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Die Granate hatte ich gefunden, als ich Abc einbuddeln wollte. Neben unserem Mietshaus hatte es einen Streifen brachliegenden Landes gegeben, der mit seiner wild wuchernden Hecke unser Haus von dem riesigen Sandplatz abschnitt, auf dem wir Jungen Fußball spielten und sogar, einmal im Jahr, ein Zirkus seine bunten Zelte aufstellte. Erst hatte ich geglaubt, Abc hielte seinen Winterschlaf. Als ich dann jedoch den Käfig öffnete und seinen kleinen Körper mit dem Zeigefinder antippte, stand fest, Abc war tot.

Die kleine Schaufel war auf etwas Hartes gestoßen. Nicht weit von dieser Stelle hatte ich Wochen zuvor ein fein ziseliertes Schmuckkästchen gefunden, in dem ein Amulett, einige Geldscheine einer mir fremden Währung und zwei goldene Eheringe verschlossen waren. In einem der Ringe war „Ruth, mein Leben“ eingraviert. Der andere, kleinere Ring hatte keine Widmung. Meine Eltern waren mit mir, dem ehrlichen Finder, zum städtischen Fundbüro gegangen. Einige Wochen später hatte ein offizielles, abgestempeltes Schreiben bestätigt, dass der ausgegrabene Schatz nach einer Fünfjahresfrist in mein Eigentum übergehen würde. An meinem elften Geburtstag könnte ich ihn am Amt gegen Vorlage des abgestempelten Schreibens einlösen. Elf würde ich erst in Jahrhunderten werden. Der Reichtum war für mich in unerreichbare Ferne gerückt.

Vielleicht ein neuer Schatz? Ich legte mit den Händen einen eisernen, dunklen Gegenstand frei, eierrund und groß wie die Faust meines Vaters. Befreit von Erdklumpen zeigte er mir seine Haut, die ich vom Zoo kannte. Der Panzer einer Schildkröte. Am oberen Ende war ein Ring befestigt, deutlich größer als die Eheringe der Schatzschatulle. An die Stelle meines freigelegten neuen Schatzes legte ich Abc. Ich schaufelte das Loch zu und steckte auf das Fleckchen frisch aufgewühlter Erde das kleine Holzkreuz, das ich vorher aus zwei zusammengebundenen Zweigen geformt hatte. Ich sprach ein kurzes, einem Hamster gewidmete Gebet und eilte in unsere Wohnung, fest entschlossen, dieses Mal das mich enteignende Fundbüro zu umgehen.

Da ich in der Schule gerade Lesen und Schreiben lernte und wir Knirpse Bekanntschaft mit jedem einzelnen Buchstaben machten, gab ich meinem neuen Schatz den Namen Def. Auch in der Hoffnung, er würde mich nicht wie Abc im Stich lassen und wie er aus meinem Leben verschwinden. Ich war nun überzeugt, dass ich das Schmuckkästchen nicht hatte behalten dürfen, weil ich ihm keinen Namen gegeben hatte. Getauft wäre es mir treu geblieben, sagte ich mir. Gab es einen anderen Grund, Dingen, Tieren, Strassen oder Menschen Namen zu geben? Mein Vater nannte sein knatterndes Moped Harley. Harley hier, wenn er auf dessen Blech hauchte und daran herumpolierte, Hardy dort, wenn er auf ihm zum Supermarkt ritt. „Hoffentlich lässt mich Harley nicht im Stich, morgen früh, in der Kälte, wenn ich zur Zeche muss“, hieß es bei den Abendstullen, wenn die Wettervorhersage im Radio von Temperaturen unter Null sprach. Ein Name war von Dauer, er schrieb sich ins Leben ein. Meine Mutter hatte keinen Namen, Vater und wir nannten sie Mutter. Gleiches mit Vater, den wir vier Vater riefen. Doch wir fünf zusammen hatten einen Namen. Der stand draußen auf dem Briefkasten und über der Drehklingel unserer Wohnungstür.

