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Auf den Fluren des Wünschelding Gymnasiums Lünecke war es laut. Überall standen sich unterhaltende, diskutierende, lachende und wartende Schülerinnen und Schüler, durch deren Gruppen er sich hindurch schlängelte, immer dem Lehrer hinterher, der sich ihm soeben vorgestellt hatte und schließlich vor der letzten Tür im dritten Stock stehen blieb, in der soeben eine Gruppe Jugendlicher vom Flur verschwunden war. Raum 316, das musste er sich merken, denn hier sollte er ab jetzt jeden Morgen verbringen. Ihm war nicht ganz wohl in seiner Haut, als der junge Lehrer, Tonheide war sein Name, wenn er sich richtig erinnerte, die Tür öffnete und ihn zuerst eintreten ließ. Dann ging er zum Lehrertisch und stellte seine Tasche darauf, während alle Blicke der übrigen Anwesenden auf dem Neuen ruhten.
„Möchtest du dich vorstellen?“, fragte Tonheide an diesen gewandt, nachdem er ein ,Guten Morgen' durch die Klasse gerufen hatte. Ein unsicheres Nicken war die Antwort. Dann begann der Neue zu sprechen: „Hi... Ich bin Jesse und komme vom Lehmbolz Gymnasium in Berchfeld. Ich bin 18. Wir sind umgezogen und deshalb gehe ich ab jetzt hier zur Schule.“ Er blickte unsicher in ein paar einzelne Gesichter der 12 Elftklässler, die ihn schweigend musterten. Sein Blick glitt von zwei blonden Mädchen über zwei dunkelhaarigen und einem blonden Jungen zu einem blonden Mädchen und blieb schließlich an deren Sitznachbarin hängen. Sie hatte welliges braunes Haar, das ihr bis über die Schultern fiel und ihr schmales Gesicht schmeichelnd umrahmte. Mit ihren hellen Augen, der zierlichen Nase und dem, mit einem Lächeln umspielten, Mund war sie hübsch, was durch zwei leicht ansetzenden Grübchen in den Wangen verniedlicht betont wurde. Von dem Rest ihres Körpers war nicht viel zu sehen, da der Tisch, an dem sie saß, alles verbarg. Alles was Jesse noch deutlich sehen konnte, war ihre rechte Hand, auf die sie ihr Kinn gestützt hatte und er erkannte mit einem Blick, dass ihre Fingernägel zwar gepflegt, aber nicht künstlich waren, wie er es von den meisten Mädchen seiner alten Schule kannte. Er ließ seinen Blick sinken, als ihre Augen die seinen fixierten. Leean betrachtete den Jungen. Er war groß und schlank. Seine dunkelbraunen, fast schwarzen Haare waren leicht mit Gel fixiert und sein Gesicht sauber ohne auch nur eine einzige Unreinheit. Eine weich geformte Nase über den geschwungenen Lippen und ein Paar dunkle Augen unter den gleichmäßigen Augenbrauen ließen sein Aussehen perfekt erscheinen, doch das schien niemanden zu berühren. Zwar grüßten alle den Fremden mit einem lockeren ,Hi', doch sein jetzt schon als ruhig definierter Charakter fand in dieser Klasse keinen Anklang. „Da, neben Jasper ist noch ein Platz frei. Setzt dich dahin“, sagte Tonheide und deutete auf einen freien Platz eine Reihe vor Leean, doch an der anderen Seite des Raumes. Jesse folgte seiner Aufforderung und setzte sich neben Jasper, der neutral seine Sachen auf seine Seite zog und schweigend dem nun startenden Englischunterricht folgte. „Auf mich macht er keinen Eindruck“, flüsterte Tabea, Leeans Freundin, die neben ihr saß. Leean holte ihren Block aus ihrer Tasche. „Scheint als täte er das bei niemandem aus dieser Klasse“, entgegnete sie nur. Der Unterricht nahm seinen Lauf. Um Jesse kümmerte sich niemand. Zwar waren alle freundlich ihm gegenüber, doch keiner integrierte ihn irgendwie und so saß er auch in den Fünf-Minuten-Pausen alleine an seinem Platz und in den Viertel-Stunde-Pausen in einer Ecke des Pausenraumes und sah dem Treiben der anderen teilnahmslos zu. Leean beobachtete ihn zwischendurch. Während des Unterrichts saß er still an seinem Platz, verrichtete seine Aufgaben, machte aber nicht auf sich aufmerksam. Nach der fünften Stunde war für die Klasse Schulschluss und Leean ging mit Tabea bis zur Bushaltestelle, an der sie sich von ihrer Freundin verabschiedete, weil diese nur zwei Straßen weiter wohnte, während Leean mit dem Bus nach Hause fahren musste. Als sie eingestiegen war und sich auf einen Fensterplatz gesetzt hatte, entdeckte sie Jesse, der soeben ebenfalls einstieg und sich auf einen Platz ein paar Reihen vor ihr setzte. Zu Leeans Verwunderung stieg er an der selben Haltestelle aus, wie sie und sie fragte sich wo er wohl wohnte, denn viel gab es in dieser Gegend nicht. Eine Siedlung war hier angelegt und weiter verstreut lagen noch ein paar vereinzelte Häuser vor dem kleinen Wäldchen, das im Sommer viele Spielmöglichkeiten für die Kinder bot. Jesse ging vor Leean die Straße zur Siedlung entlang, in der diese wohnte, bog aber nicht in die Siedlung ein, sondern ging die Straße weiter. Leean wunderte sich kaum darüber, denn sie wusste bei jedem einzelnen Haus der Siedlung wer es bewohnte. Zu Hause angekommen ging sie in ihr Zimmer, wo sie erst einmal ihre Schultasche unter den Schreibtisch verbannte. Dann trat sie zu ihrer Mutter in die Küche.
