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Beim ersten Hahnenschrei



Paris, im Mai 1978

Der Konzertsaal in den Hallen füllte sich binnen einer Viertelstunde. Als wir hineingegangen waren, hatte es draußen keine Schlange gegeben, sodass wir befürchteten, dem Auftritt des argentinischen Quartetts würde nicht die gebührende Beachtung geschenkt werden. Doch dann wurden es schnell immer mehr. Alle Altersschichten, Frauen, Männer, Kinder, Jugendliche suchten in den Reihen ihre Plätze. Bekannte Gesichter, Begrüßungen.
„Kommst Du auf die Demo am Samstag?“
„Worum geht’s?“
„Kambodscha.“
„Klaro!“
Zivile Beamte fotografierten wie verrückt. Uns kam das gelegen. Die Fotos bestätigten uns darin, zu recht dagegen zu sein.

Der Auftritt Quartetts hatte mitgerissen. Argentinischer Tango auf Kontrabass, Piano, Violine und Bandoneon – gewaltig. Auch wenn wir nicht verstanden, was auf Spanisch gesungen wurde, wir wussten, worum es ging: die Militärdiktatur Argentiniens verschleppte Regimegegner, meist junge Leute, fast noch Kinder. Studenten, Gewerkschaftler, Künstler, politisch Aktive. Im Morgengrauen, beim ersten Hahnenschrei, fuhren die Militärfahrzeuge vor, brachen die Häuser mit ihren Gewehrkolben auf, drangen in Wohnungen ein und rissen Familien aus dem Schlaf. Folter, Internierungslager, Gefangene, die aus Flugzeugen lebendig ins offene Meer geworfen wurden.

Am Ausgang hatten wir die CD erstanden. Einer der Musiker und eine Frau um die Fünfzig, die üppigen dunklen Haare von einem weißen Tuch gehalten, reichten uns von einem improvisierten Verkaufstisch, was wir kurz vorher gehört hatten. Der Musiker zeichnete Autogramme, die Frau bedankte sich bei jedem von uns fürs Kommen. „Danke, mein Junge“, hatte sie zu mir gesagt, als sie mir das Tütchen mit der CD gab.
Wir waren eine Gruppe junger Leute, allesamt an derselben Uni eingeschrieben. Künftige Geisteswissenschaftler, Lehrer, Politologen oder Aussteiger, die keine Demo ausließen, und keinen Grund, gemeinsam zu feiern. Nach dem Konzert ging’s zu uns. Sechs Stockwerke ohne Aufzug waren für uns noch ein Kinderspiel.

Bei Kerzenlicht, Räucherstäbchen und reichlich Rotwein hatten wir uns noch einmal den argentinischen Tango angehört. Wir hatten uns genossen, beileibe und nicht nur den roten Wein. Die CD war mir später bei den vielen Umzügen abhanden gegangen. Auch die Freunde und Freundinnen. Unserer erdumschlingenden Empathie waren unsere Leben dazwischengekommen.


Weder noch


Marseille, im Mai 2011

Ein Bilderpaar wie ein aufgeschlagenes Buch. Links das Foto, rechts das Gemälde. Identisch. Bis auf…

Aus Lautsprechern zu beiden Seiten des Raumes kommt eine wiegende Melodie: eine Bratsche, gefolgt von einer Geige, die wie Ebbe und Flut auf- und abebbt und von Klavierakkorden perlend aufgefangen wird, eine einleitende Gitarre, die rhythmisch an ein Bandoneon abgibt, der Anfang eines Tangos, der abrupt abbricht. Erneut die Bratsche, als seufzte sie dem begonnenen Rhythmus nach…

Identisch bis auf… das Leuchten. Identisch auf das Haar genau, die Wimpern, die Poren, die Falten, die von den Nasenflügeln beidseitig zu den Mundwinkeln hinuntergehen. Das Bild rechts jedoch leuchtet, noch weiß ich nicht zu sagen, warum.

Eine Aufseherin sitzt in einer Ecke auf einem Holzstuhl und löst Kreuzworträtsel. Die strumpflosen Beine übereinandergeschlagen, die Zeitung gefaltet, kaut sie an einem Bleistift und kratzt sich mit der Radiergummiseite die Schläfe. Sie überlegt. Sie trägt ein weißes Kopftuch, unter dem schwarz-graues Haar hervorquillt. Eine Gesichtshaut ohne Falten. Und doch scheint sie alt, sehr alt.

Ich bin der einzige Besucher in diesem Ausstellungsraum, der weder Galerie noch Museum ist. Eine Zerstreuung, die den Touristen auf der belebten Einkaufsstraße geboten wird, um Luft zu schöpfen, Atem zu holen, und sich hernach erneut der Inlandnachfrage zu ergeben.

