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Robert und die Seerose





Die ockerfarbene Fassade des Gebäudes trägt über der zweiflügligen, breiten Eingangtür die Giebeleinschrift „Orangerie“. Es soll tatsächlich als solche gedient haben, im 19. Jahrhundert, für einige adlige Herrschaften der Stadt, hatte die Frau der Immobilienagentur meinen Eltern versichert, die das Gut besichtigten. Mich faszinierte dieser exotische Aspekt weniger. Während Vater und Mutter sich von der stark geschminkten Maklerin im Innern die Fensterarchitektur erklären ließen, die selbst in strengen Wintern angenehme Temperaturen versprächen, ging ich um das Haus herum und besichtigte den Seerosenteich, der seinerzeit einige Meter linkerhand des Gebäudes in den Grund eingelassen worden war. Er war von der Größe eines Swimmingpools und schien sehr tief zu sein. Die braune Brühe, die zwischen den dunkelgrünen Seerosenblättern und der einzigen, hellleuchtenden Rose ein seltsames Farbenspiel wagte, reichte bis zur Mitte der Teichwände. Vom Teichrand bis zum Wasserstand mochten es gute eineinhalb Meter gewesen sein. Keine eingelassenen Stufen, keine Leiter. Wer auch immer dort hineinfiele, er hätte nicht die geringste Chance, ohne Hilfe wieder hinauszugelangen, hatte ich schon damals gedacht.
Der Steinbrunnen auf der rechten Seite des Gebäudes schien intakt. Ich hatte bis drei gezählt, ehe der Stein unten ins Wasser plumpste. Eine verrostete Eisenstange war quer in die Öffnung einzementiert. Wahrscheinlich ein Überbleibsel des Flaschenzugs, an dem früher die Eimer hochgezogen wurden.
„Eine hervorragende Investition“, sprach mein Vater der Maklerin nach. Sie waren auf die Terrasse getreten, von der aus durch die noch blätterlosen Bäume die tiefer liegende Stadt zu sehen war. Die Leute, die den Greis beerbt hatten, der in der Orangerie verhungert, nein, „an Altersschwäche gestorben war“, verbesserte sich die Maklerin, wollten das Gebäude samt Grundstück um jeden Preis veräußern. So schnell als möglich, vertraute sie uns augenzwinkernd an. Andere Interessenten hatte die tragische Geschichte des alten Mannes abgeschreckt. Wer wollte schon in einem Haus leben, in dem ein alter Mann tagelang vor sich hin gesiecht war?
„Ich!“ hatte ich ausgerufen. Ob ich mir im Klaren darüber wäre, welche Arbeit auf mich zukäme. „Nein“, hatte ich geantwortet, „aber ich weiß, dass Du zwei linke Hände hast und mir nicht helfen wirst.“ Mein Vater war ein Hochschullehrer, der stets die gleiche Cordhose, das gleiche Hemd und die gleichen Schuhe trug und nicht in der Lage war, eine Kaffeemaschine zu bedienen. „Gut“, schloss mein alter Herr ab. „Dann kommst Du zumindest auf andere Gedanken und hast keine Zeit mehr, Deiner Sylvie nachzutrauern.“
*
Das mit der Sylvie hatte nicht geklappt, und an dem Anwesen hatte ich nur das Gröbste und Notwendigste getan, bevor ich den Umzugswagen bestellte. Zu gewaltig war mir beides gewesen, Sylvie und die Instandsetzung der Orangerie. Aber die Zeit war auf meiner Seite. Sie arbeitete für mich. Ich hatte eine Liste erstellt, was an den freien Tagen vorrangig erledigt werden müsste. Mit der Erinnerung geht das leider nicht. Ich muss es ja schließlich wissen, wo ich doch Erinnern zu meinem Beruf gemacht habe.

Mein Vater hatte, als er noch lebte, nie verstanden, worin meine Arbeit bestand. „Wissen macht den Mann“, war seine Devise, stets über ein Buch gebeugt. „Das, was wir nicht wissen, bestimmt uns“, pflegte ich zu kontern. Worauf er nur väterlich lächelte. ‚Du denkst nur, was Du weißt, und Denken macht den Unterschied zwischen Mensch und Tier.’ ‚Das Animale in uns träumt Dir Deine Nächte’, hatte ich einmal gelesen. Aber so was konnte ich ihm nicht zitieren, er hätte sonst seinen Hugo, seinen Kant und Descartes aus dem Hut gezaubert und mich auf der Strecke gelassen. „Ihr zwei Kampfhähne“, meinte Mutter häufig. Sie lehrte Anglistik, er Geschichte und Literatur. Zwei Beamtengehälter hatten die Orangerie finanziert, zu der meine Erstpatienten nur fanden, wenn unten, an der Kreuzung, das Straßenschild nicht abmontiert war. Wie vielen mag die Königsstrasse in die Seele verborgen geblieben sein, nur weil sich jemand den Spaß erlaubte, ein Straßenschild abzuschrauben?

Der Nachbar, Antoine, ist fest davon überzeugt, eine meiner Ex-Patientinnen wäre die Diebin. „Zwei Fliegen mit einer Klappe“, hat er gesagt. „Zum einen ein Andenken an Dich, das sie sich übers Bett nagelt, und zum anderen die Unmöglichkeit für andere, Dich zu finden. Kein GPS der Welt hat diese Strasse gespeichert, und Fußgänger, die man fragen könnte, gibt es an unserer Kreuzung nicht.“ Antoine ist ein guter Schauspieler, ich mag ihn, daran ändert auch diese an den Haaren herbeigezogene These nichts.
*

Auf der Terrasse ruft Alexis, die siebenjährige Tochter unserer Köchin Odile, nach unserer Katze. Sie hatte sich geweigert, mit den anderen Kindern den Mittagsschlaf zu halten. Odile hat ihren freien Tag und muss in der Stadtverwaltung Formulare ausfüllen. Nathalie fährt rückwärts ihren Wagen vor die Eingangstür, um die Einkäufe ins Haus zu bringen.
„Nadar beisst wieder“, empfange ich sie. „Wir sollten nachher darüber reden.“
„Hilf mir beim Ausladen“, erwidert sie und öffnet den Kofferraum. „Wo ist Alexis?“
„Sie spielt auf der Terrasse.“ Ich trage einen Karton in den hinteren Bereich des Wohnraums, der als Küche dient.
Nathalie ist unglücklich mit Jean Murat verheiratet, einem Polizeiinspektor. Ich war bei ihrer Hochzeit Trauzeuge, stehe quasi in Mitschuld an diesem Unglück. Heute arbeitet sie mit mir hier im Waisenhaus, und ich bin ihr gelegentlicher Liebhaber. Ich weiß, sie möchte mehr. Aber seit Sylvie habe ich mich abgeriegelt, daran ändern auch unsere körperlichen Ausflüge nichts. Wäre ich mein eigener Patient, würde ich mehr in diesem Gefühl der Mitschuld stochern, vor allem, weil ich beide zusammengebracht hatte, damals. Aber ich bin es nicht, und ich habe außerdem den Beruf gewechselt. Ich leite ein Haus für ausländische Waisen und schreibe Burteilungen für Adoptionsanträge. Zwölf Kinder sind es, Kurden, Rumänen, elternlose Knirpse aus Libyen und Vietnam, die bei uns Zwischenstation machen. Wenn Vater das noch hätte erleben können! Mutter hat es erlebt, aber es inzwischen wieder vergessen. Seit dem Tod Vaters setzt sich nichts Neues mehr in ihrem Gedächtnis fest.

Nathalie packt Milchtüten, Butter und Schinken in den Kühlschrank. Ich zerlege und staple die leeren Kartons. Auf dem robusten Holztisch liegen Rechnungen und Belege, die ich noch aufarbeiten muss. „Wenn ich gewusst hätte, dass derart viel Verwaltungskram anfällt!“ „Dann hättest Du aus der Orangerie kein Waisenhaus gemacht?“ Nathalie blickt mich ungläubig an. „Doch, aber nur mit einer Halbtagskraft als Köchin und der Hälfte eines Buchhalters.“ „Die Hälfte eines Buchhalters!“ ruft sie lachend aus. „Und mich, willst Du mich auch nur zur Hälfte?“ Sie legt ihre Arme auf meine Schultern und küsst mich.
„Die Kinder, Nathalie“, wende ich ein. Sie blickt auf ihre Armanduhr. „Noch dreißig Minuten, dann weck ich sie.“ Sie knüpft mir das Hemd auf, ich ziehe ihr den Rock hoch. Mimi, unsere Katze schnurrt an meinen Beinen. „Da bist Du ja“, sage ich, und hebe Nathalie auf den Tisch.
*

„Ich fahre die Kartons zum Container und kümmere mich dann um die Kleinen.“ Nathalie streicht ihren Rock glatt. Ich trage mit ihr die Kartons zum Wagen und verstaue sie in den Kofferraum. Als ich mich wieder an den Papierkram setzen will, sehe ich die schlafende Katze auf meinem Stuhl. Ich nehme sie auf den Arm und gehe zur Terrasse hinaus. „Ich hab sie, Alexis!“ rufe ich und halte Mimi wie eine Trophäe in die Höhe. Die Terrasse ist leer. Ich gehe vor das Haus, zum Brunnen, der mit einem Gitter abgedeckt ist. „Alexis!“ rufe ich erneut. Sie antwortet nicht. Ich setze die Katze ab, suche hinter dem Haus. Nichts.

Tritt eine Katastrophe ein, so ist das Schlimmste an ihr, dass man sie auf sich zukommen sieht. So war es damals gewesen, als ich von einer Vorlesung kam und Sylvies Brief vorfand, in dem sie mir schrieb, sie zöge zu Patrick, meinem besten Freund. Ich hatte es kommen sehen, aber nichts dagegen machen können. Der doppelte Schlag traf mit Wucht: mein bester Freund hintergeht mich und die Frau meines Lebens, die sie damals für mich gewesen war, ist es nicht mehr.

Und so ist es jetzt. Ich gehe auf den Seerosenteich zu und weiß, was ich sehen werde. Ich beginne zu laufen. Auf dem Sandweg, der zur Orangerie führt, radeln die zwei Praktikanten, die um vier ihren Dienst antreten. Nathalie fährt geduldig hinter ihnen her, sie kann sie nicht überholen. Es hat immer schon nur eine einzige Seerose gegeben in diesem Teich, dessen Wasseroberfläche von den dunkelgrünen Seerosenblättern fast zugewachsen ist. Vielleicht macht das ihre Schönheit aus. Wie eine Königin. Neben ihr schwimmt nun, auf dem Bauch, regungslos das Kind.
„Nicht springen!“ schreit Suzanne, die Hände am Lenkrad ihres Fahrrads. „Du kommst da nicht mehr raus!“ Ich reiße mir das Hemd vom Körper, springe in die braune Brühe und verheddere mich in dem Wurzelgewirr unter den Blättern. „Hol ein Seil“, ruft Suzanne. Ich bin wieder an der Wasseroberfläche, rudere mit den Armen in Richtung des Kindes, bekomme es zu fassen. Arthur wirft das Seil zu weit, versucht es erneut. Bevor ich untertauche, sehe ich, wie Nathalie panisch in ihr Handy spricht. Das Seil klatscht auf die Seerosenblätter, sinkt aber nicht zu mir hinab.

Als wir beide schließlich neben dem Teich liegen, versucht Nathalie eine Mund zu Mund Beatmung. Die Sirenen des Notarztwagens nähern sich, Arthur legt eine Decke über mich. „Geht zu den Kindern“, höre ich Nathalie sagen. Dann die Stimme ihres Mannes. „Macht die Sirenen aus.“ Schritte um uns herum. Jemand wimmert. Dann wird es still. Ich schlafe, traumlos.
*


Sie haben mich zurückgeholt. Meine Auszeit soll nur Minuten gedauert haben, für mich waren es ganze Nächte. Nicht Nathalie hat mich zurückgeatmet, sondern der Notarzt mit seinen Herzmassagen. Um ein Haar wäre alles zu spät gewesen, da Notarztwagen und Polizeistreife die Strasse nicht gefunden hatten und im Viertel umhergeirrt waren.
„Du weißt, dass das ein Nachspiel haben wird?“ sagt Nathalies Mann zu mir. Ich sitze in dem riesigen Ledersessel, zittere wie Espenlaub. Die Sanitäter haben das Kind auf einer Bahre in den Notarztwagen getragen. Der Arzt sammelt seine Instrumente ein, übergibt sie einem der Sanitäter. „Habt Ihr die Mutter benachrichtigt?“
„Sie ist schon unterwegs“, antwortet Nathalie ihrem Mann. Ihr Gesicht ist verweint. Jean Murat zieht ein Taschentuch aus seiner Jacke und reicht es ihr. Er schaut auf seine Frau, sieht mich an. „Was ist passiert?“
„Wir fahren dann“, unterbricht uns der Arzt.
„Wohin?“
„Stadtkrankenhaus.“
„Kommt sie durch?“ fragt Jean.
„Wills hoffen.“

„Also, was ist passiert?“
„Ich habe sie gesucht“, sage ich mit klappernden Zähnen. „Nathalie war beim Müllcontainer. Wir hatten die Einkäufe in den Kühlschrank gelegt, und die Kleine spielte auf der Terrasse.“
„Du hast gedacht, sie spielte auf der Terrasse.“
„Ich habe gehört, wie sie von dort nach der Katze rief.“
„Aber da kann sie nicht gewesen sein, sonst wäre sie ja jetzt wohlauf“, meint mein ehemaliger Freund, der, seit Nathalie bei mir arbeitet, zur mir auf Distanz ist.
„So war es aber“, insistiere ich. „Stimmt, Jean“, fällt Nathalie ein. „Ich habe sie auch gehört.“
„Ich habe mir die Absicherung am Teich angesehen. Ein Kinderspiel.“
„Für die anderen Kinder reicht sie“, antworte ich ihm.
„Für ein siebenjähriges Kind nicht.“
„Alexis kommt nie“, verteidigt Nathalie mich. „Nur heute, weil ihre Mutter was in der Stadt zu erledigen hatte.“
„Trotzdem, das wird ein Nachspiel haben“, wiederholt Jean und steckt seinen Block weg.
„Jean?“ Nathalie macht einen Schritt auf ihren Mann zu. „Du kannst doch was für uns tun, oder?“
„Für Euch?“ Jean Murats Mund verzieht sich spöttisch. „Du warst doch bei den Containern. Du bist aus dem Schneider.“
„Dann tu was für Robert. Er ist Dein Freund.“
„Nathalie, bitte.“ An meinen Füssen bildet sich eine kleine Pfütze. „Lass Jean seine Arbeit machen. Er weiß, was er tut.“
Jean schweigt, blickt mich an. „Gut. Unter der Bedingung, Du kommst zu mir zurück.“
„Aber ich habe Dich doch nie verlassen!“
„Du weißt, was ich meine. Und: Du hörst auf, hier zu arbeiten.“
*

„Vernachlässigte Aufsichtspflicht“, heißt es in dem Papier des Jugendamtes. Odile erstattet zwar keine Anzeige, aber die Behörden sind trotz allem informiert. Alexis lebt, auch wenn das verspätete Eintreffen des Notarztes dauerhafte Schäden verursacht hat. Ein Fall für Neurologen, nicht für Psychiater. „Unter diesen Umständen sehen wir uns gezwungen, die Schließung des Waisenhauses anzuordnen“, heißt es abschließend im Behördenbrief.
Draußen pumpt die Feuerwehr den Seerosenteich leer. Als ich vors Haus trete, spannen Arbeiter ein Eisengitter über den Teich. „Wollen Sie ihn nicht lieber zuschütten?“ fragt der Vorarbeiter. Ich blicke auf den wasserlosen Teichgrund. Die dunkelgrünen Blätter liegen dort aufgedunsen, schwammig. Einzig die Seerose leuchtet hell. Eine Königin. „Nein“, antworte ich, „noch nicht.“
*
*

Sechzehn Jahre sind seitdem vergangen. In den letzten fünf Jahren habe ich die Kadenz der Sitzungen verringert. Drei Patienten am Tag reichen mir, finanziell und auch sonst. Der Teich ist immer noch nicht zugeschüttet. Es ist mir unerklärlich, warum aus der tiefgrünen, breiigen Masse, die im niedrigen Regenwasser siecht, immer noch die Königin ragt, mir ihre Blätter entgegen streckt. „Wie lange lebt so eine Seerose?“ Der Nachbar weiß es auch nicht. Er kommt, wenn er nicht auf Reisen ist, in Dreharbeiten oder sonst wo steckt, immer öfter zu mir und spielt Schach. Ich habe es ihm beigebracht; er hat es seiner Tochter Caroline beigebracht und ich denke, sie wird es an ihre Kinder weitergeben. Er schlägt mich inzwischen. Begabt war ich nie sonderlich für dieses Spiel. Eine Ablenkung, nicht mehr. Die notwendige Konzentration erlaubt keine anderen Gedanken. Oder fast keinen. Denn sonst wäre ich wahrscheinlich ein besserer Spieler.

Ich liege vor dem Gebäude in einem Sonnenstuhl und lese. Es ist Oktober, die Tage sind noch sehr warm, das Laub der Bäume ist noch dicht. Ich weiß, dies kann sich in unserer Region von einem auf den anderen Tag schlagartig ändern. „Vor zwei Jahrzehnten soll es zu dieser Jahreszeit einmal sogar Schnee gegeben haben“, erzählte mir Antoine, der Nachbar, bevor er mich mit seinem Läufer Matt setzte. „Das mit dem Klimawandel ist Humbug“, war sein Schlussstrich. Immer schon habe es klimatische Auswüchse gegeben. Ich mag ihn, diesen Antoine, aber manchmal…

Ich wende die Seite und liege plötzlich im Schatten. Sylvie steht vor mir und nimmt mir die Sonne.
„Wie hast Du mich gefunden?“
Sie lacht und antwortet, ich stünde vielleicht im Telefonbuch. „Das liest doch keiner“, sage ich zu ihr hoch. „Vielleicht im Internet?“ wendet sie ein.
Nach dreißig Jahren stehe ich Sylvie gegenüber. Sie ist nun fünfzig, wir sind altersgleich. Sie ist noch schöner, als sie es früher war. Ein ärmelloses Kleid, weiße Sandalen, einen Strohhut, den sie mit einer Hand festhält, das Gesicht braungebrannt. „Wo kommst Du her?“ frage ich sie, weil ich sonst, überrascht wie ich bin, nichts zu sagen weiß.
„Willst Du mich nicht begrüßen?“
Ich schließe sie in meine Arme, rieche den Duft ihrer Haut, küsse sie auf die Wangen.
„Aus Lyon“, sagt sie. „Ich musste in der Apotheke nach dem Rechten sehen. Und André ging’s auch nicht so gut.“
„Deinem Ex-Mann?“
„Ja. Hast Du einen zweiten Liegestuhl?“

Sie wolle nicht über die Vergangenheit sprechen, meint sie und rekelt sich auf dem Stuhl. Weder von unserer, noch von der mit Patrick, und überhaupt.
„Kann man denn so nahtlos vom Nichts ins Heute übergehen?“ frage ich skeptisch.
„Kann Mann vielleicht nicht, Frau ja. Das ist aus Dir geworden?“ Sie kreist mit einer Handbewegung das Grundstück ein.
„Ja. Das ist mein Heute. Mein nächster Patient kommt erst morgen früh um 10.“
„Psychiater, ja, ich weiß. Was liest Du?“ Sie zeigt auf das Buch, das neben mir auf dem Kiesboden liegt.
„Ein Krimi. James Crumley.“
„Ein Psychiater liest Krimis, schau mal an. Früher hättest Du von Blasphemie gesprochen.“
„Du wolltest die Vergangenheit aussparen. Außerdem sind Krimis die Märchenbücher der Erwachsenen.“
„Ich hab nicht viel Zeit, Robert. Mein Zug geht heute Abend. Und Morgen mein Rückflug nach Haiti.“
„Spielst Du immer noch Robinson auf der Insel?“
Sie lacht, wird wieder ernst. „Schau, das hab ich auf dem Weg zu Dir gefunden.“ Sie entnimmt ihrer Handtasche ein zusammengeknicktes Blechschild. Ich biege es auseinander. Mein Straßenname. „Und Du hast ohne diesen Wegweiser zu mir gefunden?“
„Tja, wozu Frauen in der Lage sind…“
Sie will nichts essen, nichts trinken. Ein Weile liegen wir nebeneinander, schweigend. „Danke“, sagt sie plötzlich, „danke, dass Du mir nicht mehr böse bist.“
„Ja“, sage ich. „Dafür ist es jetzt wohl zu spät. Aber ich war’s.“
„Ich weiß“, sagt sie und lehnt den Kopf in meine Richtung. „Ich weiß, Robert.“
Sie arbeite auf Haiti beim Roten Kreuz. „Seit zwanzig Jahren“, fügt sie hinzu. „Und seit sechs Jahren habe ich einen Schützling, den kleinen Roger. Ich habe ihm in die Welt geholfen, auf meiner Mission. Roger ist krank und braucht Pflege.“
„Was hat er?“ frage ich.
„AIDS“, sagt sie, „wie ihre Mutter.“
„Und?“
„Und ich möchte, dass Du ihn zu Dir nimmst.“
Ich richte mich auf. „Ich soll Deinen Roger bei mir aufnehmen? Wie stellst Du Dir das vor, Sylvie?“
„Ich weiß, ich falle so plötzlich ins Haus. Aber du hattest doch ein Waisenhaus hier.“
„Das ist Vergangenheit Sylvie. Meine Vergangenheit. Man hat mir die Lizenz entzogen, vor Jahren schon. Ein Unglück, da im Teich.“
Ich zeige in die Richtung des Seerosenteichs. „Ein Kind ist dort hineingefallen.“
„Tut mir leid, Robert.“
„Alexis, so hieß das Mädchen, wäre fast ertrunken.“
„Ich dachte, Du könntest Roger adoptieren.“
„Ich weiß, wie so was funktioniert“, erwidere ich. „Unmöglich, die Behörden würden einer Adoption meinerseits nie zustimmen. Geschieden, alleinstehend. Eine erwachsene Tochter, von ihrer Mutter großgezogen. Nie im Leben werden die mir ihren Segen geben.“
„Es sei denn“, sagt Sylvie und nimmt meine Hand. „Es sei denn, es handle sich um meinen Sohn.“
„Ist es Dein Sohn, Sylvie?“ Meine hysterische Stimme erschreckt mich.
„Nein, ich sagte doch, seine Mutter lebt auf Haiti und ist AIDS-krank.“
„Trotzdem bleibt eine Adoption eine Adoption. Egal, ob nun sie die Mutter ist oder Du.“
„Nicht, wenn Du mich heiratest.“
„Mir ist nicht zum Spaßen“, sage ich. Ich halte es nicht mehr aus im Liegestuhl, gehe vor ihr auf und ab.
„Es ist kein Spaß.“
„Und wie willst Du das machen? Roger, Dein Sohn?“
„Lass das meine Sache sein, Robert.“
Ich eile ins Haus. Ein plötzliches Bedürfnis nach einer Zigarette überkommt mich. Ich wühle in Schubladen, krame im Küchentisch. Vergebens.
Als ich wieder vor ihr stehe, raucht sie. Ich bin verblüfft. „Du rauchst?“
„Willst Du eine?“ Sie reicht mir ihre Schachtel.
„Ich muss Dir noch etwas sagen, Robert.“
Ich ziehe an meiner Zigarette, bleibe aber vor ihr stehen.
„Ich habe zuerst Patrick angerufen.“
„Patrick? Du wolltest Patrick um den… um denselben Gefallen bitten?“
„Ja.“
„Ihn heiraten, wegen Roger?“
„Ja.“
„Und ich bin sozusagen ein Ersatz? Eine Notlösung?“
„Es geht um Roger, Robert. Nicht um Patrick, nicht um Dich, und nicht um mich. Roger hat keine Medikamente auf Haiti. Ohne diese Notlösung, wie Du sie nennst, stirbt er.“
„Dein Ex, André?“
„André ist krank.“
„Und Patrick wollte nicht?“
„Er hat mich erst gar nicht aussprechen lassen. Hat mich zum Teufel gejagt.“
„Hast Du ihn getroffen?“
„Nein. Wir haben am Telefon miteinander gesprochen. Er wusste nicht, wie man Dich erreichen kann.“
„Gott sei’s gelobt. Der hätte mir noch gefehlt.“
Dann, nach einer Weile, fällt es mir ein. „Sylvie, ich stehe nicht im Telefonbuch. Und ich bin auch nicht im Internet.“
„Ich weiß“, sagt sie. „Ich habe Dich trotzdem gefunden.“
Sie nimmt erneut ihre Handtasche und schreibt auf einen Zettel. „Hier, meine Telefonnummer. Ruf mich an, bitte. Denke darüber nach.“
Ich nehme den Zettel. Eine Vorwahl für Lyon.
„Ich muss jetzt. Mein Zug“, erinnert sie und steht auf. „Ich fahre morgen früh um 10 zum Flughafen. Bis dahin kannst Du mich erreichen.“
Grußlos geht sie den Weg hinauf zum Tor. Ich blicke ihr nach, den Zettel in der Hand. „Soll ich Dich zum Bahnhof fahren?“ schreie ich ihr nach. Aber sie ist bereits außer Hörweite. Ich lege mich auf ihren Sonnenstuhl und rieche den Duft ihres Parfüms. Nein, ich habe nicht geträumt. Der zweite Liegestuhl, meiner, steht neben mir. Vor mir liegt das verbogene Straßenschild.

Am nächsten Morgen stehe ich, die Kaffeetasse in der Hand, am Teichrand. Ich blicke auf die Seerose hinab. Auch dieser Tag verspricht, sonnig und warm zu werden. Um 10 Uhr wird Deschamps mit der Waschphobie kommen. „Ich muss Dich zuschütten“, sage ich zur Königin. Ich nehme mein Handy, ziehe den Zettel Sylvies aus der Tasche und wähle die notierte Nummer.


Jean und Nathalie


Die Digitaluhr zeigt 6:59. Jean Murat liegt, seiner Frau den Rücken zugekehrt, auf der Seite und beobachtet das elektrische Radio. Er streckt den Arm und drückt mit der Hand auf den Knopf, noch bevor die Musik beginnt. Mühsam setzt er sich am Bettrand auf, dreht sich zu seiner Frau um. Sie atmet schwer, mit offenem Mund. Neben ihr, auf dem Nachttisch, steht die Whiskyflasche, zu dreiviertel leer. Jean Murat erhebt sich, geht ins Bad, wirft sich den Morgenmantel um.

„Hast Du gut geschlafen, Schatz?“ Er streicht Butter auf den Toast seiner Tochter.
„Wer holt mich heute Nachmittag ab?“
„Deine Mutter, ich oder Tante Odette. Einer von uns wird da sein.“ Er schaut ihr zu, wie sie in den Toast beisst, streichelt ihr das Haar. „Ich geh ins Bad und ziehe mich an. Gehst Du Dir die Zähne putzen, nachher?“
„Mach ich, Papa.“
Auf dem Weg ins Bad schaut Jean Murat ins Schlafzimmer. Die Tür ist angelehnt. Nathalie hat sich auf die andere Seite gelegt. Die Whiskyflasche ist leer.

„Odette? Ich bin’s. Kannst Du die Kleine von der Schule abholen, heute Nachmittag? Nein, Nathalie wird nicht können. Um 5. Danke, Odette. Wir sehen uns.“
Jean Murat klappt sein Handy zu. Aurélie, bereits im Strom mit den anderen Kindern, winkt ihm zu. Er macht ihr Zeichen mit der Hand, lächelnd.
Jean Murat erinnert sich, in den Morgenstunden einen dumpfen Traum gehabt zu haben, der ihm nun nachhängt. Wie die schwarze Wolke über ihm. Er wartet, bis sie die Sonne freigibt, fährt langsam aus der Parklücke und ordnet sich in den Berufsverkehr ein. Heute, am 30. Dezember soll der Abschlussbericht fertig sein. Unfall mit tödlichem Ausgang, so meinte der Kommissar. Robert Dufresne, ein Psychiater und ehemaliger Freund Murats, war in seinen Brunnen gefallen und ertrunken. Die Frage ist: Unfall, Fremdeinwirkung oder Selbstmord. Letzteres scheint ausgeschlossen, Jean Murat und der Kommissar waren sich einig. Niemand stürzt sich freiwillig in einen Brunnen; aus dem Fenster vielleicht, vor einen Zug, von einer Brücke, das kommt vor. Oder das eine Ende eines Schlauchs an den Auspuff, das andere ins Seitenfenster, die beliebteste aller Varianten. Sich einfach wegschlafen, hatte ihm einmal ein Kandidat gesagt, der in extremis zurückgeholt wurde. Aber ein Brunnensturz? Nein. An einen Unfall mochte Jean Murat nicht glauben. Unfälle sind wie Zufälle, und den Zufall gibt es nicht, davon ist er überzeugt. Bleibt Fremdeinwirkung, von der der Kommissar nichts wissen will. „Die Akte muss vom Tisch. Morgen ist Dein Abschlussbericht da.“ Das war gestern. Jeans linke Hand zittert. Er hält sie sich vors Gesicht, schlägt sie aufs Lenkrad. Sein Kopf dröhnt, als wäre er an den Füssen aufgehängt. Ein schwarzer Peugeot 407 schneidet ihm die Vorfahrt. Jean Murat bremst und spielt mit dem Gedanken, ihm nachzusetzen. „An meinen Gedanken hänge ich mehr als an meinem Leben“, hat er Nathalie kürzlich vorgelesen. Aber sie war schon zu sehr betrunken. Der schwarze Peugeot ist bereits außer Sicht. Jean Murat parkt auf dem Platz, der sein Namensschild trägt. Privilegien eines Dienstgrades.