„Hallo Mama“, grüßte sie.
„Hi Leean“, grüßte Mary zurück und wusch die letzte Kartoffel, bevor sie sie in den Kochtopf legte. „Alles in Ordnung bei dir?“
Leean nickte. „Ja, alles wie immer. Wo ist denn Jonny?“, erkundigte sie sich nach ihrem jüngeren Bruder.
„Der hat heute doch den Ausflug in den Zoo mit seiner Klasse“, erwiderte Mary. „Er kommt erst gegen drei oder vier nach Hause.“
Leean nickte. „Okay. Dann sind wir heut' wohl vorerst zu zweit.“ Sie lächelte. „Soll ich dir etwas helfen?“
„Nein, es dauert nicht mehr lange, dann habe ich das Essen fertig. Du kannst aber schon 'mal den Tisch decken.“
Leean deckte den Tisch, während sie über Jesse nachdachte und auch während des Verlaufs des weiteren Tages, kam sie nicht von ihm los. Er war so anders als die anderen sechs Jungen aus ihrer Klasse. Und vor allem war er anders als Nick. Nick war Leeans fester Freund. Er war eine Klasse höher als sie und mit seinen 19 Jahren knapp zwei Jahre älter als Leean selbst. Natürlich war er anders als Jesse, denn immerhin war Nick blond mit hellen Augen und nur ein paar Zentimeter größer als Leean, während Jesse sie um mindestens einen Kopf überragte, aber Leean spürte, dass es nicht nur das Äußere war, was die beiden Jungen voneinander unterschied, sondern auch der Charakter, obwohl Jesse kaum ein Wort gesagt hatte. Nicks Klasse war zur Zeit auf einer Klassenfahrt, weshalb er sich heute auch nicht blicken lassen hatte. Erst am Abend des nächsten Tages sollte er wieder zu Hause sein. Leean wollte ihn vom Bahnhof, der nicht weit entfernt lag, abholen, denn Nick wohnte in der selben Siedlung. Sie blickte auf die Uhr auf ihrem Schreibtisch. Es war bereits kurz vor Mitternacht. Seufzend legte sie ihren Füller zur Seite und streckte sich. Dann packte sie ihre Schulsachen zusammen. Bis auf die Analyse in Deutsch, die sie gerade abgebrochen hatte, waren jetzt alle Hausaufgaben erledigt. Es war Zeit ins Bett zu gehen.

Der nächste Schultag gestaltete sich wie immer. Nach der sechsten Stunde war Schulschluss und Tabea fragte Leean: „Hast du Lust noch mit zu mir zu kommen? Ich bin heute und das ganze Wochenende alleine zu Hause. Du kannst bis Montag bei mir bleiben und wir machen uns eine schöne Zeit.“
„Heute kann ich nicht. Ich habe Nick versprochen, dass ich ihn später vom Bahnhof abhole“, entgegnete Leean.
„Ach ja, seine Klasse kommt ja heute wieder zurück“, fiel Tabea ein. Leean nickte. „Ja, aber ich kann morgen Abend zu dir kommen und dann bis Montag bleiben, wenn du willst“, schlug sie vor. Tabea stimmte zu. „Das ist gut. Dann bin ich nur eine Nacht alleine.“
Die Mädchen trennten sich an der Bushaltestelle und Leean stieg in den fast restlos besetzten Bus ein. Sie sah sich um. Neben einem verwahrlost aussehenden Jungen war ein Platz frei, aber den wollte sie nicht besetzen. Der nächste freie Platz war neben einem großen Typen, der aussah als schlüge er jeden zusammen, der sich näher als drei Meter an ihn heran wagte. Auch neben ihn wollte sie sich nicht setzen. Der letzte freie Platz war neben Jesse, der an einem Fensterplatz saß und nach draußen blickte. Etwas zögernd setzte Leean sich neben ihn. Er sah sie kurz an und lächelte für den Bruchteil einer Sekunde. Dann saßen sie stumm nebeneinander, bis sie an der Straße zur Siedlung beide aussteigen mussten.
