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Ein Kartenhaus aus Lügen

Ein Silvestertag wie jeder andere. Ein Sonntag im Evangelischen Gruppenhaus und ein Treffen wie immer, wie jedes Jahr an Silvester. An jedem Silvesterabend traf sich unsere Jugendgruppe, deren Mitglieder alle zwischen 15 und 25 Jahren alt waren, um gemeinsam über das vergangene Jahr zu reden, Spiele zu spielen, sich zu unterhalten und auch Lieder zu singen. Und jedes Jahr um viertel vor zwölf starteten wir die sogenannte 'Stärkenrunde'. Hierbei bekam jedes der Gruppenmitglieder, in diesem Jahr waren wir 34, einen farbigen Papierbogen, auf den es seinen Namen schreiben sollte. Dann wurden die Zettel in der Runde weiter gegeben und jedes Gruppenmitglied schrieb unter den Namen eines jeden anderen eine positive Eigenschaft, eine gute Tat oder eine positive Persönlichkeitsveränderung, die ihm während des Jahres bewusst geworden oder hängen geblieben war. Jedes Jahr freute sich der ein oder andere darüber, wie positiv er auf die anderen gewirkt hatte, wenn er seinen Bogen wieder bekam. Auch an diesem Abend hatten wir die 'Stärkenrunde' gestartet und waren gerade dabei den letzten Zettel zu vervollständigen, als die Tür des Gruppenhauses geöffnet wurde und ein junger Mann von wohl 20 bis 25 Jahren herein kam. Ich kannte ihn nicht, aber ich wusste auch ohne dass ich mich zu den Mädels drehen musste sofort, dass alle ihn ansahen. Und das nicht nur weil es ungewöhnlich war, dass ein Unbekannter zu unseren Treffen stieß, sondern vor allem weil er extrem gut aussah. Und vermutlich fragten sich jetzt alle wer er war und was er hier wollte. Zugegeben: Ich stellte mir die selben Fragen, aber bei mir hatte das keine Bedeutung. Zumindest noch nicht. Als es aber ausgerechnet Monica war, die sich jetzt erhob und in den Eingangsbereich ging, um den Fremden anzusprechen, überkam mich ein Gefühl, das ich mir selbst nicht erklären konnte.

„Wer ist das?“, fragte ich meinen Freund John, der im Gruppenkreis neben mir saß.

„Keine Ahnung“, gab der zur Antwort.

Monica war 19 und ihre Erscheinung hatte eine seltsame Wirkung auf mich. Immer wenn sie da war, zog sie meine Blicke an, ohne dass ich mir erklären konnte wieso. Ihre dunkelbraunen Locken waren gerade mal schulterlang und da sie, wie sie selbst einmal gesagt hatte, ihr ganzes Leben lang eine Party ohne sie veranstalteten, kringelten sie sich oft lustig in ihrem Nacken, wo sie meist zu einem Pferdeschwanz gebunden waren. Nica, wie sie genannt wurde, war schlank und relativ hübsch, auch wenn das kaum jemand bemerkte, da sie weder besonders beliebt noch unbeliebt war. Sie war anders als normale Mädels, wie die Jungen zu sagen pflegten, die irgendwann einmal versucht hatten ihr Herz zu erobern. Ich wusste nicht, ob Nica sich jemals auf eine Beziehung eingelassen hatte, da ich sie kaum kannte. Ich wusste auch nicht woher ich überhaupt etwas über sie wusste, doch Nica war nicht von den Menschen, die einem zu Hauf über den Weg liefen, obwohl man das annahm, wenn man sich nicht näher mit ihr beschäftigte. Wenn man sie mit ihren Freunden sah, war es selten, dass sie nicht mit ihnen lachte und noch seltener, dass sie nichts zu erzählen wusste. Auch wenn sie mit Leuten sprach, die sie nur flüchtig oder gar nicht kannte, wusste sie sich mit jedem zu unterhalten, solange ihr Gegenüber nicht mundfaul war oder mit einer ganzen Armee anrückte. Wenn sie sich aber in einer Menschenmenge befand und ihre Freunde nicht da waren, wurde sie plötzlich schweigsam und redete nur dann, wenn sie gefragt wurde oder ihr etwas überhaupt nicht passte. Aber wenn es drauf ankam, verstand sie sich mit jedem. Jetzt trat sie mit dem Unbekannten ein Stück zur Seite, wo sie nicht mehr im Mittelpunkt unseres Blickfeldes stand, sodass die meisten, wie ich feststellte, sich wieder dem Gruppenleiter zu wandten, der gerade über Toleranz sprach. Bis auf vereinzelte Mädels vielleicht. Und auch ich konnte nicht anders als Nica und den jungen Mann weiter zu beobachten. Sie schienen zu diskutieren, denn dem Gesichtsausdruck und der Art des Mannes nach zu urteilen schien er sie zu etwas überreden zu wollen, soweit ich das aus der Entfernung erkennen konnte. Nicas Reaktionen und ihren Blicken mal zur Decke, mal zu Boden nach zu urteilen, war sie davon jedoch nicht zu überzeugen. Ihre Diskussion hielt lange an.

Innerlich hoffte ich, dass sie das auch noch lange würde, da ich wissen wollte worum es in ihrem Gespräch ging und unweigerlich an ihnen vorbei musste, wenn ich mit den anderen für das Feuerwerk nach draußen gehen würde, wobei ich sicher ein paar Sätze aufschnappen könnte. Und so war es dann auch. Als wir die Papierbögen der 'Stärkenrunde' an die entsprechenden Personen ausgehändigt hatten, worauf zunächst ein allgemeines Durcheinander herrschte, da jeder sich seinen Zettel ansehen und seinen Freunden einzelne Punkte darauf mitteilen musste, - auch ich war teilweise überrascht wie die Gruppenmitglieder mich sahen, wunderte mich beispielsweise über den Punkt 'toleriert alles und jeden', da ich mich selbst nie überdurchschnittlich tolerant gesehen hatte, - und auf dem Weg in den Hof an Nica und ihrem Gesprächspartner vorbei kamen, hörte ich sie sagen: „Gabriel ... Ich. Will. Ihn. Nicht.“ Sie sprach jedes Wort einzeln aus, was ihrem Sinn besonderen Nachdruck verlieh.

„Jess“, sagte der Mann.

„Nein“, kam es zurück.

„Jessy, bitte“, bat er erneut.

„Bitte, hör auf.“

„Jessica, du kannst ...“

„Gabriel, lass das“, unterbrach Nica ihn. „Ich kann den Gedanken nicht ertragen.“

Wieso nannte er sie Jessica?

„Aber du weißt, dass er dich liebt.“

„Aber ich kann ihn nicht lieben. Zumal ich keine Zeit für einen Freund habe.“

„Du kannst dir die Zeit nehmen.“

„Ich will meine Zukunftspläne nicht wegen eines Kerls alle an den Nagel hängen. Ich habe so lange darauf gewartet und warte immer noch darauf, dass ich endlich frei sein kann. Ich kann und will nicht wieder von vorn anfangen müssen.“

„Jess, du bist alles für ihn. Er liebt dich mehr als sein Leben. Bedeutet dir das denn gar nichts?“

Nica sah zu Boden und seufzte kaum vernehmbar. Dann sagte sie: „Ich habe verlernt zu lieben und kann seine Liebe nicht ertragen.“

Mehr bekam ich nicht mit, da ich jetzt schon zu weit von Nica und Gabriel entfernt war, aber was ich gehört hatte, reichte aus, um mich für den Verlauf des Tages zu beschäftigen. Wer war derjenige, von dem die Rede gewesen war? Was hatte Nica erlebt, dass sie nicht mehr lieben und auch keine Liebe ertragen konnte? Wer war dieser Gabriel, dass er versuchte sie dazu zu bewegen sich auf eine Beziehung einzulassen, bei der es nicht um ihn ging? Und warum nannte er Monica Jess? Keine dieser Fragen konnte ich mir beantworten und obwohl es mich innerlich erleichterte, dass Nica Single war, schmerzte es mich zu wissen, dass sie das auch bleiben wollte.

Es war noch nicht ganz zwölf, als wir den gepflasterten Teil des Hofes betraten und so hatten wir noch etwas Zeit, in der Lina, ein weiteres Mädchen aus der Gruppe, vorschlug: „Wir können mit den kleineren Raketen ein Herz formen und um Punkt zwölf oben angefangen anzünden.“

Obgleich die meisten Jungen, wie zu erwarten, es nicht sonderlich passend fanden ausgerechnet eine Herzform zu wählen, fand der Vorschlag großen Anklang, sodass die Vorbereitung auch gleich in die Tat umgesetzt und alles um Punkt zwölf in die Luft gejagt wurde. Erstaunlicherweise war die Herzform am Himmel, wenn auch mit Macken, sogar zu erkennen und weitere Raketen folgten, nachdem alle Handys, die zur fotografischen Verewigung des glitzernden Kunstwerkes gezückt worden waren, wieder in den Hosentaschen verschwunden waren.

Nach dem Feuerwerk, bei dem Nica auch gegen Ende noch nicht zugegen war, machten wir uns über die Außentreppe auf den Weg nach unten in den Speisekeller des Gruppenhauses.

Als ich im Speisesaal meinen Teller gefüllt und mir einen Platz neben meinem besten Freund John gesichert hatte, fiel es mir schwer nicht an Nica zu denken und als sich ihre drei besten Freundinnen ausgerechnet an unseren Paralleltisch setzten, sodass zwei uns den Rücken zukehrten und eine ihnen gegenüber saß, wo sie einen Platz für Nica frei hielt, überkam mich ein seltsames Kribbeln. Ich hatte Nica früher absolut gar nicht gemocht, als sie noch mit ein paar anderen Mädels der Gruppe befreundet gewesen war, weil diese ständig nur auf Beziehungen aus gewesen waren und sich ausgerechnet an John, mich und noch ein paar Freunde von uns heranzumachen versucht hatten. Dann, warum genau kann ich nicht sagen, hatte Nica sich längere Zeit nicht blicken lassen und als sie nach etwa einem halben Jahr wieder gekommen war, hatte sie sich mit anderen Mädels angefreundet, die auch noch nicht lange zur Gruppe gehörten und jetzt zu ihren besten Freunden zählten. Man erzählte sich, sie habe einen schlimmen Autounfall gehabt, wodurch sie ihr Gedächtnis verloren hatte, sodass sie sich an nichts aus ihrer Vergangenheit mehr erinnern konnte. Was von dieser Geschichte stimmte und was nicht, konnte ich jedoch nicht sagen, zumal sie, wie allgemein bekannt, nicht darüber sprach. Tatsache war allerdings, dass ihr Charakter sich, zwar nicht grundlegend, aber doch spürbar, geändert hatte. Vielleicht hatte ich auch nur durch ihre lange Abwesenheit erkannt wie hübsch sie wirklich war und vielleicht lag es auch an ihren jetzigen Freunden, dass sie anders wirkte und ich sie jetzt ganz gerne mochte. Ich wusste nur eines sicher: Ich würde nie zugeben, dass sie eine fast magische Anziehungskraft auf mich ausübte und es mir oft unwahrscheinlich schwer fiel ihre Anwesenheit, wie jede andere auch, einfach hinzunehmen.