„Der Alte will Dich sprechen, sofort“, begrüßt ihn Marie am Empfang. Sie sieht wie verkleidet aus in ihrer Uniform und mit ihrem Käppi, denkt er. Lächerlich. Dabei ist es ein hübsches Ding.
„Danke, Marie!“
Er klopft und öffnet die Tür, ohne auf eine Antwort zu warten.
„Jean, wie geht es Dir?“
Der Kommissar drückt Jeans Hand.
„Gut. Sie wollten mich sprechen, Chef?“
„Setz Dich. Zigarette?“ Er streckt Jean eine offene Schachtel entgegen. Jean klemmt sich eine Zigarette hinter das rechte Ohr.
„Für später.“
„Jean, Du bist doch an dem Fall des ertrunkenen Psychiaters.“
„Robert Dufresne, ja, der Bericht…“
„Das hat Zeit. Seine Tochter hatte vorgestern Nachmittag einen Unfall. Sie ist mit ihrem Käfer in einen Peugeot gefahren. Nicht angeschnallt, durch die Scheibe, Schnittwunden, Gehirnerschütterung und das ganze Trallala.“
„Schlimm?“
„Sie hat noch einmal Glück gehabt, die Kleine. Aber gestern Abend sagte sie zu dem behandelnden Arzt, sie müsse unbedingt mit uns sprechen.“
„Warum?“
„Weiß ich nicht, Jean. Sie liegt im Stadtkrankenhaus. Kümmerst Du Dich darum?“
„Wird gemacht, Chef.“
„Und sonst? Hältst Du durch?“
„Ich hab die Kleine in die Schule gefahren, vorhin.“
„Hm, Kopf hoch Jean. Halt mich auf dem Laufenden, bitte.“
*
Vor der geschlossenen Tür des Zimmers 626 sieht Jean Murat eine dunkelhaarige Krankenschwester in einem grünen Kittel und Sandalen an den nackten Füssen. Sie presst auf einem Laufwagen Pillen aus Schachteln und ordnet diese in kleine Schalen.
„Guten Morgen! Ist das das Zimmer von Séraphine Dufresne?“
„Besuchszeiten sind von 16 bis 19 Uhr.“
„Ich bin Polizeiinspektor.“
„Na und? Wollen Sie sie verhaften?“
„Sie wollte jemanden vom Kommissariat sprechen.“
Sie schaute auf ihre Medikamente, auf den Polizisten.
„Ich lass Sie vor. Zehn Minuten, nicht mehr.“
„Ist sie ansprechbar?“
„Vorhin war sie es noch.“
„Und ist sie… kohärent?“
Die Krankenschwester lächelt. „Ob sie nach dem Schock wieder alle Tassen im Schrank hat, meinen Sie?“
„Ja.“
„Hat sie. Auch wenn hier und da ein Henkel fehlt, wie bei uns allen.“
*
Vor ihm liegt eine Mumie. Oder der Kopf einer Mumie, denn das weiße Laken ist zum Kinn hochgezogen. Schlitze für Augen, Nase und Mund. Der Rest ist weißer Verbandsstoff. Séraphine Dufresne hängt an einem Tropf. Jean Murat zieht einen Stuhl ans Bett, setzt sich.
„Séraphine?“
Der Kopf der jungen Frau dreht sich in seine Richtung.
„Guten Morgen. Ich bin Inspektor Murat von der Polizei. Sie wollten jemanden von uns sprechen. Können… Sie sprechen?“
Sie räuspert ihre Stimme frei.
„Ja.“
„Wie geht es Ihnen?“
„Blendend. In Hochform, sieht man das nicht?“
Jean Murat lächelt.
„Natürlich. Ein bisschen zu viel von dem Weiß, nach meinem Geschmack. Haben Sie Schmerzen?“
„Es geht. Danke, dass Sie gekommen sind.“
Sie versucht, sich in Sitzstellung zu bringen.
„Warten Sie, ich helfe Ihnen.“
Er schiebt ihr ein Kissen hinter den Kopf, zieht die Stütze höher.
„Was wollen Sie uns sagen?“
„Ich kenne den Mann, in den ich reingefahren bin. Er heißt Patrick Lassagne.“

Séraphine sitzt am Steuer ihren grauen Käfers. Die Wintersonne des Nachmittags steht tief und blendet. Séraphine fährt auf einer gewundenen Landstrasse ohne Gegenverkehr. Als sie eine lange Gerade vor sich hat, nimmt sie das Handy mit der linken Hand und drückt auf die Kurzwahl mit der Nummer ihres Vaters.
„Papa? Ich bin unterwegs. In drei Minuten bin ich da. Was? Patrick bei Dir? Erzähl’s mir später. Ich sitz am Steuer. Bis gleich.“
Sie klappt das Handy zu und legt es zurück auf den Beifahrersitz. In einer Kurve rutscht es vom Sitz und fällt auf den Boden. Hundert Meter weiter bebt und leuchtet es. Séraphine legt den Sicherheitsgurt ab und beugt sich zum bebenden Gerät. Als an der Kreuzung der schwarze Peugeot vor ihr auftaucht, hat sie gerade genug Zeit, sich aufzurichten.
Séraphine kommt auf der Motorhaube ihres Käfers zu Besinnung. Sie sieht ihr Blut auf das Blech tropfen. Ihr Gesicht liegt in einem zum Teil rot gefärbten Scherbenmeer. Wenige Schritte von ihr entfernt steht ein Mann, ein Handy in der Hand.
„An der Kreuzung Chemin de Bougainvillier und Bougainvillier haut. Ja. Sie ist besinnungslos, blutet heftig. Patrick Lassagne, wie Lasagne, mit Doppel-S. Ja, ich warte.“

„Lassagne, mit Doppel-S.“
„Warum wollten sie zu Ihrem Vater?“
„Er hatte mich gebeten zu kommen. Er wollte mir was Wichtiges sagen.“
„Was?“
„Ich weiß es nicht. Aber es muss wichtig gewesen sein. Er war aufgeregt.“
„Aufgeregt?“
„Ja, freudig aufgeregt.“
„Und wer ist dieser Patrick Lassagne, für Sie?“
„Ein Freund meines Vaters. Vor langer Zeit. Vor dreißig Jahren. Er hatte meinem Vater seine Freundin ausgespannt.“
„Das kommt vor. Ist mir auch passiert. Und ihr Vater sagte, dieser Patrick Lassagne mit Doppel-S sei bei ihm gewesen?“
„Ja.“
Jean Murat legt sich nachdenklich zurück.
„Wie haben sie vom Tod Ihres Vaters erfahren?“
„Die Krankenschwestern. ‚Das ist die Tochter des Ertrunkenen’, hieß es auf dem Gang. Die dachten, ich schliefe. Ich musste sie ganz schön bearbeiten, bis mehr raus kam.“
„Und was kam raus?“
„Er sei in seinen Brunnen gefallen und ertrunken. War das so?“
„Ja. Es sieht so aus, als wollte er die Risse in der Innenwand mit Zement abdichten. Dabei ist er wohl abgerutscht.“
„Ich glaube das nicht.“
„Warum?“
„Robert, mein Vater, hasste diesen Mann. Wegen dieser Sylvie.“
„Séraphine, das war vor drei Jahrzehnten.“
„Es passieren Dinge im Leben, die die Zeit aufheben.“
Die Tür geht auf, und die dunkelhaarige Krankenschwester schiebt ihren Laufwagen ins Zimmer.
„Die Audienz ist zu Ende, Herr Polizist.“
„Ich wollte eh gerade gehen. Ich komme wieder Séraphine. Werden Sie schnell gesund.“
„Das hat jemand an der Aufnahme für sie abgegeben.“ Die Krankenschwester legt einen Blumenstrauß aufs Bett. Sie liest die Karte, die in dem Strauss steckt.
„Gute Besserung. Patrick Lassagne.“
*

Auf dem Gang vor dem Zimmer wählt Jean Murat die Nummer seines Kommissariats.
„Marie? Jean hier. Bitte bestelle einen Patrick Lassagne in mein Büro. 17 Uhr. Die Nummer findest Du in der Akte Dufresne auf meinem Tisch. Lassagne hat den ertrunkenen Psychiater gefunden. Danke, Marie.“
Er klappt das Handy zu und drückt auf den Knopf des Fahrstuhls für Besucher. Die leuchtenden Knöpfe zeigen ihm, dass der Fahrstuhl im dritten Stock festhängt. Schon spielt er mit dem Gedanken, die sechs Etagen zu Fuß hinunterzusteigen, als sich die Tür des Lastaufzugs wie ein stählender Vorhang vor ihm öffnet und ihm eine Bahre mit einem bedeckten Körper zeigt. Ein Mann in einem weißen Kittel schaut Jean Murat an. Dieser zögert, zwängt sich dann jedoch im letzten Moment durch die sich schließende Tür.
„Guten Morgen.“ Jean Murat drückt auf den Knopf des Erdgeschosses.
„Das geht nicht“, meint der Mann in dem weißen Kittel. „Der Aufzug memorisiert nichts. Sie müssen mit mir erst ins Untergeschoss, dann können Sie das Erdgeschoss wählen.“
Als er „Untergeschoss“ sagte, hatte er auf den Körper unter dem Laken gedeutet.
Schweigend fahren sie ins Untergeschoss, wo der Mann die Bahre aus dem Fahrstuhl zieht. Für Sekunden hat Jean Murat den Eindruck, der Körper unter dem Laken bewege sich.
*
Die Empfangsdame der Aufnahme ist braungebrannt, trägt ein blaues Kleid, ärmellos. „Was kann ich für Sie tun?“ fragt sie und blickt über den Rand ihrer Lesebrille hinweg auf Jean Murat.
„Ich möchte einen Termin für einen Scanner.“
„Was soll denn gescannt werden?“ fragt sie, einen Bleistift in der Hand.
„Mein Kopf.“
„Haben Sie eine Überweisung?“
„Ja.“
Er zieht das Papier aus der Jackentasche und hält es ihr hin.
„Die Krankenkarte?“
„Auch das.“
Er gibt sie ihr.
„Zahlen Sie bar, per Scheck oder Kreditkarte?“
„Ich habe eine Zusatzversichtung.“
„Das machen wir hier nicht. Bar, Scheck oder Kreditkarte.“
„Wie Sie wollen.“
„Herr… Sie blickt auf das Überweisungsformular. Herr Murat, die Wahl der Qual liegt bei Ihnen.“
„Dann Kreditkarte.“ Jean reicht ihr das kleine Kärtchen.
„Sehen Sie, geht doch!“
Sie tippt einige Daten auf die Tastatur ihres Computers, gibt die Kreditkartennummer ein.
„Morgen früh um elf?“
„Ist mir recht.“
„Bringen Sie das Kontrastmittel mit?“
„Davon hat mir mein Hausarzt nichts gesagt.“
„Macht nichts, dann kommt es mit auf die Rechnung.“
Sie reicht ihm seine Unterlagen zurück.
„Morgen um elf also. Im Untergeschoss. Sie können den Fahrstuhl dort drüben benutzen.“
„Im Untergeschoss?“ entfährt es dem erschrockenen Inspektor.
„Im Untergeschoss, ja.“
Sie nimmt die Brille ab und legt sie auf den Tresen.
„Im Untergeschoss befindet sich die Kernspintomographie, Herr Murat.“
*
Während er auf seinen Wagen auf dem Parkplatz zugeht und mit der Fernbedienung die Türen entriegelt, fällt ihm der Traum von diesem Morgen ein. Er war bilderlos. Er hatte ein Gefühl geträumt. Ohne Bilder. Das Gefühl, dass etwas eingetreten sei, was er schon seit langem befürchtet hatte. Erst am Ende des Traums hat sich ein Bild dem Gefühl beigefügt: Nathalie stand, Aurélie an der Hand, vor ihm und sagte ihm etwas, was er nicht verstand.
*
„Schön, dass Sie kommen konnten, Herr Lassagne. Bitte nehmen Sie Platz.“
Jean Murat weist auf den freien Stuhl vor seinem Schreibtisch. „Fräulein Dufresne hat sich übrigens über Ihren Strauss gefreut.“
Patrick Lassagne entledigt sich seines Übergangsmantels, legt ihn über die Lehne des ihm angebotenen Stuhls.
„Was kann ich für Sie tun, Herr Inspektor?“
Patrick Lassagne setzt sich, faltet die Hände.
„Sie hatten gesagt, dass Sie Robert Dufresne am 29. Dezember, also gestern, aufsuchen wollten, und ihn tot aufgefunden hatten.“
„Richtig.“
„Sie hatten ihn aus dem Brunnen gezogen, wobei sie selber ins Wasser gefallen sind, und haben den toten Robert Dufresne ins Haus gebracht, wo wenige Augenblicke später die Tochter des Schauspielers, Caroline de Cone, erschien und die Polizei rief.“
„So wird es gewesen sein.“
„Was es so?“
„Es war so.“
„Gut.“
„Zwei Grauzonen gibt es da. Primo: da Sie keinen Wagen mehr hatten, wegen dem Unfall mit Fräulein Dufresne am Vortag, sind Sie mit einem Taxi zur Orangerie gefahren.“
„Richtig.“
„Wir haben den Taxifahrer ausfindig gemacht, der das bestätigt. Der Haken ist der: die Fahrt fand gegen 16h statt, und der Telefonanruf von Fräulein Caroline um 17 Uhr 30. Was haben sie 90 Minuten lang gemacht auf der Orangerie?“
„Robert gesucht. Robert gefunden. Ins Wasser gefallen. Robert herausgeholt. Robert ins Haus gebracht.“
„Und das dauerte 90 Minuten?“
„Ich habe nicht auf die Uhr geschaut, Herr Inspektor.“
„Wie lange haben Sie nach ihm gesucht?“
„Ich weiß es nicht mehr. Es mag eine Weile gedauert haben. Ich hab mich ja nicht sofort von dem Taxi aus in den Brunnen gestürzt.“
„Secundo: Fräulein Caroline sagte aus, Sie wären im Bademantel auf einem Stuhl vor dem Sessel gesessen, in den sie den toten Psychiater gesetzt hatten.“
„Richtig.“
„Warum hatten sie nicht sofort die Polizei gerufen?“
„Ich war nicht in Eile.“
„Bitte?“
„Ich war nicht in Eile. Und Robert auch nicht mehr. Er war tot, warum da die Sachen überstürzen? Zeit spielte für uns keine Rolle mehr. Nach so vielen Jahren.“
Jean Murat klatscht in die Hände. „Sehen Sie, das ist das, was ich Grauzone nenne. Ich verstehe nicht. Ich verstehe Sie nicht, Herr Lassagne.“
„Wenn ich aus all dem, was ich nicht verstehe, Grauzonen machen würde, dann wäre mein ganzes Leben ein Schwarz-Weiß-Film.“
„Mit dem Unterschied, dass ich mir ein solches philosophisches Blabla nicht leisten kann. Ich muss verstehen. Verstehen ist mein Handwerk.“
„Robert war tot.“
„Ich weiß. Der Pathologe hat den Tod auf den Vortag festgelegt.“
„Ich habe mit ihm geredet.“
„Mit dem Pathologen?“
„Mit Robert.“
„Sie haben was?“
„Ich habe mit Robert geredet.“
„Sie haben mit einem Toten geredet?“
„Dreißig Jahre hatten wir uns nicht gesehen, und da macht er sich so einfach aus dem Staub. Ich wollte mit ihm reden, ein letztes Mal.“
„Mit einem toten Mann!“
„Richtig. Sagen konnte er nichts. Aber ein Psychiater sagt ja nie viel, er hört zu. Das ist sein Handwerk.“
„Was haben Sie ihm gesagt?“
„Bei allem Respekt, aber das geht Sie nichts an.“
Jean Murat seufzt, lehnt sich in seinem Schreibtischsessel zurück. Er liest aus dem Vernehmungsprotokoll.
„Am Vortag hatten Sie Robert Dufresne aufgesucht. Es war 15 Uhr.“
„Es musste gegen 15 Uhr gewesen sein. Und ich hatte nicht ihn, sondern seinen Nachbarn aufgesucht, der in einem Werbespot für meine Bank spielen wird.“
„Sie waren bei dem Psychiater, haben sie gestern gesagt.“
„Auf dem Rückweg vom Schauspieler, dem Nachbar, hab ich bei ihm vorbeigeschaut, ja.“
„Warum?“
„Wenn Sie jemanden wiedersehen, den Sie seit dreißig Jahren aus den Augen verloren haben, würden Sie nicht auch neugierig sein?“
„Aus purer Neugierde? Sie fragen einen Mann, der seinen Rosenstrauch beschneidet, nach dem Haus des Schauspielers, erkennen in ihm Ihren alten Freund…“
„Nein, ich habe ihn nicht erkannt. Ich habe sein goldenes Namensschild gelesen.“
„Gut. Sie haben dem armen Mann vor dreißig Jahren die Frau ausgespannt und waren nun nur neugierig?“
„Woher wissen Sie das, mit der Frau?“
„Ich habe mit Séraphine gesprochen, der Tochter des Toten. Sie haben ihr Blumen geschickt.“
„Vorbeigebracht. Aber man wollte mich nicht zu ihr lassen wegen der Besuchszeit.“
„Séraphine hat mir erzählt, die hätten ihm die… „
Jean Murat liest seine Notizen.
„… die Sylvie Kubin, die Frau seines Lebens ausgespannt.“
„Sie hieß Sylvie Kubin, in der Tat. Aber ich habe sie ihm nicht ausgespannt. Wir hatten uns ineinander verliebt.“
„Eine Frage der Wortwahl, Herr Lassagne.“
„Eine Frage des Gefühls, Herr Inspektor.“
„Worüber haben Sie gesprochen?“
„Warum ist das von Bedeutung? Robert Dufresne ist tot. Und als ich ihn verlassen hatte, war er noch quicklebendig.“
„Sie haben ausgesagt, Sie hätten vorgestern ein Kätzchen aus dem Teich gerettet, es dem Psychiater gegeben.“
„Ja.“
„Und dann sind Sie weg?“
„Kurzgefasst ja.“
„Und Fräulein Dufresne ist in Ihren Peugeot gefahren.“
„Ich wusste nicht, wer in mich hinfuhr. Das habe ich nachher von Ihnen erfahren. Ich wusste nicht einmal, dass er eine Tochter hatte.“
„Es war seine Tochter.“
„Sie ist in meinen Wagen gefahren, als ich auf der Kreuzung wenden wollte.“
„Sie wollten zu dem Psychiater zurück.“
„Ja.“
„Warum?“
„Was steht in Ihren Notizen?“
„Sagen Sie es mir noch einmal.“
„Als ich schon an seinem Tor war, hatte er mir zugerufen, dass das alles keinen Sinn mache.“
„Was mache keinen Sinn?“
„Eben, das wollte ich von ihm wissen. Aber das ging ja nicht mehr, wegen seiner Tochter, die auf mich aufgefahren war.“
„Hat der Psychiater, als sie bei ihm waren, einen Telefonanruf bekommen?“
„Ja. Kurz bevor er mir das mit dem Unsinn zurief.“
„Da waren Sie schon am Tor.“
„Ja.“
„In der Grauzone versteckt sich der Wolf, Herr Lassagne. Haben Sie Ihren Pass bei sich?“
„Natürlich.“
„Bitte geben Sie ihn mir.“
„Warum das, Herr Inspektor?“
„Damit Sie uns treu bleiben, fürs erste.“
Patrick Lassagne recht dem Polizisten seinen Pass. Jean Murats Handy klingelt. Er macht eine Geste der Entschuldigung zu Patrick Lassagne, nimmt das Gespräch an.
„Odette? Was gibt’s? Ich kann gerade nicht. Was? Ich komme sofort. Bleib da, bis ich komme.“
„Wir werden das Gespräch ein anderes Mal fortsetzen.“
Jean Murat erhebt sich, geht um den Schreibtisch herum. Er zieht Patrick Lassagne förmlich aus dem Stuhl.
„Was meinen Sie mit dem Wolf, Herr Inspektor?“
„Ein andermal, ich rufe Sie an.“
Er drängt Patrick Lassagne aus dem Büro, lässt ihn im Gang stehen und läuft auf den Parkplatz zu seinem Auto.
*
Jean Murat schließt die Tür seiner Wohnung auf, stürmt in den Salon, wo Nathalie und Odette stehen
„Wo ist sie?“ schreit er beide an.
„In ihrem Zimmer.“ Odette macht eine beschwichtigende Geste mit der Hand. „Jean, bitte.“
Er geht sich in das Zimmer des Mädchens. Aurélie sitzt auf dem Bett und kleidet ihre Puppe an. Sie blickt ihrem Vater erfreut entgegen. Er setzt sich neben sie, legt einen Arm um ihre kleinen Schultern.
„Wie geht es meiner Prinzessin?“
Die Vorhänge der Fenster sind geschlossen. Eine Lampe auf dem Nachttisch gibt dem Raum ein warmes Licht.
„Warum ist Tante Odette so böse?“
„Die Erwachsenen sind so, mal schlecht, mal gut gelaunt. Hat sie Dich von der Schule abgeholt?“
„Ja.“
„Und was hast Du heute gelernt?“
„Zwei Wörter. Aussäen und ernten.“ Aurélie blickt ihren Vater stolz an.
„Aber die kanntest Du doch schon, oder?“
„Ja, aber die anderen nicht. Sophie konnte nicht einen einzigen Satz mit den Wörtern sagen.“
„Und Du?“
„Äpfel säet man nicht aus, aber man erntet sie.“
„Wir werden gleich zu Abend essen.“
Er küsst sie auf die Stirn. „Spiel noch ein wenig.“
Er erhebt sich, verlässt das Zimmer und schließt leise die Tür hinter sich.
Im Salon stehen die beiden Frauen immer noch so, wie er sie bei seinem Kommen gesehen hatte. Seine Schwester, die Harre streng zu einem Knoten hochgebunden, die Arme auf dem Busen verschränkt, steht am Esstisch. Nathalie, mit einer Hand auf das Buffet gestützt, steht am anderen Ende des Salons neben der Fensterreihe. Sie trägt trotz des Lampenlichts eine Sonnenbrille. Ihre glatten Harre fallen ihr auf die Schulter. Auf dem Buffet steht ein halb geleertes Glas. Jean Murat zögert einen Augenblick, geht dann auf seine Frau zu. Nur wenige Zentimeter vor ihr bleibt er stehen.
„Jean“, warnt ihn seine Schwester.
„Halt Dich da raus, Odette.
„Wenn Du, wenn Du nur ein einziges Mal noch die Hand gegen die Kleine hebst..“
Er ballt die Fäuste.
„Dann bring ich Dich um.“
„Sag ihr, dass sie rausgehen soll.“ Die Stimme Nathalies ist schleppend.
„Hast Du mich verstanden?“ droht er.
Odette verlässt das Wohnzimmer.
„Sie lügt Dich an, Jean.“ Sie nimmt die Sonnenbrille ab.
„Ob Du mich verstanden hast, frage ich Dich.“
„Sie lügt. Frag Aurélie!“
„Bist Du noch zu retten? Die Kleine als Zeugin benutzen zu wollen? Untersteh Dich!“
„Ich wusste, dass Du das sagst. Und sie weiß es auch. Darum denkt sie, Dich anlügen zu können.“
Er nimmt das Glas und schüttet den Inhalt auf den Kopf seiner Frau. Whisky tropft von ihren Haaren, von ihrer Nase. Nathalie steht regungslos wie eine Puppe.
„Sie lügt“, wiederholt sie mechanisch.
*
Jean Murat befindet auf dem Grundstück der Orangerie des ertrunkenen Psychiaters. Die Hände in den Taschen schlendert er zu dem Teich, blickt auf die verwesten Seerosen. Dann geht er zum Haus, zieht einen Schlüsselbund auf der Tasche, versucht den ersten Schlüssel, den zweiten. Der dritte ist der Richtige. Ein weiträumiger Salon ist vor ihm. Grüne Pflanzen überall, alte, provinzialische Möbel, ein klobiger Esstisch aus dunklem Holz, der braune Ledersessel, in den Patrick Lassagne den toten Psychiater gesetzt hatte. Die zum Süden gewandte Seite des Raumes ist eine Fensterwand, durch das das Winterlicht den Raum aufwärmt. Im hinteren Teil des Salons trennt eine hüfthohe Ziegelsteinmauer den Küchen- vom Wohnraum. Auf der Mauer ist eine dicke Holzplatte befestigt, die dem Psychiater als Arbeitsplatte diente. Gewürze, Besteck, Teller und Tassen, ein geöffneter Laptop, auf dessen Bildschirm das Microsoftlogo flimmert. Jean Murat bewegt die Maus, die neben dem Laptop liegt. Sofort erscheint eine Folge von Diapositiven, die zunächst Haiti mit Strand, Sonne, blauem Meer und lächelnden farbigen Kinder als Traumziel für einen Urlaub anpreist, bis die Postenkartenreihe ausgeblendet wird, und der Titel „The Untold Story“ Szenen eines Krieges, der Zerstörung, Krankheit und Armut einleitet.
Jean Murat blickt auf die Uhr. Es ist kurz nach 10 Uhr. Er klappt den Laptop zu, verlässt das Haus und verschließt die Tür. Mit wenigen Schritten ist er am Brunnen, neben dem er ein schwarzes, verklebtes Fellknäuel sieht. Er zieht eine Stoppuhr aus der Hosentasche, drückt auf den Knopf, geht eilig zu seinem Wagen, öffnet die Tür, lässt den Motor an und fährt den Weg zurück, auf dem er gekommen war. An der Kreuzung bremst er und schaut auf die Stoppuhr. 3 Minuten.
*
Jean Murat liegt mit dem Rücken auf einen Scannertisch. Ein Radiologe, eine Spritze in der Hand, desinfiziert seine rechte Armbeuge.
„Dann sind Sie also von der Polizei.“
“Nobody is perfect.”
Der Radiologe lächelt. “Wie recht Sie haben. Wenn Sie wüssten, was wir hier zu sehen bekommen. Sind Sie allergisch gegen Jod?“
„Nicht die leiseste Ahnung, Doktor. Wieso? Die anderen sind es?“
„Nein. Haben Sie andere Allergien?“
„Nicht, dass ich wüsste.“
„Gut. Dann erkläre ich ihnen, wie wir vorgehen. Ich spritze Ihnen zuerst ein Kontrastmittel in die Venen. Sie werden ein Wärmegefühl empfinden, das jedoch schnell vorbei geht. A priori tut es nicht weh. Ich werde Sie ein erstes Mal in den Tunnel schieben, nach fünf Minuten ein zweites Mal. Zwanzig Minuten später haben wir das Ergebnis. Ich werde es Ihnen erläutern. Alles klar?“
„Und Sie können das Ganze in Echtzeit verfolgen?“
„Natürlich, auf dem Bildschirm.“
„Wenn Sie einen Knoten in meinen Gedanken sehen, versuchen Sie ihn zu vergrößern. Ich arbeitete an einem komplizierten Fall.“
„Na, dann wollen wir mal. Zeigen Sie mir, woran sie denken, Herr Murat.“
Der Radiologe schiebt ihn in den Tunnel.
*
Wenig später sitzt Jean Murat neben dem Krankenbett Séraphine Dufresnes. Die dunkelhaarige Krankenschwester, der er am Vortage begegnet war, wechselt den Verband Séraphines. Sie legt ein Gesicht frei, das von frischen Narben übersäet ist.
„Ich werde Ihnen nachher das Katheder austauschen. Zuerst kommt das dran.“
Sie betupft die Narben mit alkoholisierter Watte.
„Fräulein Dufresne, können Sie mir noch einmal sagen, was Ihnen Ihr Vater am Telefon gesagt hat?“
Die Krankenschwester hält inne.
„Dass Patrick gekommen sei.“
„Nein, Wort für Wort.“
Séraphine schließt die Augen, versucht sich zu erinnern.
„Muss das sein?“ fragt die Krankenschwester.
„Ja.“
„Patrick war da.“
„War oder ist?“
„Patrick war da.“
„Gut. Und Sie waren ca. drei Minuten von der Orangerie entfernt.“
„Ungefähr, ja.“
„Haben Sie, während Sie telefonierten, irgendeinen Anhaltspunkt auf der Strasse bemerkt? Einen besonderen Baum, ein Haus, ein Schild?“
„Fräulein Dufresne hatte eine Gehirnerschütterung, Herr Inspektor.“ Der Ton der Krankenschwester ist vorwurfsvoll. Sie will fortfahren in ihrer Arbeit.
„Ich weiß, aber es ist wichtig. Es dauert nur einen Augenblick.“
„Ein Stromhäuschen. Auf der rechten Seite.“
„Sind Sie sich sicher?“
„Ja.“
„Gut. Wie groß war es?“
„So wie Sie.“
„Danke, Fräulein Dufresne. Lassen Sie sich gesund pflegen.“
„Kann ich jetzt?“ Die Krankenschwester blickt Jean Murat fragend an.
„Ja. Danke.“
Er verlässt das Zimmer.
*
Jean Murat sitzt dem Radiologen gegenüber, der ihm erklärt, was die großen Fotos zeigen, die vor ihnen liegen. Der Radiologe ist ernst, redet freundlich auf den Inspektor ein. Dieser hört zu, lehnt sich erleichtert zurück, um sich einen Satz später erneut nach vorne zu beugen, besorgt. Am Ende des Gesprächs legt Jean Murat die Hände vors Gesicht. Der Radiologe erhebt sich zuerst, die großen Fotos in der Hand. Jean Murat steht mühsam auf, nimmt die Hand, die der Radiologe ihm reicht.
*
Jean Murat überholt einen Lastwagen auf der Autobahn. Seine Frau Nathalie sitzt schweigend auf dem Beifahrersitz. Sie sind auf dem Weg zur Klinik. Nathalie kratzt sich nervös die Haut von den Nägeln. Sie trägt ihre Sonnenbrille.
„Hast Du getrunken, heute Morgen?“ Er blickt seine Frau nicht an.
„Ein bisschen.“
„Ein bisschen oder ein bisschen viel?“
„Lass mich in Ruhe. Du hast, was Du wolltest.“
„Es wäre gut, wenn auch Du es wolltest. Nicht wegen mir. Wegen Dir und Aurélie. Bist Du verrückt? Lass das.“
Er reißt seiner Frau den Flachmann aus der Hand, den sie aufschrauben wollte. Das Fahrerfenster senkt sich, Jean Murat will die Flasche wegwerfen, besinnt sich jedoch im letzten Augenblick und steckt die Flasche in seine Jackentasche.
„Nehmen Sie die nächste Ausfahrt“, weist das GPS an.
Er betätigt den Blinker, verlangsamt die Geschwindigkeit.
„Bitte rechts ausfahren.“
„Kann die nicht die Klappe halten?“ Die Unterlippe Nathalies zittert.
„Ohne sie wäre ich verloren“, antwortet ihr Mann.
„Das hast Du von mir auch gesagt, damals.“
Er antwortet nicht, nimmt die Ausfahrt, die in einen Kreisverkehr mündet.
„Nehmen Sie die zweite Ausfahrt“, sagt die GPS-Stimme.
Jean Murat betätigt den Blinker.
*
Der Wagen hält an einer Schranke. Aus einem Pförtnerhäuschen tritt ein Wachmann, begrüßt Jean Murat durch das offene Fahrerfenster.
„Guten Morgen.“
„Guten Morgen. Eine Aufnahme.“ Jean Murat reicht ihm ein Papier.
„Der Name?“
„Nathalie Murat.“
Der Wachmann blickt auf Nathalie, die erstarrt auf dem Beifahrersitz die Hände gefaltet hat.
„Der Name des behandelnden Arztes?“
„Dr. Pochon.“
Der Wachmann gibt ihm das Papier zurück.
„Sie können bis zum Aufnahmebüro vorfahren. Ich gebe Dr. Pochon bescheid, dass Sie da sind.“
Er geht in sein Häuschen zurück, nimmt den Telefonhörer ab. Die Schranke hebt sich.
Jean Murat fährt den Wagen bis zu dem flachen Gebäude der Aufnahme. Er schaltet den Motor ab und steigt aus dem Wagen. Dem Kofferraum entnimmt er eine große Reisetasche. Nathalie sitzt immer noch im Wagen.
Aus der Eingangshalle tritt ein bärtiger Mann in einem braunen Flanellanzug. Er begrüßt den Inspektor, wechselt einige Worte mit ihm. Jean Murat reicht ihm die Reisetasche. Dr. Pochon tritt an den Wagen heran und öffnet die Beifahrertür. Mühsam schält sich Nathalie aus dem Sitz. Sie sieht geschwächt aus, krank. Dr. Pochon bietet ihr seinen Arm. Sie hakt sich bei ihm ein. Beide gehen wie ein Paar langsam in das Gebäude. Jean Murat steigt grußlos in seinen Wagen.

