Seit ich auf der Terrasse dieser Brasserie den Gästen Café, Tee oder Bier serviere, ist sie da. Die Frau mit den roten Schuhen. An denen ich sie wiedererkenne, noch bevor ich vor ihr stehe und zu ihr hinunterfrage, was es denn sein darf. Überflüssige Frage, denn tagein, tagaus bestellt sie immer das gleiche: einen Café, zwei Zuckerstücke und ein Glas Wasser. Bezahlen will sie sofort, und immer lässt sie fünfzig Cent Trinkgeld in dem schwarzen Unterteller aus Plastik.
Immer zur gleichen Tageszeit, stets zur gleichen Dauer. Geschlagene dreißig Minuten – nie eine Zeitung, kein Buch, keine Zigaretten.
Sie sitzt, die Beine übergeschlagen, und nippt, den kleinen Finger gestreckt, an ihrem Café.
Rote Schuhe an strumpflosen Füssen. Die Frisur, halblang und blond-braun gesträhnt, ist auf Volumen geföhnt. Hat sie das nötig? Ist ungeschminkt ihr Haar so licht, dass es sie schämt?
Wenn, dann ohne Grund, denn sie ist schön. Wobei etwas an ihr dafür sorgt, dass niemand sie anspricht, trotz der ringfreien Hände.
Wenn es das Geschäft erlaubt, und ich auf der Terrassenschwelle stehe, mit den Füssen wippe und nach neuen Gäste Ausschau halte, stelle ich mir vor, wie sie leben, meine Gäste, wo sie herkommen, was ihr Beruf ist, wie sie wohnen.
Bei ihr gelingt mir dies nicht. Ich schaue sie an, aber alle Bilder prallen von ihr ab. Ob es die Schuhe sind? Oder das gebauschte Haar? Ihre Augen sind braun, ihre Beine schön geformt, das Gesicht ist hübsch, eine hohe Stirn, diskrete Braunen, lediglich ihre Nase ist unproportional klein, eine Spitznase, wie es heißt.
Sie beobachtet die Leute. Die, die an der Brasserie vorbei in Richtung Altstadt strömen. Und die aus der anderen Richtung, aus eben jener Altstadt kommend, aber immer einen Schritt eiliger. Und die, die wie sie auf meiner Terrasse sitzen und sich sonnen.
Ich denke nicht, dass sie auf jemanden wartet, auch wenn sie ab und zu auf die Armbanduhr schaut. Und ich bin überzeugt, dass auch niemand auf sie wartet.
Ab wann ist ein Gast ein Stammgast? Roland, mein Patron meint, wenn er oder sie mit einem Handschlag begrüßt wird. „Aber immer unverbindlich bleiben. Zu große Vertrautheit führt zum Anschreiben. Herzlich, freundlich, aber unverbindlich.“ Er, der drinnen hinter dem Tresen steht, hat davon so einige. Mit der Terrasse, die mein Reich ist, verhält sich das anders. Und das ist mir recht. Laufkundschaft überwiegt, sie ist da eine Ausnahme. Sie gehört zum Bild, das sich der Holländer, der Deutsche, der Amerikaner und immer mehr Russen von der Terrasse einer Brasserie in Südfrankreich machen: Eine junge Französin, zwischen 25 und 30, hübsch anzusehen, allein an einem runden Tisch, nur damit beschäftigt, die Zeit verstreichen zu lassen; Das Stillleben einer Postkarte in schwarz-weiß, aus der das Rote ihrer Schuhe wie ein Sonnenuntergang herausleuchtet.
Einmal lacht sie laut: ein Einradfahrer mit kleinem Rücksack und langem Pferdeschwanz verheddert sich in der Menschenflut vor der Brasserie. Die Menge ist so dicht, dass es kein Hindurchkommen gibt, auch für ein Einrad nicht; es kippt schlicht um. Sie lacht so laut und so plötzlich, dass alle zur ihr hinüberblicken. Auch ich, und ich sehe ihre weißen, gleichmäßigen Zähne. Ich lache ebenfalls, unsere Blicke kreuzen und berühren sich. Wir sind die einzigen, die lachen. Die anderen haben in der Menge den Fall des Einrads nicht bemerkt.
