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21. Oktober 2010

Es war ein angenehmer Donnerstagabend. Die Uhr in meinem Zimmer zeigte kurz vor neun, als ich meine Mutter von meinem Schreibtisch aus an meiner offenen Zimmertür vorbei hektisch ins Arbeitszimmer eilen sah. Ich hörte das Klacken des Dachfensters, als sie es aufriss und stand auf. Es war sehr selten, dass ich meine Mutter aufgeregt erlebte. Sonst war sie nicht besonders leicht aus der Ruhe zu bringen. Ich wusste sofort, dass etwas nicht stimmte und als ich hinter meine Mutter trat, die erschrocken in die sternenklare Nacht hinaus blickte, sah ich auch schon den rot-orange gefärbten Himmel, in dessen glühendem Leuchten graue Wolken schwollen. Jetzt erst realisierte ich die Sirenen der Feuerwehr und kurze Zeit später verlangsamten auch schon drei Löschfahrzeuge unmittelbar vor unserem Haus das Tempo, um in die nächste Seitenstraße zu biegen. Ein ungutes Gefühl kroch in mir hoch, als ich feststellte, dass es nur zwei Häuserblocks weiter brennen musste. Es war eine dumpfe Vorahnung, die sich in mir breit machte, mir wie Übelkeit in den Hals stieg und mich würgte. Ich versuchte vergebens sie zu verdrängen. Die Angst, die ich im Gesicht meiner Mutter sehen konnte, übertrug sich auf mich und wuchs in mir. Ohne mir selbst wirklich bewusst zu werden was ich tat, verließ ich den Raum, zog mir Jacke und Schuhe an und rannte nach draußen, dem Feuer entgegen. An der kleinen Bahnunterführung, die ich passieren musste, standen bereits dutzende von Schaulustigen, durch deren Menge ich mich hindurch zwängen musste, um näher an das Geschehen heran zu kommen. Einige von ihnen kannte ich. Sie riefen mir zu ich sollte nicht weiter gehen, aber ich beachtete sie nicht, sondern setzte meinen Weg fort. Der Rauch brannte mir in den Augen und rief Tränen hervor, aber ich blieb nicht stehen. Auch nach der Unterführung traf ich auf eine Menge Menschen. Allerdings standen sie hier nicht so dicht, dass ich mir den Weg erst bahnen musste. Ich rannte weiter. Als ich die Quelle des Rauches direkt vor mir sah, hatte ich plötzlich das Gefühl als hätte mir jemand eine Ladung Steine auf das Herz gelegt, so schwer fühlte es sich auf einmal an. Hatte ich eben noch gehofft, dass sich meine Ahnung nicht bestätigen würde, so machte sich jetzt Mutlosigkeit in mir breit. Das Haus, das da vor mir lichterloh brannte, hatte ich in meinem Leben schon sehr oft betreten. Ob wohl noch jemand...
„Nein, es war niemand im Haus“, hörte ich jemanden auf eine Frage antworten, die ich nicht verstanden hatte. Ich fing den Funken Hoffnung auf, den diese Aussage mir zuwarf und beobachtete wie die Leute der Feuerwehr in aller Ruhe die Schläuche der Löschfahrzeuge zogen und an Wasserleitungen im Asphalt schlossen, um dann durch die bereits zerbrochenen Fenster auf die Flammen zu zielen. Für sie war ein Brand bereits zum Alltag und ihre Arbeit zur Gewohnheit geworden.
Es krachte, als weitere Fenster von der Kraft des Wassers zerschlagen wurden oder von der Hitze des Feuers explodierten. Das Dach des Hauses war bereits zum Teil abgedeckt. Seine Sparren verbrannten nach und nach und wenn einer schließlich nachgab, stürzte er zusammen mit einer Reihe von Ziegeln, die ein vergleichsweise leises Klirren verursachten, ins Innere des Hauses.
Das Blaulicht der Löschfahrzeuge irritierte meine Augen. Die Rufe der Feuerwehrleute übertönten das Knacken des Feuers und das Rauschen des Wasserstrahls, der auf die Nachbarhäuser gerichtet war, um sie in einen schützenden Mantel von kühler Nässe zu hüllen.