„Und? Wie fühlst Du Dich?“
Odette Murat steht an der Kaffeemaschine in der Küche und schüttet Pulver in das Papierfilter.
Jean Murat ist an den Türrahmen gelehnt, schaut ihr zu.
„Erleichtert und beklemmt.“
„Erleichtert verstehe ich, aber beklemmt?“
„Wenn sie je wieder geheilt wird…“
„Von so einer Krankheit heilt man nicht. Man lernt, sie zu akzeptieren und mit ihr zu leben.“
„Ich werde ihr nie wieder vertrauen können.“
„Du musst auch lernen, sie zu akzeptieren und mit ihr zu leben.“
„Wenn es nur um mich ginge… Aber was in der letzten Zeit mit der Kleinen passiert ist…. Ich muss einen Weg finden, sie zu schützen.“
„Ich bin da.“
„Ich weiß, Odette. Und ich bin Dir dankbar.“
Er geht zu ihr, legt den Arm um sie.
„Aber Du bist keine Lösung.“
Seine Schwester ist empört. „Ich bin keine Lösung?“
„Du bist eine Hilfe, eine große sogar“, sagt er beschwichtigend, „aber keine Lösung.“
„Hast Du mit dem Radiologen gesprochen?“
„Ja.“
„Und?“
„Nichts.“
„No news, good news.“
Er geht in den Salon, gefolgt von seiner Schwester, die zwei Tassen auf den Tisch stellt.
„Mir will dieser Robert Dufresne nicht aus dem Kopf.“
„Robert Dufresne. Ist das nicht der von früher?“
„Ja, ein miserabler Schachspieler. Er ist tot.“
„Mein Gott! Ihr wart doch befreundet, oder?“
„Befreundet wäre zuviel gesagt. Wir spielten oft Schach.“
„Woran ist er gestorben?“
„Ertrunken oder ertränkt.“
„Ertränkt? Wer hat ihn ertränkt?“
„Von dem, der ihm seine Freundin ausgespannt hatte, damals. Aber ich kann’s nicht beweisen.“
*
Jean Murat fährt die Landstrasse ab, die zu Robert Dufresnes Orangerie führt. Er sucht den von Séraphine erwähnten Stromkasten. Als dieser auf der rechten Seite auftaucht, drückt er auf den Knopf seiner Stoppuhr, die er in der linken Hand hält. Nach einer Steigung erreicht er die Kreuzung und hält den Wagen und die Uhr an.
„Drei Minuten. Scheiße, scheiße, scheiße!“
*
Der Kommissar und Inspektor Murat stehen in der Schlange vor der Selbstbedienung in der Kantine.
„Was ich nicht verstehe“, sagt der Kommissar und nimmt ein leeres Tablett vom Stapel, „ist, dass Du ihm nicht sagst, dass Du den Psychiater kanntest.“
„Was er nicht weiß, ist ein Vorsprung für mich.“ Er legt dem Kommissar das Besteck aufs Tablett. „Außerdem haut das alles nicht hin.“
„Erzähl. Für mich einen Hamburger mit Fritten“, sagt der Kommissar zu der Kantinenbedienung.
„Als seine Tochter ihn anruft, sagt er zu ihr: er war da. Und drei Minuten später fährt sie diesem Patrick Lassagne ins Auto. Der Pathologe begrenzt die Todeszeit auf zwischen 15 und 18 Uhr. Der Anruf von Séraphine fand um 15h12 statt. Patrick Lassagne hat den Notruf um 15 Uhr 20 angerufen. Der Unfall war um 15 Uhr 15. In den fünf Minuten zwischen der Unfallzeit und dem Notruf kann er unmöglich zur Orangerie gefahren sein, den Psychiater in den Brunnen gestoßen haben und wieder an die Kreuzung zurückgekommen sein. Und die Polizei hat ihn vom Unfallort ins Krankenhaus gefahren, wegen der Blutprobe, und anschließend vernommen. Bis 19 Uhr. Mathematisch betrachtet kann er es nicht gewesen sein.“
„Sagte ich doch. Ein Unfall. Tragisch, aber ein Unfall. Du schreibst mir den Bericht in diese Richtung, okay?“
Sie setzen sich an einen freien Tisch.
„Und was ist aus dieser Sylvie geworden?“
Jean Murat zuckt die Schultern. „Es gibt nur einen Eintrag im Register.“
Er fingert einen Zettel aus der Jackentasche.
„1982. Falschaussage in einem Zuhälterprozess.
Fernand Duclos, offiziell Ober von Beruf, aber erwiesenermaßen der Beschützer einer russischen Nutte, Swetlana Dimitrove, ein Callgirl. Sylvie Kubin, wie sie früher hieß, schwor Stein und Bein, dass dieser Duclos nicht der Zuhälter ihrer Freundin wäre.“
„Ihrer Freundin?“
„Die beiden kannten sich von der Uni.“
„Und was hat sie dafür bekommen?“
„Eine Verwarnung. Ist glimpflich ausgegangen für sie. Der Vater ist ein Bonze aus der Baubranche. Sehr lange Arme.“
„Du hast sie doch auch gekannt, oder?“
„Aus der Zeit mit Robert ja. Hübsches Ding.“
„Callgirl?“
„Nee, Kassiererin im Großmarkt Meteor.“
„Bei so einem Vater?“
„In Ungnade gefallen. Damals zumindest. Sie ist wegen Robert von zuhause ausgezogen und war noch nicht volljährig.“
„Kommt in den besten Familien vor.“
„Sag ich doch. Es fehlen mir drei Minuten.“
„Mensch, Jean, schlag Dir diesen Patrick Lassagne aus dem Kopf.“
„Robert war unser Trauzeuge gewesen.“
„Darum also hängst Du Dich derart an diesen Lassagne!?“
„Aber nach unserer Hochzeit hatte er angefangen zu spinnen. Die Trennung von Sylvie hatte ihm arg zugesetzt.“
„Was heißt spinnen?“
„Er rief dreimal am Tag an, heulte wie ein Schosshund.“
*

Jean Murat liegt mit seiner Frau im Bett. Beide schlafen. Das Telefon klingelt. Jean Murat zieht sich ein Kissen auf den Kopf. Nathalie erhebt sich, geht in den Salon, nimmt den Hörer ab.
„Hallo?“
„Nathalie? Ich bin’s, Robert.“
„Robert, weißt Du, wie spät es ist?“
„Ja, entschuldige bitte. Ich muss Jean sprechen“, lallt Robert.
„Jean schläft, Robert.“
„Bitte, Nathalie. Gib mir Jean.“
„Bleib dran.“
Sie seufzt, geht mit dem Hörer ins Schlafzimmer.
„Jean, Robert ist am Apparat.“ Sie schüttelt die Schulter ihres Ehemanns.
„Der soll sich zum Teufel scheren“, murmelt er.
Sie deckt die Hörmuschel mit der Hand zu.
„Jean, Robert ist Dein Freund. Er hört sich nicht gut an.“
Jean Murat setzt sich im Bett auf, nimmt den Hörer, den seine Frau ihm entgegenhält.
„Hallo Robert, was gibt’s?

Was?

Womit?

Mensch, bist Du bescheuert? Schließ die Wohnungstür auf, sonst muss die Feuerwehr sie aufbrechen, und leg Dich nicht ins Bett. Geh in der Wohnung auf und ab. Verstanden? Nicht einschlafen!

Okay. Mach ich.“
Jean Murat wählt die Nummer der Feuerwehr.
„Inspektor Murat vom Kommissariat Europaallee. Einen Notarzt zum Chemin Bougainvillier haut.
Selbstmordversuch.
Robert Dufresne.
Valium-Overdose.“

Er legt den Hörer auf den Nachttisch und legt sich das Kissen auf den Kopf.
„Jean!“ Seine Frau ist fassungslos. „Was machst Du da?“
„Ich schlafe.“
„Robert wollte sich umbringen?“
„Ja, der Arsch wollte sich umbringen.“
„Arsch sagst Du? Er ist Dein Freund. Und Du willst weiterschlafen?“
„Der Notarztwagen ist unterwegs.“
„Aber Du bist sein Freund. Er hat Dich angerufen.“
„Die können das besser als ich, glaub mir.“
*
Jean Murat sitzt dem Kommissar gegenüber.
„Und seitdem hatten wir uns nicht mehr gesprochen.“
„Du wusstest, dass er durchgekommen war?“
„Sie kommen alle durch, oder die meisten. In dieser Hinsicht brauchte ich mir keine Sorgen um Robert zu machen.“
„Das grenzt ja fast an unterlassener Hilfeleistung.“
„Bei allem Respekt, Chef. Ich habe den Notarzt gerufen. Ich habe ihm das Leben gerettet! Außerdem hatte Nathalie eine Woche später eine Fehlgeburt. Da hatte ich Wichtigeres zu tun, als mich um einen Typen zu kümmern, der wegen so einer Tutti vor sich hindämmerte.“
*
Robert Dufresne und Nathalie Murat sitzen auf einer der Stufen, die zum Kirchenplatz hinaufführen. Angelehnt an die Kirche befindet sich das Stadtmuseum, in das Besucher ein- und ausgehen. Das große Kirchentor ist weit geöffnet. Aus dem Kircheninnern ist das Requiem von Fauré zu hören.
„Ich hätte nie geglaubt, dass er so brutal sein könnte“, sagt Nathalie, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, das Gesicht in den Händen. Sie blickt geradeaus, sieht aber das Auto ihres Mannes nicht, der sie und Robert beobachtet.
„Das macht sein Beruf“, erwidert Robert. „Was der so alles mitbekommt.. Da muss er sich abschotten. Sich und seine Familie.“
„Ein bisschen war er schon früher so.“
„Sylvie meinte damals, er wäre ein ausgesprochener Macho. Womit“, fügt Robert hinzu, „sie nicht ganz Unrecht hatte.“
„Vielleicht. Aber er konnte auch sehr sensible sein, und zärtlich. Sonst hätte ich ihn nie geheiratet.“
„Gott sei’s gedankt, dass Du ihn geheiratet hast. Wer weiß, was sonst noch aus ihm geworden wäre.“
„Wie geht es Dir, Robert?“
„Gut.“
„Mensch Robert, Du hast vor zwei Tagen einen Selbstmordversuch unternommen!“
Robert macht eine abwertende Handbewegung.
„Die paar Tabletten. Magen ausgepumpt, ein Tag Ruhe, und das war’s. Klar, es war blödsinnig, das zu tun. Noch blödsinniger, bei Euch anzurufen. Ich hätte selbst den Notarzt anrufen sollen.“
„Du nimmst ihn noch in Schutz?“
„Na klar. Ich hab was vermasselt, nicht er. Er hat sein Leben, ich hab meins.“
„Aber ihr seid doch Freunde!“
„Freundschaft ist keine Religion, Nath. Heute ist man befreundet, morgen nicht mehr. Das ist halt so. Mit der Liebe verhält es sich nicht anders.“
„Toll, Robert fällt in sein schwarzes Loch. Du sagst das, weil Dein bester Freund Dir Deine Frau ausgespannt hat. Doppelte Strafe. Gefundenes Fressen für das schwarze Loch.“
„Auch das geht vorbei. Wie alles.“
„Sag ich doch, Robert und sein schwarzes Loch.“ Sie lacht, schaut ihn zärtlich an.
„Was meinst Du, warum die da alle hinströmen?“ Er zeigt mit dem Daumen nach hinten.
„Ins Museum?“
„Nein, in die Kirche. Sie wissen alle, dass alles einmal vorbei ist. Ich meine jetzt nicht das große Leben, das sowieso. Nein, all die kleinen Enden, die das Leben abstecken wie eine Wegmarkierung. Die Gesundheit, die Hoffnung, die Liebe, das Glück. Im Innern wissen sie alle, dass das ein Ende haben wird. Und der arme Gott soll das alles zusammenhalten. Dabei ist die Trennung die wichtigste Erfahrung im Leben.“
„Amen.“
„Entschuldigung, Nath.“
„Robert, ich bin schwanger.“
Robert wendet sich ihr zu, nimmt sie an den Schultern.
„Glückwunsch“, ruft er aus. „Ich freue mich so für Euch. Wie weit bist Du?“
„In der sechsten Woche.“
„Und was sagt Jean?“
„Er ist im siebten Himmel, wie er meint.“
Das Gesicht Nathalies verdunkelt sich.
„Robert, ich weiß nicht, ob ich es behalten soll.“
„Aber warum denn, Nath? Ihr hattet doch so oft davon gesprochen.“
„Wegen ihm. Ich kann mir ein Leben mit ihm nicht vorstellen.“
„Aber Du lebst doch mit ihm! Ihr seid verheiratet.“
„Ja sicher. Aber seit ich weiß, dass etwas Kleines in mir wächst, versuche ich, mir vorzustellen, wie wir drei in fünf, in zehn Jahren wären.“
„Und?“
„Ich kann nicht, Robert.“
„Und was willst Du machen?“
„Kannst Du mich in die Klinik fahren, morgen?“
„Morgen? Du willst dort abtreiben lassen?“
„Ja.“
„Aber Jean ist Dein Mann. Das Kind ist von ihm. Wenn Du wirklich abtreiben willst, dann muss er mit Dir in die Klinik, nicht irgendein Freund. Hast Du etwa einen Liebhaber?“
„Du bist nicht irgendein Freund, Robert. Nein, ich habe keinen Liebhaber.“
Sie blickt Robert in die Augen.
„Ein Mann, der Liebeskummer hat, ist so anziehend.“
„Ach so? Ich dachte, Männer mit festen Arschbacken seien das. Oder Männer, die Klavierspielen können. Oder Männer, die allein ihren Hund durch den Park spazieren führen.“
Nathalie lacht. „Die Variante mit dem Hund kannte ich nicht.“
Vor sie stellt sich ein japanisches Paar mittleren Alters. Der Mann gibt Robert zu verstehen, dass er und seine Frau fotografiert werden möchten. Robert erhebt sich und nimmt den Apparat, den der Japaner ihm reicht. Die drei gehen zum Kirchentor. Das japanische Paar setzt sich in Pose, Robert fotografiert, Nathalie den Rücken zugekehrt.
Jean Murat fährt bis zur Treppe vor, öffnet von innen die Beifahrertür.
„Steig ein!“ befielt er.
Nathalie bleibt sitzen, zögert.
„Steig ein, sag ich!“
Sie erhebt sich langsam, geht auf das Auto zu, setzt sich auf den Beifahrersitz. Jean Murat fährt sofort los.
„Schnall Dich an.“
Nathalie gehorcht. Jean Murat biegt in die Rue d’Italie ein, die zum Stadtring führt. Er fährt in das erste Parkhaus des Stadtrings und hält auf einem Behindertenparkplatz im ersten Untergeschoss. Er schaltet den Motor ab und versucht ungeschickt, auf seine Frau einzuschlagen. Während er daneben schlägt, beginnt seine Nase zu bluten. Nathalie kann sich aus dem Auto befreien, läuft die Rampe hinauf auf den Stadtring. Jean Murats Hände zittern. Er schlägt mit ihnen auf das Lenkrad, legt den Kopf zurück, um das Bluten zu stoppen. Sein Handy klingelt. Er nimmt den Anruf entgegen, den Kopf zurückgebeugt.
„Ja, ich habe sie gesehen, Odette. Ja, vor der Kirche. Wie Du gesagt hattest. Bis heute Abend. Tschau!“

*
Robert Dufresne sitzt im Gang der Klinik auf einer Plastikbank vor einer großen, weißen Tür, einen Kaffeebecher in der Hand. Die Tür wird aufgestoßen. Eine Krankenschwester schiebt Nathalie Murat auf einer Bahre aus dem Operationssaal.
Robert steht auf, nimmt die Hand Nathalies.
„Alles gut verlaufen, Herr Murat“, sagt die Krankenschwester zu ihm. „Jetzt noch zwei Stunden Bettruhe, in der wir Ihre Frau beobachten können. Und dann gehört sie wieder Ihnen.“
Robert Dufresne antwortet nicht, geht schweigend, die Hand Nathalies haltend, neben der Bahre her.
Nathalie wird in ein Zimmer geschoben. Die Krankenschwester und Robert helfen ihr, von der Bahre zu steigen und sich auf ein Bett zu legen.
„Ich komme nachher noch mal rein“, sagt die Krankenschwester und verlässt das Zimmer.
„Na, wie fühlt man sich als Jean Murat?“ Nathalie schaut Robert amüsiert, aber müde an.
„Lass den Quatsch“, antwortet Robert. „Hast Du ihr gesagt, ich sei…?“
„Nein, pure Deduktion ihrerseits.“
„Wie geht es Dir?“
Nathalie schließt die Augen. „Nicht so gut.“
„Schmerzen?“
„Nein.“
Robert will vom Thema ablenken.
„Weißt Du, welche Idee mir gekommen war, als ich auf Dich gewartet hatte?“
Nathalie öffnet die Augen. „Du willst um meine Hand anhalten?“
„Séraphine würde in den Hungerstreik treten.“
„Wie geht’s der Kleinen?“
„Gut. Ihre Mutter bringt sie am Wochenende. Willst Du nicht wissen, welche Idee ich hatte?“
„Leg los.“
„Ich werde auf der Orangerie ein Waisenhaus aufmachen.“
„Mensch, der Augenblick ist gut gewählt.“
„Entschuldigung, Nath.“
Nathalie denkt nach.
„Auf der Orangerie? Ein Waisenhaus?“
„Ja. Für ausländische Kinder.“
„Robert, Du hast ein großes Grundstück, einen riesengroßen Wohnraum und zwei kleine Zimmer. Wo willst Du mit Deinen Waisen hin!? Willst Du vor dem Haus Zelte aufschlagen?“
„Das anliegende Herrenhaus wird verkauft. 10 Zimmer, direkt an der Orangerie.“
„Kannst Du das finanzieren?“
„Ich nicht, die Bank ja.“
„Du brauchst Fachkräfte.“
„Ich bin Psychiater. Du eine studierte Pädagogin. Fehlt die Köchin oder der Koch, die Putzfrau oder der Putzmann. Und zwei, drei Praktikanten.“
„Das hast Du Dir alles ausgerechnet, während ich da drinnen war?“
„Ja.“
„Robert Robert. Vor drei Tagen wolltest Du Dich noch in den Abgrund stürzen, heute ziehst Du Dir die Zukunft vom Himmel.“
„That’s Life. Zwischen Himmel und Erde steht das Leben – wir!“

*
Jean Murat und Patrick Lassagne sitzen auf der Terrasse eines Bistros vor dem Justizpalast. Es ist bereits dunkel. Laternen erhellen die Tische. Die beiden Männer sind die einzigen Gäste, die draußen in der Kälte sitzen. Der Ober bringt die bestellten Getränke. Ein Bier für Patrick, eine Limonade für den Polizeibeamten.

„Darf ich einkassieren?“ fragt der Ober. „Meine Schicht ist zu Ende.“
Patrick will zum Portemonnaie greifen.
„Lassen Sie. Ich übernehme.“ Jean Murat gibt dem Ober einen Geldschein.
„Donnerwetter, die Polizei lädt einen Verdächtigen zum Bier ein.“
Der Ober legt irritiert das Wechselgeld auf den Tisch.
„Sehen Sie, die Dinge sind meist anders, als sie aussehen.“
„Vielleicht, ja. Obwohl Sie derjenige sind, der die Dinge nach dem Aussehen urteilt. Alles muss zueinander passen, muss einen Sinn ergeben. Ist das eine Berufskrankheit?“
„Sie müssen zugeben“, antwortet Jean Murat, „dass Ihr Verhalten auf der Orangerie ein wenig seltsam war, oder? Prost!“
Er hebt sein Glas. Patrick stößt mit seinem Bierglas an.
„Seltsam für wen? Für Sie, weil Sie das nicht nachvollziehen können?“
Jean Murat gibt ihm durch eine Geste zu verstehen, dass er recht hat.
„Mit einem Toten sprechen…“
„Ich wollte nur, dass er mir zuhört. Er ist doch der Psy, das ist sein Job.“
„War sein Job, Herr Lassagne. War. Er ist tot.“
„Dann hat er eben einige Überstunden gemacht.“
„Weder lustig noch menschlich. Ich versteh das nicht. Helfen Sie mir, zu verstehen.“ Jean Murat beugt sich vor. „Sehen Sie“, sagt er, „auf meinem Schreibtisch liegt alles, was ich brauche. Der Bericht, ein Stempel, ein Kugelschreiber. Ich schreibe die Wörter „Unfall“ und „abgeschlossen“, Stempel und Unterschrift drauf, und damit hat’s sich. So einfach ist das. Aber zuerst muss ich verstehen.“
Patrick Lassagne schaut den Inspektor ernst an.
„Was, Herr Inspektor, was stimmt bei Ihnen nicht?“
Er senkt die Stimme. „Ist Ihr Leben derart aus den Fugen, dass Sie um jeden Preis einen Schuldigen brauchen?“
„Bravo, gutes Ablenkungsmanöver. Sie sind schlagfertig, ich gebe zu. Normal, Sie sind in der Öffentlichkeitsarbeit. Sie lassen Werbespots drehen, die mir die Filme in Stücke hacken.“
Er lehnt sich in seinen Stuhl zurück, „Ich schlage Ihnen zwei Varianten vor, wie es sich abgespielt haben könnte. Sie sagen mir, was Sie von ihnen halten. Noch ein Bier?“
Ohne auf eine Antwort zu warten, ruft er die neben dem Eingang stehende Bedienung.
„Zwei“ – er schaut Patrick fragend an – „zwei Bier, bitte.
„Primo: Ihre Ex-Geliebte ruft Sie an, weil sie wissen möchte, wie sie Ihren Ex-Freund Robert, den Psychiater, erreichen kann. Sie schicken sie zum Teufel. Durch Zufall treffen Sie zwei Monate später diesen Ex-Freund. Sie tauschen einige Nettigkeiten aus, Sie gehen Ihren Weg, und er, typisch Intellektueller mit zwei linken Händen, fällt, als er die Innenwand ausspachteln will, in den Brunnen und ertrinkt. Haben Sie es?“
Die Bedienung bringt die zwei Bier.
„Secundo: Ihre Ex-Geliebte ruft Sie an und so weiter. Sie finden die Adresse Ihres Ex-Freundes heraus, und suchen ihn unter einem Vorwand auf. Und ertränken ihn im Brunnen. Was halten Sie davon?“
„Die zweite Variante hat den Vorteil, die kürzere zu sein.“
„Ich habe mir einige Abkürzungen erlaubt, richtig.“
„Sie vergessen das Wesentliche, mein lieber Watson. Das Motiv.“
„Erst das Schema, wie’s passiert ist. Das Warum kommt dann von selbst. Eifersucht, Schuldgefühle. Das Drama der Menschheit ist voll von Motiven, die uns von der Polizei die Arbeit verschaffen.“
Jean Murat leert mit einem Zug sein Glas. Patrick Lassagne hat seines noch nicht angerührt.
„Noch ein Bier?“
„Nein Danke.“
„Noch zwei Bier!“ ruft der Inspektor der Bedienung zu.
„Also, was denken Sie? Welche der Varianten gefällt Ihnen besser?“
„Keine von beiden gefällt mir. Sie verirren sich in irgendwelche Hypothesen. An den Haaren herbeigezogen.“
„In irgendeine Richtung muss man doch denken, nicht? Sonst kommt man nicht voran. Nicht mal die erste, die Ihrer Unschuld, gefällt Ihnen? Denken Sie an meinen Schreibtisch, den Stempel…“
„Sie braucht mir nicht zu gefallen, Ihre erste Fiktion. Sie fuchteln mit Ihren zwei Hypothesen herum und haben nicht die leiseste Ahnung, was wirklich passiert ist. Ich auch nicht. Wo stecken Sie denn den Anruf hin, den Robert von seiner Tochter bekommen hat, als ich schon fast außer Hörweite war? Und den Unfall an der Kreuzung, der mir meinen Wagen demoliert hatte?“
„Machen Sie mal halblang, Herr Lassagne. Sie ist demoliert worden, Sie haben nur Blechschäden. Aber recht haben Sie trotzdem, in diese Einzelheiten muss ich noch Ordnung bringen.“
Eine Weile schweigen beide.
„Und Sie, welche Variante ziehen Sie vor?“ fragt Patrick Lassagne.
„Ach wissen Sie, das ist mir piepegal. Die eine oder die andere. Jetzt, wo wir so gemütlich hier zusammensitzen und so sympathisch plaudern, würde ich die erste vorziehen. Aber morgen, im Büro, vor meinem Schreibtisch mit dem Bericht, dem Stempel vor mir und meinen Kollegen, die nie anklopfen … da bricht wohl der alte Dämon in mir auf: der Zweifel. Das ist so, solange ich nicht verstanden habe.“
Sein Handy klingelt. Er schaut auf die anrufende Nummer und steckt das Handy weg.
„Außerdem ziehe ich einen sympathischen Schuldigen wie Sie einem widerlichen Halsumdreher vor. Habe ich recht, Herr Lassagne?“
„Sicher.“
„Gut. Also, ich höre.“
„Sie hören was?“
„Sagen Sie, wie Sie’s angestellt haben.“
„Sie wissen es.“
„Sie halten sich für intelligent, nicht wahr?“
„Mein IQ ist sicher nicht höher als Ihrer. Aber ich habe keine Glaskugel, und Sie auch nicht. Daran besteht kein Zweifel. Der Zweifel, das allein Ihr Ding.“
„Ja, der Zweifel erhält mich am Leben.“
„Sind Sie deshalb Polizist geworden?“
Jean Murat lacht.
„Der Zweifel hat mich zum Polizisten gemacht? Es ist viel einfacher, als Sie es sich vorstellen. Ich war einfach zu dumm, etwas anderes zu machen. Und ich habe recht gehabt mit meiner Entscheidung. Besonders, wenn ich mir mal so anschaue, was aus den anderen geworden ist: Im Brunnen ertrunken, im Krankenhaus, verdächtigt in einem Todesfall. Aber auch mit einem niedrigen IQ kann man Begabungen entwickeln. Ich bin begabt im Zweifeln. Eine gute Schule.“
„Und der bringt Sie auf die Spur von Roberts Tod?“
„Wer weiß? Ich werde Ihnen etwas sagen, Herr Lassagne. Bauen Sie nie auf eine Lüge in Ihrem Leben. Ihre ganze Existenz geht damit vor die Hunde.“
„Ganz schön puritanisch, diese Lebensweisheit.“
„Puritanisch? Ganz im Gegenteil! Puritanisch sein heißt, gegen das Leben zu sein. Ein Leben ohne dunkle Flecken gibt es nicht. Leben ist mit Schuld verbunden, moralisch, gesetzlich. Das liebe ich am Leben. Darum gibt es uns, die Polizisten.“
„Sie können nicht der ganzen Menschheit Handschellen anlegen. Nicht alle haben eine Leiche im Keller.“
„Ich weiß, aber ich spreche nicht mit allen, sondern mit Ihnen. Und wenn ich von der Lüge spreche, dann meine ich nicht die schwarzen Flecke, oder die Sünde, oder das Verbrechen. Sondern nicht dazu zu stehen, gegenüber anderen und sich selbst, das ist Lüge. Für mich hört ein Verbrechen auf, eines zu sein, wenn der Verbrecher zu seiner Schuld steht und sie gesteht.“
„Sie wollen Sie mir also die Beichte abnehmen?“ Patrick Lassagne grinst.
„Sie können sich lustig machen über mich, wenn Sie wollen. Schade. Ich habe nichts gegen Verbrecher. Sie könnten sogar meine Freunde werden.“
„Sie bieten mir Ihre Freundschaft an?“
„Es hängt von Ihnen ab.“
Jean Murat holt den Pass Patrick Lassagnes aus der Jackentasche.
„Keine Beichte?“ Der Inspektor spielt mit dem Pass.
„Ich habe nichts zu beichten, jedenfalls nichts, was in Zusammenhang mit Roberts Tod stünde.“
Der Inspektor schiebt den Pass über den Tisch. Patrick Lassagne nimmt ihn.
„Warum so plötzlich?“ fragt er überrascht.
„Es fehlen mir fünf Minuten, Herr Lassagne. Fünf kleine Minuten. Was haben Sie nun vor?“
„Reisen“, antwortet Patrick Lassagne.
„Wohin?“
„Haiti.“
„Strand, Palmen, Punsch und schöne Frauen mit Blumen im Haar?“
„Sie verwechseln Haiti mit Hawaii, Herr Inspektor. Nichts von dem Erdbeben auf Haiti gehört?“
„Doch natürlich. Und warum?“
„Sylvie arbeitet dort für eine ONG. Robert war ihr Freund. Sie soll es von mir erfahren.“
„Hm.“
Jean Murat erhebt sich. „Ich werde drinnen bezahlen.“ Er zieht sein Portemonnaie aus der Tasche, will weggehen.
„Danke, Herr Murat“, sagt Patrick Lassagne, steht auf und will in Richtung Innenstadt weggehen.
„Herr Lassagne!“ ruft der Inspektor ihm nach. „Woher wissen Sie, dass Sylvie auf Haiti ist?“
Patrick bleibt stehen, dreht sich zum Inspektor um.
„Apotheke Carnet in Lyon, Herr Inspektor. André Carnet, ihr geschiedenen Ehemann.“
Jean Murat winkt ihm zu, Patrick Lassagne winkt zurück und setzt seinen Weg fort.
„Ich krieg Dich noch, Patrick Lassagne mit Doppel-S. Alles eine Frage der Zeit.“
*
„Dr. Pochon? Jean Murat hier. Sie haben gestern Abend angerufen?“
„Richtig. Herr Murat, Ihre Frau hat versucht sich umzubringen.“
Jean Murat sitzt in seinem Wagen auf dem Parkplatz vor dem Kommissariat. Mit der freien Hand massiert er seine Schläfe.
„Versucht? Dann lebt sie also noch. Wie geht es ihr?“
„Gut. Wir haben sie rechtzeitig gefunden. Sie hat sich..“
„Nein, bitte keine Einzelheiten, Doktor.“
„Ich muss mit Ihnen reden, Herr Inspektor.“
„Ich höre.“
„Ihre Frau fürchtet sich vor Ihnen.“
„Meine Frau fürchtet sich davor, auf dem Trockenen zu sitzen.“
„Sie hätten ihr gedroht, sie umzubringen.“
„Unsinn.“
„Sie sagt, Ihre Schwester sei Zeuge.“
„Das war mir nur so rausgerutscht. Sie soll sich nicht an unserem Kind vergreifen.“
„Ihre Frau meint, Ihre Schwester lügt.“
„Dann sollte sie sich entscheiden: Zeugin oder Lügnerin.“
„Sie hat mir noch eine andere Geschichte erzählt.“
„Und die wäre?“
„Ich würde darüber mit Ihnen persönlich sprechen. Nicht hier, sondern in meinem Büro in der Innenstadt.“
„Wo und wann Sie wollen, Herr Doktor.“
„Morgen Nachmittag, um 16 Uhr?“
„Ist notiert. Soll ich nicht meine Frau besuchen kommen?“
„Möchten Sie?“
Jean Murat antwortet nicht.
„Fürs erste ist es ohnehin besser ohne Sie.“
*
Jean Murat und seine Schwester Odette stehen vor der Schule Aurélies. Odette ist gegen ein Geländer gelehnt, ihr Bruder geht nervös auf und ab.
„Hast Du eine Idee, um was es geht?“ fragt sie ihn.
„Nein.“
„Soll ich mitkommen?“
„Zu dem Psychologen? Was willst Du da?“
„Dir helfen.“
„Nein, das geht nur mich an. Mich allein.“
Aus der Schule laufen kreischend Kinder auf den Bürgersteig. Väter und Mütter umarmen sie, nehmen sie an den Händen oder setzen sie in wartende Autos. Aurélie kommt auf ihren Vater zugelaufen, sieht aber ignoriert ihre Tante.
„Hallo, meine Prinzessin. Schon wieder einen Tag schlauer?“
*
Nathalie Murat und ihr Mann sitzen am Esstisch im Salon. Es ist später Abend. Der Raum wird von dem Leuchter über dem Tisch erhellt, der einen Kreis auf die Tischmitte zeichnet. Sie sind allein. Wie einen Zirkel dreht Jean Murat mit den Fingern seine Pistole, die in dem Lichtkreis liegt. Mal zielt der Lauf auf ihn, mal auf Nathalie, mal ins Leere. Nathalie ist bleich. Erstarrt blickt sie auf die sich drehende Waffe. Plötzlich löst sich ein Schuss. Die Kugel schlägt im Buffet ein. Nathalie zuckt zusammen. Jean Murat nimmt die Pistole, sichert sie und steckt sie zurück in das Halfter unter seine Jacke.

