler erscheint, bellt es wie verrückt am oberen Ende der Klosterallee. Ein älterer Mann mit Pferdeschwanz wird von einem Hund mittlerer Größe an der Leine gezogen, der es, die Zähne gefletscht, auf mich abgesehen hat. „Was wollen Sie?!“ ruft das Bündel Lockenwickler, während der alte Mann auf den Hund einschreit. „Wagner! Gib Ruhe! Wagneeeeer!“
„Ich habe was für Sie!“ schreie ich ihr wie ein Postbote zurück, den Blick halb auf sie, halb auf Wagner und den nun hilflosen Mann gerichtet, der, in vorwärts gebeugter Schräglage, den Pferdeschwanz im Wind, seines Hundes nicht mehr Herr zu sein scheint.
„Ich kaufe nichts!“ schreit die Frau und schlägt das Fenster zu. Wagner ist nur noch zwei Schritte von mir entfernt und bellt wie besessen. Aber er will nicht mir, sondern dem Gartenzwerg ans Leder.
„Gehen Sie weg!“ übertönt der Mann das Bellen, den Arm und die Leine gestreckt.
„Und was mach ich mit dem hier?“ frage ich verängstigt zurück und hebe den Zwerg auf Augenhöhe.
„Zum Teufel mit dem. Behalten Sie ihn oder graben Sie ihn ein!“ schreit der Mann mir zu. „Sie sehen doch, er macht unseren Wagner ganz verrückt.“

Am nächsten Morgen steht der Gartenzwerg nicht mehr da, wo ich ihn am Abend, der Bestie Wagner knapp entkommen, hingestellt hatte. Ich gehe aus dem Häuschen und suche Kurt. Unweit der Hauptallee schaufelt dieser an einem neuen Grab. Das Loch ist bereits tief, aus ihm quillt der dicke Rauch von Kurts billigem Stumpen. Mein Totengräber steht, gegen die Erdwand gelehnt, auf seinen Spaten gestützt und gönnt sich eine Verschnaufpause. „Hast Du Erwin gesehen?“ rufe ich zu ihm hinunter. „Mit seinem Zwerg in der Kapelle“, ruft Kurt herauf und schraubt an seinem Flachmann. „Mit Schwester Amelie“.
„Mein Gott“, entfährt es mir, „Du hast mir gerade noch gefehlt.“

Erwin steht auf einem Holzstuhl vor dem Altar und wedelt mit einem Staubtuch an dem Gartenzwerg herum. Er hat der Nonne, die seinem Treiben wohlwollend zuschaut, den Rücken zugekehrt. Ich zupfe an dem Ärmel ihrer schwarzen Kutte. „Was macht er?“ frage ich sie flüsternd.
„Sauber. Er macht den Gartenzwerg sauber.“
„Das sehe ich auch“, tuschele ich verärgert. „Aber warum?“
„Er sagt, er wächst.“
„Er macht was?“
„Er wächst.“
„Erwin?“
„Quatsch. Der Zwerg.“ Sie sagt es, als sei es das selbstverständlichste der Welt. „Er hat ihn gemessen. Einen Zentimeter hat er gewonnen seit gestern.“
„Mein Gott, Schwester Amelie, sind Sie vom Glauben abgefallen?“ Ich greife mir an den Kopf.
„Weiß ich, wie groß ein Gartenzwerg werden kann?“ Sie zuckt die Schultern. „Aber Sie sollten Erwin machen lassen. Ihm ist der Zwerg ans Herz gewachsen. Therapeutisch soll das sehr gut sein, sagt sein behandelnder Arzt.“
„Ich kann doch nicht in einer Friedhofskapelle einen Gartenzwerg….“, protestiere ich.
„Herr Verwalter“, unterbricht sie mich sachlich. „ wann ist hier zuletzt eine Totenandacht gelesen worden?“
Ich überlege. Immer weniger der Überlebenden setzen eine kirchliche Zeremonie auf ihre Wunschliste.
„Vor drei Jahren?“
„Sehen Sie?! Kein Grund zur Panik. Außerdem“ – sie deutet auf ein Paket neben sich – „ich habe schon für Nachschub gesorgt.“
„Sie haben einen anderen Jesus mitgebracht?“
„Psst“, macht sie und legt einen Zeigefinger auf ihre Lippen. „Stören wir die beiden nicht länger.“


Schweren Herzens habe ich mich überreden lassen.

In den darauffolgenden Tagen bin ich von Pfarrer Lenhart, der dem Friedhofsrat angehört, abgelenkt. Wir gehen zusammen die Archive durch und wollen das Feld bestimmen, welches es nach dem Auslauf der Konzessionen umzugraben gilt. Denn auch für Gräber liegt die Ewigkeit fern. Sie haben ein amtliches Verfallsdatum.

Ich sehe zwar, Kurt klopft wieder und wieder an meine Tür und will mich hinauswinken, aber wir müssen erst die Parzellen bestimmen und entscheiden, wer den Angehörigen schreibt und sie fragt, was mit den bloßgelegten Gebeinen zu geschehen habe. Aber Kurt klopft, ja hämmert an der Tür, bis er ungebeten und schnaufend vor uns steht.
„Erwin, Erwin!“ stammelt der Totengräber.
Wenige Augenblicke später eilen wir drei von meinem Häuschen in Richtung Kapelle. Keine zehn Meter mehr trennen uns von dem schweren Eingangstor, als dieses von innen aufgestoßen wird. Wie angewurzelt bleiben wir drei stehen. Aus dem Kapelleninnern hören wir lautstark die Ouvertüre der Hochzeit des Figaros. Schwester Amelie, an beiden Händen zwei Winzlinge mit roten Pudelmützen, tritt stolz auf den Vorplatz. Die beiden Zwerge winken uns strahlend zu, umarmen und küssen sich wie ein Brautpaar. „Da ist er doch“, ruft Pfarrer Lenhart erleichtert aus und fragt ahnungslos: „Und wer ist der zweite Knirps?“
„Jessssus“, entfährt es Kurt und greift zu dem Flachmann.
Ich reibe mir die Augen und stoße mit dem Ellenbogen dem Pfarrer in die Rippen. „Die beiden haben geheiratet. Eine Bonsaihochzeit!“ Ich kann mein Lachen kaum unterdrücken.
„Eine was?“ höre ich Pfarrer Lenhart stammeln, bevor er neben mir zusammensackt.
„Prost!“ ruft Kurt fröhlich und humpelt auf das frisch vermählte Paar zu.
„Kurt, den Flachmann, bitte!“ Kurt wirft mir den Cognac zu. Nach zwei Schlucken schlägt der Geistliche die Augen auf. Bedeppert hockt er auf dem Kiesweg und glaubt, zu träumen „Gott hat doch noch seinen Spaß an uns!“, flüstere ich ihm ins Ohr.
„Halleluja“, erwidert er und nimmt einen dritten Schluck.

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Tag der Veröffentlichung: 10.05.2012

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