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An dem Tag, an dem sein Kopf die Decke erreichte, würde er es wagen. Das hatte er sich geschworen. Vor langer Zeit schon. Wie oft hatte er davon gesprochen, und wie oft hatten sie ihm abgeraten, es zu tun. Es wäre gefährlich, viel zu gefährlich. Außerdem wüsste er nicht, was dort, gegenüber, ihn erwartete. Ob die Decken, die Räume höher wären, die Wände großzügiger. Oder ob es dort Krankheit gäbe oder dünne Luft. Einige hätten es versucht und wären gefallen, erzählten sie bedrohlich. Aber wirklich ernst genommen hatte ihn keiner. Manche hatten sogar abfällig gelächelt. Nun ja, es fehlten noch etliche Zentimeter, damals. Noch konnte er aufrecht gehen, musste nicht, wie sie, gekrümmt, gebeugt gehen.
„Besser krumm und leben, als…“
„Als was? Als dort unten zu liegen, verkrüppelt zu überleben oder gar nicht? Schaut Euch doch mal an!“ hatte er ihnen entgegnet. „Euer Rückgrat macht einen Bogen, den Blick habt ihr immer nur auf den Boden gerichtet. Wenn ihr nach oben schauen wollt, müsst ihr wie die Tauben den Kopf schief legen.“ „Du weißt nicht, wovon Du sprichst“, hatten sie ihm entgegnet. „Du bist noch zu jung.“ „Oh ja, ich weiß sehr wohl, was ich will, aber dafür seid Ihr zu alt.“

Ihm wurde Undankbarkeit vorgeworfen. Dummheit auch. Spinnerei sagten sie ihm nach, wenn er an der Fensterbank gesessen, die Ellenbogen aufgestützt hatte, den Kopf in den Händen, träumend vom Gegenüber, von dem er wusste, dort würde er eines Tages sein.
„Wenn sie gewollt hätten, dass wir hinüber könnten, hätten sie eine Brücke gebaut, und nicht ein Seil gespannt“, war ihr Einwand gewesen.

„Da war was dran“, hatte er sich eingestanden. „Offenbar wollten sie es nicht, dass wir ins Gegenüber gelangen.“ Wobei ihm nicht klar war, wer „sie“ waren. Und: warum gab es dann das Seil? Warum spannten sie mit ihm eine Verbindung zum Traum und hielten es ihm tagein, tagaus unter die Nase? Hielt sich das Krummsein besser aus, wenn dem Menschen die Verlockung, unerreichbar zwar, aber ständig vor Augen geführt wird?

Oder war das Seil nicht mehr ein dünnes Übrigbleibsel von dem, was früher einmal begehbar war? Egal, er durfte sich nicht in Zweifel oder geschichtliche Betrachtungen verlieren. Wenn er den ersten Schritt hinaus wagte, dann galt es nicht nach hinten, nicht nach unten oder nach oben zu schauen. Sondern auf das Ziel. Das Gegenüber. Es allein würde ihm das notwendige Gleichgewicht geben, dessen war er sich gewiss. Einmal drüben, hätte er genügend Abstand, um auch „sie“ zu erkennen und warum das, was einmal war – wenn es denn einmal war-, nun nicht mehr ist.

„Wenn Du es wagst, dann gibt es kein Zurück mehr zu uns“, drohten sie ihm. „Und unser Erbe kannst Du Dir von der Backe streichen!“ Schlimme Worte. Was trieb sie dazu, ihn um jeden Preis, gar unter Androhung bei sich halten zu wollen? Warum wollten sie unbedingt, dass auch er sich dem tiefen Stuck beugte und krumm würde? War es wirklich nur die Befürchtung, er könnte fallen und sich Schaden oder Schlimmeres zufügen? Oder hatten auch sie früher einmal mit dem Gedanken gespielt, aufs Seil zu gehen, ihn, den Gedanken, schließlich fallengelassen und nahmen es sich nun selbst krumm, es nicht gewagt zu haben?

Wie auch immer - es war soweit. Er war über die Kerben, die im Türrahmen sein Werden markierten, hinausgewachsen. Nun berührten seine Haare empfindlich die Decke. Für einen weiteren Tag würde es nicht mehr reichen. Es sei denn, er ginge in die Knie oder begänne, sich zu beugen. Er hatte den Tag nicht gewählt. Sein Wachstum war es, das den Zeitpunkt bestimmte. Entschlossen ging er zum Fenster und beugte sich hinaus. Die Gaffer unten, zu denen sich herumgesprochen hatte, einer würde es wagen, blickten begierig zu ihm hinauf. Ihnen ging es nicht um das Gegenüber, sondern um das Seil und das Kunststück, auf ihm zu bleiben. Oder von ihm abzufallen. Um das Risiko des Seiltanzes, und nicht um den Traum. Auffangen könnten und würden sie ihn nicht. „Jetzt nicht überlegen, nicht zögern“, ermutigte er sich. Er warf einen letzten Blick auf die Bleibenden zurück. Die Köpfe genickt, starrten sie stumm und resigniert auf den Boden. Ein letztes Wort wollte aus ihm hinaus. Stattdessen ergriff er den Stab und tat den ersten Schritt auf das Seil, über die Leere gespannt. „Adieu“ schallte es im Chor hinter ihm. Sie hatten ihn schon abgeschrieben „Ich werde Euch schreiben“, schwor er sich, fast zum trotz. „Vom Gegenüber werdet Ihr träumen.“

Impressum

Texte: Beim Autor
Tag der Veröffentlichung: 03.05.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Beitrag zum KG-Wettbewerb Mai 2012

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