„Sind Sie sich im Klaren darüber, was Sie da gemacht haben?“ fragt Dr. Pochon. Er sitzt hinter seinem Schreibtisch, die Wanduhr hinter ihm zeigt 16 Uhr 45.
„Ein Versehen“, antwortet Jean Murat. Er steht an der Bibliothek, schaut auf die Autoren und Titel der Bücherrücken. Er nimmt eine Miniatur des „Denkers“ von Rodin in die Hand.
„Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so sitzt und denkt“, sagt der Inspektor.
„Dazu noch nackt.“
Er dreht die Skulptur in seiner Hand. „Doch. Ich, morgens auf dem Klo.“
Er lacht, stellt die Skulptur zurück in die Bibliothek.
„Ein Versehen, sagen Sie? Das war pure psychologische und physische Gewalt.“
„Sie hatte mir gesagt, sie wolle mich verlassen.“
„Und das gibt Ihnen das Recht zu einem solchen mörderischen Spiel?“
„Ein Versehen, sagte ich. Ich dachte, die Pistole wäre gesichert.“
„Selbst wenn sie gesichert gewesen wäre. Allein die Geste.“
„Erst verliert sie unser Kind, sagt ihrem heimkommenden Mann so nebenbei „Hallo, ich hab heute das Kind auf dem Klo verloren“. Und dann „übrigens, ich werde Dich verlassen“.“
„Das hat sie bestimmt nicht so gesagt.“
„Sie werden parteiisch, Doktor. Ist Ihnen als Psychologe nicht Abstand und Neutralität geboten?“
„Ich spreche zu Ihnen als Mann. Von Mann zu Mann.“
„Sie sind Psychologe.“
„Aber nicht der Ihre. Und unser Gespräch war außerdem nicht therapeutisch gedacht. Setzen Sie sich bitte.“
Der Psychologe weist auf den Stuhl vor dem Schreibtisch.
„Vertauschte Rollen“, antwortet der Inspektor. „Normalerweise sitze ich da, wo Sie sind. Und ich stelle die Fragen.“
„Das Wort „Normal“ würde ich hier nicht benutzen“, antwortet Dr. Pochon. „Aber bitte, wenn Sie wollen. Wollen Sie meinen Platz?“
Er erhebt sich, will um den Tisch herumgehen.
„Nein, ich bleibe lieber stehen.“
„Hat sie gesagt, warum sie Sie verlassen wollte?“
„Sie sprach von Scheidung.“
„Und?“
„Die Liebe sei nicht mehr.“
„Bei wem?“
„Bei mir.“
„Und war dem so?“
„Ich hatte mir die Frage nicht gestellt.“
„Muss man sich fragen, ob man jemanden liebt?“
„Man sollte den Mut haben zu dieser Frage, ja.“
„Hatten Sie den Mut?“
Jean Murat überlegt.
„Die Frage machte mir keine Angst. Die Antwort vielleicht. Aber wie dem auch sei. Wenn man sich die Frage stellt, ist es meistens schon zu spät. Mann kennt die Antwort schon. Und dann war da noch die Abtreibung.“
„Sie sagten, sie hätte das Kind verloren.“
„Das sagte sie. Sie log.“
„Warum sollte sie lügen? Es ist ihr Körper.“
„Es war mein Kind. Sie hat es abgetrieben. Sie hat mich aus ihrem Körper ausgestoßen. Können Sie sich vorstellen, was in mir vorging, als sie nachher mit Aurélie schwanger war?“
„Ich kann mir die Angst Ihrer Frau vorstellen.“
„Angst wovor?“
„Angst vor der Schwangerschaft, der Geburt. Angst, Sie zu enttäuschen. Sie schienen ja derart an der Idee eines Kindes zu hängen.“
„Ein Kind ist keine Idee!“
„Für eine Frau nicht, für einen Mann ja.“
„Ich kann Ihnen nicht folgen.“
„Ich sehe. Fest steht, Ihre Frau hat Angst.“
Er sieht die zitternden Finger des Inspektors.
„Ihre Frau hat Angst, und Sie zittern?“
„Neurologisch. Eine Bagatelle.“
Jean Murat nimmt erneut den Denker Rodins in die Hand.
„Ich kannte einmal jemanden, der an Schlaflosigkeit litt. So sehr an Schlaflosigkeit litt, dass er begann, sein Bett zu hassen.“
„Es ist nicht die Schuld Ihrer Frau, dass Sie sie nicht mehr lieben können.“
„Aurélie ist es, die ich liebe.“
„Natürlich. Es ist einfacher, ein wehrloses Kind zu lieben.“
*
Inspektor Murat, auf dem Weg zu seinem Büro, sieht im Kommissariat auf einer Bank eine etwa fünfzigjährige Frau sitzen.
„Nadia, was machst Du denn hier?“
„Hallo Herr Inspektor! Wie geht’s der kleinen Familie?“
Nadia zwinkert ihm zu. Jean Murat setzt sich neben sie.
„Ich hab Dir doch gesagt, dass Du nicht hier herkommen sollst!“
„Ich bin nicht wegen Dir hier, mein Schatz.“
„Sondern?“
„Dein Chef hat mich herbestellt.“
„Der Kommissar?“
„Himself.“
„Und weswegen?“
„Eine Anzeige. Ein großes Tier ist bei mir verprügelt worden.“
„Du hast jemanden verprügelt?“
„Nein, ein Bekannter hat sich an einem Kunden mit einem Basketballschläger revanchiert. Eine uralte Geschichte.“
„Wie heißt das große Tier?“
„Hugo Kubin.“
„Der alte Bausenator war bei Dir?“
„Ja.“
„Zum Bumsen?“
„Damals ja. Aber gestern wollte er nur fragen, ob ich wüste, wo seine Tochter sei.“
„Sylvie Kubin?“
„Sylvie Carnet heißt sie jetzt.“
„Und warum fragt er Dich das?“
„Ich war mit ihr befreundet, vor langen Jahren. Ich hatte ihr vorgeschlagen, mit mir gemeinsame Sache zu machen. Aber das hatte nicht geklappt. Sie hat nicht das Zeug zum Callgirl. Zu konventionell. Zu skrupelvoll.“
„Und wusstest Du, wo sie ist?“
„Ich dachte, sie sei immer noch auf dieser Insel, auf….“
„Haiti.“
„Richtig, Haiti. Aber jemand hat dem Alten gesagt, er hätte seine Tochter im Oktober hier in der Stadt gesehen. Darum ist er zu mir gekommen.“
„Und?“
„Und da hat er einen auf die Birne bekommen. Mit dem Basketballschläger. Die Revanche, wie gesagt.“
„Warum hast Du Deinen Bekannten nicht davon abgehalten?“
„Krieg führen, Revanchen, das sind Männersachen. Ich halte mich da raus.“
„Und Du arbeitest immer noch als Callgirl?“
„Tja, was will man machen? Aber nur Teilzeit, Jean. An den Wochenenden. Interessiert?“
„Svetlana Dimitrove?“ Vor ihnen steht eine Polizistin. „Der Kommissar ist jetzt frei. Folgen Sie mir bitte.“
„Svetlana Dimitrove?“ Jean Murat blickt Nadia erstaunt an.
„Nadia ist mein Künstlername.“ Sie steht auf, zwinkert dem Inspektor zu und folgt der Polizistin.
*

Jean Murat ist im Büro Dr. Pochons in der Klinik.
„Sie ist ausgebrochen?“ Jean Murat steht fassungslos vor dem Schreibtisch des Psychologen. „Einfach so?“
„Ausgebrochen ist wohl nicht das richtige Wort, Herr Inspektor. Wir sind kein Gefängnis hier.“
„Kann man denn hier so einfach ein- und ausgehen?“
„Nein, kann man nicht. Das Gelände ich eingezäunt, der Zentraleingang ist, wie Sie wissen, bewacht.“
„Aber sie ist weg.“
„Ja. Sie war nicht in ihrem Zimmer heute Morgen.“
„Wie ist so was möglich?“
„Sie muss es gestern Abend gemacht haben. Die Patienten gehen, bevor um 22 Uhr die Gebäudetüren verriegelt werden, in den Park und rauchen dort ihre letzten Zigaretten. Eine Unart, ich weiß. Aber was wollen Sie machen. Die Türen werden erst um 9 Uhr morgens entriegelt. Und um 7 Uhr heute Morgen war sie nicht mehr da. Wir müssen davon ausgehen, dass sie sich gestern Abend hat ausschließen lassen.“
„Und das hat niemand bemerkt?“
„Niemand.“
„Und wie soll sie durch die Zäune durch?“
„Irgendwo wird sie wohl durchgekommen sein.“
„Haben Sie die Polizei informiert?“
„Wir haben Sie informiert, Herr Murat. Nicht in Ihrer Eigenschaft als Polizist, sondern als Ehemann.“
„Sie sollten die Polizei informieren. Offiziell, meine ich.“
„Ihre Frau war keine Gefangene, und sie ist nicht ausgebrochen. Sie ist nicht zurückgekommen und hat ihren Vertrag nicht eingehalten.“
„Was bedeutet das?“
„Dass sie nicht mehr zurückkommen kann, Herr Murat. Vergessen Sie ihre Sachen nicht, in ihrem Zimmer.“
„Sie schmeißen sie raus?“
„Sie hat uns verlassen, nicht umgekehrt. Haben Sie eine Ahnung, wo sie sein könnte?“
„Nein.“
„Hat sie noch Verwandte hier in der Gegend?“
„Die Eltern sind tot. Aber sie hat eine jüngere Schwester, die auf Guadeloupe eine Schule leitet.“
„Wo ist Ihre Tochter?“
„Bei meiner Schwester. Wir wohnen bei ihr, zurzeit.“
„Ja, nicht einfach, allein mit einem Kind. Bei Ihrem Beruf.“
„Ja. Wie weit sind Sie mit ihrer Bandlung?“
„Körperlich ist sie über ihre Abhängigkeit hinweg. Die mentale Seite sieht anders aus. Da braucht sie wohl noch eine ganze Weile. Der Fortschritt, den sie noch machen muss, hängt von vielen Faktoren ab. Von ihrem Therapeuten, dem Umfeld, den Personen, die sie umgeben. Sie, ihre Tochter.“
„Aurélie? Ausgeschlossen! Kommt nicht in Frage!“
„Dann ist sie verurteilt.“
„Sie ist verurteilt, weil Sie sie nicht zurückhaben wollen. Weil Sie sie rausschmeißen.“
„Sie scheinen sie um jeden Preis loswerden zu wollen. Sie wollen Ihre Frau bei uns deponieren, wie man einen Fernseher zur Reparatur deponiert.“
„Ich muss meine Tochter beschützen.“
„Sie müssen Ihre Frau beschützen. Vor sich, vor Ihnen, vor Ihrer Schwester. Ich werde Ihnen die Adresse eines Kollegen geben. Ein sehr guter Mann.“
„Ein Psychologe?“
„Nein, Elektriker.“ Dr. Pochon lächelt. „Ein Psychologe, natürlich. Für Sie.“
„Für mich?“
„Wenn Sie ihn aufsuchen, kann Ihre Frau zu uns zurückkommen. Ein faires Angebot, finden Sie nicht?“ Er schreibt einen Namen und eine Telefonnummer auf die Rückseite seiner Visitenkarte und reicht sie dem Inspektor.
Jean Murat liest. Robert Dufresne ? „Keine gute Idee“, sagt er.
„Ein sehr guter Mann“, wiederholt der Psychologe.
*
„Wie geht es Ihnen, Séraphine?“
Inspektor Murat sitzt neben dem Bett der jungen Frau. Er hält ihre Hand. Durch die geöffnete Zimmertür sind vom Gang die Krankenschwestern zu hören, die Tabletts mit den Abendessen austeilen.
„Zwischen besser und gut.“ Séraphines Kopf ist nun frei, kleine Pflasterstreifen verdecken die Wunden auf ihrem Gesicht.
„Schön. Je mehr ich von Ihnen sehe, umso besser gefallen Sie mir.“
„Ist das die neue Masche bei der Polizei?“ Die dunkelhaarige Krankenschwester kommt mit einem Tablett ins Zimmer. „Die Polizei, Dein Freund und Verehrer?“
Séraphine lächelt. „Was gibt es Neues, Herr Inspektor?“
Jean Murat zieht seine Hand zurück, räuspert sich.
„Nichts, leider. Ich habe die Zeiten überprüft. Es war offensichtlich in der Tat ein Unfall.“
„Hm, mir ist noch etwas eingefallen.“
Die Krankenschwester stellt das Tablett auf den Nachttisch und hilft der jungen Frau, sich aufzusetzen.
Jean Murat spürt, dass er im Wege ist. Er steht auf und stellt sich ans Bettende.
„Was ist Ihnen eingefallen?“
„Kurz vor der Kreuzung ist eine Steigung.“
„Ja, das habe ich gesehen.“
„Auf der Steigung hatte ich meinen Käfer abgewürgt.“
„Wie haben Sie das gemacht?“
„Anstatt zurückzuschalten habe ich hoch geschaltet.“
„Den vierten anstatt des zweiten Ganges?“
„Ja.“
„Und?“
„Abgewürgt.“
„Ja, ich hab’s verstanden. Und weiter?“
„Beim vierten Versuch ist er wieder angesprungen.“
„Das geht doch schnell.“
„Nicht, wenn der Motor abgesoffen ist. Ich habe zwischen den Versuchen gewartet. So hat man es mir beigebracht.“
„Und so mach ich das auch mit meinem alten Ford“, fügt die Krankenschwester hinzu.
Jean Murat geht auf und ab.
„Dann stimmt doch meine ganze Rechnung nicht!“
„Tut mir leid, Herr Inspektor.“
*
Als Jean Murat an diesem Morgen erwacht, bemerkt er als erstes den süßlichen Geruch seines eigenen Blutes. Er tastet nach der Nachttischlampe, schaltet das Licht an. Das Kopfkissen ist dunkelrot gefärbt, auf dem Bettlaken zeigen ihm große Flecken das Ausmaß seiner nächtlichen Blutung. Er erhebt sich und geht zur Badezimmertür. Aus dem Innern des Badezimmers hört er das Rauschen der Dusche. Er klopft an die Tür, bekommt keine Antwort, tritt ein.
„Odette?“
„Jean?! Das Bad ist besetzt!“ ruft seine Schwester hinter dem Duschvorgang.
Der Dampf der Dusche hat den Spiegel über dem Waschbecken taub gemacht. Jean Murat wischt mit einem Handtuch und sieht vor sich ein blutverschmiertes Gesicht.
„Wie siehst Du denn aus?“ Seine Schwester, in ein Badehandtuch gewickelt, steigt aus der Dusche.
„Nasenbluten“, erwidert er, dreht den Wasserhahn auf und wäscht sich das Blut aus dem Gesicht. Seine Hände zittern.
„Du musst zum Arzt“, sagt seine Schwester, nimmt die Haarbürste. Jean Murat antwortet nicht, reibt sich sein Gesicht trocken. Aus seinem Zimmer hört er sein Handy klingeln. Er eilt zum Telefon.
„Hallo?“
„Inspektor Murat?“
„Ja.“
„Bleiben Sie bitte am Apparat. Ich gebe Ihnen Inspektor Frange von der Flughafenpolizei Marseille.“
Es knackt in der Leitung. Jean Murat wartet, blickt auf das Blut vor ihm auf dem Bett.
„Jean Frange am Apparat. Inspektor Murat?“
„Ja. Was kann ich für Dich tun?“
„Wir haben hier einen Patrick Lassagne in Gewahrsam. Er möchte Dich sprechen.“
„Lassagne? Warum habt Ihr ihn festgenommen?“
„Er ist heute Morgen mit dem Flug aus Miami angekommen. Wir sind von unseren Kollegen aus Port-au-Prince informiert worden. Du weißt, wo das ist?“
„Haiti.“
„Ja. Dort ist seine ehemalige Freundin ins Koma geschlagen worden. In der Nähe des Flughafens, von dem Lassagne nach Miami abgeflogen ist. Wir vermuten, dass er es war.“
„Sylvie Carnet?“
„Ja.“
„Und wie geht’s ihr?“
„Immer noch im Koma. Was will der Lassagne von Dir?“
„Kann ich vorbeikommen?“
„Natürlich. Wann?“
Jean Murat blickt auf seine Armbanduhr.
„In einer Stunde?“
„Okay. Bis gleich.“
Jean Murat schließt sein Handy, geht ins Bad, wo sich seine Schwester, bereits angekleidet, schminkt.
„Kannst Du Dich heute Morgen um Aurélie kümmern?“
„Jean, das war eigentlich nicht geplant.“
„Odette, ich hab was Dringendes. Bitte.“
Odette seufzt. „Gut.“
„Um 8 Uhr in die Schule. Im Kühlschrank ist ihr Pausenbrot. Pack ihr einen Yoghurt dazu, und vergesse den Löffel nicht.“
*
Jean Murat sitzt am Lenkrad seines Dienstfahrzeuges, das Blaulicht auf dem Dach, ohne Martinshorn. Er fährt im Slalom durch den dichten Berufsverkehr der Autobahn. In den Nasenlöchern stecken blutgetränkte Zipfel eines Papiertaschentuchs. In einem Stau schaltet er das Radio ein. Im Schritttempo hört er den Frühnachrichten zu, trommelt ungeduldig mit den Fingern aufs Lenkrad. Ein Junge, der auf dem Rücksitz des Wagens sitzt, der neben ihm rollt, hat die Nase an der Scheibe plattgedrückt und blickt den Mann mit den roten Zipfeln in den Nasenlöchern an.
*
Nathalie Murat sitzt in einem Mietwagen, der in einer Seitenstrasse neben der Schule ihrer Tochter geparkt ist. Sie raucht, ist nervös. Als ihre Schwägerin mit Aurélie vor der Schule ihren Wagen anhält und Aurélie, den Ranzen in der Hand, aussteigt, zerdrückt sie die Zigarette im Aschenbecher. Ihre Tochter vermischt sich mit den anderen Kindern, die in die Schule strömen. Ihre Schwägerin fährt weg. Nathalie Murat steigt aus, überquert die Strasse und geht, dem Kinderstrom folgend, ins Schulgebäude.
*
Die Digitaluhr im Wagen Jean Murats zeigt 8:55. Er fährt auf einen Taxistand vor dem Terminal 1, schaltet den Motor aus, lässt aber das Blaulicht auf dem Dach. Er weiß, wo sich das Büro seines Kollegen befindet, geht zielstrebig auf die Passkontrolle zu. Passagiere, Tickets und Pässe in den Händen, leichtes Gepäck hinter sich herziehend, blicken ihn an. Jean Murat zieht die roten Zipfel aus seiner Nase, wirft sie in einen Papierkorb.
Pausenlos kündigen Lautsprecher An- und Abflüge an. Casablanca, Tunis, Köln, Dubaï, Montréal.
„Die Fluggäste Nathalie und Aurélie Murat werden dringend gebeten, für den Flug nach Point-à-Pitre am Schalter 26 einzuchecken. Nathalie und Aurélie Murat bitte zum Schalter 26. Letzter Aufruf für Nathalie und Aurélie Murat.“
Jean Murat bleibt, wie angewurzelt, stehen, beginnt zu laufen. Das Flughafenpersonal der Gepäckkontrolle versucht, ihn aufzuhalten, aber Jean Murat hält seinen Polizeiausweis hoch, schreit „Beiseite, Polizei, macht Platz“. Die Menschen weichen ihm aus, Jean Murat springt über Handgepäck, stößt Passagiere aus dem Weg. Er läuft zwischen die Kabinen der Passkontrolle hindurch, die Zollbeamten, verblüfft, wissen nicht, wie sie reagieren sollen. Hinter der Passkontrolle erblickt Jean Murat von Weitem den Schalter 26, an dem eine uniformierte Air-France-Hostesse der Frau entgegenblickt, die auf sie zugelaufen kommt, Pässe und Flugtickets in der Hand, ein Kind hinter sich herziehend. Jean Murat überspringt die Stufen der Rolltreppe, die zur Abflughalle führt. Wie von einer Kugel getroffen, bricht er plötzlich auf der Rolltreppe zusammen, das Gesicht blutüberströmt. Passagiere, die den reglosen Körper sehen, der am oberen Ende der Rolltreppe ankommt, schreien. Ein Flughafenangestellter spricht panisch in ein Walkie-Talkie. Eine Menschentraube bildet sich um Jean Murat. Nathalie Murat geht mit ihrer Tochter durch die Zubringergangway in das Flugzeug, dessen Eingang sich wenige Augenblicke später schließt. Die Zubringergangway trennt sich vom Flugzeug. Sanitäter drängen die Menschen zur Seite und verschaffen sich Zugang zum Körper Jean Murats. Sie drücken ihm eine Sauerstoffmaske auf den Mund, hieven ihn auf eine Bahre. Das Flugzeug mit dem Ziel Point-à-Pitre wird von einem Traktor in Rollposition geschoben. Die Sanitäter tragen den Inspektor durch die Wartehalle hindurch zum Krankenwagen, der vor dem Terminal 1 mit laufendem Motor und geöffneter Hintertür wartet. Das Flugzeug auf der Startbahn beschleunigt. Jean Murat wird in den Krankenwagen geschoben. Das Flugzeug hebt ab. Der Krankwagen braust mit heulenden Sirenen los.
Als die Stewardesse in 10000 Metern Flughöhe Nathalie Murat fragt, was sie zu Trinken wünscht, blicken sich die beiden Sanitäter an. Einverständlich schütteln sie Köpfe. Nathalie bestellt zwei Tomatensäfte. Ein Sanitäter schlägt mit einer Faust mehrere Male gegen die Fahrerwand. Die Sirene wird abgeschaltet. Der Krankenwagen verlangsamt seine Fahrt. Jean Murat ist tot.

Marina und Sarah




Auf dem Kärtchen, das wir alle im Flugzeug für die Passkontrolle ausfüllen mussten, kreuzte ich „Tourist“ an. Als Unterkunft schrieb ich „Pension Ara“, Port-au-Prince. Meine Schrift war wacklig, der Flieger befand sich bereits im Landeanflug, und die Stewardessen hatten die Kärtchen erst im letzten Augenblick ausgeteilt.
Meine Nachbarin hatte offenkundig Schwierigkeiten, die Rubriken auszufüllen. Mit dem Pass in der Hand guckte sie ratlos auf das weiße Kärtchen. Ich bot der jungen Haitianerin meine Hilfe an. Erleichtert reichte sie mir ihren Pass.
Ariane Bliss wurde am 4. Mai 1960 geboren, stand dort. Unmöglich. Diese Frau konnte keine fünfzig Jahre alt sein. Ich schaute sie an, verglich ihr Gesicht mit dem Briefmarkenphoto im Pass. Reist sie mit den Papieren ihrer Mutter? Egal, ich schrieb die Daten auf die Karte. „Wo werden Sie wohnen?“ fragte ich sie. „Na, Sie verlieren keine Zeit“, erwiderte sie belustigt.
„Nein, das ist es nicht“, versicherte ich ihr. „Das muss hier“ – ich zeigte mit dem Finger auf die Karte – „eingetragen werden.“
„Entschuldigung“, sagt sie. „Schreiben Sie einfach…“ Sie überlegte. „Schreiben Sie Hotel zum Goldenen Stern.“ Ich tat, was sie sagte.
„Tourist, Business, Arbeit?“
„Familie“, sagt sie.
„Familie steht hier nicht.“ Ich konnte bereits die Landebahn sehen. „Sagen wir mal Tourist, das kommt der Familie am nächsten.“
Ich steckte das Kärtchen in den Pass und gab ihr beides zurück.
„Danke“, lächelte sie. „Besuchen Sie auch jemanden?“
„Wenn man so will“, sagte ich. „Ich suche jemanden.“
„Familie?“
„Nein, eine ehemalige Freundin. Sie arbeitet in Port-au-Prince für eine ONG.“
„Eine ONG? Was soll das sein?“
„Eine nicht staatliche Hilfsorganisation“, sagte ich. „Wegen dem Erdbeben.“
Als das Flugzeug aufsetzte, presste sie ängstlich meinen Arm. „Entschuldigung“, sagte sie, als das Flugzeug ausrollte. „Ich fliege nicht so oft.“
„Ich kann mich auch nie ans Fliegen gewöhnen. Gänzlich gegen die Natur, des Menschen, meine ich.“
Wir rollten auf unseren Standpunkt zu, aber schon piepsten die ersten Handys; einige Fluggäste wollten bereits aufstehen und ihr Handgepäck aus den Ablagen nehmen, wurden aber von den Stewardessen streng zur Ordnung gerufen.
„Gibt es das Hotel zum Goldenen Stern wirklich?“ erkundigte ich mich neugierig bei meiner Nachbarin.
„Ja, zu mindest gab es es noch im letzten Jahr. Wer weiß, ob es noch steht.“
„Wie lange bleiben Sie?“ fragte ich.
„Kommt drauf an.“ Sie löste ihren Sicherheitsgurt. „Zwei, drei Wochen. Und Sie?“
Das Flugzeug hatte angehalten, ich sah durch das Bullauge die Treppe, die für uns herangefahren kam.
„Ein, zwei Wochen. Vielleicht weniger. Ich hab das Rückflugdatum offen gelassen.“
Obwohl das Flugzeug von Miami nach Port-au-Prince nur halb besetzt war, kam es zu dem gewohnten Gedrängel auf dem engen Gang. Jeder schien bestrebt, so schnell als möglich festen Boden unter den Füssen zu haben. Das Flugzeug bebte, die Fracht und das Gepäck wurden ausgeladen, während wir vorsichtig die Treppe hinab stiegen und zu Fuß zur Passkontrolle marschierten. Die junge Haitianerin mit dem Pass ihrer Mutter blieb an meiner Seite, eine Duty-Free Plastiktüte in der Hand. Sie hatte im Flugzeug wie ich Parfüm gekauft. Marina, die in der Pension Ara auf mich warten wollte, hatte damals „Paris“ benutzt. Und Frauen blieben, so dachte ich, ihren Parfüms treu. Angesichts des Anlasses, der mich zu Sylvie führte, hatte ich auf ein Geschenk für sie verzichtet. Alles zu seiner Zeit, und ein Geschenk schien mir in diesem Augenblick ein wirklicher faux pas zu sein, schlicht unangebracht.