Es dauerte noch eine Weile, bis Nica in den Speisesaal kam und sich zu ihren Freundinnen setzte. Ich warf ihr einen flüchtigen Blick zu und erkannte sofort, dass sie verwirrt sein musste.

„Was war jetzt schon wieder los?“, wollte Sam, Nicas beste Freundin wissen. Sie war diejenige des Vierer-Teams, mit der John und ich uns noch besser verstanden, als mit den meisten anderen Mädels der Gruppe, mit denen wir ebenfalls gut zurecht kamen, und diejenige, von der Felix, mein zweitbester Freund, bei ihrem Zutritt in unsere Gruppe, außerordentlich viel gehalten hatte. Nica setzte sich Sam gegenüber und sah sie einfach nur mit großen Augen an.

„Ging es wieder um Tim?“, fragte diese. Nica nickte nur.

„Und?“, bohrte Sam nach. Nica fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Gabriel sagt ich bin Tims letzter Wunsch. Er hat einen Gehirntumor.“

Schweigen. Sam und die anderen beiden, die übrigens Leonie und Debbie hießen, sahen Nica betroffen an.

„Und jetzt?“, fragte Debbie schließlich.

„Jetzt muss ich mir meine Entscheidung gut überlegen.“

„Und was wirst du tun?“, wollte Sam wissen.

„Ich weiß es nicht.“

„Du liebst ihn nicht?“

„Nein.“

„Dann kannst du auch nicht mit ihm zusammen sein.“

„Und wenn er unglücklich stirbt, nur weil ich ihn nicht lieben kann?“ Nica stützte den Kopf in die Hände.

„Du kannst ihn lieben“, sagte Debbie plötzlich. „Du willst nur nicht.“

„Debbie!“, rief Sam. Nica blickte auf und sah Debbie mit ausdruckslosen Augen an. Ich konnte sehen, wie diese Augen zu glänzen anfingen, als sie sich langsam mit Tränen füllten. Dann stand sie auf und verließ den Saal ohne ein Wort zu sagen. Sam stand ebenfalls auf. „Kannst du nicht aufpassen?“, zischte sie Debbie noch zu, bevor sie Nica nach eilte.

Debbie sah Leonie fragend an. Diese rührte in ihrem Tee, hob die Schultern und sagte: „Ich weiß nicht was genau Nica in ihrem Leben alles durchgemacht hat, aber ich weiß, dass es da Dinge gab, die du nicht erleben willst.“

 

„Japhi!“, rief John neben mir plötzlich. Ich zuckte zusammen und sah ihn verwirrt an.

„Wo bist du mit deinem Kopf?“, fragte er leicht verärgert.

„In meiner eigenen Welt“, grinste ich und hatte mich wieder im Griff. „Was ist los?“

„Wann willst du fahren?“, wollte John wissen.

„Gegen zwei oder drei. Keine Ahnung“, gab ich zur Antwort.

„Es ist jetzt gleich halb eins. Habt ihr Lust später noch zu mir zu kommen und ein Bisschen was zu zocken?“, fragte John und wir beschlossen zu dritt, John, Felix und ich, zu John nach Hause zu fahren und den Rest der Nacht mit Computerspielen zu verbringen.

„Was für ein perfekter Start in das neue Jahr“, schoss es mir durch den Kopf und einen Moment lang klagte mein Gewissen mich dafür an, dass ich nichts sinnvolleres fand, um das Jahr zu beginnen, als Computer zu spielen. Aber dann wischte ich die Gedanken einfach fort und widmete mich meinem Essen.

 

Die nächsten Wochen vergingen wie gewöhnlich. Ich musste arbeiten wie sonst auch und auch die Wochenenden vergingen mit normalen Gruppentreffen, ohne dass ich viel von Nica und dem mitbekam, worum es an Silvester gegangen war. Zwar war sie immer anwesend, verhielt sich aber normal. So, wie man es von ihr gewohnt war.

Als meine Schwester Naemi-Lauren Anfang Februar dann anfing ihr Zimmer zu renovieren und auf den Gedanken kam ihren Namen in verschnörkelten Buchstaben groß an eine Wand zu schreiben, aber nicht wusste wie sie das anstellen sollte, da sie selbst nicht sonderlich kreativ war, riet ihr jemand sie solle Nica fragen, ob diese ihr das Wand-Tattoo entwerfen würde, da sie als künstlerisch begabt galt und schon einmal etwas ähnliches für eine Freundin entworfen hätte.

Obwohl Nala, wie meine Schwester allgemein bekannt war, kaum Kontakt zu Nica hatte, beherzigte sie diesen Rat und Nica willigte ein. Zunächst sollte sie das Wandbild lediglich entwerfen, als Nala jedoch klar wurde, dass es ihr nicht nur an Kreativität, sondern auch am nötigen Geschick fehlte das Motiv auf die Wand zu übertragen, erklärte Nica sich auch dazu bereit, sodass sie mehrere Tage bei uns zu Hause war. Meist arbeitete sie alleine, weil Nala arbeiten musste, da sie als Einzelhandelskauffrau nicht unbedingt die besten Arbeitszeiten hatte. Da ich meist nur bis 17 Uhr arbeiten musste und Nica als Abiturientin meist auch erst am späten Nachmittag Schulschluss hatte, war ich jedoch nur einmal von den vier Malen, die sie in Nalas Zimmer die Wand gestaltete nicht zu Hause und da mein Zimmer dem von Nala direkt gegenüber lag, konnte ich ihr von meinem Schreibtisch aus zusehen. Es war ein komisches Gefühl sie so nah zu haben und doch nichts mit ihrer Anwesenheit anfangen zu können. Obwohl ich natürlich einfach hätte zu ihr hin gehen können, um ihr Gesellschaft zu leisten. Aber dazu fehlte mir der Mut. Als ich Nica am ersten Tag bei ihrer Arbeit zusah, fiel mir allerdings auf, dass Nala vergessen hatte ihr etwas zu trinken hinzustellen und so holte ich eine Flasche Wasser und ein Glas aus der Küche und trat damit zu Nica ins Zimmer.

„Du willst bestimmt etwas trinken“, sagte ich. Nica sah mich an und lächelte. „Ja, ich habe mich schon geärgert, dass ich mir nichts mitgenommen habe. Danke.“ Sie unterbrach ihre Arbeit und nahm das Glas entgegen, das ich ihr hin hielt.

„Du hättest ruhig etwas sagen können“, meinte ich, während ich die Flasche öffnete und ihr Wasser einschenkte. Nica lächelte immer noch, sah mich aber nicht mehr an. „Vielleicht. Aber ich wäre mir blöd dabei vorgekommen“, gestand sie und ich musste feststellen, dass es mir vermutlich nicht anders gegangen wäre.

„Na ja. Aber wenn noch irgendetwas ist, kannst du dich ruhig melden“, bot ich an. Jetzt sah Nica mich wieder an und ich glaubte in ihren Augen, die wie Smaragde auf mich wirkten und die Geschichte eines einzigartigen Lebens, zu erzählen schienen, versinken zu müssen. Mein Blick wanderte zu ihren Lippen, die so leicht und unberührt wirkten, dass sie mich faszinierten. Das Danke, das sie sagte, nahm ich kaum wahr. Plötzlich hatte ich das Bedürfnis sie fest in den Arm zu nehmen, diese Lippen zu küssen und sie nie wieder frei zu geben.

„Jan-Philip?“, hörte ich sie plötzlich fragen und zuckte zusammen.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte sie weiter. Ich nickte verwirrt und blickte zu Boden. „Ja, tut mir leid, ich war ... Ich bin nur etwas ... Entschuldige mich.“

Ich stellte die Wasserflasche auf den Boden und verließ fast fluchtartig das Zimmer, um in mein eigenes zu gehen, wo ich die Tür hinter mir schloss und mich auf mein Bett warf. Erst jetzt, nach so vielen Monaten verstand ich, warum Nica immer wieder diese Anziehungskraft auf mich ausgeübt hatte. Erst jetzt begriff ich, dass ich mich in sie verliebt hatte und hätte heulen können, weil ich mich so daneben benommen hatte.

An diesem Tag verließ ich mein Zimmer erst wieder, als Nica nicht mehr da war. Auch am nächsten Tag bemühte ich mich ihr nicht zu begegnen, sodass ich zwar in meinem Zimmer war, dessen Tür ich auch offen gelassen hatte, Nica mich aber nicht sehen konnte, da ich mich in einen Sessel gesetzt hatte, der von Nalas Zimmer aus nicht zu sehen war. Ich vertrieb mir die Zeit mit dem Lesen eines Buches, das ich bestimmt schon drei mal gelesen hatte. Hierbei bekam ich mit, wie Nica einen Anruf bekam. Sie telefonierte nicht lange und zunächst achtete ich auch nicht großartig darauf. Als ich sie aber „Wer ist Japhi?“ fragen hörte, wurde ich hellhörig.

„Ach, du meinst Jan-Philip“, hörte ich sie weiter sagen. Und dann: „Keine Ahnung. Ich habe ihn heute noch nicht gesehen. - Gegen sieben, denke ich. Warum? - Ich dachte du bist mit diesem Italiener verabredet. - Okay? Das verstehe ich jetzt zwar nicht ganz, aber können wir gerne machen, ja. - In Ordnung. Muss ich meinen Laptop mitnehmen? - Leonie bestimmt. Bei Debbie wäre ich mir nicht so sicher, weil sie allgemein etwas gegen Kriegsspiele hat und CS nicht unbedingt als friedlich bezeichnet werden kann, aber du kannst sie ja fragen. - Ja, gut. - Okay, bis dann.“

Ich schloss aus dem, was ich mitbekommen hatte, dass Nica mit Sam telefoniert hatte und dass sie eine LAN-Party veranstalten wollten. Zwar war das meiner Meinung nach recht ungewöhnlich für Mädels, aber gerade deshalb fand ich es irgendwie faszinierend.