Ich versteckte Def unter dem Kopfkissen meines Bettes. Def schlief mit mir in meinem Bett. Def wachte mit mir auf. Meine beiden älteren Brüder ahnten nichts von meinem Glück. Sie hatten mir einmal eine Heusmarke entwendet, die ich von einem Brief abgedampft und in Winnetou I trockengelegt hatte. Das sollte mir nicht noch einmal passieren, hatte ich mir geschworen.
Da unsere Ranzen samt Pausenbrot von unserer Mutter gepackt wurden, schien es aussichtslos, Def mit in die Schule nehmen zu können. Ich verbarg ihn, als sich meine Brüder im Badezimmer die Zähne putzen und ich für Augenblicke allein mit meinem Glück sein durfte, in einem der Spielzeugkartons unter einer Unmenge von rot-weißen Legosteinen.
In der Klasse fieberte ich dem schrillen Schellen entgegen, das uns Knirpse aus der Schule entließ. Dieses Mal bummelte ich nicht wie üblich auf dem Heimweg, sondern rannte förmlich unserer Wohnung entgegen. Meine Brüder hatten noch Werkunterricht, sodass mir eine ungestörte Stunde mit Def bevorstand. Mutter würde in der Küche beschäftigt sein, und meinen Vater, frühmorgens von der Nachtschicht heimgekommen, wusste ich noch im Elternschlafzimmer unter dem grölenden Hirsch.

Auf der Höhe der wild wuchernden Hecke angekommen, wo ich am Vortag Abc ein-, und Def ausgegraben hatte, sah ich Vater bis zum Hosengürtel in einem Erdloch stehen. Genau an der Stelle, wo ich das Zweigkreuz für Abc errichtet hatte. Vater hielt einen Spaten in der Hand, die Hemdsärmel aufgekrempelt wischte er sich nach jedem Spatenstich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Mutter war mit geröteten Augen aus dem Küchenfenster gelehnt und drückte sich ein Taschentuch auf den Mund. „Tiefer, tiefer!“ rief sie Vater zu, und Vater grub, was das Zeug hielt. Als wir von ihm nur noch seine roten Haarbüschel sahen, schrie Mutter „Es reicht, es reicht! Komm da raus!“ Worauf er aus seinem Loch schreiend antwortete, er käme nicht mehr hoch. Mutter verschwand im Wohnungsinnern und kam nach einer Weile mit der kurzen Trittleiter aus dem Haus, die sie einmal in der Woche zum Putzen der Fenster bestieg. Gefährlich nah am Lochrand reichte sie sie Vater, der nun mit der Brust auf Erdhöhe kam. Er reichte Mutter den Spatenstiel, an dem sie Vater keuchend aus dem Loch zog. Noch ahnte ich nichts von dem, was kommen sollte. Ich hielt mich verdeckt an der wild wuchernden Hecke und prustete vor Lachen, dass mir der Ranzen auf dem Rücken auf- und abwippte.

Beide verhandelten nun die Rettung der Trittleiter, Vater deutete pragmatisch auf die Uhr im Küchenfenster, Mutter gestikulierte ins Loch hinab. Schließlich gab sie seufzend auf, und Vater ging um den von ihm gehäuften Erdhügel herum, bückte sich und hielt nun Def in der Hand. Meinen Def! Ich begriff sofort, worum es ging, verharrte aber verborgen hinter der wild wuchernden Hecke. Vater bedeutete Mutter, sich einige Schritte vom Loch zu entfernen. Dann, auf Zehenspitzen und die Zunge gestreckt wie ein Basketballspieler, zielte er mit Def auf das Loch. Wir hörten, wie Def hart auf die Trittleiter fiel. Ein, zwei Mal schepperte es, dann war es still. Gerade, als Vater zum ersten Spatenstich anheben wollte, um meinen Def zuzuschütten, wehrte sich dieser ein letztes Mal. Er detonierte mit einem derartigen Knall, dass die Scheiben unserer Wohnung zerbarsten und die Gardinen verletzt im Luftzug wedelten. Wie ein sich erbrechender Vesuv hatte das Loch Erde und Trittleiter in die Höhe geschleudert. Vater und Mutter, die Haare in der Druckwelle, saßen, von der Explosion auf die Erde gedrückt, und blickten sich fassungslos an. Dann spuckte sich mein Vater entschlossen in die Hände, ergriff den Spaten und machte sich ans Werk, den Krieg endgültig einzubuddeln.