Ariane Bliss wurde von einem älteren Paar, ich vermutete ihre Eltern, am Ausgang erwartet. Sie wünschte mir einen angenehmen Aufenthalt und fiel dem alten Mann in die Arme, den sie leidenschaftlich auf den Mund küsste.
Ich hatte schon viele Flughäfen im Leben gesehen, doch noch nie so einen wie diesen hier. Die Papierkörbe waren überfüllt, die Schnüre der Telefonkabinen waren abgerissen, Scheiben eingeschlagen. Hier und da schliefen, gegen Vitrinen geschlossener Andenkengeschäfte gelehnt, Menschen, die offensichtlich noch nie in ihrem Leben ein Flugzeug bestiegen hatten. Kaugummi kauende UN-Soldaten patrouillierten in den Gängen, schwarze Maschinenpistolen auf den Rücken. Vor dem Flughafengebäude lungerten in Joggingkleidung und Turnschuhen junge Männer, saßen auf den Kühlerhauben alter, gelber Mercedes-Taxen, palaverten und zogen an selbstgedrehten Zigaretten. Ich ging auf eine der Taxen zu. Zwei junge Männer unterbrachen ihre Unterhaltung.
„Pension Ara, kennt ihr die?“
„Wo soll die sein?“ fragte der längere von beiden.
„Irgendwo am Stadtrand“, gab ich an. Die beiden blickten sich an, schüttelten den Kopf. Der längere sprang von der Kühlerhaube und ging zu seinen Kollegen hinüber. Der andere blickte weg, zog an seinem Stummel.
„Ich hab’s“, sagte der längere, als er zurückkam. „Mach die Mücke“, forderte er seinen Freund auf. „Dollars?“
„Hab ich nicht“, sagte ich. „Euros. Wieviel?“
„Vierzig.“
„Für vierzig Euros kauf ich Dir Deine Kiste ab“, sagte ich.
„Für vierzig fahre ich hin, wo Du willst.“
„Ich will nur in die Pension Ara, am Stadtrand.“
„Steig ein!“ befahl er.
„Sag erst..“
„Steig ein.“
Er saß bereits im Wagen und fummelte an den Kabeln unter dem Lenkrad. Ich setzte mich neben ihn.
„Fünfzehn?“
„Okay für fünfzehn“, antwortete ich. Er lächelte, zeigte mir seine gelben Zähne.
„Ich heiße Kevin.“ Er reichte mir die Hand.
„Angenehm“, sagte ich und drückte sie. „Ich heiße Patrick.“

Die Fahrt dauerte knapp dreißig Minuten. Das Autobahnteilstück ging schnell in eine Bundesstrasse über. Wir wurden von einer schwarzen Auspuffwolke verfolgt, der Wagen stotterte, aber ich saß bequem in dem Sessel, den Kevin gegen den Beifahrersitz ausgetauscht hatte.
Die an uns vorbeiziehende Landschaft schien einem von Soldaten und Panzern bewachten Trümmerfeld ähnlich. Eingefallene Gebäude, eine Fabrik, von der nur noch die Fassade stand. Als wir in die Stadt einfuhren und Kevin das Tempo verlangsamen musste, wurde mein Fahrer nervös. Menschen gingen neben den Bürgersteigen auf den Strassen, Männer trugen Kisten und zogen Holzkarren, auf denen Gemüse lagen, Gasflaschen, Hühnerkäfige, in denen es flatterte. Als Kevin einmal stoppen musste, weil er nicht mehr weiterkam, presste ein Greis sein Gesicht an mein Seitenfenster und leckte mit der Zunge an der Scheibe. An einer Kreuzung prügelte sich eine Gruppe junger Leute. Zwei auf dem Bürgersteig postierte Blauhelme schauten der Schlacht wie einem Spektakel zu, lachten. Ich schrieb meine apokalyptische Wahrnehmung auf das Konto der Ermüdung, Achtundvierzig Stunden Flugzeugschlaf. Kevin dagegen schien ernsthaft beunruhigt.

Dann öffnete sich die Landschaft. Ich konnte vor uns den Ozean erkennen, einige Palmen mit vergilbten Blättern.
Kevin atmete erleichtert durch und fingerte einen Joint aus seiner Hemdtasche. „Zum ersten Mal hier?“ fragte er.
„Ja, zum ersten Mal in der Karibik.“
„Warum nicht Guadeloupe, oder Martinique? Warum kommst Du zu uns in die Misere?“ Das Haschisch roch angenehm süßlich.
„Das wäre zu lange zu erklären“, sagte ich ausweichend. Ich hatte keine Lust, ihm eine Geschichte zu erfinden.
Kevin stoppte vor einer Gemüseauslage, zerrte an den Kabeln, um den Motor auszuschalten und stieg aus. Ich sah, wie er einer bunt gekleideten, weisshaarigen, dicken Frau Fragen stellte. Sie wies, einen Zuckerrohrstengel kauend, mit ihren Armen in die Richtung vor uns.
Kevin kam zurück und schloss den Wagen kurz. „Gleich sind wird da.“
„Hast Du keinen Schlüssel für den Anlasser?“
„Noch nie gehabt, ich hab ihn so von meinem Cousin abgekauft. Geht auch so, oder?“ Er lachte. „Selbst ist der Mann!“ Sein Joint war ausgegangen. Ich reichte ihm mein Feuerzeug.

Schon damals, als wir uns in dem Völkerkunde-Museum in Marseille kennengelernt hatten, war Marina mir ein Rätsel. Sie stand vor der Vitrine mexikanischer Folklore, gekleidet, als wäre ihre nächste Station ein Nachtclub. Oder als käme sie aus einem Nachclub. Eine wunderschöne Frau. Die dichten, schwarzen Haare fielen ihr auf dem Rücken bis zur Hüfte hinab. Das tief dekolletierte Kleid zeigte mehr als es verbarg, und die wenigen Besucher zu dieser Tageszeit blickten auf sie, als wäre sie im Eintrittsgeld inbegriffen. Wie war es möglich, dass diese göttliche Kreatur bis zu ihrem zwölften Jahr nackt im kolumbianischen Dschungel herumlief und nach essbaren Früchten suchte, wie sie mir später im Hotel erzählen sollte? Sie las den Kommentar zu dem Totenkult Mexikos, der rechts an der Vitrine angebracht war. „Dia de Los Muertos“, entzifferte sie Wort für Wort, leise, aber immerhin so, dass ich es hören konnte.
„Ja“, meinte ich und stellte mich neben sie, „unser 1. November, aber auf den Kopf gestellt.“ „Wie meinen Sie das?“ fragte sie mich, als stünden wir bereits seit Stunden im Gespräch. „Na, wir trauern um unsere Toten, sie feiern sie in Prunk und Pracht, mit Musik und Tanz.“
„Woher wissen Sie das?“ Sie blickte mich fragend an.
„Das steht da“, erwidere ich und zeige auf den Kommentar der Vitrine.
„Ach“, sagte sie. „Danke.“
Ich begleitete sie zu den Pyramiden der ägyptischen Abteilung, las ihr die Kommentare vor. Sie lies sich Zeit, keine Spur von Eile, was nicht auffiel in einem Museum. In dem Restaurant im Erdgeschoss erholten wir uns von der Sararah, den Pygmäen und nordamerikanischen Indianern, zu denen ich ihr die Untertitel geliefert hatte.
Meine Sprache hätte sie auf Haiti gelernt, erzählte sie. Ein Bekannter unterhielte dort eine Pension, und dorthin würde sie, nach Marseille, zurückkehren.
„Woher kommen Sie denn jetzt?“ wollte ich wissen. „Von einem Boot“, sagte sie und erzählte, sie hätte die Yacht verlassen, um für ihren amerikanischen Freund Tabak zu kaufen, im Vieux-Port.
„Und stattdessen sind Sie ins Museum La Vieille Charité gegangen.“
„Tja, so ist das Leben“, lächelte sie.
„Wartet Ihr amerikanischer Freund nicht auf Sie?“
„Nehme ich an, aber ich geh nicht mehr zurück.“
„Sondern?“
„Alles zu seiner Zeit“, sagte sie. „Jetzt sitze ich erst mal mit Dir hier im Museum und trinke Kaffee.“
„Du weißt noch nicht, wohin Du gehst, nach mir?“ Ich war verblüfft.
„Nein“, erwiderte sie. „Ein Problem?“
Fünf Jahre war sie über die Ozeane gesegelt mit ihrem Amerikaner, der auf seinem Kontinent mit Pornofilmen reich und arbeitsmüde geworden war. „Fünf Jahre nur auf Wasser, kannst Du Dir das vorstellen?“
Konnte ich nicht, natürlich nicht. „Bei der letzten Hafenrundfahrt mit einem Freund war mir übel geworden, und ich hang die Zeit über an der Reling.“ Sie lachte. Ja, so sei es ihr bei der ersten Überfahrt von Haiti nach Guadeloupe auch gegangen. Dann, auf der Strecke nach Brasilien, wäre es besser gelaufen. Mit der Zeit gewöhnte man sich an alles.
Wir gewöhnten uns an uns in den darauf folgenden Stunden, und die Einladung ins Hotel schien uns beiden die natürliche Fortsetzung der Vitrine mit den nordamerikanischen Indianern. Wir entdeckten uns. Wir liebten uns. Ich erzählte von Marseille, sie vom kolumbianischen Dschungel, ich von meiner Tochter, sie von Joseph, dem Pornomann, dessen Gebiss eine regelrechte Goldgrube wäre. „Vielleicht hat er deshalb so wenig gesprochen“, überlegte sie. Aus Angst, der zwielichtige Faun der verschiedenen Häfen verwechselte seinen Mund mit einer Bijouterie. Leichte Beute für schwere Jungs.

Am vierten Morgen lag sie, als ich erwachte, nicht mehr neben mir. Auf dem Nachttisch fand ich eine Visitenkarte. Pension Ara, las ich. Haiti, Port-au-Prince. Kein Wort zum Abschied.

Kevin bremste vor einem weiß gekalkten Gebäude. „Hier muss es sein“, sagte er und kurbelte an seinem Seitenfenster. Ein Schild, auf dem Rot auf Schwarz Pension Ara gemalt war, gab ihm recht. Wir stiegen aus. Kevin nahm vom Rücksitz meinen kleinen Koffer und stellte ihn neben mich.
„Patrick!“ Vor der Eingangstür stand Marina und breitete die Arme aus. Sie hatte sich in all den Jahren nicht verändert, als gehörte sie zu den Menschen, in denen das Alter sich nicht heimisch fühlte. „Mensch, Tina Turner?“ Kevin starrte Marina fasziniert ans. Ich reichte ihm drei Fünf-Euro Scheine.
„Halt!“ rief Marina und kam eilig auf uns zu. Ein Wortschwall auf Kreolisch ergoss sich über meinen Fahrer. „Was ist, Marina?“
„Fünfzehn Euros für die Fahrt vom Flughafen ? Dreimal zuviel“, sagte sie.
„Ich hab ihm die fünfzehn versprochen und fünfzehn bekommt er.“
„Ich bin Dein Mann!“ rief Kevin erleichtert aus. „Wenn Du mich brauchst“, sagte er und steckte die Scheine ein, „ruf mich an.“ Er beeilte sich, in seinen Mercedes zu steigen, legte den Rückwärtsgang ein und verschwand hinter der ersten Kurve.
„Patrick!“ sagte sie erneut. Sie stand jetzt einen Meter vor mir. Ich nahm sie in den Arm und wollte sie küssen. Sie war schneller und legte ihren Zeigefinger zwischen unsere Lippen. „Geht nicht mehr, Patrick. Ich bin jetzt verheiratet. Und Mutter.“
„Herzlichen Glückwunsch, Marina! Wer ist der Glückliche?“ Ich griff sachlich nach meinem Köfferchen.
„Joseph“, antwortete sie. Ich folgte ihr vor das Haus.
„DER Joseph?“
„Nein, ein anderer“, sagte sie. „Ich erzähl’s Dir später. Lass uns erst was trinken.“
Sie setzte sich auf die Holzbank, die neben der Eingangstür stand. „Komm, setz Dich hierhin. José? Bring uns zwei Bier vors Haus!“ rief sie in die Eingangstür.
Die Pension, die Terrasse und die farbige Landschaft vor uns hatten mit der Apokalypse von unterwegs nichts mehr zu tun. Bis hierin war das Erdbeben wohl nicht gelangt, dachte ich.
„Wo lebst Du?“ fragte ich.
„Weiter unten“, antwortete sie und deutete vage in die Richtung des Meeres. „Zehn Minuten zu Fuß, aber wegen Joseph konnte ich Dir nicht anbieten, bei uns zu wohnen.“
„Eifersüchtig?“
„Andere Männer sind für ihn ein rotes Tuch.“
„Und wenn der Stier jetzt plötzlich hier auftaucht und uns zusammen sieht?“
„Keine Gefahr. Er hat Dienst am Flughafen. Er ist beim Zoll.“
„Weiß er von uns?“
„Was soll er von uns wissen?“
„Na, das Hotel, in Marseille.“
„Ich habe einen Zollbeamten geheiratet, und keinen Beichtvater. Marseille geht nur uns beide an.“
Die Tür öffnete sich, und ein alter Mann balancierte gefährlich mit einem Tablett, zwei Bierflaschen und zwei Gläsern.
„José, ich stell Dir Patrick vor. Patrick, das ist José.“
Wenn das Alter an Marina vorbeigeflogen war, dann hatte es sich in José förmlich eingenistet. Tiefe Furchen machten aus seinem Gesicht einen Schrumpfkopf. Er hatte keine Zähne mehr, das Kinn war vorgeschoben und auf seiner dunkelbraunen Kopfhaut verloren sich spärliche, dunkle Haarbüschel. Seine lebhaft funkelnden Augen passten nicht zu ihm.
„Herzlich Willkommen in der Pension Ara“, begrüßte mich José zahnlos und stellte das Tablett neben Marina. „Danke, José.“
„Soll ich es auf die Zimmerrechnung schreiben?“ fragte José Marina.
„José, Du kannst es Dir hinschreiben wo Du willst, aber nicht auf die Rechnung meines Freundes Patrick.“
„Aber Marina…“
„José!?“ Marinas Stimme klang bedrohlich.
„Zum Wohle“, seufzte José und ging gebeugt ins Haus.
„Dann mal zu uns.“ Marina füllte die beiden Gläser. „Auf Deine Sylvie!“
„Auf Deinen Joseph!“ Wir stießen an. „Wie hast Du ihn kennengelernt?“
„Du wirst es nicht glauben“, rief sie aus. „Er hat mich verhaftet, am Flughafen, als ich damals aus Marseille zurückkam.“
„Wie das?“
„Ich bin von Deinem Hotel in den Hafen gegangen, um von der Yacht einige Sachen und vor allem Geld zu holen.“
„Dein Pornomann war noch im Hafen?“
„Glaub mir, auch wenn ich erst im nächsten Jahr gekommen wäre, er wäre noch da gewesen.“
„Was hat er gesagt?“ erkundigte ich mich.
„Nichts. Er schnarchte betrunken in der Koje. Kurz und gut, ich raffte einige Sachen zusammen, ohne richtig zu sehen, was ich alles einpackte. Und als ich hier am Flughafen am Fliessband auf mein Gepäck wartete, stürzten sich die Spürhunde auf meinen Koffer wie auf ein rohes Stück Fleisch.“
„Und?“
„Zwanzig Gramm von seinem Haschisch. In meinem Schminkbeutel! Stell Dir vor! Sechzig Jahre stehen darauf, hier auf der Insel. Handschellen und das ganze Trallala. Und Joseph hat mich verhört. Als ich merkte, dass er mehr auf meinen Busen schaute als auf seine Schreibmaschine, wusste ich, ich war gerettet.“
Ich seufzte nostalgisch. „Wie ich Deinen Joseph verstehen kann“, sagte ich. „Und Ihr habt geheiratet.“
„Ja, das haben wir. Schluss mit dem ewigen Wasser und meinen Eskapaden in den Häfen.“
„Was?“ unterbrach ich sie, „Du warst auch in anderen Häfen in Museen?“
„Ihr Männer seid doch alle gleich!“ empörte sie sich. „Jeder hält sich für den ersten, einzigen und alleinigen Auserwählten. Sag bloß nicht, dass bei Dir Liebe im Spiel war.“
„Nein, war es nicht.“ Ich dachte an Sylvie. „Nein, Liebe war nicht im Spiel“, wiederholte ich bestimmt.
„Na siehste? Jetzt mal zu Dir. Warum suchst Du diese Sylvie?“
„Wir hatten einen gemeinsamen Freund. Und der ist tödlich verunglückt. Das will ich ihr sagen.“
„Wie lang ist das her? José?!“ schrie sie zur Tür, „mach uns einen Kaffee!“
„Dreißig Jahre.“
„Was? Der stirbt vor dreißig Jahren und Du kommst erst jetzt?“
„Nein, wir waren befreundet, vor dreißig Jahren. Das Unglück war am 28. Dezember.“
„Und wann hast Du diese Sylvie zum letzten Mal gesehen?“
„Vor dreißig Jahren.“
„Du hast es aber mit Deinen dreißig Jahren.“
„Mag sein, aber so ist es eben.“
José kam mit einer Kaffeekanne und zwei Tassen. „Zucker?“ Marina schaute mich fragend an.
„Ja, bitte“, antwortete ich.
„José, Du hast den Zucker vergessen!“
José schlurfte ins Haus und kam Augenblicke später mit einer Untertasse zurück, auf der mehrere Zuckerstücke lagen.
„Danke, José.“ Ich lächelte ihn freundlich an.
„Aber bitte Herr Patrick.“ Er schien mir dankbar zu sein.
„Sag mal, Marina, warum behandelst Du José wie einen Hund?“
„Tu ich das?“ Sie zuckte mit den Schultern.
„Ja, Du sprichst nicht mit ihm, Du bellst Befehle.“
„Ist mir nicht mehr bewusst“, sagt sie, zögernd. „Uns verbindet eine alte Geschichte. Wegen ihm bin ich damals aufs Wasser.“
„Mit dem Porno-Joseph?“
„Ja. Er wollte etwas, was ich ihm nicht geben konnte.“
„Ich verstehe.“
„Er war mal jünger.“
„Das liegt in der Natur der Sache. Und was wollte er, wenn ich indiskret sein darf?“
„Du darfst, Patrick. Er wollte mich.“
Wir schlürften beide an unseren Tassen.
„Du hast Glück“, sagte sie nach einer Weile. „Joseph, mein Zoll-Joseph, hat von einem Air-France Cargo gehört, der heute Nacht ankommt. Eine gewisse Sylvie Carnot..“
„Carnet“, berichtigte ich.
„Sylvie Carnet, ja. Sie soll morgen Vormittag den, den, wie hat er gesagt? Den Dispatch übernehmen. Sagt Dir das was?“
„Ja. Carnet ist der Name, den sie von ihrem Ex-Mann hat.“ Ich stand auf, ging in die Pension. José spülte unsere Biergläser und stellte sie in die Regale.
„José?“ Ich holte die verschmutzte Karte aus meiner Tasche, die Kevin mir im Taxi gegeben hatte. „Können Sie bitte das Taxi herbestellen, für Morgen früh um 9?“
„Wird gemacht, Herr Patrick.“ Er nahm die Karte und legte sie vor sich auf den Tresen. „Darf es sonst noch was sein?“
„Nein danke, José. Der Kaffee war hervorragend.“
Ich ging zur Tür hinaus. Es war urplötzlich dunkel geworden. Die Nacht hatte den Tag überfallen.


Ich bin zum Reisen zu alt, dachte ich, als ich am nächsten Morgen gerädert auf der Bank saß. Ich hatte besinnungslos geschlafen, und als ich aufwachte, weil José an die Tür trommelte, wusste ich nicht, wo ich war.
Trotz der zahlreichen weißen Quellwolken schien die Sonne heiß auf die Terrasse. Weiter unten, in der Richtung, die Marina mir am Vorabend gezeigt hatte, sah ich das dunkelblaue Meer, auf dem sich kitschig weißer Schaum kräuselte. Ich hörte Vögel rufen, von denen ich auch später nie die Namen erfahren sollte. Der Tag hatte schon lang vor mir begonnen. Der Tag beginnt mit dem Licht, würde Sylvie mir später sagen.
Hartnäckige Romantiker behaupteten, es gäbe Menschen, für die mit jedem neuen Tag ein neues Leben begönne. Daran habe ich Zweifel. Ich jedenfalls gehörte nicht und wollte auch nicht zu diesen Menschen gehören, die stets von neuem und von vorne anfangen mussten. Auch die noch romantischere Version, die empfahl, man sollte jeden neuen Tag wie seinen letzten leben, behagt mir nicht. Ich bestand auf mein Gestern und hoffe auf mein morgen. Nur beides gemeinsam ergab mir den Sinn für mein Heute.
„Gut geschlafen?“ José stellte eine Kaffeetasse neben mich. „Darf ich?“
„Natürlich“, entgegnete ich ihm. „Wie ein Stein.“ José nahm neben mir Platz.
„Kevin kommt in einer Stunde“, sagte er und tunkte sein Brotstück in seinen Kaffee. Als er es in seinen Mund führen wollte, fiel das Brotstück zurück in seine Tasse.
„Entschuldigung“, sagte er zu mir, „aber alles ist nicht mehr so einfach.“ Er stocherte mit dem Löffel nach dem Brot.
„Ja, ich weiss“, sagte ich.
„Kommt Marina zu Ihnen, heute?“ Ich blickte ihn an.
„Marina kommt und geht“, sagt er. „Meistens geht sie.“
„Sie hat es mir erzählt, ja. Gestern.“
José kicherte, kaute sein Brotstück. „Dass ich etwas wollte von ihr und sie deshalb mit ihrem Amerikaner wegsegelte?“
„Ja.“ Ich steckte mir eine zweite Zigarette an.
„Diese Marina. Nie um eine Geschichte verlegen.“
„José, ich kann verstehen, dass ein Mann nicht unempfindlich ist für ihren Charme.“
„Ja, in der Tat, das sind sie nicht die Männer. Aber Sie, Herr Patrick, Sie waren tiefer in ihrem Herzen als alle anderen.“
„Woher wollen Sie das wissen, José?“
„Sie hat es ihrem Vater erzählt.“
„Wem?“
„Ihrem Vater. Mir.“
„Sie sind Marinas Vater?“
„Mit Leib und Seele, Herr Patrick. Ich hätte gewollt, dass sie hier bliebe, in der Pension, um die sich ihre Mutter zu ihren Lebzeiten gekümmert hat.“
„Und sie wollte nicht?“
„Nein, sie wollte nicht. In die Welt wollte sie. Und die Welt hieß für sie so weit wie möglich weg von hier. Ein Jammer.“
„Aber nun ist sie wieder da.“
„Ja, wenn man so will. Da unten, auf dem Boot. Mit ihrem Joseph.“
„Der vom Zoll?“
„Ja. Der Polizist. Eines Tages, ich hatte sie seit Jahren nicht gesehen, stand sie plötzlich vor der Pension. Wie aus dem Boden gewachsen. In einem Stadtkleid. In Stadtschuhen. Ihre Handtasche am Arm. Sie stand da, als käme sie von einem kurzen Stadtbummel zurück. Hier bin ich, hat sie gesagt. Schön, habe ich geantwortet. Und sie ist ins Haus und hat Geschirr abgewaschen. Nie habe ich Fragen gestellt, nicht ein einziges Mal. Vielleicht hätte ich das tun sollen. Was meinen Sie, Herr Patrick?“
„Ich weiß es nicht, José. Und dann hat sie den Zoll-Joseph geheiratet?“
„Ja. Er kam zu mir, ein einziges Mal. Hat um ihre Hand angehalten. Können Sie sich das vorstellen? Er hat um ihre Hand angehalten, wie im vorigen Jahrhundert! Mensch Mann, das musst Du meine Tochter fragen, nicht mich. War auch das falsch, Herr Patrick?“
„Ich weiß es nicht.“
„Jedenfalls soll sie wütend wie eine Furie gewesen sein, als sie erfuhr, was ich ihm geantwortet hatte. Die beiden haben geheiratet, und seit dem behandelt sie mich wie Dreck.“
„Ja, das tut sie“, sagte ich.
„Aber sie ist meine Tochter. Solange ich weiterlebe, wird sie jung bleiben, und schön. Wenn ich einmal nicht mehr bin, wird sie von mir mein Alter übernehmen.“
Er stellte die Tasse ab, rieb sich schmatzend den Mund. Aus seinem Schrumpfkopf blinzelten lustig seine blauen Augen. „Aber von Ihnen hat sie mir erzählt.“
Er schlug mit der Faust auf seine Brust. „Tief drinnen waren Sie, wie niemand zuvor, und wie niemand danach.“
„Warum?“ fragte ich erstaunt. „Wir waren doch bloß einige Tage zusammen, damals in Marseille.“
„Tja, das weiß der Himmel“, antwortete er. „Fest steht, dass sie Lesen und Schreiben gelernt hat, nach Marseille.“
„Sie kann, sie kann jetzt lesen?“ stotterte ich.
„Tja, weiß der Himmel warum.“ Er stand auf. „Noch einen Kaffee, Herr Patrick?“
„Nein, José. Nein danke.“ Er verschwand im Haus.
Danke José, dachte ich.


„Fahr bitte zuerst geradeaus, zum Meer“, bat ich Kevin.
„Du bist der Chef“, sagte dieser und legte einen Gang ein.
Eine kurze Serpentinenstrasse führte direkt zu einer Bucht, in der eine abgetakelte, etwa zehn Meter lange Yacht schaukelte. Marina schrubbte das Deck; ein kleiner, nackter Junge war ihr ständig im Weg. Mir fiel ein, dass ich sie nicht nach dem Namen des Kindes gefragt hatte. Die Yacht hieß Sarah. Seltsam, einem Schiff einen Namen aus dem Alten Testament zu geben, dachte ich.
„Ist das nicht die von gestern, die Tina Turner?“ fragte Kevin und zog an seinem Joint.
„Ja, das ist die Frau von gestern“, sagte ich ihm. Marina hatte uns nicht bemerkt, sie war zu sehr mit ihrem Schrubber und dem Kind beschäftigt.
„Ich kenne die Bucht“, sagte Kevin zu meiner Überraschung. „Da ist vor Jahren ein toter Amerikaner angespült worden.“
„Woher weißt Du das?“ fragte ich ihn.
„Ging durch die Presse, damals. Soll ertrunken sein, stand da geschrieben.“
„Du kannst also lesen?“ Ich blickte ihn ungläubig an.
„Nein, aber die Frau meines Cousins, dem ich den Wagen abgekauft habe.“
„Was war denn so besonders an dem Tod eines Amerikaners hier auf der Insel?“ wollte ich wissen.
„Eigentlich nichts“, erwiderte Kevin. „Nur, dass dem Ertrunkenen jemand die Zähne rausgerissen hatte. Das machte Schlagzeilen, aber nur einen Tag lang. Es passiert jeden Tag Schlimmeres hier. Soll ich den Motor abschalten?“
„Nein“, zum Flughafen, Kevin. Ich musste an den zahnlosen Schrumpfkopf Josés denken.
„Zum Preis von gestern?“
„Wie viel nimmst Du für einen ganzen Tag?“
„Vierzig?“ Er blickte mich unsicher an.
„Okay, vierzig.“ Marina hatte uns bemerkt. Sie hob die Hand zum Gruß. Ich winkte ihr zu. Im Seitenspiegel sah ich, wie sie uns lächelnd nachschaute.

Um von der Apokalypse abzulenken, die wir durchfuhren, verwickelte ich uns in ein Gespräch. „Bist Du katholisch?“ fragte ich Kevin.
„Na klar Mann, kann man was anderes sein?“
„Dann weißt Du, wer Sarah war?“
„Die Frau meines Cousins, dem ich…“
„Ich weiß, ich weiß. Die Yacht, die wir gerade gesehen haben, heißt auch Sarah.“
„Mit der Tina Turner drauf? Mensch, das muss ich meinem Cousin erzählen.“ Kevin klopfte gegen das Armaturenbrett, das keine Geschwindigkeit mehr anzeigte. „Komm Schätzchen, lass mich nicht hängen“, beschwor er seinen Mercedes.
„Wer Abraham war weißt Du doch, oder?“
„Aber sicher.“ Der Tachometer zeigte 60 Stundenkilometer, Kevin war erleichtert.
„Sarah war seine hübsche Frau“, erklärte ich. „Und als der alte Abraham nach Ägypten kam, fürchtete er, die Schönheit seiner Frau könne ihm Unannehmlichkeiten einbringen, also gab er sie als seine Schwester aus.“
„Und deshalb heißt die Yacht Sarah?“
„Quatsch, Kevin. Mit der Yacht hat das nichts zu tun.“
„Warum erzählst Du mir denn das alles?“
„Warte, es geht noch weiter. Sarah und Abraham konnten keine Kinder bekommen.“
„Logisch, als seine Schwester.“
„Mensch Kevin, Du solltest weniger kiffen.“ Ich musste lachen. „Sarah dachte, es läge an ihr, und darum hat sie ihrem Mann eine andere Frau, ihre Dienerin, zugeschleust, damit er mit dieser ein Kind zeugte. Aber als sie Jahre später erfuhr, dass Abraham eben dieses Kind opfern wollte, machte sie dies krank, und sie starb.“
„Das steht da alles? In der dicken Bibel? Die hatten wohl auch gekifft, damals, meinst Du nicht?“
Wir waren bereits auf dem Autobahnzubringer. Weit vor uns konnte ich den Flughafenkomplex erkennen. Plötzlich war ich mir sicher. Die Geschichte Marinas war krumm. Sarah war verraten worden. „Sag mal“, fragte ich Kevin, „kannst Du Dich an den Namen des Amerikaners erinnern?“
„Sollte ich?“
„Hätte ja sein können. Kannst Du die Frau Deines Cousins fragen?“
„Mach ich Mann. Sarah hat ein Elefantengedächtnis. Und weißt Du, warum ich Kevin heiße?“ fragt er mich zurück.
„Erzähl.“
„Meine Mutter hat nur einen einzigen Film in ihrem Leben gesehen. Das letzte Testament, mit Kevin Costner. Die hat sich sofort in den verknallt.“

Kevin Costner, Tina Turner, Sarah und Abraham, Sylvie Carnet und Inspektor Murat, der ebenfalls glaubte, die Geschichte mit dem ertrunkenen Robert Dufresne wäre krumm, eine Grauzone, wie er meinte. „Bauen Sie nie auf eine Lüge in ihrem Leben“, hatte der Polizist gesagt, „sonst geht Ihre ganze Existenz vor die Hunde.“ Gab es denn überhaupt Geschichten, kleine oder große, die nicht krumm waren? Ohne Grauzonen? Oder sind sie alle doch nur schlecht und recht geradegebogen, um den Schein eines folgerichtigen Sinns zu wahren? Was, wenn das Gestern, an das wir uns erinnern, nicht stimmte? Was würde aus dem Heute, wie würde das Morgen aussehen? Sollten wir dazu verurteilt sein, immer nur zwischen den beiden hin- und her zu pendeln?