Am nächsten Tag musste ich länger arbeiten als sonst, sodass Nica schon nicht mehr da war, als ich nach Hause kam. Dafür war Nala heute zu Hause gewesen und meinte beim Abendessen: „Monica ist eigentlich total cool. Ich habe mich heute richtig gut mit ihr unterhalten.“

„Was erzählt sie denn so?“, fragte ich wie beiläufig, obwohl es mich wirklich interessierte, was Nala alles über Nica in Erfahrung gebracht hatte.

„Verschiedenes“, sagte sie. „Vor zwei Wochen ist ein Bekannter von ihr an einem Hirntumor gestorben.“

„Oh. Das ist natürlich nicht schön“, meinte meine Mutter. „Wie alt war der denn?“, wollte sie wissen.

„Das weiß ich nicht. Das hab ich nicht gefragt. Aber ich denke mal nicht älter als 25. Sie meinte sie wären früher in einem Freundeskreis gewesen. Also kann er noch nicht so alt gewesen sein.“

„Ja, alte Leute müssen sterben, junge Leute können sterben“, seufzte meine Mutter. Mir war sofort klar, dass es sich bei dem kürzlich Verstorbenen um den Tim handeln musste, von dem an Silvester die Rede gewesen war und ich fragte mich: Hatte Nica sich auf die Beziehung eingelassen? Dann fiel mir ein, dass Nica wohl doch etwas über ihre Vergangenheit wissen musste, wenn sie sagen konnte, dass dieser Tim mit ihr in einem Freundeskreis gewesen war. Oder wusste sie das nur daher, dass man es ihr gesagt hatte?

„Und weißt du was Monica gestern, beziehungsweise heute Nacht, mit ein paar Freunden gemacht hat?“ Nala sah mich grinsend an.

„Eine LAN-Party geschmissen“, sagte ich gelassen.

„Woher weißt du das?“, wollte Nala wissen, die nicht mit einer Antwort gerechnet hatte.

„Ich hab's gestern zufällig mitbekommen“, sagte ich. Meine Schwester sah mich skeptisch an.

„Sie hat telefoniert und ich hab gehört worum es ging“, erklärte ich.

„Aha“, machte Nala nur und ich wusste nicht, was ich darauf noch sagen sollte.

In dieser Nacht schlief ich sehr schlecht. Ständig musste ich an Nica denken und wenn ich dann doch einmal kurz einschlief, träumte ich wirres Zeug, bei dem es immer um sie ging. Schließlich, ich weiß nicht, ob es im Traum oder bei Bewusstsein geschah, nahm ich mir vor am nächsten Tag eine Unterhaltung mit ihr anzufangen.

Wie ich es dann über mich brachte tatsächlich Nalas Zimmer zu betreten und Nica anzusprechen weiß ich nicht. Aber ich tat es wirklich und begann die Unterhaltung, weil mir nichts besseres einfiel, mit: „Das sieht echt gut aus. Willst du das für mich auch machen?“

Nica sah mich an und grinste. „Das meinst du jetzt nicht wirklich ernst, oder?“

Ich grinste ebenfalls. „Nein, eigentlich nicht. Aber du hast wirklich Talent.“

Sie lächelte. „Danke.“

Na toll. Jetzt wusste ich wieder nicht was ich sagen sollte. Ich stand an die Wand gelehnt da und sah ihr zu, aber mir fiel beim besten Willen nicht ein was ich noch sagen sollte. Nach einer Weile des Schweigens, drehte Nica sich zu mir um, sah mich mehrere Sekunden lang einfach nur an und sagte dann: „Erzähl mir etwas von dir.“

„Was soll ich dir erzählen?“, fragte ich etwas verlegen.

„Was dir einfällt. Was würdest du in einen Steckbrief schreiben?“, wollte sie wissen.

„Heh“, machte ich und überlegte. „Ich heiße Jan-Philip. Meine Freunde nennen mich Japhi. Ich bin 20 und Modellbauer von Beruf. In meiner Freizeit bin ich gerne mit Freunden unterwegs. Vorausgesetzt die haben Zeit. Ich spiele gerne Rollenspiele am Computer und ... Ja, das war's. - Mehr fällt mir nicht ein.“

„Na, das ist wenigstens etwas. - Spielst du Skyrim?“, fragte Nica unvermittelt. Erstaunt sah ich sie an. „Ja. Wieso?“

„Nur so. Ich auch.“

„Echt?“ Es wunderte mich zwar ziemlich, dass Nica mit ihren Freunden nicht nur eine LAN-Party veranstaltet hatte, sondern jetzt auch noch ein so professionelles Computerspiel wie Skyrim spielte, aber gerade das ließ sie noch viel einzigartiger wirken und jetzt hatten wir ein Thema gefunden, über das man reden konnte, ohne dass der Gesprächsstoff schnell aus ging. Wir sprachen lange über die verschiedensten Dinge, die es bei Skyrim gab. Das mag sich jetzt vielleicht etwas langweilig anhören, aber es tat irgendwo gut mit jemandem über etwas sprechen zu können, was man sonst nur am Rande erwähnte, weil es niemanden interessierte.

„Hast du schon geheiratet?“, fragte Nica, da das bei Skyrim möglich war, wozu man allerdings erst eine Quest für die Figur abgeschlossen haben musste, die man heiraten wollte.

„Nein, du?“, fragte ich zurück.

„Ja“, gab sie zur Antwort.

„Echt? Wen denn?“, wollte ich wissen.

„Farkas von den Gefährten.“

„Cool. Ich will diese Aela von den Gefährten heiraten, aber ich habe die Gefährten-Quests gerade erst angefangen. Dauert noch, bis ich da fertig bin. Vielleicht schaffe ich es ja heute noch.“

„Wenn du gerade erst angefangen hast?“ Nica sah auf die Uhr. „Es ist gleich acht. Wann gehst du schlafen?“

„Unterschiedlich.“

„Und heute?“

„Keine Ahnung. Elf, zwölf. Kommt ganz drauf an. Warum?“

"Okay, wenn du es bis halb zwölf geschafft hast die Gefährten-Hauptquest abzuschließen und Aela zu heiraten, lade ich dich zum Pizza-Essen ein.“ Sie grinste.

„Jetzt nicht im Ernst, oder?“ Ich sah sie ungläubig an. Nica lachte. „Doch.“

Ich zögerte einen Moment, weil es mir nicht zusagte von einem Mädchen wie Nica eine Pizza ausgegeben zu bekommen, aber auf der anderen Seite käme ich so zu einem Treffen mit ihr, das ich noch nicht einmal selbst angezettelt hatte.

„Okay“, sagte ich schließlich. „Wir wetten um eine Pizza. Wenn ich es schaffe bezahlst du, wenn nicht, dann ich.“

Nica hielt mir die Hand zur Besiegelung hin. „Okay.“

Ich schlug ein. „Abgemacht.“

Als Nica etwa eine halbe Stunde später gegangen war, nachdem Nala nach Hause gekommen war und verwundert festgestellt hatte, dass ich ihr Gesellschaft leistete, setzte ich mich an meinen Computer und startete Skyrim. Ich spielte tatsächlich bis halb zwölf, aber ich schaffte es nicht die Hauptquest der Gefährten abzuschließen und konnte Aela somit auch noch nicht heiraten. Einerseits ärgerte mich das zwar, da es mich gereizt hatte diese Herausforderung zu bestehen, aber auf der anderen Seite musste jetzt ich Nica eine Pizza ausgeben, nicht sie mir, was ich eindeutig eher angebracht fand.

Als sie am nächsten Tag dann wieder kam, um weiter an Nalas Wandbild zu malen, teilte ich ihr mein Versagen mit, was sie grinsend zur Kenntnis nahm und nach einigem Hin und Her über unser Pizza-Essen, beschlossen wir, dass wir uns erst in drei Wochen treffen würden, da Nicas Großeltern in zwei Wochen ihre goldene Hochzeit feierten und sie dazu noch bei einigen Vorbereitungen helfen sollte. Als ich mich an diesem Tag weiter mit Nica unterhielt, fiel es mir zwischenzeitlich wieder schwer sie nicht einfach in den Arm zu nehmen und zu küssen. Ich fühlte mich seltsam dabei, denn am Vortag war ich ihrer Anziehungskraft seltsamerweise nicht so stark ausgesetzt gewesen. Trotzdem genoss ich die Stunden, die ich mit ihr verbrachte und bedauerte, dass sie ihre Arbeit an diesem Tag beendete.

Die nächsten Wochen vergingen wie immer. Nur mit dem Unterschied, dass Nica und ich nicht umhin kamen uns gegenseitig anzugrinsen, wenn sich unsere Wege kreuzten, was von Debbie und vor allem Sam bald bemerkt wurde, sodass ich schließlich mitbekam, wie Sam sie fragte: „Was läuft eigentlich zwischen Jan-Philip und dir?“

Nica sah ihre Freundin erstaunt an und meinte: „Eigentlich nichts besonderes. Wieso?“

„Ihr grinst euch immer an, wenn ihr euch über den Weg lauft“, stellte Sam fest.

„Ja, das ist mir auch schon aufgefallen“, bemerkte Debbie. Nur Leonie, die selten eine solche Veränderung bemerkte, sagte nichts dazu, sondern hörte sich schweigend an, was die anderen zu sagen hatten. Sie war überhaupt die ruhigste der vier Freunde und, wie ich manchmal den Eindruck hatte, wohl auch die faulste.

„Ach“, machte Nica. „Ich hatte doch erwähnt, dass er sich zwischendurch mit mir über Skyrim unterhalten hat, als ich in Naemi-Laurens Zimmer die Wand bekritzelt habe.“

„Ja, und?“, fragte Sam weiter.

„Wir hatten dazu eine Wette abgeschlossen, die er leider verloren hat.“

„Was für eine Wette?“, wollte Debbie wissen. Ich hörte wie Nica kurz erklärte worum es bei unserer Wette gegangen war, worauf Sam sagte: „Und das erzählst du erst jetzt?“

„Ich dachte du würdest mich für bekloppt halten“, meinte Nica.

„Tue ich auch“, gab Sam zurück. „Aber das ist doch nichts Neues mehr.“

Ich musste lachen, sah aber zu, dass ich aus ihrer Hörweite verschwand, da ich es nicht unbedingt darauf ankommen lassen wollte, dass sie merkten, dass ich alles gehört hatte, weshalb ich den weiteren Verlauf des Gespräches nicht mitbekam.

Der Tag, zu dem Nica und ich uns verabredet hatten, rückte immer näher und je näher er kam, desto nervöser wurde ich. Zwar hatte ich mich mit Nica nicht nur über Skyrim unterhalten, sondern auch über andere Dinge, aber ich fragte mich trotzdem wie der Abend werden würde.