Wenn das Kind knapp mehr als einen Meter misst, kommen ihm die Decken der Wohnung ungemein hoch vor. Unerreichbar hoch. Wenn das Kind erst sechs Jahre zählt, haben die Eltern noch kein Alter. Geburtstage haben sie, ja, wie wir, aber kein Alter. Kinder sehen nicht, dass sie den Eltern entgegenwachsen. Sie bleiben für sie, gleich den Decken, unerreichbar. Sie blicken zu ihnen hoch, manche ihr ganzes Leben lang. In Zorn, in Verehrung, in Versöhnung, selbst wenn sie schon Asche sind oder unter der Erde liegen.
Die Gesetze der Eltern sind in der Regel ungeschrieben. Wir entdecken sie nach und nach, häufig erst, wenn wir sie überschreiten. Sie schreiben sich in uns ein, wachsen in uns hinein. Wer nicht hören wolle, müsse fühlen, hieß die Strafankündigung, nicht immer verständlich, in ihrem Maß zumindest, was sie erst recht bedrohlich machte.

Eines unserer ungeschriebenen Gesetze bestand darin, dass Kindheit waffenlos zu bleiben hatte. Mit Waffe ist hier eine Pistole, ein Gewehr oder ähnliches Schiesszeug gemeint. Fletschen, handgemacht mit einem V-Zweig und einem roten Einmachring, mit dem Steine oder Pflaumenkerne abgeschossen werden, fielen nicht in das Waffenverbot. Einem Nachbarskind hätte diese nachlässige Großzügigkeit fast ein Auge gekostet. Über Wochen hinweg spielte der Junge mit uns mit einem Piratenauge, unter dem weiße Watte hervorquoll. Aus dieser Zeit stammt wohl auch sein Spitzname. „Einhorn“ hatte einer von uns ihn einmal genannt. Ich verstand nicht, was eine schwarze Augenklappe mit einem Einhorn zu schaffen hatte, aber wie das bei Spitznamen so ist, bleiben sie an einem kleben, bei manchen bis ins späte Lebensalter.

Waffen waren verpönt. Ohne Waffen hätte es den Krieg nicht gegeben, hieß es lapidar. Darin waren Mutter und Vater sich einig. Also keine Bandit-Polizei-Spiele, keine Cowboy-Indianer-Jagd. Gut und Böse erlernten wir munitionslos, von den Pflaumensteinen abgesehen. Gut war alles, was Gesetz war. Böse, was diese übertrat. Der einarmige Sozi zum Beispiel, der verdächtig mit Hut und Mantel, von dem der rechte Ärmel leer baumelte, unten an unserem Haus vorbeischlürfte, war das Böse. Er arbeitete nicht, rauchte HB, trank Schnaps und wollte die Gesetze ändern. „Der und seine Genossen haben uns den Krieg eingebrockt“, hieß es. Die qualmenden Schornsteine am Horizont, das rosa Feuerlicht über der Kokerei waren das Gute. „Das ist Arbeit“, hieß es. Der Kollege, der letztlich von der Brüstung in den glühenden Hochofen gestürzt sei, wäre selbst Schuld gewesen, meinte Vater. Er hätte die Betriebsordnung nicht respektiert. Warum jemand verbrannt werden musste, nur weil er eine Betriebsordnung nicht respektierte, war uns nicht klar. Aber das Wesentliche der Botschaft war zu uns herübergekommen.

Als der Fernseher schwarz-weiß mit Minimalprogramm bei uns einzog, erwischten uns die Eltern, wie wir alle drei in unseren gestreiften Schlafanzügen im Flur heimlich durch den Türspalt „77 Sunset Strip“ mitverfolgten. Wahrscheinlich war ich es wieder einmal gewesen, der aufgemuckst hatte, weil ich über den Schultern der Brüder mehr sehen wollte, als sie erlaubten. Und so wurden wir drei, tuschelnd und streitend, in Flagranti ertappt. Wer nicht hören will, muss fühlen. Für „77 Sunset Strip“ waren wir noch zu klein, und alles, wofür wir noch zu klein waren, wurde auf die Liste des Bösen gestellt.