Die Ereignisse in den folgenden Tagen hatten Marina, die Yacht Sarah, José, ihren Vater, und den ertrunkenen Amerikaner mit dem goldenen Gebiss ins Vergessen gedrängt. Sylvie hatte den Tisch umgerissen, ich kniete auf dem Asphaltboden des Restaurants vor dem Flughafen von Port-au-Prince und sammelte die Münzen des Trinkgelds auf, das ich dem Ober gelassen hatte, der mir beim Einsammeln half. Ich sah sie mit ihrem UN-Lover davonfahren. Sie hatte sich nicht zu mir umgedreht. Aus uns waren geschiedene Menschen geworden, ihr Haar im Fahrwind des davonbrausenden Jeeps, ich auf den Knien.
„He Mann, so schlimm steht es um Dich?“ Ich bemerkte die Turnschuhe Kevins und blickte zu ihm auf. Er grinste. „Schön, Dich wiederzusehen“, sagte er.
Ich übergab dem Ober die eingesammelten Münzen und erhob mich. „Kevin Costner, welch eine Freude!“ Ich reichte ihm die Hand.
„Ich hab mit Sarah, der Frau meines Cousins, der mir…“
„Kevin“, unterbrach ich ihn.
„Joseph Taylor, so hieß der Pornokönig aus den States.“
Ich blickte auf meine Armbanduhr. Noch zwei Stunden bis zum Abflug nach Miami.
„Bist Du frei?“ fragte ich Kevin.
„Für Dich immer“, antwortete er. „Wo soll’s hingehen?“
„Tina Turner.“
„Der alte Preis?“
„Der alte Preis“, sagte ich.

Im Schritttempo fuhren wird an der Pension Ara vorbei. José fegte die Terrasse, der kleine Junge, den Kevin und ich auf der Yacht gesehen hatte, saß auf der Bank und schaute seinem Großvater zu.
„Fahr weiter“, bat ich Kevin. „Zur Bucht.“

Marina lag bäuchlings mit nacktem Oberkörper auf einem blauen Badehandtuch. Ich zog meine Schuhe aus und ging auf dem Sand zu ihr. Kevin war im Taxi sitzen geblieben.
„Frau Taylor hat ihren Platz an der Sonne gefunden“, sagte ich und kniete mich neben sie. Sie drehte sich um und setzte sich auf, ohne Anstalten, ihre Brüste zu verbergen. „Patrick, ich wusste, Du würdest zurückkommen.“
„Du hast nicht gesagt, dass ihr auf einer Yacht wohnt“, sagte ich und zeigte auf Sarah.
„Hast Du Deine Sylvie gefunden?“
„Ja“, antwortete ich, „gefunden und verloren.“
„Wie hat sie den Tod Eures Freundes Robert aufgenommen?“ Sie steckte sich die Haare mit einem Bleistift hoch.
„Wenn ich nicht gewesen wäre, wäre Robert noch am Leben, meint sie.“
„Und hat sie recht?“ Wir schauen uns beide unbeweglich in die Augen.
„Natürlich“, sagte ich, „wenn ich nicht geboren worden wäre, wäre sie heute vielleicht mit ihm verheiratet und würde ihren Enkelkindern Geschichten vorlesen. Zum Beispiel die mit dem Haschisch in dem Schminkbeutel; oder die mit dem Amerikaner, der betrunken in seiner Koje lag, als Du auf die Yacht zurückkamst.“
„Patrick“, hob sie an.
„Marina“, unterbrach ich sie. „Ich habe nicht viel Zeit. Mein Flieger geht in 90 Minuten, und Kevin wartet dort.“ Ich zeigte mit dem Kopf in die Richtung des Taxis. „Gib mir eine Kurzfassung von dem, was passiert war, damals. Bitte.“
Sie ergriff das Oberteil ihres Bikinis und legte es sich an.
„Er schlief auf dem Deck, als ich kam, war aber nicht betrunken. Während ich in der Kabine die Sachen zusammensammelte, hörte ich plötzlich den Außenmotor. Er war in See gestochen.“
„Er wusste, dass Du an Bord warst?“
„Ja. Er wusste auch, dass ich mit Dir zusammen war. Er hatte uns beobachtet. Im Restaurant des Museums. Vor dem Hotel.“
„Und weiter?“
„Er sagte, er wolle an die spanische Atlantikküste segeln. Durch Gibraltar durch, Portugal entlang und rauf zur spanischen Küste, wo er ein Aufnahmestudio hatte, für seine Filme.“
„Immer noch Pornokönig?“
„Anfangs nicht, nein. Aber sein Geld war aufgebraucht, und Pornos waren das einzige Geschäft, von dem er was verstand.“
„Mit Dir?“
Sie antwortete nicht.
„Marina“, mein Flieger, mahnte ich.
„Ich bot ihm an, erst nach Haiti zu segeln, wo wir hätten heiraten können.“
„Du wolltest einen Pornokönig heiraten?“
„Ich wollte Zeit gewinnen, als erstes.“
„Gut. Und weiter?“ Meine Knie schmerzten, ich stand auf.
„Er war einverstanden. Ein paar Wochen später liefen wir hier ein.“
„Hier in diese Bucht?“
„Ja.“ Sie verstummte.
„Marina, hier in dieser Bucht ist der Körper von Joseph Taylor angespült worden. Ohne seine Goldzähne.“
Sie stand ebenfalls auf, zitterte. Ich hob das Badehandtuch auf und legte es ihr um die Schultern.
„Ich habe mit der ganzen Sache nichts zu tun“, sagte sie schließlich. „Als wir hier einlaufen wollten, wurden wir von einer Küstenpatrouille aufgebracht. Joseph, der Zoll-Joseph, war bei der Küstenwache, damals.“
„Und Ihr habt ihm die Zähne ausgebrochen und über Bord geworfen?“
„Nein!“ schrie sie, „so war es nicht.“
Kevin hupte. Ich blickte zu ihm hinüber. Er zeigte auf die Armbanduhr.
„Wie war es dann, Marina?“
„José, mein Vater…“
„Dein Vater steckt da auch mit drin?“ Ich packte sie an den Schultern, schüttelte sie. Das Badehandtuch rutschte von ihr ab und fiel in den Sand. Kevin hupte erneut, gestikulierte mit den Armen.
Ich ließ sie stehen, sammelte meine Schuhe auf und stapfte durch den Sand zum Taxi.
„José ist nicht mein Vater!“ schrie sie mir nach. „José ist Joseph. Joseph Taylor, mein Mann!“
Ich drehte mich um. „Und wer war der angespülte Amerikaner?“ schrie ich zurück.
„Irgendein Amerikaner“, rief sie. „Patrick, bitte glaube mir, bitte, bitte!“

Als wird an der Pension Ara vorbeifuhren, sah ich José mit seinem Schrumpfkopf auf der Bank sitzen. Er stocherte mit einem Löffel in seiner Kaffeetasse. Der kleine Junge saß nehmen ihm und blickte auf das vorbeifahrende gelbe Taxi. Er hob zum Gruß seine kleine Hand und lächelte zu uns hinüber.
„Gib Gas“, bat ich Kevin.
„Du bist der Chef“, erwiderte er und beschleunigte seinen Mercedes. Der Zeiger des Tachometers bewegte sich nicht. Als drohte er, uns nicht ankommen zu lassen.

Patrick und Sylvie


Als ich sie wiedersah, zum ersten Mal seit dreißig Jahren, stand eine andere Frau vor mir. „Was ist mit uns passiert?“ habe ich sie später gefragt. „Das Leben,“ hatte sie gemeint und hell aufgelacht, weil die Antwort gestohlen war, wie sie gestand. Aus irgendeinem Film herauszitiert. Da standen wir uns also gegenüber, an diesem Checkpoint am Eingang zur Hölle. So hat Kevin, der haitianische Taxifahrer, die Cité-Soleil genannt. Umringt von UN-Panzern, diversen Militärfahrzeugen und brasilianischen Soldaten. In einem Postkartensonnenuntergang.
Nichts von früher hatte sie hinübergetragen ins neue Alter, und wenn ich nicht gewusst hätte, dass sie es war, ich hätte sie nicht erkannt. Bis auf diese Geste, in die ich mich vor so langer Zeit auf Anhieb verliebt hatte: aus Überraschung oder Schrecken legte sie Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand an die Unterlippe.
„Was machst Du denn hier?“ fragte sie. Dies sei der letzten Punkt der Erde gewesen, an dem sie mich erwartet hatte, sagte sie später.
„Robert ist tot“, fiel ich mit der Tür ins Haus. Erneut ihr Zeige- und Mittelfinger an der Unterlippe. Zu mehr kam ich zu diesem Zeitpunkt nicht. Ein Unteroffizier sprach sie in Portugiesisch an, mahnte zur Eile. Ich ging zu Kevin und bedeutete ihm, umzukehren.
„Ruf an, Mann, wenn Du mich brauchst,“ antwortete er erleichtert und ließ seinen klapprigen Mercedes an. Ich stieg zu Sylvie in ihren Sanitäter-Jeep. In der Nacht war eine Chartermaschine der Air-France aus Paris mit Medikamenten gelandet. Die Ladung sollte nun in einem UN-Konvoi in die Mission mitten in die Cité-Soleil transportiert werden.
Ich war am Tag zuvor eingetroffen, eine regelrechte Odyssee von Marseille nach Paris, von Paris nach Miami und von Miami nach Port-au-Prince. Die Nacht hatte ich in der Pension Ara am Stadtrand verbracht. Marina, eine haitianische Freundin, die ich von Marseille aus kannte, hatte sie mir empfohlen. Ihr Mann arbeitete auf der Insel bei der Polizei und hatte herausgefunden, dass eine Sylvie Carnet den Dispatch der Ladung übernahm, die in der Nacht mit einem Air-France Cargo angekommen war.

„Wie ist es passiert?“ fragte Sylvie, die Hände am Steuer. Vor uns, im Stockdunkel, drei UN-Jeeps, hinter uns, zwei UN-Jeeps und ein weißer UN-Panzer.
„Er ist ertrunken, in seinem Brunnen“, sagte ich und schaute sie von der Seite an. Sie ist immer noch schön, dachte ich und fragte: „Woran hast Du mich wiedererkannt?“ „Wie kann man in einem Brunnen ertrinken?“ erwiderte sie, den Blick auf die Rücklichter des vorfahrenden UN-Jeeps.
„Er wollte wohl die Innenwände mit Zement abdichten und ist abgerutscht.“
„Wer sagt das?“
„Die Polizei. Ein unglücklicher Zufall, heißt es.“
„Ein unglücklicher Zufall? Komischer Ausdruck.“
„Ein Unglück“, korrigierte ich mich.
„Wann war das?“
„Am 28. Dezember.“
„Und deshalb bist Du hier?“
„Ich dachte, es sei besser Du erfährst es von mir.“
Sie schaute mich an, schwieg. Neben mir saß eine andere Frau. Vor dreißig Jahren war sie von zuhause ausgezogen, um mit Robert bei seinen Eltern zu leben. Von Roberts Eltern war sie ausgezogen, um mit mir zu leben. Und ich war von uns ausgezogen, weil ich sie in unserem Bett mit einem italienischen Liebhaber überrascht hatte. Und nun waren wir hier, im Stockdunkel eines anderen Ende der Welt. Sie schwieg immer noch.
„Wie lange bist Du schon auf der Insel?“ versuchte ich.
„Seit Mitte der achtziger.“
„Warum hier? Der Zeit der Muße folgt die Zeit der Buße?“
„Meinen Probeeinsatz hatte ich in Somalia. Sechs Monate. Danach hatte ich mich für Haiti beworben, und bin angenommen worden“, antwortete sie unbeirrt. „Mit Buße hat das nichts zu tun. Hättest Du Dir sparen können.“
„Tut mir leid, Sylvie. Ist mir so rausgerutscht.“
Der Konvoi fuhr langsamer. Vor uns tauchte die Mission auf, wie eine Oper von großen Scheinwerfern erleuchtet. Die Fahrzeuge hielten vor dem weißen Gebäude. Fenster und Türen waren vergittert. Die Soldaten sprangen aus den Jeeps, Maschinenpistolen im Anschlag.
„Herzlich Willkommen im Roten Kreuz auf Haiti“, sagte sie und schaltete den Motor ab. „Ich bin froh, Dich wiederzusehen, auch wenn ich diesen Augenblick immer gefürchtet hatte. Aber einmal musste es ja sein.“
Wir stiegen aus, Sylvie übernahm das Kommando des Abladens. Sie war gänzlich Herr der Lage.
*
„Du fliegst 6000 Kilometer, um mir zu sagen, dass Robert tot ist.“
„Ja. Hättest Du das an meiner Stelle nicht getan?“
„Ich denke nicht, nein.“
„Warum hattest Du unser Wiedersehen gefürchtet?“
„Ich weiß es nicht. Wir hatten nicht die Zeit gehabt, uns auseinanderzulieben. Es ging alles so plötzlich, damals.“
„Ja, Sich lieben kann dauern und ist oft gegenseitig. Sich trennen selten.“
„Wo bist Du damals hin, als Du aus der Wohnung gerannt bist?“
„Weg, einfach weg. Einfach durch die Strassen, die ganze Nacht. Und am Tag danach zu meinem Bruder.“
„Ich hatte auf Dich gewartet.“
„Mit Deinem Sergio?“
„Quatsch. Ich bin raus, hab alle Bistros abgeklappert in unserem Viertel.“
„Und wenn Du mich gefunden hättest?“
„Ich hätte es Dir erklären können.“
„Das bezweifle ich.“
„Es steckt immer noch in Dir drin, hab ich recht?“
„Was meinst Du?“
„Ich meine ja.“
„Nein, was meinst Du mit es? Es steckt immer noch in Dir drin.“
„Das, was Du damals erlebt hattest.“
„Das, was wir damals erlebt hatten.“
„Es war anders, als Du es heute immer noch im Kopf hast.“

Wir saßen da, in diesem riesigen Raum, der ihr als Wohn- und Arbeitsstätte diente. Die Brasilianer hatten die Kartons in den hinteren Lageraum verstaut und waren zum Checkpoint zurückgefahren. Lediglich der weiße UN-Panzer war geblieben und hielt Wache. Ich schaute ihr zu, wie sie unser Abendessen bereitete. Sie hatte ihren weißen Kittel ausgezogen, stand in Jeans und bunt kariertem Männerhemd an der Arbeitsplatte und schabte Möhren, schälte Kartoffeln und schnitt Zwiebeln. Meine Hilfe hatte sie abgelehnt. Im Wohnraum herrschte ein angenehmes Durcheinander, dessen System mir entging. Küchengeräte neben Büchern, Fachzeitschriften unter dem Schnellkochtopf. So war es schon, als wir zusammen lebten. Wenig Dekoratives, keine Bilder an den Wänden, nichts von dem, was anderen Sinn und Stimmung machte.
„Es gibt keinen Spiegel hier“, sagte sie. „Du musst Dich morgen früh blind rasieren.“ „Schön hast Du es hier“, antwortete ich. Sie lachte.
„Ich meine es ehrlich.“
Der Schnellkochtopf zischte, sie deckte den Tisch.
„Ich habe keinen Aperitif hier, nur einen Nachttrunk. Aber der hat es in sich. Neunzigprozentiger Haiti-Punsch. Sollen wir?“
„Wenn Du mir sagst, was ich heute immer noch im Kopf habe, kann es meinetwegen ein hundertprozentiger sein.“
„Willst Du Dir die Leber abfackeln?“
*

„Unser Gedächtnis lügt“, hatte Robert einmal gesagt, als er noch Politikwissenschaftler werden wollte. Er ist dann Psychiater geworden, hatte ein Pflegeheim für ausländische Waisen eröffnet. Das hielt einige Jahre. Er musste es wieder schließen, da einer seiner Schützlinge in dem Teich auf seinem Grundstück fast ertrunken wäre. Auch ihn hatte ich seit dreißig Jahren nicht gesehen. Aber das Bild Roberts, wie er über Monate hinweg nachts in seinem Auto saß und zu uns, Sylvie und mir, hinaufblickte, ist für immer in mein Gedächtnis eingekerbt. Vielleicht hätte ich es ihm gleich machen sollen, damals, als ich Sylvie nackt, auf dem ebenfalls nackten Sergio hockend, erwischte und panisch aus der Wohnung gerannt war. Denn dann hätte ich gesehen, wie kurz nach mir auch Sergio auf dem Haus kam, sich seinen Hosengürtel schnürte und frustriert zu unserer Wohnung hochblickte. Wie Sylvie ebenfalls aus dem Haus kam, meinen Namen in die Strassen schrie. Und vielleicht hätte ich geantwortet, zuhören, verstehen können. Warum sie, als sie mich bei meinen Eltern glaubte, meinen Namen vom Klingelbrett schraubte, meine Photos und Bilder abhängte und zu den anderen Möbeln in meinen Arbeitsraum einschloss. Warum sie, wie mein Gedächtnis mir sagte, mich auswischte. Sich ausprobierte, nannte sie es jetzt. „Nie hatte ich allein gelebt, immer wurde ich umgeben, von Eltern, von Robert, von Dir. Und das war auch gut so, ich hatte es gewollt. Nur einmal wollte ich sehen, wie es ist, ohne sie, ohne Dich. Nur einen Tag, eine Nacht. Wer bin ich, wenn ich nicht mit Dir bin?“

Hätte ich zugehört? Verstanden? Unwahrscheinlich. Vielleicht. Und vielleicht wäre es dann ganz anders gekommen, für sie, für mich, für uns, für Robert. Aber so, weg war ich, eine Querstrasse nach der anderen, gekotzt hatte ich, auf eine Bank einer Bushaltestelle, bis ich dann im Vieux-Port landete. Ich wartete auf den Morgen wie auf eine Guillotine.
In der Zeit danach war mir die Traurigkeit die einzige angemessene Empfindung. Der Preis hierfür war die Einsamkeit, aber ich hatte mich mit ihr abgefunden und verlor uns aus den Augen.
Ich sah nicht, wie Sylvie mit einer Kommilitonin, einer gebürtigen Russin, die wie sie in einem Pharma-Studium steckte und dem ganzen Campus den Kopf verdrehte, als Callgirl in Marseille ihren Körper verscherbelte.
„Verscherbelt“ sage ich, denn sie, ein Glas Haiti-Punsch in der Hand, sagte als „Callgirl arbeitete“. Wie andere als Buchbinderin, als Malerin, als Schreinerin. Ein Handwerk. Das sie lernen musste. Nadia, die gebürtige Russin, unterwies sie in der Art, zu lieben. Denn darum ging es: Nicht tun als ob, sondern Spaß und Lust haben. Der Herr der Situation sein, dem Mann zeigen, wo’s lang ging. „Du allein bist die Quelle der Lust“, hatte Nadia ihr gesagt. „Und die Quelle seiner Lust. Lass dir nichts aufdrängen, behalte die Initiative. Will er Hand an sich legen will, während du ihn abküsst, halt ihm die Finger fest. Du bestimmst, wann was gemacht wird. Gewinnt er die Oberhand, dann ist Gefahr in Verzug. Vergiss nicht, niemand beschützt uns. Wir brauchen keinen Mann, nicht als Schutz, nicht zum Verlieben. Die Lust, das sind wir, wir allein.“
„Prost“, sagte ich ihr mit einem Gesicht, als hätte sie mir in den Magen geschlagen. „Und, hat’s geklappt?“
„Am Anfang nicht. Mit den ersten dreien machte ich’s noch auf der alten Art. Er oben, ich unten. Ab dem vierten ging’s dann bergauf.“
„Bergauf. Unten, oben. Ist das Liebe?“
„Du hast Fragen!“ lachte sie. „Ich bin das geworden, was ich für Euch eh schon war: eine Nutte, ein Flittchen. Für meine Eltern wegen Robert und Dir. Für Robert wegen Dir. Für Dich wegen Sergio. Aber letztendlich war es auch gut so.“
Eine andere Frau, wie gesagt.
„Willst Du mehr hören?“
„Sag mir, wann Du damit aufgehörst hattest.“
„Ich hatte das Geld für die Apotheke zusammen.“
„Weiß ich, was und wie viele Männer eine Apotheke kostet?“
„Natürlich nicht. Außerdem war es das nicht.“
„Was war es dann?“

Nadia wohnte im 6. Stock eines Hauses am Vieux-Port. Die Kunden mussten, da kein Aufzug war, 120 Treppen steigen, um zu ihr oder Sylvie zu gelangen. „Das mussten wir bereits am Telefon sagen, denn einige waren schlecht auf den Beinen.“ Wenn Nadia Dienst hatte, saß Sylvie Wache, im Bistro gegenüber. Und umgekehrt. Das Zeichen: beide Fenster erleuchtet – keine Gefahr. Nur ein Fenster im Licht – es brennt. Noch nie hatte es gebrannt in den letzten zwei Jahren. Die Freier fraßen den beiden Frauen brav aus der Hand. Doch in dieser Nacht, Sylvie stand kurz vor dem zweiten Staatsexamen, lag ein Fenster im Dunkeln. Alles ging sehr schnell. Sylvie rief Fernand, den Kellner. Fernand holte den Basketballschläger hinter dem Tresen hervor. Beide rannten über die Strasse, stürmten die 120 Treppen hinauf. Sylvie schloss die Tür mit dem Zweitschlüssel auf. Fernand nahm die Wohnung im Sturm, wo Nadia gerade von einem nackten Mann an die Bettpfosten gefesselt wurde. Nach zwei Schlägen auf den Rücken riss der nackte Mann Fernand den Schläger aus der Hand. Ein Hieb reichte, und Fernand lag flach. auf dem Berberteppich. Sylvie stand noch in der Eingangstür, die Hand in der Handtasche, wo sie die kleine Gaspistole wusste, die sie sich teilten, Nadia und sie. Aber dazu kam es nicht. Während sich Sylvies Vater gemächlich anzog, rief Nadia Sylvie Entwarnung zu. Eine Glühbirne im Nebenzimmer war durchgebrannt. Sylvies Vater ging zur Wohnungstür, erkannte seine Tochter, schob sie zur Seite wie ein sperriges Objekt.
„Wir sprechen uns“, murmelte er und ging die 120 Stufen hinunter.

„Und da war’s vorbei?“
„Ja, das war’s. 743 Tage nach Deiner Flucht aus der Wohnung.“
Muss man im Pharmastudium gut im Zählen sein? 743 Tage, und das Geld für die Apotheke war zusammen. Sechs Monate später hatte sie André Carnet geheiratet, der ihr schon lange nachgestellt hatte.
„Wir sind nach Lyon gezogen, ich hatte mein Diplom in der Tasche, ein Jahr später hatte Lyon eine Apotheke mehr.“
„Was ist aus Nadia geworden?“
„Sie hat Xavier kennengelernt, einen Ober, ihn geheiratet, zwei Kinder bekommen und sich scheiden lassen. Vielleicht geht sie heute wieder auf den Strich.“
„So einfach ist das?“
„Ja, so einfach. Man muss es nur wollen.“
*

Ihre Erinnerungen waren in meine Träume eingedrungen. Im Schlaf wurde mir übel. Ich fand die Tür zur Toilette nicht, tastete mich durch den Raum zur Eingangstür und stolperte vors Haus. Die Scheinwerfer erleuchteten immer noch die Mauern der Mission. Einige Meter entfernt thronte der weiße UN-Panzer. Ein brasiliascher Wachposten sah unbeweglich zu, wie ich mich erbrach. Der haitianische Mond erleuchtete eine riesige Halde, ein unbeschreibliches Gemisch aus Trümmern, Dreck und Müll. Kevin hatte recht. Wenn es sie auch nicht war, so sah sie zumindest aus wie die Hölle.
*

Wir wurden von Toto geweckt, der Gehilfin Sylvies. „Der Tag beginnt hier mit dem Licht“, sagte Sylvie. Es war fünf Uhr, und sie stelle mich Toto vor. „Patrick, ein Journalist“, sagte Sylvie, ich wusste nicht warum. Toto, eine farbige Frau um die dreißig aus der Cité-Soleil, trug einen weißen Kittel, eine weiße Haube auf ihrem krausen Haar und grüne Gummistiefel an den nackten Füssen. Sie ging Sylvie zur Hand und bereitete den Kaffee. Ich rauchte draußen, vor dem Haus.

Was ich weder am Abend noch in der Nacht im Mondschein gesehen hatte: braune Wassertümpel in knapper Entfernung, in denen leere Pepsiflaschen schwammen und sich schwarze Schweine wälzten. Da sich die Mission sozusagen auf einer Anhöhe befand, konnte ich auf die Slums der Cité-Soleil hinunterblicken. Zwischen den wild aneinandergereihten Baracken begann es lebendig zu werden. Hühner flatterten umher, Kinder spielten bereits im Dreck, und Frauen hängten auf Schnüre, die die Baracken verbanden, Wäsche auf.
„Mein Reich“, sagte hinter mir Sylvie, zwei Kaffeetassen in der Hand.
„Warum sagst Du zu Toto, ich sei Journalist?“
„So hat Dich der Mann am Flughafen vorgestellt. Er sagte, ein Journalist wolle mich sprechen. Ich wusste ja nicht, dass du es warst. Wenn ich’s gewusst hätte, hätte ich Dich nicht zum Checkpoint geschickt.“
„Nein, sondern zum Teufel.“
„Hilfst Du uns beim Impfen?“
„Wogegen?“
„Tuberkulose.“
„Mein Gott.“
„Und Cholera.“
„Spitze.“

Wenig später trafen einige Jeeps mit UN-Soldaten ein. Vor der Mission wurde ein langer Brettertisch aufgestellt. Aus dem Lager holten Toto, Sylvie und ein Brasilianer einige Kartons und stapelten deren Inhalte auf den Tisch: reiner Alkohol, Spritzbesteck, Ampullen mit dem Serum. Sylvie zeigte mir an Toto, wie ich mit dem Alkohol und der Watte rechte Oberarme zu desinfizieren hatte. Wenig später kamen bereits, wie Pilger, die ersten Slumbewohner die Halde hoch. Trotz der frühen Stunde brannte bereits die Sonne. Es stank. UN-Soldaten sorgten dafür, dass sich die bunt gekleideten Frauen und Kinder geduldig zu einer Schlange formten. Männer konnte ich nicht ausmachen. Gegen Mittag rief Sylvie einen Soldaten und sagte ihm etwas in Portugiesisch. Ich sah, wie er nickte, seine Pistole aus dem Halfter nahm und mit einem weiteren Soldaten in Richtung der Tümpel marschierte. Dort angekommen, setzte er einem schwarzen Schwein die Waffe an den Kopf und drückte ab.
„Mahlzeit!“ entfuhr es mir.
Sylvie lachte. „Ich weiß, nicht ganz koscher die Hinrichtung, aber wirksam.“
„Das Vieh wollt ihr essen?“
„Heute Abend gibt’s Schwein, richtig.“
„Ohne mich.“
Die beiden Soldaten hatten dem Tier die Läufe zusammengebunden und trugen es, an einem dicken Ast baumelnd, zum hinteren Teil der Mission.
„Komm, lass uns eine Pause machen.“ Sylvie nahm meinen Arm, drückte ihn sanft. „Danke, dass Du uns hilfst. Ich bin froh, dass Du da bist“, sagte sie. „Hast Du den Punsch gut weggesteckt?“
„Den Punsch ja“, antwortete ich. Sie lächelte mich an.
„Es grenzt fast an Unanständigkeit, in der Vergangenheit zu wühlen inmitten von Menschen, für die es nur das Heute gibt. Das habe ich hier gelernt.“
„Ich habe Dich geliebt, Sylvie.“
„Ich weiß, Patrick, aber das ist Vergangenheit.“
„Wo ist Deine Zukunft, Sylvie?“
„Ich zeige sie Dir, heute Nachmittag im Dorf.“
„Im Dorf? Da unten?“
„Ja.“
*

Sylvie hat mich betrogen. Nicht mit Sergio, wie ich nun wusste. Auch nicht mit den hunderten danach, die ihr die Apotheke in Lyon finanziert hatten. Den Notabeln, den Politikern, den hohen Beamten, denen sie sich geöffnet hatte. Sylvie hat mich mit Robert betrogen. „Weißt Du, woran ich gerade dachte?“ hatte mich Robert gefragt, kurz bevor er in den Brunnen stürzte. „Ich dachte dass, wenn ich Euch damals abgeknallt hätte, ich heute bereits wieder aus dem Knast raus wäre. Ich wäre ein freier Mann! Lustig, nicht?“
„Finde ich nicht“, hatte ich erwidert. „Sag mir lieber, warum sie Dich sprechen wollte.“ „Sie wollte zurückkommen.“
„Zurück zu Dir, Robert? Dass ich nicht lache!“
„Tja, damit hast Du wohl nicht gerechnet?!“
„Weißt Du, woran ich grade denke, Robert? Wenn Du im Knast gesessen hättest, wäre das kleine Mädchen, das da in den Teich gefallen war, noch gesund.“
„Du sollst aus ihrem Leben verschwinden, für immer!“ hatte er wütend gezischt.