Dies mag, nach fast neun Monaten, der Beginn unserer Freundschaft gewesen sein. Jedenfalls begrüßt sie mich am Tag danach, pünktlich wie gehabt, mit „Guten Tag, Xavier. Wie geht es Ihnen heute?“ Nicht wie geht’s, sondern wie geht es Ihnen heute!
Sie bietet mir ihre Hand nicht an „Es geht mir gut, danke. Und Ihnen?“
„Danke. Darf ich einen Café haben, bitte?“
„Zwei Zucker und ein Glas Wasser, kommt sofort!“ Ich mache kehrt, das leere Tablett in der Hand, die Serviette gefaltet über dem Arm.
Die Frau mit den roten Schuhen hat keinen Namen, braucht auch keinen. Unter Tausenden würde ich sie ausmachen, mit ihren Schuhen und dem aufgebauschten Haar. Sie jedoch scheint da anderer Meinung.
„Ich heiße Nadia“, sagt sie, als ich Café und Wasser vor sie stelle. Ich lächle, sage nichts und gehe zu meiner Terrassenschwelle. Sie zerknüllt das Papier der Zuckerstückchen, und schnippt die zwei Kügelchen mit Daumen und Mittelfinger vom Tisch.
Sie muss einen schönen Busen haben, denke ich. Die gebräunte Haut in dem Ausschnitt zeigt einen weichen, zarten Flaum, in dem sich unendlich kleine Schweißperlen verfangen. Und mitten im Brustansatz hängt an einer zierlich dünnen Silberkette das Medaillon.
‚Er’ ist dort eingraviert. Der Anhänger ‚Er’ liegt auf einem Flaumteppich. Auf winzig kleinen Schweißperlen. Sie sieht, dass ich es lese, als ich ihre Bestellung bringe, am nächsten Tag.
„Warum fragten Sie mich gestern, wie es mir heute ginge?“ frage ich, da kein anderer Gast zu bedienen ist. „Bitte?“ erwidert sie.
„Man fragt doch, wie geht’s, und nicht wie geht es Ihnen heute, nicht wahr?“
„Ach so.“ Sie lächelt. „Damit es nicht so abgedroschen klingt. Wie eine Floskel.“
In diesem Rhythmus kommen wir uns wörtlich näher. Langsam.
Wenn ihre Zeit naht, schließe ich den Sonnenschirm, da ich weiß, dass sie keinen Schatten will. Ich sorge dafür, dass ihr Tisch, wenn sie kommt, frei ist. Und was ich bislang noch für niemanden auf der Welt gemacht hatte: ich fingere ihren Zucker frei, damit sie die Kügelchen nicht mehr wegschnippen muss.
Auch sie gibt sich gelöster. Sie steckt ihre Haare hoch und zeigt mir ihre kleinen Ohren. Einmal fehlt sogar ‚Er’.
„Ach, den habe ich heute Morgen beim Ankleiden vergessen“, antwortet sie mir auf meine Frage.
„Mensch, die macht Dich an“, sagt Michel, dem ich von der Frau mit den roten Schuhen erzähle. „Sagt Dir, wie sie sich ankleidet.“
„Na ja, Du übertreibst wieder mal“, meine ich. „Es ging ja nur um ihren Anhänger.“ „Quatsch, wer vom Anziehen erzählt, ist vom Ausziehen nicht weit! Und da stand nur ‚Er’ drauf?“
„Ja.“
„Siehste, ein Zeichen, sie zieht sich an und hat ihn schon vergessen, Xavier. Die Bahn ist frei, sag ich Dir!“ „Aber das heißt doch, sie ist mit jemanden anderem zur Zeit, oder?“
„Jeder ist immer mit jemandem. So wie Du sie beschreibst wäre es ja ein Wunder, wenn sie allein wäre. Oder eine Krankheit.“
Die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr ist ein Saisontief. Und so beschließt Roland, während der Flaute die Fassade der Terrasse streichen zu lassen. Zudem wird es von einem Tag auf den anderen recht frisch; die Weihnachtseinkäufe in der Altstadt sind getan, und die Umtäusche haben noch nicht begonnen. Gäste werden spärlich. „Jetzt oder nie“, erklärt also Roland. Er greift zum Telefon und bestellt zwei Anstreicher.
„Du machst den Tresen und ich mach frei.“
Nadia, die Frau mit den roten Schuhen, bleibt aus an den Feiertagen, und am 26. geht es los.