Am Abend wartete Leean an dem kleinen Bahnhof des Ortes auf Nick. Es gab nur ein Gleis, das man von der Straße aus gut im Blick hatte. Am Straßenrand stand ein kleiner Peugeot, in dessen Inneren Jesse saß und auf seine Schwester wartete, die in der selben Klasse war wie Nick. Als er Leean entdeckte zuckte er leicht zusammen. Was tat sie hier am Bahnsteig? Er beobachtete sie. Ihr Atem kristallisierte in der kalten Luft. Sie vergrub die Hände in den Jackentaschen und trat von einem Fuß auf den anderen.
Nick war der erste, der ausstieg, als der Zug zum Stehen kam. Leean ging langsam auf ihn zu. Als er sie entdeckt hatte, breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus, das Leean im Schein der Laterne sehr gut sehen konnte. Er ließ seinen Koffer stehen und nahm sie fest in den Arm, während er ihr einen ausgiebigen Kuss abverlangte.
„Oh Schatz, ich hab' dich so vermisst“, flüsterte er dann. Leean lächelte und umarmte ihn noch einmal kurz, sagte aber nichts.
„Hey Nick! Lass deine Puppe am Leben. Du erdrosselst sie ja gleich mit deinem Geknutsche!“, rief einer von Nicks Freunden lachend.
„Sie verträgt mehr als du glaubst“, entgegnete Nick ebenfalls lachend. Dann verabschiedete er sich von seinen Freunden und ging mit Leean Hand in Hand vom Bahnhof in Richtung Siedlung. Jesse sah ihnen nach, bis sie in der Dunkelheit verschwanden und blickte selbst dann noch lange auf den Punkt, an dem die Dunkelheit sie verschluckt hatte.
„Hi Bruderherz“, grüßte seine Schwester fröhlich, als sie ihren Koffer im Kofferraum verstaut hatte und auf dem Beifahrersitz Platz nahm.
„Hi Jane“, grüßte Jesse zurück und sah seine Schwester kurz an.
„Habt ihr euren Spaß gehabt?“, fragte er dann und startete den Motor. Jane lachte. „Klar, was glaubst du denn? Wir haben gefeiert ohne Ende. Natürlich gab es auch diese öden historischen Ausflüge und so, aber sonst war eigentlich alles ganz cool.“
Jesse nickte. „Hört sich gut an.“
„Und wie ist es in deiner neuen Klasse so?“, fragte Jane, die schon seit einem guten Jahr in Lünecke wohnte. Sie hatte ein Zimmer gemietet, war jetzt aber wieder zu ihren Eltern gezogen, da diese jetzt auch hierher gezogen waren. Jesse trat das Gaspedal durch und raste die Straße entlang. „Meine Klasse ist nicht unbedingt das was man sich wünschen muss“, meinte er.
„Wieso?“, wollte Jane wissen.
„Sie sind zwar alle freundlich, aber ansonsten bin ich ihnen herzlich egal. Sie kümmern sich nicht um mich. Und du weißt ja, ich bin nicht so der Draufgänger, der durch seine offene Art sofort jeden für sich gewinnt.“
„Ja, aber vielleicht solltest du einfach 'mal über deinen eigenen Schatten springen“, meinte Jane.
„Du weißt, dass ich das nicht kann.“ Jesse bog in die Straße zu seinem Elternhaus ein und parke kurz darauf im Hof. „Ich traue mich noch nicht 'mal mich zu melden.“ Er stieg aus und half Jane ihren Koffer ins Haus zu tragen. Dann ging er in sein Zimmer, legte sich auf sein Bett und starrte an die Decke. Leean hatte also einen Freund.

Nick kugelte sich mit Leean ringend auf seinem Doppelbett. Beide lachten und blieben schließlich erschöpft liegen.
„Bleibst du heute Nacht hier?“, fragte Nick und schob seine Hand langsam unter Leeans T-Shirt, während er sie spielerisch küsste. Leean erwiderte den Kuss lange und entging somit einer Antwort, während Nicks Hand immer höher wanderte.
„Nick“, flüsterte sie leise bittend, worauf er inne hielt und ihr nur leicht den Bauch streichelte. Leean schloss die Augen und schluckte. Wieso fühlte sie sich plötzlich so elend?
