Jeder hat seine Macke. Eine körperliche, seelische oder charakterliche. Mehr oder weniger ausgeprägt. In jedem Fall etwas, was jemanden anders machte, womit jemand auffällt. Für viele sind diese Macken anstößig. Oder gar eine Art Virus, vor dem es sich zu beschützen gälte. Andere wiederum finden Macken erfrischend. Eine Art neuer Wind, der durch so wässrige Normalität weht. Die Mackenträger selbst sind gespalten. Einige wissen nicht, dass sie eine Macke haben. Andere versuchen, sie zu verbergen. Selten sind jene, denen es gleichgültig ist, ob oder nicht bei ihnen eine Macke festgestellt wird.
Wenn „Macke“ die umgangssprachliche Version von Makel ist, dann weist das Wort auf Unvollständiges, Nicht-Perfektes hin. Das gefällt mir. Nur Idioten können Perfektion wünschen und versuchen. Oder Selbstmörder. Denn die einzige Perfektion ist der Tod. Es wäre lebensverachtend, sie anzustreben. In der Unvollständigkeit, im Makel, in der Unendlichkeit und im Nicht-Perfekten liegt, nein, IST das Leben.
H gehörte zu der Kategorie der Gleichgültigen. Er hatte eine sprachliche Macke. Sie hieß „nachhaltig“. H sprach von „nachhaltig“, wenn weder Grund noch Zusammenhang danach fragten. Stehen wir vor einem Gemälde, dessen inhaltliche Dichte bewundert wird, sagt H schlicht „nachhaltig“. Oder er sagt, das Spiel von Formen und Farben, das Inhalt destilliert, sei bemerkenswert. Der Ratlosigkeit, die sein Kommentar bei den Umstehenden auslöst, fügt er, Achsel zuckend, „nachhaltig“ hinzu. Was an sich noch ankommt, beim Kunst betrachtenden Hörer. Wenn er allerdings am Kiosk Die Welt ersteht und dem Verkäufer das Wechselgeld mit nachhaltig quittiert anstatt mit Danke, ist es aus mit Hörerverständnis. Es kann nur den Kopf schütteln, nachhaltig, wie H belustigt hinzufügen würde.
H war ein gebildeter und kluger Mensch. Bis zum Museumsdirektor hatte er es gebracht. Er rauchte Zigarren, hatte einen dicken Bauch und mit 45 den ersten Herzinfarkt erfolgreich überstanden. H’s Frau, erheblich jünger, schlanker und gesünder als er, hatte, wie sie es mir später sagen sollte, nie versucht, seine Macke zu beheben. Im Stillen meinte ich sogar, sie, seine Macke, würde ihre Liebe für ihn ausmachen. So jedenfalls hatte ich es verstanden, als sie mir einmal gestand, sie habe H zu lieben begonnen, richtig zu lieben begonnen, als sie seine Fehler entdeckte. Obschon „nachhaltig“ nicht darauf wartete, entdeckt zu werden. Es war so offensichtlich, so eminent wie die Furunkel auf einer ansonsten faltenfreien Stirn.
Was uns fehlen würde, nachhaltig, hatte er mir einmal gesagt, sei der Blick für das, was aus der Rolle fällt. Ich solle richtig verstehen, meinte er, er plädiere nicht für das nachhaltig Hässliche, Abstoßende. Nein. Für das Schöne, das, nachhaltig näher betrachtet, sein Gegenteil in sich birgt und eben deshalb zum Schönen aufsteigt. Ich hatte ihm widersprochen, meinte, umgekehrt, das Schöne müsste im Hässlichen gesucht werden, Otto Dix zum Beispiel, mit seinen kriegsgefärbten Zeichnungen und Gemälden.
Worauf er lächelte und sagte, ich sei ein guter Controller, der was von Kosten verstehe, mit meiner Kunstauffassung hapere es jedoch nachhaltig. Ich sei noch entschieden zu jung. Der richtige Blick würde noch kommen. Die Schönheit – wenn auch geschminkt - sei der Schlüssel der Seele. Geöffnet, würde sie den Makel nicht ertragen, sondern zu lieben wissen.
Ich gestehe, anfangs verdächtigte ich ihn einer absichtlichen Marotte. Eine Art Mütze, die er verquer aufgesetzt, mit Absicht, eine Art gewollte Persönlichkeitsnote. Bestärkt hatte sich dieser Verdacht, als wir zum ersten Mal weit im Ausland waren. Wir standen vor dem mächtigen Tinteretto in Eriwans National Galerie und er diskutierte in Englisch mit dem armenischen Kunsthistoriker über die Herkunft des Gemäldes. Nicht ein einziges „nachhaltig“, weder als effective, noch als enduring, noch als strongly oder sustainable. Nichts. Seine Macke gab es nur in Deutsch. Der englisch gesprochene Tag, nachhaltigleer, wurde erneut gefüllt, als wir am Abend deutsch unter uns saßen, der Botschafter, H’s Frau, zwei hoch besoldete Staatsekretäre und ich, der Controller. H unterhielt unsere kleine Runde mit enthusiastischer Emphase, und es prasselte von nachhaltig.
Ein anderes Mal, ebenfalls im Ausland, bedurfte es einer Dolmetscherin. H würde sich in Deutsch ausdrücken und sie dem griechischen Gesprächspartner simultan übersetzen. Ich befürchtete das Schlimmste, für sie und den Kulturminister. Ich wollte sie einweihen in H’s sprachlichen Schönheitsfehler und bat sie um eine kurze vorherige Unterredung. Ob sie wisse, was Füllwörter seien, fragte ich sie gewagt. „Meinen Sie Unwörter?“ fragte sie zurück. „Ja, wie zum Beispiel nachhaltig“, wurde ich präzise. Nachhaltig sei doch kein Unwort, lachte sie. Es käme darauf an, wo’s stände, versuchte ich zu insistieren, worauf sie entrüstet erwiderte, sie könne sehr wohl Kontexte erkennen, wenn auch deutsch geprägt.
Das Ergebnis war ein Desaster. Der Kulturminister wurde zusehends irritierter, zwar lächelte er seinem Gesprächspartner fortlaufend ins Gesicht, aber je nachhaltiger es wurde, desto schweigsamer zeigte sich der Grieche, dessen Zeit plötzlich bemessen war. Unverrichteter Dinge bestiegen wir die Lufthansa und strichen Griechenland von der Liste der Leihländer, nachhaltig.
Wenige Monate nach dem griechischen Sprachabenteuer trennten sich unsere Wege. Auf einem Flughafen lernte ich meine zukünftige Ex-Frau kennen. Ihre Schönheit erschloss sich meine Seele, ohne sie zu öffnen. Wir sahen über unsere beiderseitigen Makel hinweg, bis diese an Gewicht gewannen, das weder sie noch ich zu ertragen wussten.
Am Tag unserer Scheidung blätterte ich in der Welt. Schwarz umrahmt stand dort sein Name. In Dakar hatte es ihn auf einer internationalen Konferenz wie ein Blitz getroffen. Die Beerdigung sei auf den nächsten Tag festgesetzt. Während dort Nagel um Nagel geklopft wird, in den Sarg, geht hier die Sonne auf in einen herrlich neuen Morgen hinein, nachhaltig für immer. So hättest Du es auch gesehen, H. Nun bist Du makellos und perfekt.
Tag der Veröffentlichung: 10.12.2011
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Widmung:
H gewidmet. In leuchtender Erinnerung.