Als er schließlich kam, fragte ich mich mehr als je zuvor in meinem Leben was ich anziehen sollte und stand zehn Minuten vor meinem Kleiderschrank bis ich mich für eine mehr oder weniger edle Jeans und ein lila-weiß kariertes Hemd, das ich vorerst offen ließ, sodass man den schwarzen Schriftzug 'cheers' auf dem weißen T-Shirt sehen konnte, das ich darunter trug, entschied.

Ich hatte einen Tisch zu 19 Uhr in einem kleinen italienischen Restaurant bestellt, war aber bereits zehn Minuten früher da, sodass ich auf Nica warten musste. Sie kam pünktlich und trug eine lila-schwarz karierte Bluse über einem schwarzen Sweatshirt und einen schicken Jeans-Rock. Ich musste lächeln, da die Farben unserer Outfits gar nicht so unterschiedlich waren, obwohl wir uns nicht abgesprochen hatten.

Nica grüßte mit einem lächelnden 'Hi' und setzte sich mir gegenüber. Ich grüßte natürlich zurück, hatte aber, wie erwartet, Schwierigkeiten mit dem in-Gang-setzen einer Unterhaltung. Wie wir es dann doch schafften uns zwei Stunden lang zu unterhalten, was sogar ziemlich entspannt und zum Teil lustig war, sodass es wirklich Spaß machte, weiß ich nicht, aber ich wünschte mir, der Abend ginge ewig so weiter. Gegen viertel vor zehn blickte Nica schließlich auf die Uhr und sagte: „Es wird langsam spät.“

Als habe diese Aussage den Abend grob beendet, war die Atmosphäre plötzlich wieder angespannt und wir beide wieder leicht verlegen und zurückhaltend.

„Bist du mit deinem Auto hier?“, fragte ich.

„Jain“, erwiderte Nica. „Ich bin mit meinem Auto gekommen, aber meine Schwester ist dann damit noch weiter gefahren, weil sie noch etwas vor hatte. Meine Eltern sind nicht zu Hause, sodass sie nicht gebracht werden konnte. Ich muss entweder zu Fuß nach Hause gehen oder mich abholen lassen.“

„Soll ich dich nach Hause bringen?“, bot ich an und hoffte sie würde zustimmen, damit ich mich noch nicht von ihr verabschieden musste. Nica schien zu zögern, sagte dann aber: „Wenn es dir nichts ausmacht, gerne.“

„Für mich ist das in Ordnung“, sagte ich.

„Okay.“ Sie lächelte leicht, sagte aber nichts weiter. Wir zahlten und verließen das Restaurant, um zu meinem Auto zu gehen. Die Fahrt verlief größtenteils schweigend und als ich vor Nicas Elternhaus hielt, sah sie mich ein paar Sekunden lang mit einem Lächeln an und sagte: „Es war cool mit dir. Danke.“

Bevor ich etwas erwidern konnte, war sie ausgestiegen und hatte die Tür wieder zugeschlagen. Und so fuhr ich, mit einem wirren Gefühl im Bauch, nach Hause.

 

In der nächsten Woche bekam ich Nica gar nicht zu Gesicht, als ich dann aber an einem Dienstag früher als sonst von der Arbeit kam, stand sie neben Nala in deren Zimmer und betrachtete eine weiße Wand. Verwundert trat ich näher.

„Ich würde wahrscheinlich die ganze Wand schwarz machen und dann ein weißes Quadrat-Regal davor stellen, aber dann kannst du keine Klamotten mehr hin hängen, sondern musst alles zusammenfalten. Dafür hast du zu viele Sachen“, sagte Nica.

„Und wenn hier noch ein Muster drauf kommt?“, fragte Nala und deutete auf eine weiße Wand.

„Dann wird es wahrscheinlich zu überladen aussehen. - Hallo Jan-Philip“, grüßte Nica nebenbei. Ich grüßte kurz zurück, ging aber kurz darauf in mein Zimmer.

„Was du aber auch noch machen kannst“, hörte ich Nica weiter reden „ist, dass du die Wand mit noch mehr Schnörkeln füllst, sodass sie ganz gemustert ist und man deinen Namen nur bei genauem Hinsehen erkennt. Und die Schnörkel lässt du dann auf die nächste Wand übergreifen, wo sie dann auslaufen. Verstehst du was ich meine?“

„Sodass einzelne Schnörkel über Eck auf diese Wand weitergehen“, sagte Nala.

„Ja genau.“

„Hört sich gut an. Aber ... Ich kann das nicht.“

„Wenn du das haben möchtest, kann ich das gerne machen, aber dann wird es noch länger dauern, bis alles fertig ist.“

Ich bekam noch mit wie Nala und Nica besprachen, dass Nica weitere Schnörkel entwerfen und dann wieder kommen würde, um ihr Werk zu vollenden. Und so kam es, dass Nica weitere fünf Tage in Nalas Zimmer den Pinsel schwang. Allerdings musste ich gerade in dieser Woche länger arbeiten als sonst, weil in unserer Firma viele krank waren, sodass ich nur am Samstag, dem Tag an dem Nica das letzte Mal bei uns war, dabei sein konnte. Als ich an diesem Tag nach Hause kam, war ich froh, dass Nala arbeiten musste, denn ich wollte Nica nur dann Gesellschaft leisten, wenn sie alleine war. Ich stellte mich in den Türrahmen und sah ihr schweigend zu. Auch sie sagte nichts, sondern arbeitete stumm weiter. Zwar sah sie mich ein paar mal leicht lächelnd an, ließ sich sonst aber nicht aus der Ruhe bringen. Ich betrachtete sie. Sie war schlank und trug ihre Haare heute zu einem Franzosenzopf geflochten. Täuschte ich mich oder war sie heute blasser als sonst?

Als Nica den letzten Schnörkel gemalt und den Pinsel auf eine Zeitung gelegt hatte, die auf dem folienbedeckten Boden lag, trat sie einen Schritt zurück und ließ ihren Blick über die Wände schweifen. Dann drehte sie sich zu mir um und sah mich schweigend an. Ich sah ihr in die Augen und spürte, wie mein Herz anfing schneller zu werden. Sie hatte so unbeschreiblich schöne Augen. Auch dieses Mal wanderte mein Blick zu ihren Lippen. Die Anziehungskraft, die Nica auf mich ausübte, wurde immer größer und war schließlich so stark, dass ich ihr nicht mehr stand halten konnte. Ohne dass mir bewusst wurde was ich tat, trat ich auf sie zu und umfasste ihre Taille, wobei ich so stürmisch war, dass Nica mich am Hemd fasste und mit mir zusammen zurück stolperte, bis sie von der nächsten, glücklicherweise weißen Wand aufgehalten wurde. Meine Lippen fanden die ihren und ich küsste sie, bis sie den Kopf plötzlich leicht zur Seite drehte, sodass der Kuss unterbrochen wurde, und mich leicht von sich drückte. Erschrocken über das, was ich getan hatte, ließ ich von ihr ab, trat einen Schritt zurück und fing an zu stottern: „Tut ... tut mir leid ... ich ... ich wollte nicht ...“

Nica, die mein Hemd immer noch fest hielt, trat näher an mich heran und legte mir ihre Finger auf die Lippen, sodass ich verstummte.

„Es ist nicht wegen dir“, sagte sie leise. „Ich will dir nur nicht weh tun.“ Sie sah mich nur kurz an und blickte dann schweigend auf mein Hemd. Ihre Hand rutschte von meinen Lippen herab auf mein Schlüsselbein und blieb dort liegen. Nach einer Weile sagte sie: „Du hast dich verliebt.“ Sie blickte wieder auf. „Ich auch. Aber ich wünschte es wäre nicht so.“ Sie ließ mich los und trat zurück. „Ich kann das nicht, Japhi. Ich habe Angst dich zu enttäuschen. Mein Leben ist eine einzige Lüge.“

Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer und dann das Haus. Ich blieb zurück. Wie versteinert stand ich eine Weile da. Dann ging ich langsam in mein Zimmer, warf mich auf mein Bett und starrte an die Decke. Hatte ich jetzt alles verdorben?

 

Die Wochen, die dann folgten, waren schrecklich. Nica ging mir so weit wie möglich aus dem Weg. Und wenn wir uns dann doch einmal begegneten, sah sie mich meist nur kurz und, wie mir schien mit einer Spur von Traurigkeit im Blick, an. Ihr Verhalten schmerzte. Vor allem weil ich mir sicher war, dass sie den Kuss anfangs erwidert und erst nach einigen Sekunden plötzlich abgebrochen hatte. Oder hatte ich mir das nur eingebildet? Nein. Ich wusste was ich gespürt hatte und das war ihre Bereitwilligkeit gewesen. Natürlich hatte ich unüberlegt gehandelt aber ihre Reaktion verstand ich dennoch nicht.

Nach drei Wochen der Distanzierung hielt ich es nicht mehr aus, setzte mich in mein Auto und fuhr zu ihrem Elternhaus. Als ich meinen Wagen vor dem Haus geparkt und an der Haustür geklingelt hatte, öffnete mir Nicas Mutter und sah mich erstaunt an. Ich grüßte kurz und fragte, ob Nica zu Hause sei. Ihre Mutter schien zu zögern, sagte dann aber: „Sie ist ... im Wohnwagen ... im Garten. Du kannst ...“ Sie brach ab und sah mich schweigend an. In ihrem Blick lag etwas bittendes, das ich nicht deuten konnte. Und so sagte ich einfach 'Danke' und ging in den Garten, in dessen letzter Ecke ich tatsächlich einen Wohnwagen entdeckte. Als ich darauf zu ging, hörte ich durch ein offenes Fenster zwei Stimmen aus seinem Inneren, die deutlich miteinander stritten. Nicas Stimme erkannte ich sofort. Die zweite Stimme konnte ich nicht zuordnen.

„Das Ganze ist doch nur Schauspiel. Ein Glaube, hinter dem nichts steckt als Heuchelei“, hörte ich einen Mann schreien.