Ich hatte sie gegen mein Pausenbrot und meinen Apfel eingetauscht. Leo, mit seinen ausgebeulten Hosen, die er gleich mir von seinen älteren Brüdern übernehmen musste, war hungrig. Eigentlich war er immer hungrig, das lag in seiner Familie, aber an diesem Tag hatte er sich sozusagen gegen den Hunger bewaffnet. Ein Revolver mit einer Trommel, ohne Patronen, die hätte er nicht. Ob es eine Spielzeugpistole sei, wusste er nicht. Jedenfalls sah sie, und darum ging es schließlich, echt und überzeugend aus. Ich taufte sie nach den zwei kommenden Buchstaben Geha. Silbern lag sie, und schwer, in meiner kleinen Hand. Zum ersten Mal – und zum letzten Mal, das sei hier vorweggenommen, wobei ich die Schiessbudengewehre der Kirmes nicht mitzähle – hielt ich eine Waffe in der Hand. Ich fühlte mich nicht gefährlich, aber, zugegebenermaßen, stärker. Ich war schmächtig als Kind, nie hatte ich es zu einem Schwimmerbrustkorb oder zu, wie sie mein nächst älterer Bruder nannte, „Mukkis“ gebracht. Selbst um den Militärdienst, in den mein „Mukki-Bruder“ freiwillig eingezogen war, bin ich herumgekommen. Aber jetzt hatte ich Geha, der hart in meiner Hosentasche gegen meinen Oberschenkel drückte.
Ich konnte von Glück reden, dass Leo zu Beginn des Monats auf den Tauschmarkt gekommen war und nicht am Monatsende. Denn ab dem 15. gab es keinen Apfel mehr, und vom 20. bis 30. war anstelle der Salami oder des Käsebelags Zucker auf die Margarine gestreut. Und dafür, Hunger oder nicht, hätte Leo den Revolver sicherlich nicht herausgerückt.

Ob der Besitz einer Waffe, selbst ohne Patronen, den Menschen veränderte? Ich wusste es nicht. Ich jedenfalls blieb, wie nahezu immer, auch an diesem Tag auf dem Heimweg mit meinem Ranzen vor der Auslage des Trödelladens stehen und starrte auf den Zinnsoldaten, königsblau, preußisch bepackt und bewaffnet. Er hatte es mir schon seit langem angetan. Es war schon seltsam, was die Faszination ausmachte, die von Dingen ausging, deren Besitz plötzlich unabdingbar erschien. Ein preußischer Zinnsoldat passte ganz und gar nicht in meine Figurensammlung, die nahezu ausschließlich aus spähenden Gummiindianern und Lasso schwingenden Gummicowboys bestand. Trotzdem stand fest, ich wollte, nein – ich musste die Figur haben. Ein kleines Preisschild hatte sie bislang in utopische Ferne gerückt. 4,99 Mark gingen weit über das Geburtstagsbudget der Eltern hinaus, auch die Weihnachtskasse wäre überfragt gewesen. Und Taschengeld, das ich Pfennig um Pfennig hätte sparen können, gab es nicht. Doch an diesem Tag schien mir der Zinnsoldat in greifbare Nähe gerückt zu sein. Ich spürte es hart an meinem Oberschenkel. Ich hatte auch schon einen Namen für meinen künftigen Spielgefährten. Ijottka, das hörte sich gut an, nicht preußisch, eher russisch, Ijottka, das war gut.

Ich hatte aus dem Abenteuer mit Def, der Handgranate, gelernt. Ausgeschlossen, Geha in meinem Zimmer zu verstecken. Es musste ein Ort sein, der nicht unbedingt mit mir in Verbindung gebracht werden konnte, der aber trotzdem vor den Augen anderer sicher war. Ich wählte die Holzstufen der Kellertreppe, die von allen Mietern benutzt wurde, wenn’s darum ging, Eingemachtes oder Kohle in die Wohnstuben heraufzuholen. Eine der Stufen lag, trotz des elektrischen Minutenlichtes, stets in totaler Dunkelheit. Ich schob die Pistole, für schlurfende Pantoffeln unerreichbar, rechts gegen die Kellerwand. Es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn dort jemand fündig würde, vor allem, wenn dieser Jemand dort nichts zu suchen hatte.