Und mitten in all diese Laute mischte sich plötzlich ein Schrei. Es war der Schrei eines Menschen. Er war erstickt und mit Angst erfüllt, schwach, aber verzweifelt. Und niemand hörte ihn. Niemand, außer mir. Plötzlich drang alles um mich herum überdeutlich in mein Gehirn. Das Knacken des Feuers erschien mir wie das Krachen einstürzender Wände. Das Rauschen des Wassers wie das Poltern großer Wasserfälle. Das Klirren der Ziegel wie das Zerspringen der längst zerbrochenen Fenster. Auf einmal konnte ich den Anblick des Feuers nicht mehr ertragen. Die unendliche Ruhe, mit der die Feuerwehrleute sich Gasmasken überzogen und andere Vorbereitungen trafen, zerriss meine Fassung, sodass ich nicht mehr ruhig stehen konnte. Erfolglos versuchte meine Vernunft mich mit einem letzten Ruck zurück zu halten. Dann stürzte ich los. Ich rannte durch die Menschenmenge, an den Feuerwehrleuten vorbei und ins Innere des Hauses. Das Erdgeschoss brannte noch nicht, aber die Holztreppe ins Obergeschoss fing bereits Feuer. Ich hechtete durch die Flammen hindurch nach oben. Dorthin, wo der Schrei zu einem kaum noch vernehmbaren Wimmern geworden war. Die Hitze um mich herum spürte ich nicht. Dass ich mir Verbrennungen zuzog, nahm ich nicht wahr. Ich erblickte Ihn in einer vom Feuer noch unberührten Ecke. Zusammengekauert, wie ein Häufchen Elend hockte Er da, presste sich an die Wand und starrte verängstigt in die Flammen, die Ihm immer näher kamen, sich gierig nach seiner schmalen Gestalt ausstreckten und mich wie eine Mauer von Ihm trennten. Ich rief seinen Namen und wollte gerade die Feuerwand durchbrechen, als der Boden unter meinen Füßen nachgab und ich zurück gerissen wurde. Schreiend streckte ich die Hände nach Ihm aus und versuchte verzweifelt mich von den Armen, die mich fest hielten, los zu reißen, aber ich war zu schwach. Unfähig etwas tun zu können, musste ich zusehen wie seine zerzausten blonden Haare von der Hitze schwarz wurden und sich zu kräuseln anfingen und die Haut seines verweinten Gesichts zu platzen begann. Die Flammen erfassten seine dünnen Arme, die er mir entgegen streckte, verbrannten sie und machten sich dann über seinen Körper her, um ihn zu verschlingen. Er streckte und wand sich verkrampft, während ein markerschütternder Schrei aus seiner Kehle drang. Dann sackte er in sich zusammen.
Dieser Schrei war alles was noch von ihm übrig blieb, alles was auch heute noch in meinen Ohren tönt, wenn ich die Bilder seines Todes vor meinen inneren Augen sehe.
Die Ursache des Feuers ist mittlerweile geklärt, aber was hilft das? Es macht Ihn nicht wieder lebendig. Er ist tot. Verbrannt durch seine eigene Unachtsamkeit.
Ich hatte gewusst, dass seine Mutter seinen Großvater pflegen musste, weshalb sie häufig außer Haus war. Aber ich hatte nicht gedacht, dass er mit acht Jahren noch nicht auf sich selbst aufpassen konnte. Immer wenn ich seine traurige Mutter sehe, möchte ich schreien. Warum? Warum gerade Er? Sie hat ihn doch so sehr geliebt.
Weißt du, er war immer wie ein kleiner Bruder für mich. Er war immer fröhlich. Ich hatte so viel Spaß mit ihm. Jetzt ist es nur noch Traurigkeit, die sein Grab für mich übrig hat.


Mit ihm ist meine Freude gestorben...

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Tag der Veröffentlichung: 21.10.2011

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