„Heuchelei und Schauspiel, in der man sich wohlfühlen kann? Ein Glaube, der die Macht hat Leben zu verändern?“ schrie Nica zurück. „Glaubst du wirklich, dass ein Mensch so viel durch einen Glauben an einen Gott schaffen kann, der tot ist?“

„Es hat noch nie jemand beweisen können, dass es Gott gibt.“

„Das Gegenteil ist auch noch nicht der Fall gewesen.“

„Du gibst zu viel auf die Mitglieder dieser Jugendgruppe.“

„Du selbst hast mich in diese Gesellschaft geschickt.“

„Das heißt nicht, dass du ihren Glauben annehmen sollst.“

„Ich will das nicht mehr machen, Sven. Ich kann das nicht mehr.“

„Oh doch, du kannst. Du musst. Du hast keine andere Wahl.“

„Ich könnte alles aufdecken und der Welt die Wahrheit sagen.“

„Das würde deinen Tod bedeuten und das weißt du. Genauso wie du weißt, dass du nicht zur Polizei gehen kannst, weil die ganz leicht von uns manipuliert werden kann. Du bist machtlos.“

Einen Moment lang herrschte Schweigen. Dann hörte ich Nica, deren Stimme jetzt leiser war, fragen: „Wieso hältst du mich? Wieso holst du Monica nicht zurück und lässt mich gehen?“

„Wir sind noch nicht fertig mit ihr. Außerdem bezweifle ich, dass sie sich in ihrem alten Leben jemals wieder zurecht finden wird. Sie hat ihre Familie bestimmt längst vergessen.“

„Du bist ein Arschloch. Du bist so ein Arschloch.“ Nicas Stimme war gedämpft, aber voller Hass. Der Mann lachte kurz auf. „Du bekommst doch Geld dafür. Was willst du mehr?“

„Was nützt mir das verdammte Geld, wenn es irgendwo bei einer Bank liegt, zu der ich keinen Zutritt habe und du mich überwachst wie einen Schwerverbrecher?“ Nica schrie wieder, aber der Mann lachte nur. „Gabriel hat Recht, wenn er sagt, du seist ein tolles Mädchen, aber nicht zu bändigen. Kein Wunder, dass du nichts von Tim wissen wolltest, der versucht hätte dich zu formen. Du willst frei sein? Bitte. Bring mir den Jungen und du sollst deine Freiheit bekommen.“

„Jan-Philip? Nein! Niemals! Ich werde nicht zulassen, dass du Japhi auch noch in deine Geschäfte mit rein ziehst.“

Ich zuckte zusammen, als ich meinen Namen hörte und drückte mich unwillkürlich an die Wand des Wohnwagens, an der ich stand. Was hatte das jetzt zu bedeuten?

„Ich will ein Spiel mit euch spielen, Jess“, sagte der Mann. „Der Junge soll in unsere Welt kommen. Ich will ihm fünf Mädels zeigen und er soll mir sagen wer davon du bist. Schafft er es, bringe ich Monica zurück und lasse ihn und dich mit allem was rechtmäßig dir gehört gehen. Schafft er es nicht, werde ich einen weiteren Unfall für dich, kleine Nica, inszenieren, der diesmal aber garantiert tödlich ausgehen wird.“ In der Stimme des Mannes schwang etwas höhnendes mit.

„Wie soll er mich erkennen, wenn er nicht weiß wer ich bin? Er kennt mich doch gar nicht.“

„Wenn er dich wirklich liebt, wird er dich erkennen, Jessy.“

„Ich kann ihn da nicht mit rein ziehen.“

„Du wirst es müssen. Aber pass auf was du ihm erzählst.“

„Woher weiß ich, dass du nicht bluffst?“

„Du wirst mir vertrauen müssen.“

„Dir vertrauen? Kannst du mir sagen wann es das letzte Mal etwas gebracht hat dir zu vertrauen?“

Der Mann lachte wieder. „Überrede den Jungen.“

„Ich kann das nicht. Das hat Japhi nicht verdient.“

„Ach komm. Stell dich nicht an. Er ist auch nur ein gewöhnlicher Mensch. Aber ich gebe dir Bedenkzeit bis morgen. Melde dich über das Programm. Ich muss jetzt gehen.“

Bevor die Tür des Wohnwagens aufging, huschte ich um den Anhänger herum, sodass ich nicht gesehen werden konnte. Ich sah, wie ein breitschulteriger Mann mit einem hässlichen Siegelring am Finger, aus dem Wohnwagen trat und das Grundstück verließ. Kurz darauf hörte ich ein Auto starten und davon brausen. Ich wartete noch eine Weile. Was hatte das alles zu bedeuten? Ich verstand den Inhalt des Gehörten absolut nicht. Schließlich trat ich vor die Tür des Wohnwagens. Einen kurzen Moment zögerte ich noch. Dann klopfte ich. Es dauerte etwas, bis Nica die Tür öffnete und mich einen Moment lang überrascht ansah. Ihre Überraschung schien jedoch schnell verflogen zu sein, sodass sie einfach nur da stand und mich schweigend betrachtete.

„Ich ... wollte nicht stören ... aber ... Ich meine ...“, stotterte ich. Nica schien zu überlegen.

„Komm rein“, sagte sie schließlich sachlich und trat zurück in das Innere des Wohnwagens. Ich folgte ihr und schloss die Tür. Der Wohnwagen war eingerichtet wie ein kleines Zimmer. Es gab ein Bett, einen Schrank und einen kleinen Tisch, an dem ein Stuhl stand. In einer Ecke befand sich noch ein Sessel. Nica räumte einige Zeichnungen vom Tisch zusammen und heftete sie in einen Ordner. Ich stand etwas unschlüssig mitten im Raum und sah ihr zu.

„Weshalb bist du hier?“, fragte sie irgendwann ohne mich anzusehen, während sie weitere Dinge aufräumte.

„Weil ich es nicht mehr aushalte, dass du mir ständig aus dem Weg gehst.“

Nica schwieg.

„Monica, bitte“, fing ich an. „Ich weiß, dass es unüberlegt war dich einfach zu küssen. Ich hätte es nicht tun sollen, aber ... muss deshalb alles kaputt gehen?"

Monica sah mich an. Sie sah plötzlich so unendlich traurig aus, dass ich eine Gänsehaut bekam. Aber sie schwieg. Ich überlegte. Sollte ich ihr sagen, dass ich das Gespräch vorhin mitbekommen hatte? Würde sie dann reden?

„Warum tust du mir das an?“, fragte ich.

„Du hast etwas besseres verdient als mich“, sagte sie leise.

„Ich will aber nichts besseres“, erwiderte ich.

„Du kennst mich doch nicht einmal richtig“, meinte sie.

„Nica“, sagte ich. „Oder soll ich besser Jessy sagen?“

Erschrocken wich Nica einen Schritt zurück und sah mich mit weit aufgerissenen Augen an.

„Ich habe einen Teil deines Gespräches mit diesem Gabriel an Silvester mitbekommen. Und auch den Streit eben“, erklärte ich. „Du brauchst mich, um frei werden zu können. Wovon auch immer.“

„Ich will dich da nicht mit hinein ziehen“, sagte Nica schwach.

„Aber du wirst es tun“, erwiderte ich. Ich bemerkte, wie Nica versuchte aufsteigende Tränen weg zu blinzeln. Langsam trat ich auf sie zu und nahm sie vorsichtig in den Arm. Sie ließ es geschehen, lehnte sich sogar an mich, vergrub das Gesicht an meiner Schulter und weinte. Ich hielt sie schweigend fest und strich ihr sanft über den Rücken.

„Erzähl mir was los ist“, bat ich, als ihre Tränen schließlich versiegt waren. „Ich werde dir helfen. Egal was das bedeutet.“

„Ich will nicht, dass du dich für mich in Gefahr begibst. Und gefährlich wird es definitiv“, entgegnete Nica.

„Kannst du dir selbst helfen?“, fragte ich. Nica löste sich aus meiner Umarmung und trat zurück. „Nein.“

„Dann wirst du mich brauchen.“

„Ich kann dir das nicht erzählen. Das könnte mich mein Leben kosten. Und deines auch.“

„Dann sag mir einfach nur was ich tun muss. Du kannst mich sowieso nicht davon abbringen.“

Nica seufzte und schüttelte leicht denn Kopf. Dann aber forderte sie mich auf im Sessel Platz zu nehmen, setzte sich selbst auf das Bett und fing an mir zu erklären was ich tun musste.

 

Zwei Tage später stand ich vor Nicas Elternhaus an der Straße und wartete darauf abgeholt zu werden. Es war ein schwarzer BMW, der schließlich vor mir hielt. Die Tür öffnete sich wie von selbst und ich stieg ein. Es war ein Asiat, der am Steuer saß. Aber er gab keinen Ton von sich. Weder einen Gruß noch irgendetwas anderes. Und so schwieg auch ich. Die Fahrt bis zu unserem Ziel war lang und die Strecke so reich an Kreuzungen und anderen Abbiegungen, dass es unmöglich war sich den Weg zu merken. Nach eineinhalb Stunden hielt der Wagen schließlich vor einem großen Gebäude, das aussah wie ein einziger Betonklotz. Wir stiegen aus und der Fahrer des BMW führte mich an die große Eingangstür, wo er ein Codeschloss bedienen musste, um sie zu öffnen. Wir traten in eine riesengroße Halle, die vollkommen leer war und ich fragte mich was wir hier wollten. Der Asiat ging schweigend auf eine seltsame Platte, die an der Wand befestigt war, zu und drückte seine Hand flach dagegen. Ein elektronisches Summen ertönte. Dann öffnete sich eine Tapetentür und wir betraten einen Aufzug, der uns unter die Erde brachte. Ich war fasziniert, staunte aber noch mehr, als der Fahrstuhl hielt und wir in einen Gang traten, von dem weitere Gänge mit unzähligen Türen ausgingen. Alles war auf höchster Stufe modernisiert und sah aus wie in einem Science Fiction Film. Die Wände waren weiß und wurden nur von eisblauen Türrahmen oder seltsamen Geräten unterbrochen. Von der Decke leuchteten weiß-blaue Neonröhren, die die gesamte Anlage bis in den letzten Winkel in unwirkliches Licht tauchten. Alles war extrem gesichert. Der Asiat schritt zielstrebig durch die Gänge. Ich folgte ihm und schließlich öffnete er eine Tür, hinter der sich eine Art Empfangsraum befand. Der Mann deutete auf einen hochmodern, fast ausschließlich aus Rundungen konstruierten Sessel und ließ mich allein. Es dauerte eine Weile, bis jemand kam und als die Tür endlich geöffnet wurde, trat eben der Mann ein, den ich aus Nicas Wohnwagen hatte kommen sehen.

„Sieh an. Wen haben wir denn da?“, sagte er und grinste breit. „Unsere kleine Jessy hat es also tatsächlich geschafft dich hierher zu locken.“

Ich wusste nicht was ich sagen sollte, also schwieg ich.

„Wieso so schüchtern?“, fragte der Mann.

„Wo ist sie?“, fragte ich zurück. Der Mann lachte. „Du willst also gleich zur Sache kommen. Das gefällt mir. Also schön. Ich werde dich zu ihr bringen. Komm mit.“ Er ging voraus, durch mehrere Türen und schließlich in einen Raum, dessen Frontseite aus Glas bestand, sodass man von ihm aus hinunter in eine größere Halle mit allerlei Maschinen, die von der Decke hingen oder auf dem Boden standen, blicken konnte. Mehrere Schaltpulte standen vor der Glaswand, sodass ich den Eindruck hatte mich in einer Schaltzentrale zu befinden. Der Mann trat an die Scheibe heran und deutete in die Halle, wo ich fünf Mädchen entdeckte, die auf ein paar Kisten saßen und sich zu unterhalten schienen.