Mutter hatte im Sommer zuvor sechs Wochen lang in einer Schokoladenfabrik als Einpackerin gearbeitet. Sechs Wochen lang waren wir drei Brüder zu Schlüsselkindern geworden. Ein Band um den Hals, an dem der Schlüssel baumelte, versichte uns Zugang zu der Wohnung, wenn Vater schlief, auf der Zeche arbeitete oder auf seiner Harley ritt, und Mutter am Fliessband stand. Dieser Zusatzverdienst gab uns, abgesehen von der Abfallschokolade, die sie abends unverpackt mit heimbrachte, einen kurzweiligen Wohlstand. Äpfel, Salami und Käsescheiben den ganzen Monat über. Und einen Kühlschrank mit einem Gefrierfach. Ein amerikanisches Model, das fortgesetzt brummte und vor allem hoch war. So hoch, dass das Oberteil, das das Gefrierfach barg, sogar meinen Brüdern unerreichbar blieb. Auf ihm, so wusste ich, bewahrte Mutter die Rabattmarken und das Wechselgeld für die Einkäufe. Ich war mir sicher, dass dort der Preis für meinen so ersehnten Zinnsoldaten lag. Unbeobachtet stieg ich eines Abends auf einen Küchenstuhl und sah in der Tat, neben einigen Münzen und Marken, einen Fünfmarkschein liegen. Ich nahm ihn in die Hand und ließ ihn hinter das brummende Gerät fallen. Eine Zugluft zwischen Küchenfenster und offener Wohnungstür hätte durchaus gleiches bewirken können. Noch war ich, unwiderlegbar, in Unschuld.

Zwei Tage wartete ich, bevor ich den Schein hinter dem langen Amerikaner mit einem hölzernen Kochlöffel hervorstocherte. Auf dem Nachhauseweg von der Schule sollte es dann so weit sein. Der bebrillte, alte Trödelhändler in seinem grauen Arbeitskittel stellte den Zinnsoldaten vor mich auf die Holztheke, ich schob ihm meinen Fünfer zu. Als er den Schein zu den anderen in seine Kassenlade steckte, sie zuschob und mir den Pfennig Wechselgeld reichte, wusste ich, dass es mit meiner Unschuld vorbei war. Ich hatte zum ersten Mal in meinem Leben gestohlen. Kleinlaut verließ ich, den Ranzen schwer auf dem Rücken und mit gesenktem Kopf, den klingelnden Trödelladen, gefolgt von dem Blick des alten Mannes, der, ich sah es durch die Glasscheibe, seinen traurigen Kopf schüttelte.

Das Verhör dauerte nur wenige Minuten, da ich geständig war. Das Corpus Delicti thronte auf dem Wachstuch des Küchentischs. Ijottka mit schwarzem Hut, an der eine rote Feder befestigt war, ein goldenes Hutband war ihm unter das Kinn geklemmt, die königsblaue Uniformjacke hob sich von seinen weißen Latzhosen ab, die in schwarzen Stiefeln steckten. Im Arm hielt mein Soldat ein braunes Gewehr, das Bajonett aufgepflanzt. Vater schleppte mich und Ijottka zu dem Trödelhändler, der widerspruchslos den Preußen zurücknahm und Vater den Fünfmarkschein aus der Kassenlade nestelte. Beschämt gab ich dem alten Mann den Pfennig Wechselgeld zurück.

Was mir blieb, war Geha, mein Trommelrevolver auf der Kellertreppe. Einige Male, wenn ich das Haus zum Spielen verließ, hatte ich ihn hervorgeholt, in die Hosentasche gesteckt und war zu den anderen Kindern gelaufen, die auf dem brachliegenden Sandplatz Fußball spielten. Aber die magische Stärke, die Geha anfangs in mich hineingestrahlt hatte, verblasste mit der Zeit. Die Waffe wurde nunmehr ein störendes Ding, das schmerzhaft gegen meinen Oberschenkel pendelte, wenn ich als Rechtsaußen den Ball vorantrieb und den Mitstürmern in den gegnerischen Strafraum flankte. Immer seltener holte ich ihn aus dem Versteck, bis ich ihn eines Tages ganz vergaß.