„Woran denkst Du?“ fragte Sylvie, als wir den Halde hinab stiegen, den UN-Soldaten, den Schweineschlächter, hinter uns.
„Muss der immer dabei sein?“ Ich deutete auf den bewaffneten Brasilianer.
„Das ist sein Job.“
„Wohin gehen wir?“
„Siehst Du die Hütte da?“
„Die mit dem Wellblechdach und der Regentonne am Eingang?“
„Ja.“

Ich begann zu verstehen, wie auf dieser Insel die eigene Vergangenheit ins Unbedeutende abrutschten konnte. Mit Relativieren, oder mit Ethik hat das nichts zu tun, nein, ich war nicht einverstanden mit Sylvie und dem, was sie Unanständigkeit nannte. Erinnern ist keine pure Rückwärtsbewegung, sondern will sich auch nach vorne graben, in die Gegenwart, in Projekte der Zukunft. Aber hier? Mit dem Ground Zero rundherum, dem Schutt, den Ruinen, dem Abfall und Schlamm? Ein Wunder, das hier und da noch Gras wachsen wollte, dass aus dem Geröll sich Bäume hervorwagten oder Vögel sich hierher verirren. Welches war die Sünde, für die diese Insel wieder und wieder bestraft wurde? Warum diese Seuchen, Orkane, Flutkatastrophen, Erdbeben, Korruptionen, Verbrechen, Hungersnöte?
Die Hütte, auf die Sylvie zuging, schien einen Bombenangriff überlebt zu haben. Weit und breit die einzige Behausung, bildeten zusammengenagelte Bretter einen Kasten, kaum zwei Meter hoch und fensterlos. Der Eingang war von schmutzigen Laken zugehängt, vor dem ein knochiger Hund, den Schwanz eingeklemmt, kauerte und in unsere Richtung knurrte. Sylvie sprach auf ihn ein, aber der Hund knurrte weiter. „Komm, er tut Dir nichts“, sagte sie zu mir und schob die Laken zur Seite. Der UN-Soldat öffnete sein Halfter und postierte sich neben den Eingang. Seine Pistole zog er nicht. Der Hund knurrte immer noch. Als ich an ihm vorbei in die Hütte ging, guckte er mich schief an. Ein geschlagener Hund mit abgewetztem Fell, dachte ich mir. Sylvie hätte mir diese Geschichten nicht erzählen sollen. Sie hatten sich wie ein Filter auf meine Augen gelegt, durch das ich nur Beklemmung sah.

Eine Petroleumlampe und die Ritzen zwischen den Brettern erhellten das Innere der Hütte. Es war stickig, der Rauch der Lampe stank nach Tran. Die Decke war zu niedrig für mich, um aufrecht stehen zu können. Gebeugt drückte ich die Hände der sechs Bewohner, die Sylvie mir vorstellte. Vitória, Paul, Sixtus, Edwige, Tony und der kleine Roger lächelten mich an, den Doktor Patrick.
„Jeder, der einen weißen Kittel trägt, ist hier ein Doktor“, flüsterte Sylvie mir zu.
Vitória, selbst noch ein Kind und Mutter Rogers, gab sie ein kleines Paket. Sixtus, dem zahnlosen Großvater, den Leinensack, in dem eine Lende des schwarzen Schweins gewickelt war. Sylvie hockte sich neben Roger. Ich setzte mich neben sie. „Roger ist mein Schützling“, sagte sie zur mir.
„Warum er? Es gibt doch tausende solcher Kinder hier.“
„Ich hab Vitória entbunden. In der Medizinschule, nicht weit von hier. Ich zeige sie Dir morgen, wenn Du willst. Wenn Du bleibst. Ich würde die Mission gern wieder in der Medizinschule haben.“
Vitória öffnete das Päckchen, das Sylvie ihr mitgebracht hatte.
„Eines von jeder Farbe einmal am Tag“, sagte Sylvie zu ihr und deutete auf die Pillen. „Wogegen sind die?“ fragte ich Sylvie leise.
„AIDS“, flüsterte sie zurück.
„Wie alt ist Roger?“
„Sechs.“
Sie streichelte dem Kind den Kopf.
„Heute Abend kannst Du nicht kommen, Roger. Aber morgen. Willst Du?“
Roger lächelte sie glücklich an.
„Dann bis morgen.“ Wir erhoben uns, ich stieß mir den Kopf an der Decke.
Der Hund war nicht mehr da. Wir gingen in Richtung Mission, die von der Hütte aus wie ein Tempel auf einem Hügel aussah. Weiße Quellwolken unterbrachen ein herrliches Blau. Es war immer noch heiß, Sylvie knöpfte ihre Bluse auf.
„Er hat es von seiner Mutter, Vitória.“
„Wo ist der Vater von Roger?“
„Ach, die Männer hier. Entweder bringen sie sich gegenseitig um, oder sie machen sich davon. Ich glaub, Vitória weiß selbst nicht, wer der Vater ist.“
„Kommen die Medikamente von dem Cargo?“
„Ja.“
„Wie lange werden sie reichen?“
„Nicht lange, und nur für Roger.“
*

Angefangen hatte dies alles vor drei Monaten. Im Oktober. Ich hatte die Kleine gerade ins Bett gebracht und ihr die Geschichte der beiden fallenden Blätter erzählt, die sie wieder und wieder hören wollte. Zwei Blätter – das eine bereits gelb, das andere noch grün – begegnen sich im Herbstwind während des Falls und sprechen miteinander, bevor beide, gerüttelt, geschüttelt, den Boden berühren.
Einmal in der Woche brachte meine Tochter die Kleine zu mir, weil sie zu ihrer Frauengruppe wollte. Ich hatte gerade die Weinflasche und den Korkenzieher in der Hand, als das Telefon klingelte.
„Hallo?“
„Patrick? Patrick Lassage?“
„Ja.“
„Hier ist Sylvie.“
„Sylvie?“
„Ja. Wie geht es Dir?“
„Warum fragst Du, nach all den Jahren?“
„Weil ich es wissen will.“
„Mir geht’s gut. Und Dir hoffentlich auch.“
„Ja. Was ist aus Dir geworden?“
„Ich bin älter geworden, Sylvie. Aber ich denke, dass es keine gute Idee ist.“
„Du hast immer noch nicht vergessen?“
„Nein, habe ich nicht.“
„Tut mir leid, Patrick. Weißt Du, wie ich Robert erreichen kann?“
„Klapperst Du Deine Ex-Geliebten ab?“
„Tut mir leid.“
„Das sagtest Du schon. Nein, ich weiß nicht, wie Du Robert erreichen kannst. Leb wohl, Sylvie.“

Ich hatte aufgelegt. Meine Handflächen schwitzten. Mit einem Schlag war alles wieder da, was ich so lange nicht erinnert hatte. Ein kurzer Anruf hatte gereicht. Ihre Stimme. Ihr Name.
Im Dezember wollte der Zufall, dass ich Robert begegnete. Auf der Suche nach der Villa des Schauspielers Antoine de Cone, der für meine Bank einen Werbespot drehen sollte, sah ich am Wegrand einen Mann, der einen Rosenstrauch beschnitt. „Die letzte Villa am Ende des Weges“, hatte er auf meine Frage geantwortet. „Die mit der großen Antenne auf dem Dach.“
Als ich weiterging, sah ich das goldene Namensschild am Tor seines Grundstücks. Robert Dufresne, Psychiater. Ich blickte mich um. Robert hatte seine Rosen verlassen und ging auf sein Anwesen zu, eine Orangerie. Es war ein sonniger, kalter Tag. Robert hatte noch 48 Stunden zu leben.
*

Sylvie saß mir gegenüber, ein halbgefülltes Weinglas in der Hand. Sie hatte sich ein langes, dunkelblaues, ausgeschnittenes Kleid angezogen. Toto war im hinteren Bereich des Raumes mit dem Braten beschäftigt. Vor uns flackerten drei Kerzen.
„Tut mir leid, Sylvie.“
„Wir werden doch den Rest unseres Lebens nicht damit verbringen, uns zu sagen, wie leid es uns tut.“
Sie zupfte an der Serviette vor ihr. Ich sah, dass sie weinte, rührte mich aber nicht vom Fleck.
Sie hatte mich aus Lyon angerufen, im Oktober. Wollte, wie sie sagte, nach dem rechten sehen, bei ihrem Ex-Mann und der Apotheke, die immer noch beiden gehörte.
„Was wolltest Du von Robert?“
„Das spielt nun keine Rolle mehr. Wie hast Du vom Tod Roberts erfahren?“
„Sein Nachbar, der Schauspieler, bzw. seine Tochter hat die Polizei gerufen“, log ich zur Hälfte.
„Ah.“
„Sag’s mir bitte, Sylvie.“
„Ich wollte ihn fragen, ob er Roger zu sich nehmen könnte.“
„Adoptieren?“
„Ja und nein.“
„Was heißt das, ja und nein?“
„Roger hat hier keine Chance, zu überleben. Die fehlenden Medikamente, seine kranke Mutter, das Leben in der verrauchten Hütte. Ich plane das schon seit zwei Jahren. Auf Martinique kenne ich jemanden, der für die Präfektur arbeitet und an Geburtsurkunden rankommt. Ich wäre über Martinique, mit Roger als meinem Sohn, nach Marseille gekommen.“
„Und Du wärst bei Robert geblieben?“
„Nur für die Zeit, die die Papiere gebraucht hätten.“
„Für die Adoption?“
„Für die Heirat und die Adoption, ja. Robert wäre sein Vater geworden, und ich wäre zurückgekommen.“
„Hierhin?“
„Ja, mein Platz ist hier.“
„Und Robert war einverstanden?“
„Einverstanden? Begeistert war er! Er wollte gleich damit anfangen, die Orangerie zu restaurieren.“
*

Der Schauspieler hatte den Vertrag unterschrieben, und ich ging zu meinem Wagen zurück. Als ich an dem goldenen Namensschild Roberts vorbeikam, stieß ich das Tor auf und ging auf die Orangerie zu. Das Grundstück vor dem Gebäude mit der Ockerfassade glich einer Baustelle. Leitern, Schubkarren, Zementsäcke und Schaufeln lagen dort verstreut zwischen den Sandhaufen. Rechter Hand machte ich den Teich aus, von dem mir die Tochter des Schauspielers kurz vorher erzählt hatte. Dort wäre fast das Kind ertrunken, als die Orangerie noch ein Waisenhaus war. Ich blieb am Teichrand stehen. Auf dem trockenen Betongrund erblickte ich, neben verwesenden Seerosenblättern, ein Kätzchen. Es hockte dort, zusammengekrümmt, und zitterte. Ich ergriff eine der herumliegenden Leitern, stieg in den leeren Teich und hob das Kätzchen auf. Als ich mich umdrehte, war die Leiter verschwunden.
„Bravo, Patrick hat seine gute Tat getan!“
Robert stand oben am Teichrand und grinste auf mich hinunter.
„Lass die Leiter runter.“
Robert antwortete nicht, stand und grinste. Ich zeigte auf das Kätzchen.
„Es gehört zu Dir, oder?“
„Rauchst Du noch?“
„Lass die Leiter runter, bitte.“
„Ich fragte, ob Du noch rauchst.“
„Sechs mal angefangen, fünfmal aufgehört.“
Ich öffnete meine Jacke und zeigte meine Brusttasche, in der eine Zigarettenschachtel steckte.
Robert ließ die Leiter herunter.
„Dein Glück, dass Du rückfällig geworden bist. Aber das wundert mich nicht. Willensstärke war noch nie Dein Ding.“
Ich stieg die Leiter hinauf, gab Robert das Kätzchen.
„Hattest Du es nicht vermisst?“
„Ein Wurf mit sieben Jungen. Ich zähle sie nicht ständig.“
Ich folgte ihm auf die Terrasse, wo in einem Korb die Katze lag und den Jungen ihre Zitzen bot. Robert legte das Kätzchen an den Bauch seiner Mutter.
„Außerdem zieht sie einmal am Tag um. Gestern war sie am Brunnen, heute ist sie hier. Hast Du mich wiedererkannt?“
„Nein, ich habe das Namensschild am Eingang gelesen. Und Du?“
„Deine Stimme. Noch verrauchter als früher, aber Deine Stimme.“
„Dann ist aus Dir also kein Politologe geworden, sondern Psychiater.“
„Kann man so sagen.“
„Soll die Welt nicht mehr verändert werden?“
„Wessen Welt?“
„Na, die Welt eben. Unsere Welt.“
„Meine Welt geht Dich nichts an. Wenn Du Deine verändern willst, kann ich Dir die Adresse eines Kollegen geben.“
„Was soll ich denn bei einem Psy?“
„Er kann Dir helfen, Sachen zu sagen, für die Du keine Worte hast. Zum Beispiel. Gibst Du mir eine Zigarette?“
„Früher sagtest Du, dass eine Sache, für die es kein Wort gibt, nicht existiert.“
Ich reichte ihm die Schachtel und das Feuerzeug.
„Ha, das waren noch Zeiten! Jeden Tag eine neue Gewissheit. Bist Du da stehengeblieben?“
Er zündete sich seine Zigarette an, nahm einen tiefen Zug, hustete.
„Ich bin das nicht mehr gewohnt.“
„Dann solltest Du es lassen.“
„Was ist aus Dir geworden?“
„PR-Studium und seit Jahren verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit einer Bank.“
„Du belügst die Leute öffentlich, damit sie Eure Kunden werden?“
„Ich erkläre den Leuten, was unsere Bank für sie tun kann. Damit sie bei uns bleiben.“
„Sagte ich doch. Und was, wenn Dir die Worte ausgehen?“
….
„Was wolltest Du von Antoine?“
„Er wird in einem Werbespot fürs Fernsehen spielen.“
Robert lachte.
„Dieser Antoine. Will sich tatsächlich die Küche neu einrichten.“
„Mit dem Geld, das er bekommt, kann er sich das ganze Erdgeschoss neu einrichten.“
Robert warf die Zigarette weg und zertrat sie.
„Sylvie war hier.“
„Tut mir leid.“
„Warum?“
„Nichts. Eine Redefloskel.“
Ich schwieg
„Willst Du nicht wissen, warum sie hier war?“
„Nein.“
*

Ich hatte mich an meine Ankündigung gehalten und den Schweinebraten nicht angerührt. Toto war gegangen, wir saßen am Tisch und tranken Kaffee.
„Jetzt weißt Du es“, sagte Sylvie und blickte mich über den Rand ihrer Tasse an.
„Warum er, und nicht ich?“
„’Ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist’. Erinnerst Du Dich?“
„Aber jetzt.“
„Robert ist tot.“
„Aber ich nicht. Meine Tochter hat ein Mädchen im Alter Rogers. Komm mit ihm zu mir, heirate mich, der Form halber.“
„Ich will Dich nicht mehr, auch der Form halber nicht.“
„Du schießt mit den Worten wie ein Sniper.“
„Ein Sniper ist ein Heckenschütze und schießt aus dem Verborgenen. Mach ich das? Verberge ich mich vor Dir?“
….
Sie beugte sich zu mir vor. „Habe ich Dich getroffen?“
„All die Jahre habe ich gemeint, unsere Trennung sei ein Irrtum gewesen.“
„Sagtest Du nicht, Du hättest mich vergessen?“
„Vergessen nicht, weggeschoben.“
„Was soll’s, vergessen, wegschieben… Nein, unsere Trennung war kein Irrtum. Du bist einfach weggelaufen und hast Dich versteckt wie ein verletztes Tier. Und heute, nach dreißig Jahren, traust Du Dich aus dem Busch. Du hast immer noch nicht losgelassen. War Deine Gegenwart in den letzten dreißig Jahren so dünn, dass Du Dich an das Vergangene klammern musstest, um nicht einzubrechen?“
„Mach es für Roger, Sylvie. Bitte.“
„Du willst nicht Roger, sondern mich. Und ich will Dich nicht.“
Ich streckte meinen Arm aus. Er lag auf dem Tisch, bot ihr meine Hand. Sie nahm sie nicht.
„Seit der Geschichte mit Sergio damals… Ich hatte keine Kraft mehr, mich neu zu verlieben.“
„Patrick, Patrick. Du bist so schwer. Aber das mit der Kraft will ich Dir gerne glauben. Nicht so, wie Du vielleicht denkst. Denn von dieser Kraft hast Du wahrscheinlich nie viel gehabt.“
….
„Soll ich Dich morgen zum Flughafen fahren lassen? Oder kommst Du mit zur Medizinschule?“
*

Den nächsten Morgen verbrachten wir damit, die anstehenden Frauen und Kinder gegen Cholera zu impfen. Ein einziger Mann war unter ihnen, ein Greis, der sich mit einer Krücke fortbewegte. Er fiel mehrere Male hin, raffte sich wieder auf und stand schließlich vor mir. Als ich ihm den Ärmel des Unterhemdes hochschob, um ihm den Oberarm mit Alkohol einzureiben, sah ich, dass er fast kein Fleisch mehr auf den Knochen hatte. Die Haut schien direkt auf sein Skelett geheftet. Der Greis sah, wie ich zögerte. Er sagte etwas auf Kreolisch zu der jungen Frau hinter ihm.
„Was sagt er?“ fragte ich sie.
„Er denkt, Sie meinen, es lohne sich nicht mehr.“
„Unsinn“, antwortete ich und tränkte die Watte mit Alkohol. „Zum Leben ist es nie zu spät. Sag ihm das, bitte.“
*

Am Nachmittag fuhren wir durch die Trümmer der Cité-Soleil. Ein Blauhelm saß am Steuer des Jeeps. Auf dem Beifahrersitz lag seine Maschinenpistole. Der Soldat schlängelte den Jeep im Slalom zwischen die Straßenlöcher hindurch. Sylvie und ich wurden hin- und hergeschaukelt. Wir sprachen wenig.
Circa hundert Meter von einem Platz entfernt wurde die Fassade der Medizinschule sichtbar. Unzählige Einschüsse zeigten, wovon Sylvie vorher gesprochen hatte. Ein regelrechter Krieg hatte sich hier vor nicht langer Zeit abgespielt. UN-Soldaten kämpften gegen bewaffnete Banden, zumeist junge Haitianer, die plünderten, mordeten und dealten. Offenbar waren die Übergriffe der Soldaten auf den Rest der Bevölkerung so grausam und zahlreich, dass in den Augen der Haitianer die UN-Beschützer zu Besatzern wurden. Wahrscheinlich, dass der Blauhelm, der am Steuer saß, ein Risiko einging. Aber auch für die europäischen oder amerikanischen ONG-Mitarbeiter, die sich wie wir von UN-Soldaten durch Haiti kutschieren ließen, war es nicht ganz ungefährlich. Denn den meisten ONG wurde vorgeworfen, sich selbst zu bereichern, anstatt Spenden und internationale Hilfsmittel an die bedürftige Bevölkerung weiterzuleiten. Dies war der Grund, wegen dem Sylvie darauf bestanden hatte, dass wir beide die weißen Rote-Kreuz-Kittel anbehielten. Noch stand das Rote Kreuz gut im Kurs bei den Einwohnern.
*

Ein Betonstein setzte der Fahrkunst des Blauhelms ein Ende. Er schaltete den Motor aus, legte den Helm ab und stieg aus dem Jeep, um den Schaden zu begutachten. In einer kleinen Strasse, die in den Platz mündete, spielten drei kleine nackte Jungen mit einer Konservenbüchse Fußball. Zwei junge Frauen saßen nicht weit von ihnen auf Blecheimern und schälten Kartoffeln. Direkt vor der Medizinschule prügelte eine Gruppe junger Farbiger auf zwei Jugendliche ein, den Oberkörper nackt, Cocacola-Mützen auf den Köpfen. Fausthiebe, Fußtritte, Schreie. Die zwei Jugendlichen konnten sich losreißen und wollten in den Eingang der Schule fliehen. Der größte der Angreifer, offenbar der Anführer der Gruppe, hob einen Baustein auf und schleuderte ihn auf die beiden. Einer der Jugendlichen wurde an der Schulter getroffen und ging zu Boden. Seine nackte, braune Schulter färbte sich schwarz. Der andere half ihm, sich aufzurichten. Beide stolperten ins Innere der Schule.
Die sechs Angreifer schienen sich mit der Flucht der beiden zu begnügen. Ich sah im Gürtel des Anführers eine Pistole. Sie schienen ihren Spaß gehabt zu haben, lachten und klatschten sich in die Hände.
„Die Vorderachse ist gebrochen“, sagte mir Sylvie.
Der Blauhelm saß am Steuer und beobachte wie wir, was vor der Schule geschah.
Wir sahen, wie die beiden Jungendlichen plötzlich aus dem seitlichen Erdgeschoßfenster sprangen und in unsere Richtung rannten. Der Blauhelm ergriff seine Maschinenpistole, Sylvie legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte ihm etwas auf Portugiesisch.
„Was ist?“ Ich blickte sie an.
„Er soll nichts machen.“
„Und wofür trägt er seine MP?“
Als die beiden Jugendlichen nur noch wenige Meter von uns entfernt waren, erblickte sie der Anführer. Er zog seine Pistole aus dem Gürtel und zielte erst auf die beiden Jungen, dann auf uns. Aber er drückte nicht ab, sicherte seine Pistole und steckte sie grinsend in seinen Gürtel zurück. Er sagte etwas zu seinen Freunden, zeigte in unsere Richtung. Schlendernd kamen sie auf uns zu. Einige hatten Eisenstangen in den Händen, zwei andere trugen, wie ihr Anführer, Pistolen.
Sylvie stieg aus dem Jeep und ging der Bande entgegen.
Die sechs jungen Männer umringten Sylvie, die auf sie einsprach, mit ihnen lachte. Einem von ihnen reichte sie die Hand. Dann öffnete sich der Kreis, und der Anführer blickte zu mir herüber. Sylvie bedeutete mir winkend, zu ihnen zu kommen.
*
Der Raum, in dem wir hockten, war früher eine Schulklasse gewesen. Auf einer Schiefertafel an der Wand konnten wir ungenügend weggewischte anatomische Kreidezeichnungen sehen. Wir saßen uns gegenüber, an die Wände gelehnt. Die jungen Männer blickten uns schweigend an. Ich hatte einen Notizblock und einen Kugelschreiber in der Hand.
Der Anführer schaute erst auf Sylvie, dann auf mich.
„Mein Traum war immer schon, ein Aufständischer zu werden und alle Regierungen der Welt zu bekämpfen, die ihre Völker unterdrückten.“
Zu Sylvie : „Warum schreibt er nicht, das Arschloch?“
„Ich schreib ja schon…. Völker unterdrückten.“
„In allen Ländern der Erde müssen Menschen sterben, damit die Dinge sich ändern.“
„Damit die Dinge sich ändern, ich hab’s.“
„Gut. Alle kennen mich hier. Sie wissen, wer Billy ist und wie er denkt.“
„Und Billy bist Du?“
Billy zu Sylvie: „Mensch, ist der hirnkrank, dein Kumpel?“
Die anderen lachten.
„Na klar bin ich Billy! Ich bin sogar Aristide begegnet, als er in die Cité-Soleil kam. Das verschlägt Dir die Schnauze, was?“
„Die Sprache. Das verschlägt mir die Sprache, ja.“
„Hast Du alles?“ erkundigte sich Billy irritiert.
„Alles.“
„Okay. Also : Viele hier waren Märtyrer Aristides. Wir waren 24 Anführer hier.“
„24 Anführer.“
„Ja. Jetzt sind wir nur noch vier. Die Ärmsten der Armen. Die Leute hier schlafen im Dreck oder neben den Latrinen. Wenn man bedenkt, wie ein Chef wie ich hausen muss, es ist eine Schande.“
Das Handy des Anführers klingelte. Er fingerte es aus seiner Hosentasche und nahm den Anruf an.
„Keine Provokation“, flüsterte Sylvie mir zu. „Ich kenne den kleinen da, mit der Narbe am Hals. Er war bei mir in der Mission.“
„Ich bin unter Freunden, und kann jetzt nicht. Es sind Weiße. Nein, scheiß Dir nicht in die Hose, du bekommst es. Morgen. Okay. Bye.“
„Wo waren wir?“
Ich blickte auf meine Notizen. „Es ist eine Schande.“
„Was ?“
„Wie ein Chef wie Du leben musst.“
„Die Leute hier behandeln uns wie Verbrecher. Wenn jemand eine Waffe trägt, ist er bestimmt ein Dieb und Mörder. Hast Du’s?“
„Ich hab’s, ja.“
„Ein Aufständischer ist jemand, der nichts besitzt, der Hunger hat. Ich bin 22. Seit zehn Jahren trage ich eine Waffe. Ich war mit den Chimären. Ein braver Soldat Aristides. Er brauchte nur zu pfeifen, und wir waren zur Stelle und drückten ab. Als Belohnung bekamen wir noch mehr Waffen. Keine Schule, nichts zu essen. Nur Waffen, damit wir da waren, wenn er pfiff..
Ich hasse alle Regierungen. Das einzige, worum es denen geht, ist die Macht. Ein Aufständischer zu sein ist eine Frage der Gesinnung. Wenn alle die richtige Gesinnung hätten, dann wären wir der Wahrheit ein Stück näher.“
„ Der Wahrheit näher.“
„Genau. Die Polizei macht nicht ihre Arbeit, sondern dealt. Man kommt hier leichter an Kokain ran als an Mehl. Die Regierung lügt, die Polizei lügt, die Sanatoren lügen und die Justiz sagt nicht die Wahrheit. Das einzige, was zählt, ist die Kohle. Es ist das reinste Chaos hier. Es gibt nur eine einzige Lösung für dieses Land. Die Atombombe für alle. Unterscheiden wollen zwischen den Guten und Schlechten ist Blödsinn. Die Grenzen zwischen beiden sind zu verschwommen. Nach der Bombe wird alles neu gepflanzt, neu bevölkert.“
„Wer soll die Bombe werfen?“
Die jungen Männer lachten laut.
„Dein Kumpel ist ein Spaßvogel. Wir natürlich!“
„Eine letzte Frage: was haben die beiden, auf die Ihr vorhin eingedroschen habt, getan?“
Sylvie blickte mich vorwurfsvoll an.
„Bist Du wirklich Journalist?“
„Na klar.“
„Hast Du eine Karte?“
Ich zog eine Visitenkarte aus der Brieftasche.
„Öffentlichkeitsarbeit?“
„Ja, so nennen wir jetzt den Journalismus bei uns.“
„Und LCI?“
„Les Courriers Internationaux“, sprang Sylvie ein. „Eine Wochenzeitschrift“.
Einer der Männer erhob sich, ging zu Billy und flüsterte ihm etwas ins Ohr, auf die Visitenkarte deutend.
„Gut, das war’s wohl. Was meinst Du, mein Freund, bist zu wert?“
Billy blickte mich provozierend an.
„Nichts, oder nicht viel“, antwortete ich.
„Patrick ist genauso viel wert wie die anderen, Billy. Vielleicht sogar mehr, als Journalist“, beeilte sich Sylvie.
„Und wenn er keiner ist?“
„Dann habt ihr mich.“
Billy erhob sich sagte etwas zu einem der jungen Männer, der den Raum verließ. Einige Augeblicke später kam er in Begleitung des Blauhelms zurück. Billy streckte ihm die rechte Hand entgegen.
„Hello my friend. The lady has a question for you.”
Gleichzeitig zog er mit der linken Hand die Pistole aus dem Gürtel, presste den Lauf an die Stirn des Blauhelms und schoss ihm in den Kopf.
*