Ich zapfe Bier, mache Café, schüttele Stammgasthände, die zwischen mir und Roland keinen Unterschied machen.
Zur gewohnten Zeit steht sie vor der Brasserie. Die Terrasse gleicht einer Baustelle. Leitern, Farbtöpfe, Pinsel und Rollen überall. Die beiden Anstreicher in ihren gelben Overalls und den schief aufgesetzten Mützen fuhrwerken schweigend mit ihren Geräten und blicken ausladend auf die wenigen Gäste, die von draußen zu mir ins Innere wollen. Die Frau mit den roten Schuhen kommt nicht. Ich sehe, wie sie von der Strasse aus ins Innere der Brasserie schauen will. Aber ich weiß, dass man von der Sonne aus nicht ins Dunkle sehen kann. Ich sehe sie gestochen scharf, aber sie kommt nicht und macht kehrt.
Pünktlich zum neuen Jahr ist die Fassade fertig. Ich erinnere einen milden, sonnigen 1. Januar. Die Gäste auf meiner Terrasse haben Pullover und Jacken über die Stuhllehnen gelegt, Sonnenbrillen auf allen Nasen, aber weit und breit keine roten Schuhe in Sicht.
Am Nachmittag, fast am Ende meiner Schicht, zupft jemand an meiner Jacke.
„Xavier!“
Ihre Stimme überrascht mich derart, dass das leere Tablett blechernd auf den Boden fällt.
„Nadia!“
Wieder schauen alle Gäste in unsere Richtung, aber sie trägt keine roten, sondern schwarze Schuhe, ihre Haare sind nicht aufgebauscht, sondern fallen ihr glatt auf die Schultern. Vor Stunden habe ich dieser Frau im Rollkragenpullover einen Orangensaft gebracht, den sie noch nicht bezahlt hat. Wie zum Teufel hätte ich sie wiedererkennen können? Ich hebe das Tablett auf, flüstere: „Warte, ich sag dem Patron bescheid.“
Roland hinter dem Tresen ist nicht begeistert.
„Michel ist noch nicht da, und gleich beginnt die Happy Hour. Bleib solange, bis Michel kommt.“
„Kannst Du noch bleiben? Ich muss auf meine Ablösung warten.“ Nadia schmunzelt. „Aber nur, wenn Du mir einen O-Saft spendierst.“
Michel ist ein Trottel. Nicht allein, dass er eine gute Stunde zu spät eintrudelt – „Der Film hat über zwei Stunden gedauert!“-, sondern auch, weil er nichts Besseres zu fragen weiß, obwohl ich neben Nadia sitze, als „Na, immer noch keine Spur von Deinen roten Schuhen?“
„Nadia, darf ich Dir Michel vorstellen? Michel ist ein Trottel. Michel, das ist Nadia, die Frau mit den schwarzen Schuhen.“
„Der ist gut!“ lacht er und klopft mir auf die Schulter. „Danke auch für die Überstunde.“
Nadia bietet ihm ihre Hand.
„Wie hieß der Film?“ fragt sie.
„Ein Monster“, sagt Michel und wird von einem japanischen Paar mit weißen Mundmasken an den Tisch gewunken.
„Ein Monster?“ ruft sie ihm fragend nach.
„Nein. Der Baum des Lebens. Zweieinhalb Stunden. Ein Monster“, wiederholt er und nimmt die Bestellung der Japaner auf.
„In Deiner Jacke ähnelt er Dir“, meint Nadia.
„Es ist seine Jacke. Er leiht sie mir, und ich übernehme die Reinigung. Hängt er Dir immer noch am Hals?“
„Der Anhänger lässt Dir keine Ruhe, stimmts?“ Sie zieht den Rollkragen ein wenig herunter und holt das feine Kettchen und den Anhänger hervor.