„Ich will zu ihnen runter“, sagte ich. Der Mann drückte auf einen Knopf und eine der großen Bodenplatten nahe der Wand hob sich ein Stück aus dem Boden. Mit einer Handbewegung bedeutete der Mann mir dass ich sie betreten sollte. Als ich das getan hatte, trat er selbst dazu und die Platte senkte sich mit uns zusammen in die Tiefe wie eine Art Fahrstuhl. Als ich in der Halle stand, sahen die Mädchen gleichgültig zu uns herüber. Drei von ihnen sahen aus wie Drillinge, hatten aber gleichzeitig überhaupt keine Ähnlichkeit miteinander. Die anderen beiden sahen ganz anders aus als sie. Ich erkannte Monica sofort, aber im selben Moment wusste ich auch, dass das nicht die Monica war, die auch Jessy genannt wurde. Jetzt erst wurde mir klar, was Nica gemeint haben musste, als sie gesagt hatte ich würde sie nicht erkennen. Hier hatten Maskenbildner ihre Finger im Spiel und ich musste das Mädchen finden, in das ich mich verliebt hatte. Zuerst wünschte ich mir ich wäre nie hierher gekommen, aber dann sah ich Nicas traurigen Blick vor meinen inneren Augen und plötzlich wusste ich wer von den Mädchen sie war. Ich erkannte ihre Augen und die sagten mir die Wahrheit. Ich zeigte auf eine der drei, die gleich auszusehen schienen und sagte: „Das ist sie.“

Einen Moment lang sah der Mann mich fast verblüfft an. Dann stieß er einen unterdrückten Fluch aus, während ich das plötzliche Strahlen der Augen des Mädchens bemerkte, das mir sagte, dass ich Recht hatte.

„Also schön“, sagte der Mann. „Du hast gewonnen. Ihr könnt wieder an dir Arbeit gehen. Bis auf Jessy.“

Die Mädchen verließen die Halle durch eine große Tür und ließen Nica und mich mit dem Mann allein.

„Das war eine Leistung“, sagte dieser. „Ich hätte nicht gedacht, dass dein Freund es tatsächlich schaffen würde euch zu unterscheiden, aber ich werde mein Versprechen natürlich halten. Weiter habe ich dir nichts zu sagen, als dass du zu Gabriel gehen kannst. Er klärt den Rest mit euch.“ Mit diesen Worten ging auch er. Nica und ich sahen ihm nach. Dann nahm sie meine Hand und führte mich durch eine weitere Tür und mehrere Gänge in einen kleinen Raum, der wie ein Büro eingerichtet war. Ein Mann saß an einem, wie alles hier war, hochmodernen Schreibtisch und blickte auf, als wir eintraten. Ich erkannte ihn als den jungen Mann, der an Silvester in unser Gruppenhaus gekommen war: Gabriel. Er lächelte, als er Nica erkannte und sagte an mich gewandt: „Reife Leistung.“

„Du weißt es schon?“, fragte Nica erstaunt.

„Sicher“, erwiderte Gabriel. „Wir verfügen hier über hochmoderne Kommunikationstechnik, falls dir das entfallen sein sollte.“ Er grinste und Nica lachte.

„Sven hat mir gerade gefunkt“, sagte Gabriel erklärend. Nica nickte. „Lässt er mich wirklich einfach so gehen?“, fragte sie dann. Gabriel schüttelte leicht den Kopf. „Ich fürchte nicht, nein.“

Nica seufzte. „Was hat er dir aufgetragen?“, wollte sie wissen.

„Euch zu eliminieren“, erwiderte Gabriel.

Nica sah zu Boden. „Ich hätte es wissen müssen.“

„Jess.“

Immer noch hielt sie den Blick gesenkt.

„Sieh mich an. - Sehe ich aus als würde ich diesen Auftrag ausführen?", fragte Gabriel, als sie aufsah.

„Ich weiß nicht“, erwiderte Nica. Gabriel schob einen großen Umschlag auf dem Tisch in unsere Richtung. „Das ist für dich.“

Fragend sah Nica ihn an, nahm den Umschlag und öffnete ihn. Ein paar Papiere, eine Kontokarte, ein Schlüssel und ein Personalausweis kamen zum Vorschein.

„Auf dem Konto ist das, was dir rechtmäßig zusteht und noch ein kleiner Zuschuss von mir. Dürfte dir für die nächsten zwanzig Jahre reichen“, meinte Gabriel und bevor Nica etwas erwidern konnte, fuhr er fort: „Der Schlüssel gehört zu einer kleinen Wohnung, die ich auf deinen Namen gemietet habe. Für den Anfang sollte sie reichen. Toni wird euch nach draußen bringen. Ich hoffe er hat Monica schon exportiert.“

„Monica?“, fragte Nica.

„Glaubst du Sven lässt sie wirklich zu ihrer Familie zurück kehren?“, fragte Gabriel zurück. „Dies ist eine Organisation, dessen Sinn und Zweck einzig und allein darin besteht Dinge zu erschaffen, die es möglich machen die Welt zu beherrschen. Rechte gibt es nur für den Boss und dem ist das Leben aller anderen egal, wenn es darum geht die Geheimhaltung zu wahren.“

„Wieso tust du das für uns?“, wollte Nica wissen.

„Ich bin kein Mörder, Jess. Und ich bin auch nicht bereit Morde zu organisieren.“

„Aber du gehst das Risiko ein, dass ich alles auffliegen lasse und du ...“

„Dieses Risiko gehe ich seit zehn Jahren ein, Jessy. Ihr seid nicht die ersten, die ich auf meine Art verschwinden lasse und werdet wohl auch nicht die letzten sein. Noch lebe ich, da die meisten irgenwo ein neues Leben angefangen haben und die Existenz dieser Anlage verschweigen.“

„Woher willst du wissen, dass auch ich schweigen werde?“

Gabriel lächelte. „Ich weiß, dass du es nicht tun wirst. Aber das ist in Ordnung, solange du dir darüber im Klaren bist, dass auch du gejagt werden wirst, wenn sich heraus stellt, dass du noch lebst.“

„Versprich mir, dass du dich rechtzeitig absetzen wirst, wenn ich hier draußen bin“, bat Nica. Wieder lächelte Gabriel. „Wenn ich das schaffe, sehen wir uns heute nicht zum letzten Mal.“ Er stand auf und breitete die Arme aus. „Komm her.“

Nica umarmte den jungen Mann und sagte dann: „Danke für alles.“ Gabriel lächelte erneut. „Seht zu, dass ihr hier raus kommt.“

Nica und ich wandten uns zum Gehen.

„Lass die Maske hier“, sagte Gabriel plötzlich. Nica drehte sich noch einmal zu ihm um. Dann zog sie sich eine Gummi-Maske vom Gesicht, nahm eine Perücke vom Kopf und stand als völlig andere Person vor mir. Ich war total erstaunt, aber Nica ließ mir keine Zeit sie zu betrachten, sondern warf Maske und Perücke auf den Tisch, nahm wieder meine Hand und öffnete die Tür.

„Pass gut auf deine Freundin auf“, sagte Gabriel noch zu mir. Dann traten wir auf den Gang, wo ein junger Mann uns bedeutete ihm zu folgen. Es ging durch mehrere Gänge, deren Türen mit Handscannern gesichert waren, die Toni alle öffnete und als wir schließlich ins Freie traten, ging er auf einen Wagen zu, der unter großen Kastanienbäumen parkte. „Der Herr nehme bitte vorne Platz“, sagte er und setzte sich ans Steuer. Wir stiegen ebenfalls ein. Nica setzte sich auf den Rücksitz, wo bereits ein Mädchen saß. Es war Monica. Die echte Monica. Während der Fahrt sagte keiner ein Wort. Nach etwa eineinhalb Stunden hielt der Wagen vor Nicas Elternhaus. Wir bedankten uns kurz bei dem Fahrer und stiegen aus. Alle drei. Nica und Monica sahen sich an.

„Vielleicht wirst du mir nicht glauben“, begann Nica. „aber es tut mir ...“

„Sag nichts“, unterbrach Monica sie. „Unter normalen Umständen würde ich dich für alles hassen, was passiert ist, aber Gabriel hat mir alles erklärt und ich denke ich sollte dir vergeben.“

Nica schien erleichtert, als sie 'Danke' sagte. Dann schwiegen beide eine Weile. Schließlich meinte Monica: „Ich weiß zwar nicht, was mich bei meinen Eltern jetzt erwartet und wie ich ihnen begegnen soll, aber ... ich denke das werde ich irgendwie hinbekommen. Willst du noch ...“

„Ich werde jetzt mein eigenes Leben leben“, unterbrach jetzt Nica sie. „Ich werde mich nicht weiter in dein Leben einmischen. Gabriel hat alles für mich organisiert.“

„In Ordnung“, sagte Monica und Nica fischte den Personalausweis aus dem Umschlag, den sie natürlich immer noch in der Hand hatte.

„Jessica Tabea Hofmeier“, las sie ihren neuen Namen vor. Dann drehte sie den Ausweis um und las auch die dokumentierte Adresse vor, bevor sie mich ansah. Ich machte eine Kopfbewegung zu meinem Auto hin, das immer noch dort parkte, wo ich es abgestellt hatte, bevor ich auf meine Abholung gewartet hatte. „Fahren wir hin.“

 

Auch diesmal sprachen wir nicht während der Fahrt. Als wir die kleine, schlicht eingerichtete Wohnung in einem nicht sehr großen, dreistöckigen Haus betreten hatten, Jess nach einem kurzen Rundgang durch alle Räume den Umschlag auf den Küchentisch gelegt hatte und mich ansah, betrachtete ich sie. Sie sah absolut anders aus als ich sie kannte. Dunkelbraune glatte Haare fielen ihr auf die Schultern. Es war seitlich gescheitelt und mit einem durchgestuften Pony versehen. Ihre Haut war leicht gebräunt, Augenbrauen und Lippen geschwungen und die Nase gerade. Nur ihre Augen waren geblieben. Hatte ich sie als Nica hübsch gefunden, so fand ich sie jetzt wunderschön.

Jess lehnte sich an die Wand und schloss die Augen. Ein Gefühl sagte mir, dass sie Angst hatte, weil sie nicht wusste wie ich jetzt von ihr dachte. Langsam trat ich auf sie zu und legte meine Hände an ihre Taille. Sie sah mich an und legte dann eine Hand an meinen Brustkorb. „Als Nica hast du mich geliebt“, sagte sie leise.

