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Der Mann stand, den Kopf nach oben gestreckt, vor dem mächtigen Richtungsweiser auf der heftig umfahrenen Verkehrsinsel in der Baseler Innenstadt. Moskau wurde von ihm mit 810 Kilometern angezeigt, Singapur mit 8765, Berlin lag in Richtung und Entfernung nah zu Moskau, und New York mit 6300 Kilometern zeigte in die entgegen gesetzte Richtung von Peking. Rom bestand mit 650 Kilometern auf Nähe, Mekka war doppelt so weit. Insgesamt 25 Pfeile zeigten die Entfernungen zu 25 Zielen, was den Mann auf der Insel ganz offenbar verwirrte, denn er hatte die eine Hand in die Hüfte gestemmt und kratzte sich mit der anderen ratlos den spärlich bewachsenen Hinterkopf.

 „Wie soll man sich da zurechtfinden“, murmelte er halblaut, worauf ich ihm erwiderte, die Wahl sei vielerorts eine Qual. Das Ziel, das am wenigsten  Qual verspreche, sei wahrscheinlich das richtige. Er zeigte sich überrascht, mich so plötzlich neben sich stehen zu sehen, wünschte aber freundlich einen guten Tag.

„Und? Wo soll es hingehen?“

„Einfach nur reisen. Aber mit einem Ziel“, antwortete er und stellte seinen Rucksack neben sich ab.

„Zu Fuß?“, fragte ich ungläubig und schaute auf seine kurzen Lederhosen, seine braunen, dicken Wollsocken, die in festen Wanderschuhen steckten. Zu Fuß käme man überall hin, meinte er. „Ha, auch nach Singapur? Da können Sie schwimmen, bis ihnen die Arme abfallen, aber ankommen werden Sie da bestimmt nicht.“

„Mag sein“, gestand er mir. „Dann ginge es mir wie so vielen Männern, die unüberlegt reisen und deshalb nie ankommen.“ Er seufzte. Für diese sei Unterwegssein alles, ungeachtet des Ziels. Und weil das Ziel ihnen egal sei, hätten sie nie den richtigen Rückenwind. Das machte jedes Reisen beschwerlich und führte, zwangsläufig, zur Resignation und erbärmlicher Langeweile. Er jedenfalls behielte seine Stiefel immer an und bliebe um jeden Preis abmarschbereit.

„Wo soll’s nun langgehen?“, insistierte ich.

„Zum Glück“, sagte er.

„Zum Glück was?“

„Ich suche den Weg zum Glück.“

„Sie suchen den Weg zum Glück?“ Ich traute meinen Ohren nicht. „Mein lieber Mann, das Glück gibt es nicht! Versuchen Sie es selbst. Die nächste Lottoannahme liegt knapp 500 Meter hinter uns.“

Nein, nein, darum ginge es ihm nicht. Nicht ums Geld.

„Aber das Geld ist der Schlüssel zu allem“, sagte ich bestimmt. „Zumindest kann es, wenn es zu keinem Glück führt, Unglück vermeiden.“

Er blickte mich mitleidig an. „Aus Ihnen spricht naive Jugend“, sagte er endlich. „Alles auf den gemeinsten Nenner bringen. Ihr jungen denkt immer nur das Gegenteil!“ Beleidigt ergriff er seinen Rucksack, nickte mir zu und ging grußlos zwischen den hupenden Autos hindurch aufs Festland.

 Am nächsten Tag erblickte ich ihn erneut. Den Rucksack auf den Rücken geschnallt, umkreiste er mit langsamen Schritten den Richtungsweiser, streckte den Hals, las, suchte, schüttelte den Kopf. Meinte er etwa, neue Richtungen seien über Nacht wie Knospen aus dem Wegweiser gesprossen? Unverrichteter Dinge zottelte er wieder ab, dieses Mal in eine andere Richtung als die des Vortags, mit den Ellenbogen durch den gefährlich dichten Verkehr rudernd.