„Letzte Nacht bin ich mit ihm eingeschlafen. Ein Wunder, dass ich die Kette im Schlaf nicht zerrissen habe. Wenn ich morgens aufwache, sieht mein Bett wie ein Schlachtfeld aus.“
„Wer ist ‚Er’?“
„Keine Ahnung. Ich habe ihn gefunden. Und weißt Du wo? Hier, unter dem Tisch. Als ich das erste Mal hier war. Eigentlich müsste ich mich schämen, ihn mir so einfach umgehängt zu haben. Aber ich hab mir gesagt, dass ihn so jeder sehen kann, und wenn die Eigentümerin mich anspricht, gebe ich ihn einfach zurück. Hat bei Euch niemand nach ihm gefragt?“
„Niemand.“
„Du bist der einzige, der ihn bemerkt hat.“
„Na ja, weniger den Anhänger als Deinen Ausschnitt.“
„Dafür ist es im Moment zu kalt. Ich wette, Du wohnst hier ganz in der Nähe.“
„Warum?“
„Zu größeren Entfernungen hast Du wohl keinen Mut mehr.“
„Wow! Welch ein Uppercut.“
„Soll ich Dich auszählen?“
„Du weißt zu wenig von mir, als dass ich dieser Bemerkung Gewicht geben müsste. Aber Du hast recht – ich wohne ganz in der Nähe.“
„Siehst Du? Ich weiß einiges von Dir.“
„Zum Beispiel?“
„Na, wo Du arbeitest, womit Du Dein Geld verdienst und dass Du ganz in der Nähe wohnst.“
„ Und weiter? Was siehst Du noch in der Glaskugel?“
„Du hast etwas Tragisches an Dir.“
„Das hat jeder.“
„Mag sein. Aber Du bist einer, der alle erdenklichen Sackgassen abgeklappert hat. Die Frau ist eine davon. Das macht für Dich ihre Größe aus. Und ihre Tragik. Du suchst den Königsweg und findest nur Sackgassen.“
„So einfach ist das?“
„So einfach, ja.“
„In Paris gab es einmal eine Karl-Marx Sackgasse.“
Sie lacht. „Und wie hieß Deine letzte?“
„Maria. Ein vierspuriger Boulevard. Kein Königsweg, aber auch keine Sackgasse.“
Sie streckt den Ringfinger ihrer linken Hand. „Verheiratet?“
„Ich? Nicht mehr.“
Sie schmunzelt. „Good News.“
„Nicht sicher.“
„Ach, der Herr hat die Nase voll von Tragik? Du willst Dich nicht mehr von der Stelle rühren und verschanzt Dich hinter das Motto der ‚Risikobegrenzung’? Wie alt bist Du?“
„35.“
„Zu jung.“
„Zu jung wofür?“
„Risikobegrenzung.“
„Und Du? Wie alt bist Du?“
„22.“
„Du siehst älter aus.“
„Wenn das kein Kompliment ist!“
„Eine Frau zwischen zwanzig und vierzig hat kein Alter.“
„Konservenspruch. Und was kommt nach vierzig?“
„Von da an geht’s bergab.“
„Tolle Aussichten.“
Sie wird nachdenklich.
„Sag mal, meinst Du, dass man immer die Wahrheit sagen muss?“
Michel kommt mit dem leeren Tablett. „Wollt Ihr noch was?“
„Hast Du Ihre Frage gehört, Michel?“
„Die wäre?“
„Muss man immer nur die Wahrheit sagen?“
„Mensch, wie öde das wäre. Also, darf es noch was sein?“ Er trommelt ungeduldig mit den Fingern aufs Tablett.
„Für mich nicht“, entgegne ich ihm. „Nadia?“ Sie schüttelt den Kopf. „Mal ehrlich, Michel. Warst Du wirklich im Kino? Der Baum des Lebens passt doch gar nicht zu Dir.“
Michel schmunzelt. „Ich hab kürzlich gelesen, dass der französische Mann im Schnitt hundertfünfzig Mal am Tag lügt.“
„Wusste ich’s doch. Und das mit dem Kino war die wievielte?“
„Der Tag ist noch nicht zu Ende, Amigo.“ Er wendet sich ab und wischt den Tisch der Japaner sauber, die in Richtung Altstadt abziehen.
„Und Du, was meinst Du?“ Nadia lässt nicht nach.
„In manchen Situationen ist es wohl besser zu lügen als die Wahrheit zu sagen. Wenn diese zum Beispiel weh tut.“
„Hm. Darüber ließe sich streiten. Wer die Wahrheit nicht aushält, ist des Lebens nicht wert.“
„Au, jetzt spricht die zweiundzwanzigjährige.“
„Nein, jetzt spricht die Frau zu dem alten Mann, der von Risikobegrenzung träumt.“
Wir sitzen uns noch eine Weile gegenüber, schweigend. Ich blicke hinter sie, beobachte Michel, wie er meine Gäste zum Lachen bringt; sie schaut mir über die Schulter, in Richtung Altstadt. Dann steht sie auf, nimmt ihre Tasche und küsst mich auf die Wangen. „Das nächste Mal bist Du dran“, flüstert sie und verlässt die Terrasse in die Richtung, in die sie geschaut hatte.