„Puppe...“, schoss es ihr durch den Kopf. Nicks Freund hatte sie als seine Puppe bezeichnet und genauso fühlte sie sich jetzt. Wie ein Spielzeug, mit dem Nick tun und lassen konnte was er wollte. Er gab ihr einen weiteren Kuss und hielt ihre Lippen lange fest. Dann zog er seine Hand zurück und sah sie an.
„Ich will deinen Körper spüren, Leean“, sagte er leise.
„Ich bin noch nicht bereit, Nick“, erwiderte Leean ebenso leise.
„Wir sind jetzt schon drei Monate lang zusammen, Leean. Wann wirst du bereit sein?“
Leean ließ ihren Kopf zur Seite sinken und blickte auf das Skateboard, das in einer Ecke an der Wand lehnte, ohne es zu registrieren. Sie wusste, dass Nick das Verlangen danach hatte mit ihr zu schlafen, aber sie wollte nicht. Sie war nicht bereit dazu.
„Ich weiß es nicht. Ich kann noch nicht.“
Nick ließ sich neben sie fallen und nahm sie in den Arm. „Es ist okay, Leean. Du musst es noch nicht wollen“, sagte er. Doch Leean spürte, dass er es nicht so meinte wie er es sagte.
Sie sprach mit niemandem über ihre Gefühle im Bezug auf Nick. Auch mit Tabea nicht, obwohl sie im Verlauf des Wochenendes, das sie bei ihrer Freundin verbrachte, öfter kurz davor stand. Sie überlegte es sich jedes Mal wieder anders und schwieg. Ein Monat verging, ohne dass irgendetwas Großartiges geschah. Jesse und Leean saßen fast jeden Morgen sowohl auf dem Weg zur Schule als auch auf dem Weg wieder zurück nebeneinander in der letzten Reihe im Bus, während Nick auf der anderen Seite neben Leean saß, doch die Fahrt verlief meist schweigend. Auch in Leeans Klasse an sich blieb alles beim Alten. Jesse verbrachte die Tage stumm an seinem Platz, weil er es nicht über sich brachte auf seine Klassenkameraden zu zu gehen. Und diese kamen auch nicht auf den Gedanken ihn zu integrieren. Alles verlief wie gewohnt. Nur das Verhältnis zwischen Leean und Nick veränderte sich spürbar. Leean konnte noch nicht einmal sagen, ob es sich zum Guten oder zum Schlechten verändert hatte. Dass Nick sie nicht wieder darauf angesprochen hatte, ob sie bereit war mit ihm zu schlafen, war gut und erleichterte sie, aber es war so etwas wie eine innere Distanz zwischen sie getreten, die Leean nicht erklären konnte. Als sie an einem Montag wieder zur Schule fuhr, war Jesse nicht im Bus. Erst wunderte sie sich nicht großartig darüber. Schließlich konnte jeder einmal krank sein. Doch als er dann mehrere Wochen lang nicht zur Schule kam, vermisste sie ihn doch.
„Hat einer von euch Kontakt zu Jesse und kann mir sagen was mit ihm los ist?“, fragte Tonheide, der auch ihr Klassenlehrer war, eines Tages. Niemand meldete sich darauf zu Wort. Nur ein allgemeines ,Nein' war zu hören.
„Weiß wenigstens jemand wo er wohnt?“, wollte Tonheide weiter wissen.
„Bei mir in der Nähe irgendwo“, gab Leean zur Auskunft. „Aber wo genau weiß ich nicht.“
Tonheide nickte nur und fuhr mit seinem Unterricht fort, doch nach der Stunde bat er Leean noch kurz in der Klasse zu bleiben, weil er noch mit ihr reden wollte.
„Also, wegen Jesse“, sagte er, als Leean nach der Stunde vor ihm stand. „Du sagst er wohnt bei dir in der Nähe?“
Leean nickte. „Ja.“
„Er war jetzt schon fast drei Wochen nicht mehr in der Schule. Vielleicht kannst du mal zu ihm gehen und ihm die Themen bringen, die während dieser Zeit alle im Unterricht liefen. Und bei der Gelegenheit auch fragen was los ist? Das wäre echt stark. Als Lehrer möchte man sich da nicht so erkundigen. Das kommt immer blöd. Kannst du das machen?“
Leean nickte. „Ja klar. Krieg' ich hin.“
„Vielleicht holst du dir dann auch alle Zettel auch von den anderen Lehrern, die verteilt wurden oder so.“
„Ich kann ihm alle Zettel kopieren“, nickte sie. „Aber ich weiß nicht genau wo er wohnt. Er steigt nur mit mir an der selben Bushaltestelle aus. Können Sie mir vielleicht seine Adresse geben, damit ich wenigstens nicht so lange suchen muss?“
Tonheide kramte in seinen Unterlagen nach der Liste der Schüler und nannte Leean dann Straße und Hausnummer von Jesse, die diese sich notierte.