„Und als Jess liebe ich dich noch mehr“, entgegnete ich.

„Ich bin nicht mehr das was ich gestern noch war.“

„Aber deine Augen sind die selben geblieben. Und hinter ihnen liegt alles in das ich mich verliebt habe.“

Jess blieb einen Moment lang still und sah mich an, als würde sie aus mir nicht schlau. Dann bat sie kaum vernehmbar: „Küss mich.“

Ich zögerte nicht, aber ich näherte mich ihr nur langsam und während ich sie alles andere als stürmisch küsste, legte sie ihre Arme um meinen Hals und stieß sich von der Wand ab, sodass ich sie besser in den Arm nehmen konnte. Als unsere Lippen sich schließlich wieder voneinander lösten, sah sie mich an. „Ich ... habe lange nicht mehr geliebt“, sagte sie zögernd. „Und lange nicht daran geglaubt, dass es wahre Liebe wirklich gibt. Aber ich denke ... man muss Liebe empfangen, um sie weiter geben zu können. Du ... Deine Gruppe ... Ihr habt einen Gott, der euch liebt ... und dem ihr vertrauen könnt. Das ist schön. Ich bin froh die Gruppe kennen gelernt zu haben. Aber ich habe in meinem Leben alles falsch gemacht. Ich hoffe meine Freunde bleiben meine Freunde, obwohl sich jetzt alles ändern muss.“

„Du bist Sams beste Freundin, Jessy. Dein Charakter hat sich doch nicht verändert, nur weil du jetzt anders aussiehst. Ich denke nicht, dass sie dir die Freundschaft kündigen wird. Dazu ist sie zu vernünftig. Sicher wird sie etwas Zeit brauchen, um das alles zu begreifen, die anderen auch, aber ich glaube wir alle können stolz darauf sein, dass du es geschafft hast von dieser Organisation weg zu kommen.“

„Mit deiner Hilfe.“ Jess drückte mich einmal fest. „Ich danke dir.“

 

Der Rest der Woche verlief ohne dass ich Jess noch einmal sah, da sie mir gesagt hatte sie müsse ausführlich einkaufen, denn sie hatte weder Lebensmittel in ihrem Kühlschrank, noch Klamotten in ihrem Kleiderschrank, weil sie alles bei Monica gelassen hatte, die ihrerseits viel zu tun hatte, da sie ihrer Familie beibringen musste, warum sie so lange abwesend gewesen war und einen Ersatz zu Hause gelassen hatte.

Am Samstag rief Jess mich dann an und sagte: „Ich habe gestern mit Nica gesprochen. Es ist komisch, den Namen, mit dem mich bisher alle angesprochen haben, auf jemand anderen zu verwenden. Ich glaube ich werde mich noch lange angesprochen fühlen, wenn sie gemeint sein wird.“ Ich hörte an ihrer Stimme, dass sie lächelte. „Wir haben uns recht gut unterhalten und beschlossen, dass ich morgen in der Gruppe alles aufdecken werde. Es gibt nur ein Problem: Es kann passieren, dass auch du dann in Gefahr sein wirst.“

Ich wusste immer noch nicht genau was es mit dieser Organisation für Entwicklungen zur Weltherrschaft, oder wie auch immer das genannt werden sollte, auf sich hatte, aber ich wusste, dass es Jess wichtig war ihr Leben zu ordnen. Und dazu musste sie jedem die Wahrheit sagen, mit dem sie in ihrem gelogenen Leben in Kontakt gewesen war. Und so sagte ich: „Es kommt alles wie es kommen muss. Mach dir um mich keine Sorgen. Das ist alles in Ordnung.“

Als ich am nächsten Tag das Gruppenhaus betrat, standen John und Felix mit ein paar weiteren Jungs mitten im Eingangsbereich und unterhielten sich. Wie ich meine beiden besten Freunde so da stehen sah, wurde mir plötzlich bewusst, dass sie überhaupt nichts von alldem mitbekommen hatten, was sich in den letzten Tagen ereignet hatte.

Kurz vor Beginn der Gemeinschaft, als alle bereits einen Platz an den in einer Runde angeordneten Tischen eingenommen hatten, betrat Jess den Raum.

„Wer ist das denn?“, fragte John neben mir. Unsere Plätze befanden sich der Tür gegenüber.

„Meine Freundin“, sagte ich knapp, was er mir natürlich nicht glaubte, weshalb er zu lachen anfing und 'Spinner' von sich gab. Ich sagte nichts weiter, musste aber grinsen. Niemand hier wusste wer Jess war, weshalb es auch nicht verwunderlich war, dass niemand davon ausging, dass ausgerechnet ich sie kannte oder gar ihr Freund war. Alle Blicke richteten sich auf sie und nachdem Jess ein paar erklärende Worte mit unserem Gruppenleiter gewechselt hatte, begann sie: „Ich möchte gerne etwas erzählen, das mit euch allen hier zu tun hat.“

„Diese Stimme kommt mir bekannt vor“, meinte John.

„Ich sag doch, das ist meine Freundin“, entgegnete ich. John schüttelte nur grinsend den Kopf.

„Vorab muss ich sagen, dass meine Geschichte viel Zeit in Anspruch nehmen wird. Ich hoffe das ist ausnahmsweise einmal nicht so schlimm. Jess wartete eine Weile, aber keiner sagte etwas. Wahrscheinlich waren alle viel zu neugierig darauf, was jetzt kommen würde. Sie fuhr fort: „Mein Name ist Jessica. Ich möchte euch mein Leben erzählen, aber ihr müsst wissen, dass ich bisher kein normales Leben geführt habe. Ich bin in Hannover geboren. Meine Mutter starb bei meiner Geburt und mein Vater war drogenabhängig, sodass ich in ein Heim gesteckt wurde, aber nie einen richtigen Namen bekam. Den Namen Jessica gab ich mir selbst. Im Heim verlief eigentlich alles normal. Ich ging zur Schule, hatte Freunde und lebte mein Leben so dahin. Als ich aber 16 wurde, musste ich das Heim verlassen und machte eine Ausbildung zur Floristin, was eine absolute Fehlentscheidung war, denn der Florist, bei dem ich arbeitete, war nach einem Jahr pleite, sodass ich meine Ausbildung nicht abschließen konnte und Schwierigkeiten hatte eine andere Stelle zu bekommen. So war ich mit 17 arbeitslos und hatte nicht viel Geld. Bis hierhin klingt das alles wenigstens halbwegs gewöhnlich, aber alles andere ... Irgendwann lernte ich einen jungen Mann kennen, mit dem ich mich sehr gut anfreundete und der mir nach einiger Zeit anbot mir einen Job zu verschaffen. Er hatte gute Kontakte, durch die ich einen gut bezahlten Job bekommen konnte. So kam ich in eine Organisation, die sich als 'Weltreich' bezeichnete. Anfangs hinterfragte ich diese Bezeichnung nicht, obwohl mir strengste Diskretion über alles geboten wurde. Ich musste zunächst nichts weiter tun, als Daten, die mir von unterschiedlichen Mitarbeitern zugestellt wurden, in den Computer zu übertragen und auszuwerten. Was die Daten zu bedeuten hatten, wusste ich nicht, aber es interessierte mich auch nicht, solange ich monatlich meine 2300€ bekam. Als ich etwa zwei Monate meinen Job getan hatte, begann mich aber doch zu interessieren, was das alles überhaupt zu bedeuten hatte und ich stellte ein paar Nachforschungen an. So bekam ich bald heraus, dass die Organisation allerhand technische Geräte entwickelte, die über weitaus höhere Funktionen verfügten, als alles andere, das es bisher gab. Darunter gab es auch Roboter, die so groß und so stark waren, dass sie problemlos einen Laster hätten hochheben und durch die Luft werfen können. Aber es gab auch Roboter, die zwar so winzig waren wie ein kleiner Finger, aber so komplex gebaut, dass man sie zur Spionage beispielsweise gut verwenden konnte. Zudem brachte ich in Erfahrung, dass einige Unternehmen ausgehorcht wurden, indem man solche Geräte einsetzte, oder Mitarbeiter von 'Weltreich' mit Hilfe von Masken zu anderen Menschen gemacht wurden, sodass sie Mitarbeiter anderer Firmen ersetzen konnten. Irgendwann kam es, dass auch ich solche Aufgaben übernehmen musste und für einzelne Tage eine völlig andere Person spielte, die zu diesem Zweck vorübergehend aus dem Verkehr gezogen wurde. Nein, das war nicht richtig, aber ich tat es ohne mir Gedanken darüber zu machen was es für diese Menschen bedeutete. Dann kam es, dass eine weitere, besonders spezielle Maschine entwickelt werden sollte, wofür allerdings Unterlagen einer anderen, seriösen Firma eingesehen werden mussten, die jedoch nur ein Tetrachromat sehen konnte, wovon es bekanntlich nicht allzu viele gibt. Muss ich erklären was ein Tetrachromat ist, oder ...“ Jess blickte in die Gruppe. Allgemeine Unwissenheit lag auf den Gesichtern, wie ich mit einem kurzen Blick in die Runde feststellte, und so erklärte sie: „Ein Tetrachromat ist jemand, der verschiedene Gelbtöne nicht mehr nur als gelb sieht, sondern als ganz unterschiedliche Farben. So kann er, wenn wir als normale Menschen eine einfache gelbe Fläche sehen, beispielsweise ein Muster oder ein Bild erkennen. Dieses Prinzip gibt es meines Wissens nach auch bei der Farbe Lila. Eigentlich kommt es nur bei Insekten vor. Bei Menschen wird es als Krankheit angesehen. Der Entwickler der Firma, deren Unterlagen wir brauchten, war ein Tetrachromat und entwickelte seine Pläne auf eine solche Art, um die Geheimhaltung der Unterlagen zu sichern. Unsere Organisation stellte also Nachforschungen an, um einen Tetrachromaten zu finden, da nur dadurch etwas aus den Plänen gemacht werden konnte, und entdeckte jemanden aus eben dieser Gruppe. Monica Israel.“