Kaum ist sie außer Sichtweite, kommt Michel zu mir an den Tisch. „Na, wie läuft’s?“ „Scher Dich zum Teufel, Michel.“
Ich schlage die andere Richtung ein.
Da sie am Vortag zu einer ungewöhnlichen Uhrzeit kam, mache ich am Tag darauf nichts, um den Tisch freizuhalten. Wider Erwarten ist sie jedoch da, pünktlich zur vorher gewohnten Uhrzeit. Sie trägt ihre roten Schuhe und hat die Haare aufgebauscht. Sie ist wieder ganz die alte, wenn auch ohne den Ausschnitt, wetterbedingt. An ihrem Tisch sitzt ein junger Mann um die zwanzig, gut gebaut, den Sportteil der Tageszeitung vor sich. Ein Tennisspieler, denke ich, von meiner Terrassenschwelle aus. Zu dem wird sie sich nie im Leben setzen. Irrtum. Sie fragt den jungen Mann etwas, dieser nickt, faltet die Zeitung zusammen, und Nadia setzt sich ihm gegenüber. Das leere Tablett in der Hand, die Serviette auf dem Arm gehe ich zu ihrem Tisch.
„Was darf es sein?“
„Das übliche.“
„O-Saft?“
„Nein, Café, Zucker und ein Glas Wasser.“
Der Tennisspieler tut so, als interessiere ihn ihre Gegenwart nicht, aber ich bemerke, wie er sie verstohlen ausspäht. Ich stelle das Gewünschte vor sie auf den Tisch. „Danke.“
„Willst Du mich heiraten?“
„Was soll das denn?! Eine Mutprobe? Eine Wette mit Michel?“
„Sag, willst Du meine Frau werden?“
Der Tennismann spürt, dass er fehl am Platz ist. „Störe ich?“
„Und?“
„Das einzige, was Du von mir weißt, ist mein Vorname. Und nach dem hast Du nicht einmal gefragt.“
„Ich weiß genug von Dir.“
„So wenig bin ich Dir wert?“
Hinter mir rufen die vier Amerikaner nach mir, zeigen auf ihre leeren Biergläser.
„Überleg es Dir. Bitte. Ich komme gleich wieder.“
Der 2. Januar ist ein Montag. Gewöhnlich ist an Montagen nicht viel Betrieb, da die Geschäfte in der Altstadt geschlossen sind. Aber am 2. Januar ist der Teufel los. Die Menge vor der Brasserie nimmt nicht ab, und ich komme den Bestellungen einfach nicht nach. Zwanzig ihrer dreißig Minuten sind schon verstrichen, als ich endlich Zeit für ihren Tisch finde. Sie hat ihre Sonnenbrille aufgesetzt, den Kopf zu mir gewandt. Ich weiß nicht, ob sie mich anschaut.
„Hier, bitte.“ Sie schiebt den schwarzen Unterteller in meine Richtung, auf dem eine Zwei-Euro Münze liegt.
„Kein Trinkgeld heute?“
„Soll man dem Verlobten jetzt auch noch Trinkgeld geben?“ Sie nimmt die Sonnebrille ab. Ich sehe mich in ihren braunen Augen.
Dreizehn Jahre lagen und liegen zwischen uns. Auch mit dem Alter ändert sich nichts daran. Zwei Monate im Jahr verkürzt sie die Unglückzahl auf zwölf, im Mai und im Juni. Unsere Tochter wurde in diese Zwölfer-Karenz hineingeboren, Toni im September. Aber nichts, was zwischen uns lag, hat auf ihn abgefärbt. Ein heller, fröhlicher und vitaler Junge.
Sie hat die Wahrheit nicht zurückhalten können.
Wenn sie mir die Kinder an den Wochenenden bringt, trägt sie rote Schuhe. Eine Art Hommage an unsere Zeit auf meiner Terrasse, die sie meidet, so sehr ich auch von meiner Schwelle aus nach ihr ausschaue.
Tag der Veröffentlichung: 02.11.2011
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