„Okay. Ich danke dir“, sagte Tonheide dann.
„Wenn der dich mal rein lässt“, meinte Tabea grinsend, als Leean ihr von dem Gespräch mit ihrem Lehrer erzählt hatte.
„Ach, das wird schon. Wenn er mich 'raus schmeißt, ist das Pech für ihn. Ihm fehlen dann ja alle Aufgaben.“
Tabea nickte. „Hast Recht. Ich jedenfalls wünsche dir viel Erfolg.“
Leean lachte. „Danke danke. Wird schon schief gehen.“
Noch am selben Nachmittag machte Leean sich, nachdem sie alle Zettel, die sie seit Jesses Fehlen bekommen hatten, kopiert hatte, auf den Weg, um ihrem Klassenkameraden einen Besuch abzustatten. Es war ein kleines Haus am Wald, auf das die Adresse passte, die Tonheide ihr gegeben hatte. Etwas zögernd klingelte Leean an der Haustür. Eine mittelgroße junge Frau mit blonden Locken öffnete ihr die Tür und sah sie erstaunt an.
„Hallo“, grüßte Leean etwas unsicher. „Ist Jesse vielleicht zu Hause? Er ist in meiner Klasse, war jetzt aber schon so lange nicht mehr in der Schule. Da wollte ich 'mal bei ihm vorbei schauen.“
„Oh, Hallo. Ja, Jesse ist in seinem Zimmer. Das finde ich ja freundlich, dass du vorbei schaust. Ich bin Jenny, seine Mutter.“ Jenny hielt Leean die Hand hin. Diese schlug ein und stellte sich ebenfalls kurz vor.
„Komm rein. Sein Zimmer ist oben die letzte Tür links.' Jenny deutete die Treppe hinauf. „Du kannst einfach hoch gehen, wenn du möchtest.“
Leean nickte. „Danke.“
Langsam stieg sie die Treppe hinauf und klopfte kurz darauf leicht an Jesses Zimmertür. Ein Junge huschte an ihr vorbei die Treppe hinunter.
„Ja?“, klang es aus Jesses Zimmer.
„Jesse?“, fragte Leean vorsichtig, als sie die Tür öffnete und langsam eintrat. Der Junge stand am Fenster und sah hinaus in Richtung Wald. Als Leean die Tür hinter sich schloss, drehte er sich um und sah sie erst verwundert überrascht, dann unsicher an.
„Hi“, grüßte Leean etwas zögernd. „Ich wollte 'mal nach dir sehen“, fuhr sie fort, als Jesse schwieg. „Du warst jetzt schon so lange nicht mehr in der Schule.“
Jesse trat zwei Schritte auf sie zu, blieb dann aber doch wieder stehen und sagte: „Ja, ich hab' eine ziemliche Lungenentzündung und darf deshalb nicht raus.“
Leean nickte. „Du siehst blass aus.“
Jesse lächelte. „Setz dich doch.“ Er deutete auf den Sessel, der in einer Ecke stand. „Wenn ich gewusst hätte, dass du kommst, hätte ich vorher aufgeräumt. Dieses Chaos ist ja peinlich.“
Leean grinste. „Ist doch egal. Bei mir sieht's auch immer so aus.“
„Aber bestimmt nicht, wenn du Besuch hast.“
„Doch, wenn jemand spontan kommt, schon.“
Sie setzte sich in den Sessel und sah Jesse an, der etwas verlegen auf seinem Bett platz nahm.
„Ich weiß, es kommt jetzt blöd, wenn ich gleich damit anfange, aber ich habe dir alle Zettel, die wir seit deinem Fehlen bekommen haben, kopiert. Ist ein ganzer Packen. Du kannst dir 'mal alles angucken, wenn du willst. Leean hielt Jesse einen dicken Schnellhefter hin. „Das meiste davon ist Mathe. Wir haben ein paar neue Themen durchgenommen. Wenn du etwas nicht verstehst, kann ich dir dabei helfen.“
„Das ist nett, danke.“ Jesse nahm den Schnellhefter entgegen und warf ihn auf seinen Schreibtisch.
„Aber sag mir wirklich Bescheid, wenn du etwas nicht verstehst, oder so. Nicht dass du dir später sagst ,Ich will sie nicht belästigen' oder so“, sagte Leean. Jesse lächelte verlegen. „Wie sollte ich dich denn erreichen?“
„Ich lasse dir meine Nummern hier. Sowohl meine Handynummer als auch meine Telefonnummer von zu Hause. Auf einer von beiden bin ich immer erreichbar. Dann rufst du mich an oder schreibst mir eine SMS und dann komme ich noch 'mal vorbei.“
Jesse nickte. „Okay.“
„Wie lange musst du noch zu Hause bleiben?“, wollte Leean wissen.