Jess hatte den Namen gerade ausgesprochen, als die Tür leise geöffnet wurde und Nica den Raum betrat. Ein Murmeln ging durch dir Reihen, doch Jess redete weiter: „Es wurde bald klar, dass Monica niemals freiwillig für 'Weltreich' arbeiten würde, da es illegal ist, andere Firmen auszuspionieren, um an deren Pläne zu kommen. Also musste sie entführt und ersetzt werden. Die Wahl der Ersatzperson viel nach einigem hin und her auf mich. Damit der Tausch nicht auffiel, musste nicht nur für die Maskerade gesorgt werden, sondern auch Monicas Erinnerungen mussten scheinbar gelöscht werden, denn ich wusste natürlich nicht wie sie bisher gelebt hatte. Also wurde ein Unfall vorgetäuscht, bei dem Monica nichts weiter als eine starke Gehirnerschütterung erleiden sollte, um alles, was bisher gewesen war, zu vergessen. Natürlich erlitt sie nicht wirklich einen Gedächtnisschwund, sondern wurde nur im Krankenhaus gegen mich ausgetauscht. Und so kam ich, nachdem ich ein halbes Jahr lang die nach ihren Erinnerungen suchende Monica gespielt hatte, das erste Mal in diese Gruppe, wo mich tatsächlich alle für die echte Monica hielten und sogar die Geschichte mit dem Gedächtnisschwund geglaubt wurde. Ich bekam hier neue Freunde und war regelmäßig anwesendes Mitglied der Jugendgruppe. Anfangs war die Umstellung für mich natürlich schwierig, denn plötzlich hatte ich eine Familie, neue Regeln, an die ich mich halten musste und gehörte einer Gruppe an deren Überzeugungen ich nicht kannte, aber nach einiger Zeit hatte ich mich mehr oder weniger eingelebt und lebte als Monica weiter. Natürlich nicht einfach so. Ich wurde ziemlich stark überwacht und musste mich regelmäßig bei der Organisation melden, um Bericht zu erstatten, was über ein spezielles Computerprogramm geschah. Das erste Jahr verlief relativ glatt, aber im zweiten Jahr fing ich an mir Gedanken darüber zu machen, was der Glaube, der hier gelebt wird, zu bedeuten hat. Zum ersten Mal in meinem Leben beschäftigte ich mich bewusst mit allem, was ich angerichtet hatte und immer noch anrichtete und wie stark das Kartenhaus, das ich während der ganzen Zeit aus Lügen um mich herum gebaut hatte, bei jeder meiner engeren Freundschaften ins Wanken geraten und einstürzen konnte, nur weil ich den Versuch unternahm ehrlich zu sein. Ich bekam Angst, dass ich dazu verdammt sein konnte mein ganzes Leben etwas sein zu müssen, das ich nicht war und auch nicht sein wollte, nie zu sein gewollt hatte. Etwas, das mein Chef als meinen Job bezeichnete, für mich aber alles war, das ich kannte. In dieser Phase freundete ich mich dann auch mit jemandem aus dieser Gruppe an. Oder sagen wir er freundete sich mit mir an.“

Bei dieser Aussage musste ich grinsen.

„Zunächst ging ich nur darauf ein, weil ich hoffte abschalten zu können, wenn ein Wenig Abwechslung in mein Leben käme, aber als ich dann anfing diesen Menschen zu lieben, wurde die Sache riskant, weil ich niemals als Monica eine Beziehung eingehen könnte. So kam es zu Streitereien mit meinem Chef. Ich wollte aussteigen, was ich nicht einfach so konnte, wenn ich nicht umgebracht werden wollte. Mein Chef versprach mir die Freiheit zu geben, wenn er dafür meinen neuen Freund bekäme. Das heißt: Mein neuer Freund sollte mich aus einer Gruppe von fünf Mädchen erkennen. Wenn ihm das gelänge, kämen wir beide frei, wenn nicht ... Nun ja. Der Rest ist wohl auch so klar. Darauf wollte ich natürlich nicht eingehen. Dummerweise bekam der Betroffene den Streit mit, weil er mich gerade besuchen wollte und bestand später darauf es zu versuchen. Es gelang ihm auch, aber mein Chef wollte sich natürlich nicht einfach so an die Abmachung halten. Wir sollten beseitigt werden. Derjenige, der unseren Tod organisieren sollte, war jedoch nicht bereit dazu, sodass er stattdessen unsere Flucht organisierte und auch Monica wieder zu ihrer Familie zurück kam. Ich bekam eine neue Existenz und so stehe ich jetzt hier. Es tut mir leid, dass ich euch alle und vor allem meine besten Freunde, belogen habe und es tut mir leid, dass ich dadurch so viel zerstört habe. - Ich weiß, dass meine Geschichte in aller Welt bekannt werden wird, wenn die heutige Gemeinschaft beendet ist, egal wie sehr sich jeder einzelne von euch vornimmt zu schweigen. Es ist immer so, dass alles irgendwie ausgeplaudert wird und ich werde es niemandem übel nehmen, obwohl das unweigerlich zur Folge haben wird, dass Monica, Jan-Philip und ich gejagt sein werden.“

Plötzlich saß John senkrecht neben mir und sah mich entgeistert an. „Sie ist ja wirklich deine Freundin.“

Ich lächelte nur und legte den Zeigefinger auf die Lippen, damit er still war, aber viel brachte das ohnehin nicht. Alle Augen richteten sich auf mich und ich wünschte mir weit weg zu sein.

„Viel mehr will ich gar nicht sagen“, meinte Jess weiter. „Ausschließlich ein großes Danke möchte ich noch aussprechen. Ich danke euch allen, dass ihr mir gezeigt habt, welch ein Geschenk das Leben ist und hoffe, dass ich diesen Zettel“ Sie hielt den Papierbogen, der an Silvester zu ihrer Person gemacht worden war, in die Luft. „guten Gewissens aufheben darf. Ich habe mich über die Dinge gefreut, die ihr darauf vermerkt habt.“ Jess schloss ihre Erzählungen und verließ das Gruppenhaus. An ihrer Stelle trat Monica nun vor und sagte: „Ich weiß nicht wie ich das, was mir auf dem Herzen liegt, alles sagen soll. Wie ihr seht, bin auch ich wieder da und diesmal als leibhaftige Monica und nicht als Ersatz. Ich habe die letzten zwei Jahre in eben der Organisation verbracht, von der Jessy eben gesprochen hat und es war alles andere als schön. Ich hoffe ich bin hier bei euch immer noch genauso willkommen wie vor diesen zwei Jahren und möchte euch bitten: Lasst Jessica nicht aus der Gruppe treten, egal wie seltsam das alles auf euch wirken mag. Sie ist ein toller Mensch und hat es verdient neu anfangen zu dürfen.“ Mit diesen Worten ging auch sie.

Unser Gruppenleiter, der ziemlich verwirrt zu sein schien, wie alle anderen auch, stand da und blickte unschlüssig in die Runde. Dann sagte er: „Ich glaube unter diesen Umständen verschieben wir das heutige Gruppenprogramm auf nächste Woche und … Ja, ich weiß auch nicht.“

Ich wusste, dass es noch eine Weile dauern würde, bis die ersten alles soweit begriffen hatten, dass sie aufstehen und ebenfalls gehen würden, aber ich wollte nicht, dass Jess und Nica die Gruppe heute so verließen. Ich wollte, dass sie beide schon jetzt wissen durften, dass sie ein fester Bestandteil der Gruppe waren. Also stand ich auf und ging ebenfalls nach draußen, wo ich die beiden gerade noch davon abhalten konnte in Nicas Auto zu steigen und davon zu fahren, bevor Sam und die anderen die Möglichkeit ergriffen alles zu klären.

John war der erste, der in den Hof trat. Ihm folgten Sam und Felix und schließlich Debbie und Leonie mit allen anderen.

John und Sam traten als erstes auf uns zu. Dann gesellten sich Felix, Debbie und Leonie dazu, während die anderen zunächst etwas abseits kleinere Grüppchen bildeten und dann nach und nach nach Hause fuhren. Die Atmosphäre in unserem Kreis war angespannt, was sich auch nicht änderte als unser Gruppenleiter sich zu uns stellte. Es kam kaum ein richtiges Gespräch zustande. Erst als Jess vorschlug in ihre Wohnung zu fahren, um dort zu reden, worauf wir uns auf den Weg zu meinem und Johns Auto machten, abgesehen von unserem Gruppenleiter, der jetzt ebenfalls nach Hause fuhr, entspannten wir uns alle ein Wenig.

Der Abend bei Jess gestaltete sich schließlich als angenehme Gesprächsrunde, in der wir uns alle näher kamen, obwohl die Luft, aufgrund der eigenartigen Umstände, zunächst auch hier noch zu knistern schien. Nach und nach lockerte sich die Stimmung bei Tee und Keksen und schließlich verstanden wir uns alle recht gut.

Dies war der erste Tag, an dem wir uns in dieser Zusammenstellung trafen. Hinterher geschah das noch öfter, wobei sich später noch zwei weitere Freunde von John, Felix und mir uns anschlossen, sodass wir einen Freundeskreis von zehn Personen bildeten. Jess, Nica, Sam, Debbie, Leonie, John, Felix, Gedeon, Marc und ich.

Bevor ich aber vergesse eine wichtige Sache noch zu erwähnen, will ich jetzt sagen, dass zu unserer Gruppe auch ein Mädchen gehörte, deren Vater Polizist war und diesem Jessys Geschichte natürlich erzählte. Dank dieses Mannes und unserer Hilfe konnte 'Weltreich' nach einigen Bemühungen auffliegen und die meisten der Mitarbeiter wurden nach einem Gerichtsprozess verhaftet. So auch Sven und Gabriel, wobei letzterer eine vergleichsweise geringe Strafe bekam, weil er viele ehemalige Mitarbeiter statt zu töten verschwinden lassen hatte. So bekam er fünf Jahre Gefängnis, wurde nach den ersten beiden aber wegen guter Führung bereits wieder entlassen und stieß jetzt auch hin und wieder zu den Treffen, die wir als Freunde organisierten.

In der Zwischenzeit hatte Jess sich mit der helfenden Beratung von uns Freunden bereits ein Haus bauen lassen, wie sie es sich schon immer gewünscht hatte, was bei zwei Millionen Euro auf dem Konto problemlos möglich war. Zudem hatte ich erfahren, dass es Tim gewesen war, der sie in die Organisation gebracht hatte, und dass Jess, trotz des Wissens um seine Krankheit, keine Beziehung mit ihm eingegangen war.

 

Heute, fünf Jahre nachdem alles begann, ist Sam mit Felix zusammen und Debbie mit Gedeon verlobt. John ist noch Single, aber es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis er mit Nica zusammen kommen wird. Ich dagegen bin seit einem halben Jahr mit Jess verheiratet und warte auf den Tag an dem ich Vater werde, denn Jess ist im vierten Monat mit Zwillingen schwanger. Ob es Mädchen oder Jungen werden, weiß nur Jess. Ich lasse mich da überraschen, aber egal wie die Natur es will, ich werde der glücklichste Mann auf Erden sein.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 10.04.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meinen Lieblings-Cousin und besten Freund Dennis, der immer so viel Zeit für mich hat. Danke für alles. Ich hab dich lieb.

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