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Niemand wird in eine Rolle hineingeboren. Mann oder Frau wird mit der Zeit, auch der Allmächtige musste sich hocharbeiten unter all den Göttern und Göttinnen, bevor er allein thronen konnte in dem All über allem.
Sicher, einzelne Schicksale überfordern ihn. Die liegen in unserer Verantwortung, jemand, der schwarze Löcher zu verwalten hat, kann sich schlecht in gleichem Maße um Trottel wie diese hier kümmern. Er legt die Missionen fest, die großen Richtlinien, die universale Sinngebung sozusagen, die Alles und alle zusammenhält. Um ausgeschraubte Glühbirnen kann er sich wahrlich nicht kümmern.
„Wer von Euch war es?“ frage ich eindringlich und gehe das Reih und Glied der Totengräber und der vom Arbeitsamt abgestellten Laubfeger ab. „Wer von Euch klaut die Glühbirnen?“ wiederhole ich. Sie schweigen wie ein Grab, blicken stur geradeaus. Nur der etwas klein geratene Erwin tritt nervös auf der Stelle und grinst mich schief an. „Was ist Erwin, weißt Du etwas?“ Erwin ist unterbelichtet, daran ändert auch die frische Luft meines Friedhofes nichts. Aber auch Erwin sagt nichts. Ich tappe im Dunkeln.
„Mit Verlaub, wir müssen noch die Parzelle 56 ausheben, Herr Verwalter“, sagt schließlich Kurt, den Spaten wie ein Gewehr bei Fuß. „Für elf ist die Trauergemeinde angesagt.“
„Gut“, sage ich, „passt auf, dass ihr den Erwin nicht wieder zuschüttet.“ Die Mahnung ist nicht unbegründet. Zwei Mal schon mussten wir den Zwerg wieder ausbuddeln. Er hatte von oben den schaufelnden Männern zugeschaut und selbst nicht bemerkt, wie er Spaten um Spaten neben dem entstehenden Grab zu einem Erdhügel wurde.
Dann werde ich mich wohl auf die Lauer legen müssen, denke ich und schraube die sechzig Wattbirne ein, die ich von zuhause mitgebracht habe. Niemand soll auf einem städtischen Friedhof ungestraft das öffentliche Licht stehlen. Nicht, solange ich hier das Sagen habe.
Pfarrer Lenhart übertrifft sich um elf. Seine Worte verbreiten Rührung. Auch uns, die in angemessenem Abstand der Zeremonie beiwohnen, steht das Wasser in den Augen. Das Kind, das in dem Eichensarg an einem Seil in seine letzte Ruhestätte hinabgelassen wird, wird vom Pfarrer dem Herrn empfohlen. Selbst Kurt, von mir mit dem Zuschütten beauftragt, schnieft während er schaufelt, anstatt wie gewohnt zum Flachmann zu greifen. „Wo ist Erwin?“ frage ich, plötzlich in Panik. Die anderen Blaumänner neben mir zucken die Schultern. Dann sehe ich ihn. Er steht, wie angewurzelt, an der Nachbarparzelle des Kindes. Er scheint mir noch winziger als er es ohnehin schon ist.

Pünktlich um fünf holt Schwester Amelie vom psychiatrischen Kloster nebenan Erwin ab. Hand in Hand gehen beide die Zentralallee hinunter, sie in ihrer prächtig wehenden Ordenstracht, er in seinem schlotternden Trainingsanzug, ein Schnäppchen, auf das Schwester Amelie stolz ist. Die Nonne hatte es in der Kinderabteilung des Kaufhauses im Schlussverkauf erstanden. Kurt verlässt als letzter den Friedhof. Ich bin nun allein mit meinen Toten, den jungen, den alten, den Männern, den Frauen. Besucher werden immer seltener. Die Liste mit den Gräbern, deren Pflege bei mir in Auftrag gegeben ist, wird immer länger. Schwarz, versteht sich. Das Einkommen städtischer Beamter ist bescheiden. Am Anfang, wenn das Grab und die Erinnerung noch frisch sind, kommen sie selbst. Gießkannen, Harken und Blumentöpfe in den Händen. Dann, nach einigen Wochen schon, klopft es an der Tür meines kleinen Wachhäuschens, ich setze meine offizielle Mütze auf und verhandle den Pflegepreis, den Rhythmus der Schnittblumen oder die Anzahl der Topfpflanzen, für die ich beim Gartencenter am Stadteingang einen ansehnlichen Rabatt bekomme, seitdem sein Gründer und letzter Inhaber in meiner Erde liegt. Kleine Nebengeschäfte, ich gebe zu, nicht ganz koscher. Aber eine Hand wäscht die andere, was zählt ist, dass Gräber und Andenken nicht verwahrlosen. Meine Weste ich rein. Das mit dem gestohlenen Licht hingegen ist Diebstahl, schlichtweg Diebstahl öffentlichen Eigentums. In der Remise meines Wachhäuschens lege ich mich auf die Lauer.
Er kommt im Schlafanzug. Geübt stellt Erwin einen Stuhl auf den Tisch, erklimmt Tisch und Stuhl und schraubt den Sechzigwatt Glaskolben aus der Fassung. Vorsichtig klettert er wieder hinunter und stellt den Stuhl an seinen Platz zurück. Ich glaube meinen Augen nicht, will aber sehen, was nun geschieht.
Erwin verlässt mein Häuschen und trippelt in Richtung des frischen Kindgrabes. Ich folge ihm lautlos, sehe, wie er neben das Grab niederkniet und die Glühbirne in die von Kurt platt geschlagene Erde schraubt. Ich bin fassungslos. Schon will ich auf ihn zugehen, ihn stellen und zurechtweisen, als plötzlich das Licht angeht, in der Sechzigwatt Birne, die auf dem Kindergrab wie eine strahlende Melone zu wachsen scheint. Andere Lichter auf anderen Gräbern folgen, und während wir in ein regelrechtes Lichtermeer eintauchen, ein Glühbirnen Feuerwerk sozusagen, klatscht Erwin in seine kleinen Hände und jubelt, überglücklich, den erleuchteten Gräbern zu.

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Texte: Cover: "artistic-surreal-photomanipulation-by-sarolta-ban-01" von jdxyw: http://www.flickr.com/photos/jdxyw/5168514923/
Tag der Veröffentlichung: 16.11.2011

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