„Ich weiß nicht. Der Arzt kommt heute nochmal und...“ Jesse begann zu husten. Er hielt sich die Hand vor den Mund, die im Nachhinein voller Blutspritzer war, die er mit einem Taschentuch weg wischte.
„Tut mir leid, dass das so ekelig ist“, sagte er dann. „Der Arzt kommt heute noch 'mal und sagt mir dann wie lange ich noch krank geschrieben sein werde. Eigentlich soll ich auch im Bett liegen, aber der Tag ist dann immer noch langweiliger als so schon.“
„Kommt dich denn niemand besuchen?“, fragte Leean.
„Nein, wer denn? Ich hab hier keine Freunde, aber das ist doch offensichtlich.“
„Hast du noch keinen Besuch gehabt, seit ihr hier wohnt?“
„Außer Verwandte nicht, nein.“
„Okay.“ Leean strich sich die offenen Haare hinters Ohr. „Du guckst dir mal ein paar der Zettel durch und ich komme Montag wieder. Dann ist dir nicht ganz so langweilig. Ist das okay?“
Jesse nickte. „Ja, ich denke schon. Danke.“
Leean stand auf. „Nicht dafür. Wenn du wirklich etwas nicht verstehst, aber gerne machen möchtest, weil dir langweilig ist oder so, dann meldest du dich und ich komme schon morgen oder übermorgen. Je nachdem.“
Jesse nickte wieder. „Okay.“
Leean ging zum Schreibtisch und nahm sich einen Stift. „Darf ich auf deine Schreibtischunterlage kritzeln?“
„Ja klar.“ Jesse trat hinzu und zog den Schnellhefter ein Stück zur Seite, damit Leean mehr Platz zu schreiben hatte. Diese schrieb ihre Telefon- und Handynummer auf die Papierunterlage.
„Ich werd' dann jetzt 'mal wieder gehen. Wünsche dir noch einen schönen Tag und so.“ Sie ging zur Tür. „Den Weg nach draußen finde ich alleine. Du musst nicht unbedingt mitkommen“, sagte sie, als Jesse ihr langsam folgte. Er lächelte. „Okay. Danke, dass du da warst.“
„Kein Problem.“ Leean lächelte ebenfalls. „Bis demnächst.“
Kurz nachdem Leean gegangen war, kam Julian, Jesses älterer Bruder zu ihm ins Zimmer.
„Wer war das denn eben?“, fragte er. Jesse trat ans Fenster. „Eine aus meiner Klasse“, gab er zur Auskunft.
„Lange ist sie ja nicht hier gewesen“, meinte Julian.
„Sie wollte auch nur fragen wie's mir geht und mir außerdem die Zettel von der Schule bringen.“
Julian lachte. „Und wieso hast du nicht versucht sie aufzuhalten?“
„Wieso sollte ich?“, fragte Jesse zurück.
„Mensch Jesse. Die ist doch mega heiß. Sie kommt dich besuchen und du guckst sie noch nicht 'mal an, oder wie?“
„Ich weiß, wie sie aussieht, großer Bruder.“
„Ich fürchte, dass du keinen Sinn für höheres hast. Dabei hatte ich gedacht du seist endlich aufgewacht, als ich sie gesehen habe.“
„Ich weiß, sie ist super hübsch und hat eine perfekte Figur. Und obendrein ist sie cool drauf. Aber das ist auch alles. Jedenfalls für mich. Und jetzt scher dich hier raus, bevor ich mich durch dein Gequatsche noch verliebe.“ Jesse grinste und Julian lachte. „Ich fürchte das ist schon geschehen.“ Er ging und Jesse schüttelte den Kopf. Dann setzte er sich an seinen Schreibtisch und begann die Zettel durch zu sehen.
Am Nachmittag des nächsten Tages spielte Jesse mit dem Gedanken Leean durch eine SMS zu bitten vorbei zu kommen, tat es dann aber doch nicht, weil er sich sagte sie würde glauben er wolle sie einfach nur sehen. Gewissermaßen stimmte das zwar, aber das musste sie nicht unbedingt wissen. Und so wartete er, bis sie am Montagnachmittag von selbst noch einmal kam. Bei der Gelegenheit sagte er ihr auch, dass er schon nächste Woche wieder zur Schule kommen würde. Der Nachmittag verlief, indem Leean Jesse half die Hälfte aller Zettel durchzuarbeiten. Gegen Abend fragte sie ihn dann: „Soll ich morgen wieder kommen, damit wir zusammen weiter arbeiten oder willst du das alleine machen oder willst du jetzt ein paar Tage Pause machen?“
„Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich schon gerne morgen mit dir zusammen weiter machen“, meinte Jesse. „Dann hab' ich schneller alles fertig.“
„Ja klar, das ist kein Problem. Dann komme ich morgen wieder“, stimmte Leean zu. Während des Lernens wurde die Distanz des Unbekannten zwischen Jesse und Leean immer geringer und bald verstanden sie sich bereits so gut, dass man es schon als Freundschaft bezeichnen konnte. Als auch von den Zetteln, die Leean zwischendurch immer wieder neu mitgebracht hatte, der letzte durch gearbeitet war, holte Jesse ein Päckchen aus der Schublade seines Schreibtisches und schob es Leean hin.