 Die Szene wiederholte sich. Tag um Tag. Wobei er das Schicksal aufs Äußerste strapazierte, wenn er sich jedes Mal durch den Verkehr boxte. Einem weißbemäntelten, deshalb derb schwitzenden Polizisten, der mit einer Trillerpfeife Ordnung versuchte, schien es wie mir bange zu werden, sobald sich der Mann anschickte, zielstrebig auf die Insel zu gelangen. Kurz entschlossen breitete der Beamte schließlich die Arme aus und pfiff, was das Zeug hielt. Reifen quietschten, Wagenfenster wurden gekurbelt, es schimpfte, schrie und hupte, und für einen Augenblick lag, zu einem Foto erstarrt, die Verkehrsinsel im Mittepunkt eines bewegungslosen Verkehrschaos aus Blech, verursacht von einem Mann, dem, abmarschbereit, der Weg zum Glück fehlte.     

 Schon spielte ich mit dem Gedanken, dem gewagten Suchen des Mannes ein Ende zu setzen und in der Nacht eins der Schilder auszutauschen gegen ein anderes mit der Beschriftung „Glück“. Moskau gegen Glück, New York, oder Rom oder Mekka. Kneifzange, Nägel und Hammer lagen schon bereit, das Brett trug schon den Namen seiner gewünschten Richtung, ich hatte nur noch über das zu entfernende Ziel zu entscheiden.

 Doch dann sah ich am kommenden Tag, wie der Mann, nachdem er auf der Insel seine Runde gedreht hatte und bereits zum helfenden Polizisten spähte, unvermittelt innehielt, sich mit der Nase dem Richtungsweiser auf Zentimeter näherte und plötzlich beide Hände über dem Kopf zusammenschlug. Er schien etwas entdeckt zu haben und war nun offenbar ganz außer sich. Er schaute auf einen Punkt des Wegweisers, dann in eine Richtung, wieder auf den Punkt, wieder in die Richtung. Sein Kopf ging hin und her. Dann, wie auf ein Zeichen, gab er sich einen Ruck. Entschlossen steuerte er sich zwischen die Stossstangen hindurch aufs rettende andere Bürgersteigufer und hüpfte über eine von der Sonne verdörrte Wiese stadtauswärts, wo er in der Hitze flimmernd meinem Blick entschwand.

 Was konnte er entdeckt haben? Auch ich setzte alles auf eine Karte und schlingerte mich halsbrecherisch durch den Berufsverkehr. Unbehelligt auf der Insel angekommen, ging ich ein erstes Mal um Moskau, Mekka, Rom und New York herum, bemerkte aber nichts Außergewöhnliches. Ich versuchte es erneut, nahm mir dieses Mal Zeit. Vergebens. Um mich herum wogte und dröhnte es, der weiße Polizist wirbelte wild mit den Armen und schuf Platz für das Blaulicht eines Krankenwagens. Dann sah ich es. Das fingernagelgroße Schild war, als der Mann sich ihm genähert hatte, vom Wegweiser abgefallen und lag, richtungslos und rücklings auf dem Boden. Ich bückte mich und hob es auf. Die Schrift war so winzig, dass ich mir das Schild nah an die Augen halten musste

Es gelang mir nicht. Ich konnte nicht erkennen, was dort geschrieben stand. War die Schrift mit der Zeit verblichen, und hatte er als letzter, quasi im allerletzten richtigen Moment, mir das angezeigte Ziel weggelesen?

Doch selbst wenn, überlegte ich mir, selbst wenn ich das Ziel hätte entziffern können, jetzt, wo es beliebig auf dem Boden lag, welche Richtung galt es, einzuschlagen? Die der verdörrten Wiese, zur Stadt hinaus? Seine Richtung? So wie er hüpfte, schien es, als habe zumindest er es gefunden. Ein Glück, das für mich einstweilen auf der anderen Seite der Insel lag. In Reichweite. Nicht weiter, nicht näher. Begänne ich zu suchen, wäre alles fern von mir.

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Texte: @ für Coverbild und Text beim Autor
Tag der Veröffentlichung: 10.01.2012

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