Der Eintritt ist frei. Erstaunlich. Eine Stadt, in der man sogar fürs Wasserlassen zahlen muss. Eine Laune des Kulturdezernats, die 40 Quadratmeter anspruchsvolle Unterhaltung bietet. Sonderausstellungen. „Weder noch“, seltsamer Titel. Links ein Photo, rechts ein Gemälde, Bratsche, Piano, Gitarre, Bandoneon und der Anfang eines Tangos, Sekunden lang.

Das Foto eines jungen Mannes, der weiß, dass er fotografiert wird. Er schaut nicht in die Linse, sondern auf die fotografierende Person. Alter? 16, 17 Jahre. Ein anderes, von einer jungen Frau, die dunklen Haare, auf der Stirn zu einem Pony geschnitten, fallen ihr glatt auf die Schultern.
Etwa vierhundert aufgeklappte Bilder hängen hier auf drei Wände verteilt. Links das Foto, rechts das Gemälde. Spiegelbilder, handgemalt.

Ich bin ratlos. Das Leuchten der Gemälde irritiert mich. Ich suche nach Kommentaren, Untertiteln. Nichts. Nur der Ausstellungsname, die Fotos und gemalten Porträts.

Langsam gehe ich auf den Ausgang zu, der von einer jungen Frau beaufsichtigt wird. Als wolle ich mich davonstehlen. Schon schütze ich meine Augen vor der blendenden Sonne in der Einkaufsstraße, als die junge Frau mich von hinten anspricht. „Sie können mit der Künstlerin sprechen, wenn Sie wollen.“
Überrascht drehe ich mich zu ihr um.
„Kommt sie?“
„Nein, sie ist schon da.“ Sie deutet auf den Ausstellungsraum. Neugierig gehe ich zu den Bildern zurück, bemerke aber niemanden. Bis auf die Kreuzworträtsel lösende Aufsicht, die an dem Bleistift kaut.

Ist diese alte Frau etwa die Künstlerin?

„Entschuldigung. Haben Sie die Bilder gemalt?“

Sie blickt von ihrer gefalteten Zeitung auf.
„Ja.“
„Darf ich Ihnen eine Frage stellen?“
„Deshalb bin ich hier.“

Sie erhebt sich von ihrem Stuhl. Sie ist klein, reicht mir bis zum Kinn.
„Warum wird aus dem Tango kein richtiger Tango? Warum bricht er ab, bevor er richtig beginnt?“
Eigentlich hatte ich anders beginnen wollen, doch das tröpfelnde, sich verlierende Klavier, das aufgefangen wird vom Bandoneon und die kleine, alte Frau, die vor mir im Halbdunkel steht…
„Mögen Sie den Tango?“ fragt sie zurück.
„Sehr sensuell, sehr rhythmisch, sehr körperlich. Ja, das mag ich alles.“
Sie lächelt. „Der Tango ist das Leben. Leidenschaft und Harmonie. Sehnsucht und Melancholie Diese jungen Leute hier“, sie deutet auf die Fotos, „standen am Anfang ihres Lebens.“
„Wer sind diese Leute?“
Sie zögert nicht eine Sekunde. „Meine Kinder.“