Es war noch nicht Tag. Ich lag auf dem Rücken, die Arme hinter den Kopf verschränkt. Neben mir hörte ich die gleichmäßigen Atemzüge Sylvies. Als wir noch zusammenlebten, wachte ich meistens als erster auf. Ich hatte, wie jetzt, ihrem Schlaf zugehört, ihren Arm gestreichelt, ihre Brust geküsst. Draußen war es still. In den Oberfenstern unter dem Werkstattdach sah ich einige Sterne in dem schwarzen Himmelausschnitt.
„Bist Du schon oder immer noch wach?“ Sylvie hatte mir den Kopf zugewandt.
„Schon.“
„Guten Morgen, Patrick.“
„Schlaf weiter, Sylvie, es ist noch früh.“
„Ich kann nicht mehr.“
„Hast Du Angst?“
„Nein, und Du?“
Ich antwortete nicht.
„Seit ich auf der Insel bin, habe ich keine Angst mehr“, sagte sie, setzte sich auf und streckte sich. „Wahrscheinlich, weil all das, was ich hier sah, mit mir nichts zu tun hatte. Es ging mich etwas an, hatte aber nichts mit mir zu tun. Verstehst Du das?“
„Ja.“
„So gesehen bin ich geworden wie sie. Sie haben nichts zu verlieren. Bei uns spielen die Jungen in ihrem Alter Fußball oder am Computer. Hier spielen sie töten.
Einmal brachten sie mir einen von ihnen, dem eine Kugel das halbe Kinn abgerissen hatte. Es baumelte, nur von der Haut gehalten, über seinem Hals. Mit der rechten Hand klappte er es immer wieder nach oben, aber es hielt nicht. Er war vollkommen bei Bewusstsein, war zu mir in die Mission gekommen wie ein Kind eine Puppe in die Werkstatt bringt, der ein Arm fehlt. Hier bitte, reparier es. Keine Schmerzen, keine Angst. Er wollte noch nicht mal das Morphium, das ich ihm anbot. Reparier das, schien er sagen zu wollen, denn sprechen konnte er nicht mehr. Aber Angst? Hatte er nicht.“
„Und? Hat er überlebt?“
„Nein. Du hast nicht geantwortet. Hast Du Angst?“
„Wir waren Zeugen einer Hinrichtung.“
„Und Du meinst, sie fürchten, wir würden gegen sie aussagen?“
Sie kicherte. „Das ist denen piepegal. Zeugen oder nicht. Töten oder nicht.“
„Ich denke, ich habe trotzdem Angst.“
„Wie kann man Angst denken?“
Draußen krähte irgendwo ein Hahn. Ich blickte zum Oberlicht, in dem es hellgrau wurde. Bald würde Tag sein. Der Tag beginnt mit dem Licht.
„Du stolperst über jeden zweiten meiner Sätze.“
„Mag sein, vielleicht meine ich, Du redest um den heißen Brei herum.“
„Ich habe Hunger.“
Sylvie lachte. „Ein gutes Zeichen.“
Sie stand auf und ging zu den gestapelten Reifen im hinteren Teil der Werkstatt.
„Dreh Dich nicht um!“
Ich hörte sie urinieren. Dann ein Geräusch, als klappte sie den Klodeckel zu.
„Hast Du gehört?“ rief sie. „Das kommt von oben.“
Über uns hatte jemand eines der Oberlichter aufgekippt.
*
Zuerst hörten wir nur vereinzelte Schritte, dann Geräusche laufender Stiefel vor der Werkstatt. Befehle wurden auf Kreolisch gerufen, dann setzte das Feuer ein. Pistolenschüsse, Salven aus Maschinengewehren. Sylvie sprang auf, rannte zur Werkstatttor und versuchte, durch die Fuge zwischen Tor und Mauer nach draußen zu spähen. Ich folgte ihr.
„UN-Soldaten?“ fragte ich flüsternd.
„Glaube ich nicht.“
Eine Kugel durchschlug das Tor. Winzige Staubkörnchen tanzten in dem weißen Lichtstrahl. Sylvie drückte sich und mich gegen die Wand.
„Nach hinten, hinter die Reifen!“ Ich nahm eine Hand Sylvies und zerrte sie die Wand entlang in den hinteren Teil der Werkstatt.
Erst jetzt bemerkten wir, dass aus dem Oberlicht ein Seil baumelte, zu kurz für Sylvie, lang genug, dass ich es mit einer Hand zu fassen bekam.
„Du zuerst!“
Ich umschlang mit beiden Armen Sylvies Hüfte, hob sie hoch. Sie ergriff das Seilende mit den Händen, hisste sich ein wenig höher, hoch genug, um sich auf meine Schultern zu stellen. Jemand begann, an dem Seil zu ziehen. Sylvie stützte sich mit den Füssen an der Wand ab. Draußen wurde immer noch geschossen. Ich brachte mich hinter den Reifen in Sicherheit. Sylvie erreichte das Oberlicht. Ihr Körper verschwand in der Fensteröffnung. Ich wartete auf das Seil. Es kam nicht.
*
Eine Viertelstunde mochte vergangen sein. Ich starrte aufs Oberlicht, weitere Kugeln schlugen ein. Ich hörte Motorengeräusche vor dem Tor, Schreie. Dann sah ich das Seil. Sylvies Kopf tauchte im Oberlicht auf.
„Du musst es allein versuchen!“ rief sie mir zu. „Ich kann Dich nicht hochziehen.“
Ich zögerte keine Sekunde.
Als ich die Fensteröffnung erreichte, war ich am Ende meiner Kräfte. Mein Oberkörper lag auf dem Dach, während Hüfte und Beine noch im Fenster steckten. Nach Atem ringend, suchte ich Sylvie.
Sie hockte neben einem zuckenden Körper, sprach auf ihn ein. Ich war nun gänzlich auf dem Dach.
„Sylvie!“ rief ich. Sie blickte zu mir herüber.
„Bist Du okay?“ fragte sie mich.
„Ja. Hat er eine Kugel abbekommen?“
Geduckt kroch sie zu mir.
„Es ist der Typ, den ich in der Mission behandelt hatte.“
„Der mit dem abgeschossenen Kinn?“
„Nein, der ist tot. Komm, wir müssen hier weg.“
„Und wenn wir hier auf die Polizei warten?“
„Und wer sagt Dir, dass die, und nicht Billy und die anderen kommen? Komm, ich hab weiter hinten eine Feuerleiter gesehen.“
*
Sylvie und ich saßen auf einer hellen Holzbank in der Polizeistation. Eine Patrouille hatte uns in einer der Gassen mitten in der Cité-Soleil aufgelesen. Wir warteten auf den leitenden Offizier. An dem Empfangstresen stritten sich zwei Haitianerinnen mit einem Polizisten. Ein Ventilator an der Decke drehte sich so langsam, dass sich Fliegen auf ihn setzten. Ein Abrisskalender hinter dem Polizisten zeigte ein Datum an, das unmöglich stimmen konnte. Er war heiß. Das Telefon klingelte. Wir waren hungrig, hatten Durst. Der Polizist, der mit den beiden Frauen stritt, nahm den Telefonhörer ab, lauschte, legte auf. Er ging um den Tresen herum und kam auf uns zu.
„Bitte, der Kommissar ist jetzt frei.“
*
Der junge Mann, der uns hinter seinem Büro gegenüber saß, hätte in einer Folge von Miami Vice spielen können. Schwarzer Zweitagebart, die glänzenden Haare kurzgeschnitten, ein weißes Hemd auf einem kräftigen Oberkörper, einen protzigen Goldring an seiner feingliedrigen rechten Hand. Ein schöner, viriler Mann, der uns anlächelte.
„Dann ist ja alles noch mal gut gegangen.“
„Wenn man so will, ja. Zwei Tage, immerhin. Wie haben Sie uns gefunden?“ fragte Sylvie.
„Ein Informant. Aber wir hatten Billy schon seit langem im Visier.“
„Haben Sie alle gefasst?“
„Ja. Zwei leben noch. Billy und zwei andere sind tot. Plus der, der Euch den Strick zugeworfen hatte, auf dem Dach.“
„Der arme Kerl“, sagte ich. „Hilft uns und bekommt eine Kugel ab.“
„Ja, schade“, entgegnete der junge Kommissar. „Aber eine Kugel war’s nicht. Er hatte ein Messer im Hals. Aber was soll’s, wichtig ist, dass es gut ausgegangen ist für Euch beide, nicht wahr?“
Er sah Sylvie an. „Ich werde Euch in die Mission fahren lassen. Bitte unterschreibt hier, das Protokoll.“
Er schob uns ein Papier zu, das wir ungelesen unterzeichneten.
„Was ist mit dem toten Soldaten?“ erkundigte sich Sylvie.
„Die Armee hat ihn schon abgeholt. Vater von zwei Kindern, in Rio.“
Sylvie hob Mittel- und Zeigefinger an ihre Unterlippe. „Mein Gott.“
„Bleiben Sie mit Ihrer Mission auf der Halde, Frau Carnet. Hier an der Medizinschule können weder wir noch die Blauhelme Ihre Sicherheit garantieren.“
Er streckte uns seine Hand entgegen. „Auf Wiedersehen.“
„Herzlichen Dank, Herr Kommissar.“ Wir schüttelten ihm die Hand und verließen sein Büro.

„Was war auf dem Dach passiert, Sylvie?“ Ich steckte mir eine Zigarette an. Wir warteten vor der Station auf den Fahrer des Polizeijeeps. Sylvie schwieg.
„Gib mir auch eine“, sagte sie schließlich. Wir setzten uns auf die unterste Stufe der Treppe, die in die Station hinaufführte.
„Er wollte nicht, dass Du auch hochkommst.“
„Warum nicht?“
„Mich kannte er. Ich hatte seine Verletzung behandelt, damals in der Mission. Dich wollte er unten lassen.“
„Und?“
„Wir haben gestritten.“
„Ihr habt gestritten?“
„Es war ein Unfall. Ich bin auf ihn losgegangen und wollte das Seil haben. Er hat das Messer gezogen, und wollte es abschneiden. Wir hatten uns beide im Seil verheddert, waren gestolpert, ich hatte das Messer zu fassen bekommen. Dann steckte es ihm plötzlich im Hals.“
Ich schwieg, warf meine Zigarette weg.
„Danke, Sylvie.“
„Es war keine Absicht.“
„Trotzdem Danke.“
Sylvie seufzte.
„Der Preis war zu hoch.“
„Das Lösegeld für uns?“
„Nein, sein Leben.“
*
Sylvie hatte beschlossen, dass es unser letzter gemeinsamer Abend würde. Im Jeep, auf der Rückfahrt zur Mission, hatte ich noch versucht, sie zu überreden. Ich könnte noch ein paar Tage bleiben, ihr helfen. Oder wird könnten zusammen nach Martinique fliegen, uns ausspannen nach all dem. Sie war kategorisch geblieben.
„Nein, Patrick, ich möchte nicht.“
„Ein Glück, dass unser Kommissar von vorhin nicht vom Kaliber eines Jean Murats war.“
„Murat? Der Name sagt mir etwas. Wer ist Jean Murat?“
„Der Polizist, der Roberts Tod recherchiert.“
„Und?“
„Es ist fest davon überzeugt, dass ich damit was zu tun habe.“
„Und hast Du was damit zutun?“
„Nein. Nicht direkt.“
„Patrick, bitte. Was heißt nicht direkt?“
*
Robert saß auf dem Brunnenrand, eines der Kätzchen auf dem Schoss. Er rauchte.
„Wie Du siehst brauch ich Deine Zigaretten nicht mehr.“ Er tat einen tiefen Zug und blies den Rauch fast senkrecht in die Luft.
„Sag mir, was sie von Dir wollte.“
Robert lachte hämisch.
„Du sollst aus ihrem Leben verschwinden, für immer!“ zischte er wütend.
„Das hat sie gesagt?“
„Ja.“
„Dass ich nicht lache.“
„Sie wird hierher zurückkommen. Mit ihrem Sohn.“
„Sie hat einen Sohn?“
„Wir werden heiraten.“
„Robert, du lügst mich an.“
Er warf die Zigarette vor mich hin.
„Trete sie aus!“
Ich trat sie nicht aus, ging einen Schritt auf ihn zu.
„Du wirst verstehen, dass wir Dich nicht zu unserer Hochzeit einladen.“
„Hast Du ihr erzählt, warum Du das Waisenhaus schließen musstest?“
„Was geht Dich das an?“
„Dass ein kleines Mädchen in dem Teich fast ertrunken ist, weil Du unfähig warst, auf es aufzupassen?“
„Wir hatten Wichtigeres zu besprechen.“
„Wichtigeres als das Unglück eines geistesbehinderten Mädchens, das Du mitverschuldet hast?“
Ich war knapp zwei Meter von ihm entfernt. Roberts Miene verdüsterte sich. Er griff nach der Zigarettenschachtel neben sich, wobei ihm das Kätzchen entglitt. Ungeschickt versuchte er, es aufzufangen. Er verlor das Gleichgewicht und fiel, dem Kätzchen folgend, rücklings in den Brunnen.
Ich sprang zum Brunnenrand und blickte hinunter. Robert paddelte im Wasser, suchte nach dem Tier unter ihm. „Du bist ein Arschloch!“ rief er zu mir hinauf. „Mach, dass Du wegkommst! Hau ab!“
„Ich weiß, dass Du mich angelogen hast!“ schrie ich hinunter. „Sie hat Dich nie geliebt!“
*
„Und Du bist weggegangen?“
„Ja.“
„Du bist einfach so weggegangen?“
„Ja. Er lebte ja noch. Und die Leiter stand im Brunnen. Außerdem hat er mich weggejagt.“
Wir waren am Checkpoint angelangt. Der Blauhelm, der den Jeep lenkte, sagte etwas zu Sylvie und stieg aus.
„Wo geht er hin?“
Sylvie antwortete nicht. Schaute mich nicht an.
„Wo ist der Blauhelm hin?“ fragte ich erneut.
„Er ist wegen Dir in den Brunnen gefallen.“
„Wegen mir?“
„Wenn Du nicht dagewesen wärst, wäre Robert noch am Leben.“
„Es war ein Unfall, Sylvie. Ein Unfall. Schau mich an, bitte. Es war ein Unfall.“
„Und warum meinte Dein Polizist, dieser..“
„Jean Murat.“
„Warum meinte dieser Jean Murat, Du hättest etwas damit zu tun?“
„Jean Murat ist ein verdammter Skeptiker. Wenn etwas nicht grad ist, wird es zur Grauzone, in die er sich festbeißt. In der Grauzone versteckt sich der Wolf, ist sein Motto.“
„Was ist für ihn die Grauzone an Deiner Geschichte?“
„Er glaubt nicht an einen Unfall. Unfall ist wie Zufall, und Zufälle gibt es nicht.“
„Das sagt er?“
„Ja.“
Ein anderer Soldat, ein albino-blonder, junger Mann mit rosiger Kopfhaut, setzte sich ans Steuer. Er wandte sich zu uns um. „The guard has changed. Let’s go to the Airport, amigos.“
*
Mein Flug nach Miami hatte drei Stunden Verspätung. Ich checkte ein, steckte meine Boardcard in die Jackentasche. Sylvie wartete geduldig in der Halle, der Blauhelm war in dem Jeep vor dem Bistro geblieben.
„Ein letztes Glas?“ fragte ich sie.
„Ein letztes Glas.“
Wir verließen die Abfertigungshalle und setzten uns auf zwei unbequeme Aluminiumstühle an einen wackligen Aluminiumtisch der Terrasse des Bistros.
„Das war’s also“, sagte ich lapidar.
„Hast Du was anderes erwartet?“
„Vielleicht.“
„Dass ich Dir in die Arme falle, verzeih mir bitte, sage, und wir da weitermachen, wo wir uns damals verloren hatten?“
„Dann dürfte ich nicht an Deine Geschichte als Callgirl glauben.“
„Na ja, dazu ist es nun wohl zu spät.“
„Zum Leben ist es nie zu spät.“
„Du und Deine Sprüche.“
„Und wenn ich Dir nicht glaube?“
„Wenn Du was nicht glaubst?“
„Du als Callgirl.“
„Warum kommt denn der Ober nicht?! He!“ Sie erhob sich und winkte den Ober heran, der einige Tische weiter Espressos servierte.
„Sie wünschen?“
Wir bestellten zwei rote Martinis. Ich zeigte auf den Soldaten.
„Der Blauhelm ist geduldig“, sagte ich.
„Er ist Warten gewöhnt. Ein Lover ist Warten gewöhnt.“
„Lover?“ Ich lachte. „Daran glaubst Du doch selbst nicht!“
„Glaub, was Du willst.“
Der Ober brachte die Martinis. Ich zahlte und legte meine restlichen Münzen als Trinkgeld auf den Tisch.
„Und wie heißt Dein Lover?“
„Emilio.“
„Emilio? Brasilianisch?“
„Italienisch.“
„Mit den Italienern scheinst Du’s ja zu haben.“
„Emilio!“ rief ich dem Soldaten zu. „Emilio, willst Du etwas trinken?“
Der Blauhelm reagierte nicht.
„He, Emilio!“
„Hör auf damit!“
„Warum reagiert Dein Emilio denn nicht?“
Wütend erhob sich Sylvie und riss den Tisch um. Ich hielt mein Glas in der Hand; ihres zersplitterte auf dem Boden. Sylvie lief zum Blauhelm, nahm seinen Kopf in beide Hände und küsste ihm leidenschaftlich den Mund. Ich richtete den Tisch auf und sammelte, auf den Knien, die verstreuten Münzen ein. Sylvie stand über mir.
„Emilio wünscht Dir einen guten Flug.“
Sie machte kehrt, setzte sich neben ihren Albino-Lover. Ich war immer noch auf den Knien, als der Jeep abfuhr. Sie hatte sich nicht zu mir umgedreht.
*
„Das glauben Sie doch selbst nicht“, sagte der ältere der beiden Inspektoren, die mich an der Passkontrolle am Flughafen von Marseille abgefangen hatten.
„Fragen Sie den Ober! Er hatte mir beim Aufsammeln seines Trinkgeldes geholfen.“
„Na klar, wir fragen so eben mal einen Ober, der in sechstausend Kilometer Entfernung zu dieser Uhrzeit wohl in irgendwelchen Federn liegt.“
„Wenn ich es sage.“
„Und Sie sind dann in den Flieger und ab nach Miami?“
„Nein, ich hatte noch Zeit. Ich bin mit Kevin’s Taxi in die Pension Ara gefahren. Ich hatte noch etwas zu erledigen.“
„Pension Ara?“
„Wo ich meine erste Nacht verbracht hatte. Am Stadtrand von Port-au-Prince. Bei dem Vater einer Bekannten. Marina Taylor. Ihr Mann arbeitet bei der Polizei am Flughafen. Joseph Taylor. Der Vater heißt José. José Sanchez. Wissen Sie, wie es Sylvie Carnet geht?“
„Seit Sie sie ins Koma geprügelt und auf der Strasse liegen gelassen hatten?“
„Ich habe niemanden geprügelt. Schon gar nicht Sylvie, erst recht nicht ins Koma.“
Der Inspektor schrieb etwas auf einen Zettel und reichte ihn seinem Kollegen. „Lässt Du das überprüfen, bitte? Vor allem der erste auf der Liste.“
„Emilio? Keinen Nachnamen?“ Der zweite Inspektor blickte mich fragend an.
„Nein, kein Nachname. Aber ein albino-blonder italienischer Blauhelm dürfte doch nicht allzu schwer auszumachen zu sein, oder? Checkpoint Cité-Soleil. Darf ich telefonieren?“
„Mit Ihrem Anwalt?“
„Nein, mit Inspektor Murat, Jean Murat vom Kommissariat in Aix-en-Provence.“
„Nein.“
*
Sie hatten mich auf eine Bank in den Gang gesetzt und mir und einem Heizungskörper Handschellen angelegt. Fünfzig schlaflose Stunden waren seit meinem Abflug von Port-au-Prince vergangen. In Miami hatte ich fast meinen Anschlussflug nach Marseille verpasst. Schweißüberströmt war ich die Flugzeugtreppe hinaufgestürmt, die sie wegen mir nachträglich an den Flieger gefahren hatten. Die anderen Fluggäste, die wegen mir warten mussten, hatten mich vorwurfsvoll angeschaut. Sylvie lag zu diesem Zeitpunkt, wahrscheinlich noch bewusstlos, auf der Strasse, zusammengeschlagen. Oder im Krankenwagen, den ein Lastwagenfahrer gerufen hatte. Oder bereits im Krankenhaus in Port-au-Prince. Lautsprecher kündigten Abflüge nach Tunis an, nach Casablanca, nach Köln, Dubaï, Montréal.
„Die Fluggäste Nathalie und Aurélie Murat werden dringend gebeten, für den Flug nach Point-à-Pitre am Schalter 26 einzuchecken. Nathalie und Aurélie Murat bitte zum Schalter 26. Letzter Aufruf für Nathalie und Aurélie Murat.“

*
„Sie haben Glück.“ Der ältere Inspektor schob mein Handy, das Portemonnaie, meine Brieftasche und meinen Pass zu mir über den Tisch.
„Sylvie Carnet ist aus dem Koma erwacht und hat Ihre Aussage bestätigt.“
„Gott sei Dank!“ Ich lehnte mich erleichtert zurück. „Und wie geht es ihr?“
„Mehr wissen wir nicht.“ Er notierte einige Zahlen auf die Rückseite einer Visitenkarte, reichte sie mir. „Die Nummer des Krankenhauses.“
Ich nahm die Karte, dreht sie um. „Danke, Inspektor Frange.“
„Wenn ich sage, sie haben Glück, dann wegen Ihren Alibis.“
„Was heißt das?“
„Joseph Taylor von der Flughafenpolizei? Unbekannt. Idem für seine sogenannte Frau, Marina Taylor. Pension Ara? Geschlossen, niemand an Bord. Taxifahrer Kevin? Am Flughafen gibt es zwanzig Taxis, und alle Fahrer heißen Kevin. Emilio, ein italienischer Blauhelm? Es gibt keine italienischen Blauhelme, auf der ganzen Insel nicht. Und niemanden namens Emilio.“
„Und ein albino-blonder UN-Soldat?“
„Wird gesucht.“
„Und wenn… und wenn Sylvie nicht aus dem Koma aufgewacht wäre?“
„Sie haben Glück gehabt, Herr Lassagne. Es wäre sehr kompliziert geworden. Für Sie.“

Epilog


Pattrick Lassagne hatte die Beisetzung Inspektor Jean Murats aus einiger Entfernung beobachtet. Die Trauergemeine war vielköpfig. Polizeikollegen, der Polizeipräsident, einige städtische Abgeordnete und zahlreiche andere Zivilpersonen, unter ihnen die schwarz gekleidete Odette, die Schwester des Verstorbenen, gaben dem verdienten Beamten die letzte Ehre. Nathalie Murat befand sich nicht unter den Trauernden. Die erfuhr vom Ableben ihres Gatten auf Guadeloupe. Zu einiger eiligen Abreise war es, trotz vorteilhafter Zeitverschiebung, zu spät. Als Patrick Lassagne unbeobachtet den Friedhof verlassen wollte, bemerkte er zwei Alleen hinter dem aufgeworfenen Erdhügel Inspektor Murats die goldene Aufschrift eines Grabsteines. Robert Dufresne war dort, während des Aufenthalts Patricks auf Haiti, begraben worden. Da dessen Tochter Séraphine, die immer noch im Krankenhaus lag, sich nicht um die Beerdigung hatte kümmern können, erklärte sich deren Mutter bereit, die Formalitäten zu übernehmen. Nur wenige Trauergäste hatten der Beerdigung des Psychiaters beigewohnt: Sein Nachbar, der Schauspieler Antoine, und dessen Tochter Caroline; zwei Patientinnen, die bei Robert in Behandlung gewesen waren, und von denen eine, wie sie später zugeben sollte, das Straßenschild abmontiert hatte.

Im Juni des gleichen Jahres bekam Patrick Lassagne einen Brief von Toto, der Gehilfin Sylvies.

Port-au-Prince, den 15. Juni.
Lieber Herr Patrick!
Sylvie ist tot. Wenn Sie wüssten, wie schwer mir diese drei Worte fallen. Das Erdbeben hat sie überlebt. Die Entführung mit ihnen. Den Überfall des brasilianischen UN-Soldaten auf sie. Aber nicht die Krankheit, die bei der Geburt Rogers in sie eingedrungen war. Wir hatten damit gerechnet, natürlich. Ihre Medikamente bekam ja der kleine Roger. Aber das ändert an dem Schmerz nichts, den ich empfinde, während ich Ihnen diese Zeilen schreibe. Sie hat mich gebeten, es Ihnen zu sagen, wenn es vorbei wäre. Ich solle hinzufügen, es täte ihr leid. Sie wüssten schon, weshalb.
Leben Sie wohl, lieber Herr Patrick. Roger ist jetzt bei mir, in der Mission, oder bei mir zu Hause.
Ihre Toto Legrande.

Vier Wochen hatte Patrick Lassagne gebraucht, sich von dem Brief Totos und der Nachricht zu erholen. Sein Hausarzt bescheinigte ihm einen Burnout, seine Tochter, die für ihn einkaufte und kochte, musste ihn förmlich zwingen, Nahrung aufzunehmen. Am ersten Tag der fünften Woche spürte Patrick zum ersten Mal die morgendliche Juliwärme in seinem Körper. In der schlaflosen Nacht hatte ihn ein Gedanke nicht loslassen wollen. Immer und immer wieder war er zurückgekommen und hatte mit einem hoffnungsvollen „Warum nicht?“ geendet. Als er die Schlüssel in seiner Tür hörte, und seine Tochter fröhlich „Ich bins“ rief, war er bereits angekleidet. „Komm“, forderte er sie auf und nahm den Wagenschlüssel vom Brett.

Schon vom Tor aus konnten Vater und Tochter Séraphine erkennen, die vor der Orangerie mit einem Gartenschlauch die Bepflanzungen besprühte. Zögernd drehte Séraphine den Hahn zu, rieb sich die Hände an ihrer Latzhose trocken und ging den beiden in ihren Holzschuhen entgegen. Schweigend schüttelten sie sich die Hände.
Wortlos standen sie zwischen dem Gebäude und dem Brunnen. Schließlich räusperte sich Séraphine und bot Tee an.
Patrick nahm diese Einladung erleichtert und dankend an. Die zwei jungen Frauen verschwanden in der Orangerie und Patrick schritt zum Brunnen, dessen Öffnung mit Brettern zugenagelt war. „Sie hat Dich nie geliebt!“ hatte er in den Brunnen geschrien, als er das letzte Mal an dieser Stelle gestanden und sich über den Brunnenrand zu Robert hinuntergebeugt hatte. „Nie, hast Du gehört?“ Robert, dessen Kopf aus dem Wasser ragte, der zu ihm hinaufblickte, war erstarrt. „Sie hat es mir gesagt, jeden Abend, wenn Du unten aus Deinem Auto, so wie Du es jetzt machst, zu uns hinaufgestarrt hattest. Ein Glimmstängel in der Nacht. Ein roter Punkt, mehr warst Du nicht und bist es auch nie gewesen. Nie, verstehst Du? NIE!!“
Minuten lang hatten sie sich angeblickt, Robert unten im Loch, und er oben am Brunnenrand. Dann löste sich die Hand Roberts von der Leiter. Ein letztes Blubbern kam zu Patrick herauf, bis die Wasseroberfläche wieder glatt und schwarz wurde, ohne Robert. Ohne seinen Jugendfreund. Bestürzt war Patrick die Leiter hinunter gestiegen, hatte in dem Wasser gewühlt, umsonst. Einmal glaubte er, etwas zu fassen. Er hielt das nasse Knäuel des leblosen Kätzchens in der Hand. Patrick brüllte das schwarze Wasser an, war mit offenen Augen untergetaucht, ein Mal, zehn Mal, hatte mit seinen Füssen vergeblich nach einem Widerstand gesucht. Wie lange das alles gedauert hatte, wüsste er heute nicht mehr zu sagen. Festgestanden hatte jedoch eines: es war zu spät.
Séraphine rief ihm zu, der Tee sei fertig. Patrick ließ vom Brunnen ab, der Hals war ihm zugeschnürt. „Sie sehen blass aus“, meinte Séraphine, als er wieder vor ihr stand. „Es ist der erste Tag seit einem Monat, dass er wieder an der Luft ist“, erklärte seine Tochter und legte ihren Arm um ihn. „Ich habe an etwas gedacht“, hob Patrick an, “heute Nacht.“
Und Patrick erzählte den beiden jungen Frauen von seinem Plan, dem er in der schlaflosen Nacht den Namen „Stiftung Dufresne“ gegeben hatte. Berichtete von seinen Vorstellungen, das Projekt zu finanzieren, von Partnern, die die Orangerie unterstützen würden, dem Personal, das notwendig wäre, den Veränderungen auf dem Grundstück und in dem Gebäude, die künftige Unfälle ausschließen sollten. Sie saßen und debattierten zu dritt auf der Terrasse der Orangerie, tranken Tee und erwogen Für und Wider. Als Antoine, der schauspielernde Nachbar, und dessen Tochter, neugierig geworden von dem plötzlichen Leben auf der bislang so schweigsamen Orangerie, sich dem Trio hinzugesellten, war das Für einstimmig in der Mehrzahl. Der Abend brach früher als am Vortag herein. Die Katzen schnurrten an den Beinen der kleinen Gesellschaft. Weit hinten am Horizont, über den Dächern der Stadt, zwischen letztem Tageslicht und der hereinbrechenden Nacht, verkündete ein langgezogener roter Wolkenstreifen Sonne, Wärme und Hoffnung für den nächsten Tag. Und in dem gleißenden Licht der Scheinwerfer leuchtete die ockerfarbene Orangerie wie eine Mission im Orient. Sie jedenfalls würde über seine Scham und seine Schuld hinausleben. Sie und die beiden jungen Frauen, seine Tochter und die seines Jugendfreundes, würden auch ihn überdauern. Das neue, dreikäsehoch kurze, quirlige Leben rundherum aus allen Ecken und Farben der Welt würde triumphieren über das Alte, das Schwere, das Belastende, das Überkommende von heute und hier. Welches, um den Kopf über das Wasser zu halten, den Mund schon überschwemmt, die Bretter des sich zunagelnden Brunnens anschreit: „Nein, das hat sie nicht gesagt.“ Nein, das habe ich nicht gewollt.

Ein paar Worte noch




Wir denken, unser Leben spielt sich « der Reihe nach » ab. Sequenz für Sequenz, Minute nach Minute, Stunde um Stunde usf.
So entsteht Sinn, meinen wir. Die Summe logischer Abläufe von Ereignissen würde es eines Tages erlauben, uns zurückzulehnen, in ihnen zu blättern, Seite um Seite, und zu sagen, „Ja, das war es. Ja, so war es“.

Traumbilder, die zuweilen zu uns durchdringen, heben warnend den Zeigefinger. Sie bringen Unordnung in die Erinnerung, fügen zusammen, was wach nie zusammengehört hatte, heben die Zeit auf, zeigen, dass das, was uns wichtig erschien, vielleicht nicht mehr als eine Ansammlung von Nebensächlichkeiten war, die das Wichtige, das Wesentliche mit aller Vehemenz in den Hintergrund drängte. Und wenn es dann freigelegt wird, dieses „Wesentliche“, stellt sich heraus, dass es gar nicht so wesentlich war, wie ursprünglich angenommen, sondern die Kraft allein der Tatsache entnahm, verborgen gewesen zu sein.

Die Frage ist: Wie hat sich etwas tatsächlich abgespielt? Objektivität wird zu ihrer Beantwortung zitiert. Messgeräte, Uhren, Kalender, Historiker, modernste kriminalistische Spurensicherung, komplexe Rechenprogramme in Supercomputern und fleißige Navigationssysteme erhärten das Bild, das Wahrheit spiegeln soll. Wenn wir es dann betrachten, gefällt es und beruhigt uns. Doch insgeheim wissen wir, etwas stimmt nicht an ihm, zu viele Ecken sind rund, zu oft klaffen Schnittstellen auseinander, in Schuld steckt auch Unschuld, und umgekehrt, und im Falschen ist oft viel Wahres.

Alles, was oben beschrieben steht, entspricht Tatsachen. Nicht ausschließlich meinen, weniger noch Ihren. Und trotzdem bleiben es Tatsachen. Aneinander gefügt, wieder getrennt, gegenübergestellt, zeit- und personenversetzt sind sie nicht geschaffen, ein harmonisches Bild zu zeichnen, sondern eine Bewegung unter die Netzhaut zu schieben, die uns, vielleicht, das Sehen lehrt.

Die Orangerie, nach dem Erdbeben, weit weg von uns.


Impressum

Texte: Beim Autor
Tag der Veröffentlichung: 22.11.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Robert, Sylvie, Patrick, Nathalie und die anderen

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