„Das ist dafür, dass du mir so viel geholfen hast“, sagte er. Leean sah ihn erstaunt an. „Das war doch selbstverständlich“, meinte sie.
„Das bezweifle ich.“ Jesse sah sie an. „Dann wären noch ein paar von den anderen gekommen.“
„Trotzdem ist das nicht nötig“, fand Leean. Jesse hob die Schultern. „Vielleicht nicht. Aber ich will es so.“
Leean lächelte. „Danke.“
Jesse schüttelte den Kopf. „Ich habe zu danken. Es ist nur eine Kleinigkeit. Aber pack es bitter erst aus, wenn du zu Hause bist.“ Er lächelte verlegen. Leean musste grinsen. „Okay.“ Als Leean sich an diesem Abend von ihm verabschiedete, kam Jesse mit bis vor die Tür.
„Kommst du noch 'mal wieder oder sehen wir uns Montag?“, fragte er.
„Morgen kann ich nicht, weil mein Bruder Geburtstag hat, aber übermorgen, also Freitag, kann ich noch 'mal vorbei kommen“, entgegnete Leean. Jesse nickte. „Okay, dann sehen wir uns am Freitag.“
Leean nickte ebenfalls. Sie war gerade die zwei Stufen vor der Eingangstür hinunter gestiegen, als sie inne hielt, noch einmal stehen blieb und Jesse ansah. Er lächelte. Leean lächelte ebenfalls. Dann stieg sie die Stufen wieder hinauf und sagte: „Lass dich heut' 'mal drücken.“ Mit diesen Worten umarmte sie ihn. Jesse war etwas verwirrt, drückte Leean aber kurz fest.
„Bis Freitag“, sagte diese dann und ging. Jesse sah ihr nach.
Als Leean zu Hause war, öffnete sie das Päckchen, das sie von Jesse bekommen hatte und musste wieder lächeln. Es war eine Schachtel Erdbeerpralinen in Herzform, auf der ,Danke' stand.

„Bist du eigentlich jeden Tag bei Jesse?“, fragte Tabea am nächsten Tag, als sie nach der sechsten Stunde gerade das Schulgebäude verließen.
„Nicht ganz jeden aber fast, ja. Aber wenn er erst wieder in der Schule ist, wird sich das ändern“, erwiderte Leean.
„Weiß Nick 'was davon?“, wollte Tabea wissen.
„Dass ich öfter da bin, weiß er, ja. Wie oft weiß er nicht.“
„Und du sagst es ihm natürlich auch nicht.“
„Ich sehe da nichts Schlimmes drin. Wenn er fragt, mache ich kein Geheimnis daraus.“
„Er steht schon an der Bushaltestelle und wartet auf dich.“ Tabea deutete auf Nick, der an einer Laterne lehnte. Leean nickte. „Wir sehen uns morgen“, sagte sie, als sie bei Nick ankamen und verabschiedete sich von ihrer Freundin. Dann begrüßte sie Nick mit einem Kuss. Er nahm sie in den Arm und fragte: „Na, wie war dein Schultag?“
„Langweilig, wie immer.“ Leean drückte ihre Nase an seiner platt. Nick lachte. „Wird wohl Zeit für Abwechslung“, meinte er und küsste sie lange spielerisch.
„Wenn jeder Moment mit Nick so schön wäre wie dieser“, schoss es Leean durch den Kopf. Ein kaltes Gefühl durchflutete sie, als ihr bewusst wurde, dass sie häufig Angst davor hatte, Nick zu begegnen. Dieses warme Kribbeln im Bauch, wenn er sie umarmte oder küsste, war schon lange nicht mehr da. Manchmal spielte sie mit dem Gedanken einfach Schluss zu machen, aber auf der anderen Seite hatte sie auch Angst ihn zu verlieren. Wie lange wollte sie noch so leben? Sie hörte auf Nicks Küsse zu erwidern und ließ ihre Lippen einfach nur auf seinen ruhen. Als sie spürte, dass er lächelte, küsste sie ihn wieder. Liebte sie ihn überhaupt noch?