Unsere Wohnung befand sich im Erdgeschoss. Die Etage über uns wurde von einem katholischen Ehepaar mit zwei Töchtern bewohnt. Die Mutter war Kettenraucherin und magersüchtig, der Vater dicklich und strammer Biertrinker. Wenn wir Brüder zu unseren Geburtstagen Tanzpartys veranstalteten, waren auch die Töchter über uns geladen. Die Jüngere der beiden brachte mir den Twist bei und übte an mir, mit der Zunge zu küssen. In die zweite Etage zogen eines Tages zwei Männer ein, von denen die Eltern sagten, es seien zwielichtige Gestalten. Sie gingen, so hieß es, keiner geregelten Arbeit nach und polterten nachts grölend die Flurtreppe zu ihrer Wohnung hinauf.
Eines Nachts waren beide wohl derart betrunken, dass sie sich in der Etage irrten und mit ihrem Schlüssel an unserer Wohnungstür fuhrwerkten. Alle fünf standen wir im dunklen Wohnungsflur und starrten erschrocken auf die Tür, durch deren milchige Glasscheibe wir zwei Schatten wahrnahmen. Als einer der beiden Schatten die betrunkene Geduld zu verlieren schien und begann, heftig an dem Türgriff zu rütteln, eilte Vater ins elterliche Schlafzimmer, um Sekunden später, Geha in der Hand, von innen die Tür aufzureißen und den beiden zwielichtigen Gestalten meine Waffe unter die Nase zu halten. In seiner erwachsenen Faust schien sie winzig klein, aber immerhin sah sie so bedrohlich aus, dass die beiden Männer fluchtartig von unserer Tür abließen und die Flurtreppe hinaufstürmten.

Wochen nach der heroischen Tat Vaters hielt vor unserem Haus ein Ernawagen. Grüne Polizisten stiegen mit ihren klobigen schwarzen Dienstschuhen die zwei Etagen hinauf und führten die beiden zwielichtigen Gestalten, die Hände in Handschellen, die Treppe hinab. Wir sahen durch die Gardinen unserer Erdgeschossfenster, wie die beiden Männer auf die hintere Sitzbank des Ernawagens geschoben wurden. Aber anstatt abzufahren, öffnete sich die Tür des Polizeiwagens erneut, und einer der Beamten kam in den Hausflur zurück und drehte den Klingelknopf unserer Tür. Vater, im Schlafanzug, öffnete. Ob er dem Beamten sagen könne, um welche Waffe es sich handelte. Vater bat verschlafen den Beamten, an der Türschwelle zu warten und schlurfte, sich das rote Haar kratzend, ins Schlafzimmer. „Hier“, sagte er, als er mit dem Trommelrevolver in der Hand zurückkam, „ein Spielzeug meines jüngsten Sohnes.“ Der Beamte nahm das Ding, das ihm mein Vater entgegenstreckte und versuchte vergebens, den dicken Finger in den Abzugbügel zu stecken. „Und das haben die ihnen abgenommen?“ lachte der Beamte. Vater zuckte gleichgültig die Schultern. Woher wusste er von meiner Waffe? Und woher wusste er, dass sie zu mir gehörte? Niemand außer Leo hatte mich mit dem Revolver gesehen, und Leo lag seit drei Wochen im Krankenhaus, ein kompliziertes Leiden, wie es hieß. Können Eltern in die Köpfe ihrer Kinder hineinsehen? Und warum hatten sie nichts gesagt, mich nicht bestraft? Ich hatte immerhin das Waffenverbot übertreten! Auch über Def, die Handgranate, hatten sie kein Wort verloren. Ijottka und der Fünfmarkschein, ja, der musste besprochen werden. Er hatte mir vier Wochen Hausarrest eingebracht, in denen mir das tägliche Reinigen der Badewanne, des Waschbeckens und der Kloschüssel oblag. Doch Def und Geha wurden weggeschwiegen, wie die Zeit vor unserer Geburt, nicht eines einzigen Wortes würdig, als hätte mit unserem Auf-die-Welt-Kommen eine neue Zeitrechnung begonnen. Eine Stunde Null sozusagen, in der der Neue Mensch geboren wurde, unbefleckt, entwaffnet unschuldig.

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Tag der Veröffentlichung: 08.12.2011

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Widmung:
Meinen Eltern und Brüdern gewidmet

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