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Nun hat es auch ihn erwischt. Zum ersten Mal. Es musste ja kommen. Der Anfang einer noch kommenden Reihe von Probelieben und Probetrauern. Bis dass das Herz sich den Kopf wund geschlagen hat und die Wasser sich beruhigen.

Mein Sohn ist auf seinem Zimmer. Er liegt auf seinem Bett, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Jethro Tull in den Kopfhörern verhindert Nachdenken.

Mein Sohn trauert. „Trauert“ sage ich. Trauer muss sein, wenn etwas verloren geht. Ohne sie kann man an nichts Neues anknüpfen. Er sagt, ihm tut die Seele weh. Ein 17jähriger Junge sagt, ihm tut die Seele weh! Um das Wort Liebeskummer zu vermeiden, zu abgenutzt, nein kolportiert, hatte er gesagt. Liebeskummer kennt jeder, ihm aber tut die Seele weh wie nur einem einzigen Menschen auf Erden. Seine Liebe zu dem hübschen Mädchen war ins Unermessliche gegangen, ich hatte es gesehen. Nun beginnt die Trauer um das Falsche.

Wir haben schon immer über alles sprechen können, offen und ohne Tabus. Über das Leben, seine Möglichkeiten und Freuden, seine Grenzen und Pflichten. Über Politik, Umwelt, Freunde und Frauen. Über Liebe. Über seine Mutter.

Ein Leben ohne Liebe ist ein Irrtum! Ein glatter Satz, gegen den es nichts einzuwenden gäbe. Darüber waren wir uns einig. Der Nietzsche hatte „Musik“ gesagt, wir haben „Musik“ gegen „Liebe“ ausgetauscht. In Musik waren wir uns nicht so einig. Er mit seinen Oldies von Jethro Tull, ich mit meinen Monteverdi Gesängen, denen er nichts abgewinnen kann. Vielleicht kommt das noch, denke ich mir, Jethro Tull hatte mich in meiner Jugend schließlich auch eine Weile begleitet, bis irgendetwas mich umgepolt hatte. Musikalisch, meine ich.

Jetzt trauert er. Kann ich ihm helfen? Wohl kaum. Reden können wir, natürlich. Wir haben geredet, heute Morgen beim Frühstück, bevor er sich in seinen Jethro Tull zurückgezogen hatte. Zum Bowlen hatte er nicht gewollt. Beim künstlichen Licht an einem Sonntagmorgen Kugeln gegen Plastikkegel zu werfen lag ihm nicht.

Weißt Du, woran ich denken musste heute Nacht? An Dein Verhältnis zur Natur. Dass Du ein Stadtjunge warst und erst mit 14 zum ersten Mal einen richtigen Wald gesehen hattest. In Hessen. Und dass Du deshalb vor der Natur stehst wie ein Zuschauer. Du blickst auf die Natur wie auf ein Gemälde, das Du fühlst, aber nicht verstehst. Erinnerst Du Dich?

Natürlich erinnere mich an diesen Wald. In Hessen. An die Ehrfurcht, die ich vor den hohen Bäumen empfand. Was ich ihm nicht erzählt hatte, aber irgendwann noch tun werde: in diesem Wald liegt meine erste Erfahrung mit Liebe, der körperlichen. Sie war drei Jahre älter als ich und schrieb mir, als ich wieder daheim war, ihre Regeln seien ausgeblieben. Zwei Wochen Angst vor hohen Bäumen. Mit vierzehn Vater, das hätte auch die tolerantesten Eltern im Dreieck springen lassen. Aber Gott sei’s gedankt, eine Postkarte schrieb mir kurz darauf die Entwarnung.

Warum er an mein Verhältnis zur Natur gedacht hätte, wollte ich wissen.

Er sei ein Vaterkind gewesen, sei ohne Mutter aufgewachsen. Er hätte die Liebe zwischen Eltern nicht erfahren, so wie ich damals die Natur nicht erfahren hatte. Nun stünde er als Zuschauer vor ihr, der Liebe. Liebe als Gemälde, das er fühlt, aber nicht versteht.