Ich schweige. Natürlich ist sie nicht die Mutter von vierhundert Kindern. Ich warte, dass sie fortfährt. Vergebens.
„Warum haben Sie die Fotografien abgemalt?“ erkundige ich mich und bereue sogleich das Wort „abgemalt“. „Abgemalt!“ Ich hätte auch „Fälschung“ sagen können. Aber gesagt ist gesagt.
„Die Fotos haben sich in meine Bilder hineingemalt“, erklärt sie und geht zu dem Portrait des jungen Mannes, der nicht in die Kamera, sondern auf den Fotografen schaut. „Raoul“, flüstert sie leise und streicht mit den Fingerkuppen über sein Gesicht.
„Jedes Mal, wenn ich bei diesen Fotos mit dem Malen begann, dachte ich, es würde so werden wie mit den anderen. Wie ich mir sie vorstellte, oder wie sie mir erzählt wurden. Doch bei diesen hier wurde mein Bild von Strich zu Strich dem Foto ähnlicher, bis es ihm am Ende haargenau glich.“
„Bis auf das Leuchten“, wende ich ein.
„Sie sehen es auch?“ Sie scheint erleichtert. „Ja, bis auf das Leuchten.“
„Wie viele waren es?“
„Die anderen? Viele.“
„Sie haben sie nicht gezählt?“
„Doch.“
„Und?“
„Viele.“
„Sie haben… Sie haben sie alle gemalt?“
„Ich hatte Zeit. 35 Jahre. Jeden Tag. Bis auf donnerstags. 2 Bilder am Tag.“
„Aber warum?“
Sie legt den Bleistift und die Zeitung auf den Stuhl. Ich meine, um Zeit für ihre Antwort zu gewinnen. Prüft sie, ob ich vertrauenswürdig bin?
„Es war die einzige Möglichkeit, herauszufinden, ob Du noch lebst, mein Sohn“, sagt sie schließlich, leise.
Ich blicke sie entgeistert an. Sie hält meinem Blick stand. In den Augenwinkeln sehe ich, wie die Aufsicht am Eingang zu uns herüberschielt. Die Augen der Frau werden feucht. Sie hebt die rechte Hand und streicht mir mit den Fingerkuppen über die Wange, wie bei Raoul.
„Sie sind weder tot, noch wissen wir, wo sie sind. Heute sind sie so alt wie Du, mein Junge. Sie sind da. Irgendwo“ Sie weist mit dem Kinn zum Ausgang. Ich nehme ihre Finger von meiner Wange, blicke auf die Linien ihrer offene Hand. „Und Sie warten?“
„Ich reise zu ihnen. Ich zeige sie.“
Das Bandoneon hebt zum Tango an, wird abrupt von der Bratsche abgelöst. Die Geige folgt mit ihrem Kommen und Gehen. Bevor sie verklingt, fängt das Piano die Melodie auf und ergibt sich perlend dem Bandoneon. Ich möchte den Tango in seiner Gänze hören. Wir gehen gleichen Schritts die Bilder ab. Ich halte immer noch ihre Hand. Bei dem letzten gemalten Foto bleiben wir stehen.
Ich zeige auf den schmächtigen, schwarzhaarigen Jungen mit einer dicken Hornbrille. „Und wie heißt er?“
„Pedro. Der Sohn von Annabelle.“
„Aber Sie sagten doch…“
„Dass das meine Kinder sind?“ Sie lacht. „Ja es sind alles meine Kinder. Aber jedes hat seine eigene Mutter.“
„Sind sie eine der Mütter der Plaza de Mayo?“ Ich hatte kürzlich gelesen, den „Madres de la Plaza de Mayo“ sei ein Friedenpreis verliehen worden.
„Mein Sohn hieß Paolo. Bei seinem Bild ist mir das Leuchten nicht gelungen.“
Ich erwidere nichts, bin betroffen.
„Aber die hier“, ruft sie freudig aus und macht mit der Hand eine kreisende Bewegung, „die hier leben noch. Ich weiß es.“
Ich führe ihre Hand zu meinem Mund, berühre mit den Lippen ihre Finger. „Danke“, sage ich.
„Behalte das Leuchten, mein Junge, behalte das Leuchten!“

Die Freiheitsstatue



Von der Treppe aus, die vom Ausstellungsraum auf den Bürgersteig hinausführt, sehe ich den Pantomimen, der nach wie vor auf einem kleinen Podest steht und starr als Freiheitsstaue an den vorübergehenden Bummlern vorbeischaut. Ganz in weiße Laken gehüllt, das Gesicht weiß bemalt, eine weiße Fackel im weißen Handschuh, auf dem Kopf einen weißen Sternenkranz. Jedes Mal, wenn eine Münze in den Blechteller hineinklingelt, verbeugt sich die Statue mechanisch, ruckartig, um dann unverzüglich in ihre alte Position zurückzuschnellen.

Ich steige die wenigen Stufen hinab und stelle mich vor die weiße, unbewegliche Gestalt. Wir schauen uns in die Augen. Sie hält meinem Blick nicht stand. Auf der obersten Treppenstufe erscheint die Mutter vom Maiplatz, die ich erst für eine Aufseherin gehalten hatte. Sie hat das weiße Tuch aus ihrem Haar gelöst. Winkt mir mit ihm zu. Ich lächle zurück und werfe eine Münze in den Blechteller des Pantomimen. Die Freiheitsstatue verbeugt sich mechanisch vor mir. Ich verbeuge mich vor der winkenden Frau.


Zwei Links zum Thema:
„Mütter der Plaza de Mayo erhalten Friedenspreis der UNESCO

http://www.npla.de/poonal/3227

„Le chant du coq“ vom Quarteto Cerdrone


http://www.youtube.com/watch?v=t4ZslDa_uHI&feature=related

 

Impressum

Texte: Alle Rechte beim Autor
Tag der Veröffentlichung: 27.03.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Eine herzliches Dankeschön an Anne Reinéry fürs Lesen, Korrigieren und Verbessern.

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