An Liebe gibt es nichts zu verstehen, hatte ich mich verteidigt. Sie sei gewaltig wie ein Strom, von dem man mitgerissen wird. Aber Liebe macht nicht klug. Aus Kummer dagegen könne man lernen.

So wie die Medizin von kranken Organen mehr gelernt hat als von gesunden? Nein danke, hatte er ausgerufen und mit der Tasse den Unterteller verfehlt.

Ich erinnre meinen ersten Liebeskummer, einen richtigen, meine ich. Nicht an verletzten Stolz oder die Nachwehen einer lauwarmen Zuneigung, die man vergisst, wie andere einen Regenschirm beim Frisör vergessen.

Nein, als eine Welt zusammengebrochen war. Kein Gefühl setzt uns mehr in den Mittelpunkt der Welt als die Trauer um eine verlorene Liebe. Nicht mehr, nicht weniger. Nach der Uraufführung von Wagners Tristan und Isolde kam es massenhaft zu Selbstmorden. Besonders junge Frauen starben den Liebestod Isoldes nach. War ich damals musikalisch umgepolt worden, überlege ich? Jethro Tull ist nicht gefährlich. „Bourrée“ ist tatsächlich ein schönes Stück, wirft einen aber nicht von Brücken.

Sprachlos war ich gewesen, so wie Du, einfach in den Boden gedrückt. Die Zeit arbeitet schneller in Deinem Alter. Man klammert sich weniger an sie als später, wenn plötzlich, beim ersten braunen Fleck auf dem Handrücken, bewusst wird, wie wertvoll sie ist. Die Jahre, die sich uns entziehen. Ich erinnere mich an den Gedanken, dass das Gute an diesem Schmerz sei, dass es das nächste Mal einfacher würde. Was ich nicht wusste, sondern erst viel später las: „In der Liebe sind wir in jedem Alter Anfänger“.

Nur mit dem Kummer lernt man, nicht besser, sondern anders umzugehen.

Beim x-ten Mal –war es Deine Mutter? – bin ich es anders angegangen. Wir hatten Fotos, gebündelte Briefe, heimgebrachte Souvenirs von gemeinsam Erlebtem, und Erinnerungsfragmente von zärtlichen Worten und Umarmungen. So sehr ich jedoch alles zurechtlegte, zusammenfügte, es blieb weit entfernt, von unserer Liebe ein vollständiges Bild zu zeichnen. So viele weiße Flecken blieben in dem Erinnerungsbild. War das unsere Liebe gewesen? So lückenhaft? Mit den Farbstiften meiner Fantasie machte ich mich daran, die weißen Flecken auszumalen. Mit Erwartungen, die nie erfüllt wurden. Mit Projekten, die nie den Tag sahen. Mit Akkorden, deren Harmonien nie zustande gekommen waren. Mit, mit mit…. Mit der Zeit schloss sich das Puzzle, das Bild wurde vollständig. So hätte es sein müssen, so hatte ich es mir gewünscht. Aber so war es nicht gewesen. Dem ich nachtrauerte, hatte es nie gegeben.

Verlorene Liebesbilder auszumalen – eine Lösung? Für meinen Sohn? Nicht jetzt. Später hilft es vielleicht, zu verstehen, wonach man sucht. Das nächste Mal. Jetzt geht es darum, über die Runden zu kommen. Der Zeit nachgeben. Reden. Sich leer reden.

Er kommt die Treppe herab, ohne Kopfhörer. Schlaksig, im Trainingsanzug. Ob das Bowlingangebot noch gilt, will er wissen Natürlich gilt es noch. Und wenn Du Lust hast, eine Runde Schach. Oder ins Kino. Ablenkung schaffen. Der Rest geschieht allein.

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Texte: Alle Rechte beim Autor
Tag der Veröffentlichung: 27.02.2012

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