Als der Bus kam und sie eingestiegen waren, lehnte Leean sich an ihren Freund, der den Arm um sie legte. So saßen sie schweigend nebeneinander, bis sie aussteigen mussten und gingen dann Hand in Hand stumm nebeneinander her. Vor Leeans Elternhaus blieben sie stehen und Nick umarmte sie noch einmal, während er sie lange küsste. Dann fragte er: „Schatz? Hast du heute Zeit für mich?“
Leean sah ihn an. „Jonny hat heute Geburtstag, deshalb kann ich nicht weg. Aber du kannst später ja 'mal 'rüber kommen, wenn du Lust hast.“
Nick nickte. „Okay, ich komme dann so gegen vier.“
„Okay, dann bis später.“ Leean verabschiedete sich von Nick und ging ins Haus, wo sie nach dem Mittagessen, gleich ihrer Mutter bei den Vorbereitungen für Jonnys Kindergeburtstagsfeier half. Ihr jüngerer Bruder wurde heute elf Jahre alt.
Gegen sechzehn Uhr kam Nick dann vorbei. Leean sagte ihrem Bruder, dass er sie rufen solle, wenn er etwas brauchte und ging mit ihrem Freund in ihr Zimmer. Erst unterhielten sie sich lange einfach nur. Dann warf Nick sie auf ihr Bett und bedeckte ihr Gesicht lachend mit Küssen.
„Leean?“, fragte er spät am Abend, als Jonnys Freunde bereits alle abgeholt worden waren.
„Hmm?“, fragte sie zurück.
„Darf ich dich heute Nacht verführen?“
Leean schwieg.
„Schatz“, sagte Nick bittend. „Quäl mich doch nicht so.“
Leean löste sich aus seiner Umarmung und stand vom Bett auf. Dann trat sie ans Fenster und blickte in den Nachthimmel. Nick stand ebenfalls auf, trat hinzu und nahm sie von hinten in den Arm. „Ich liebe dich, Leean. Und das will ich dir endlich richtig zeigen.“
Leean schloss die Augen. „Ich will nicht mit dir schlafen, Nick. Ich kann das noch nicht.“
„Warum nicht? Du hältst mich schon einen ganzen Monat lang hin. Kennst du mich noch nicht gut genug?“
„Nick, bitte. Ich kann es einfach nicht.“
„Leean.“
„Nick. Jedes Mal, wenn du darauf drängst, dass ich mit dir schlafen soll, bekomme ich das Gefühl, dass das das einzige ist, was du noch von mir willst.“
Nick ließ Leean los und trat einen Schritt zurück. Diese drehte sich zu ihm um. „Ich will, wenn überhaupt, aus freien Stücken mit dir schlafen und es nicht nur tun, weil du es unbedingt willst und ich Angst habe dich zu verlieren, wenn ich es nicht tue.“
„Du glaubst, dass ich dich nur ins Bett haben will?“, fragte Nick geschockt.
„Nein, Nick. Das glaube ich nicht. Aber du gibst mir jedes Mal, wenn du darauf drängst, das Gefühl, dass alles zwischen uns nur noch davon abhängt.“
Nick fuhr sich mit der Hand durch die blonden Haare. Dann trat er langsam auf Leean zu und wollte sie in den Arm nehmen. Sie wich zurück. „Warum willst du unbedingt mit mir schlafen?“
„Weil ich dich liebe, Leean.“
„Wenn du mich liebst, wieso lässt du mir dann nicht mehr Zeit?“
„Ich habe dir doch schon so viel Zeit gegeben.“
„Manchmal braucht ein Mensch mehr Zeit, als der andere geben will.“ Leean blickte zu Boden. Tränen traten ihr in die Augen. „Nick, ich brauche eine Pause.“
„Eine Pause von mir?“
„Von dir in deinem Verlangen nach meinem Körper.“
Nick trat wieder auf sie zu und nahm sie in den Arm. Diesmal ließ Leean es geschehen, erwiderte seine Umarmung aber nicht.
„Okay, Leean. Wir machen eine Beziehungspause. Ich werde dich in einem Monat fragen, ob du mich noch liebst. Einverstanden?“
Leean löste sich von Nick, wischte sich die Tränen vom Gesicht und nickte.
„Okay. Ich werde dann jetzt gehen.“
Wieder nickte Leean. Dann begleitete sie Nick zur Haustür, wo dieser ihr einen Kuss auf die Stirn gab. „Wir sehen uns morgen in der Schule.“ Mit diesen Worten ging er und Leean ging zurück in ihr Zimmer, wo sie sich auf ihr Bett legte und hemmungslos zu weinen begann. Als der Tränenfluss versiegte, stand sie auf und ging ins Bad, um sich zu waschen.
„Nein, ich werde ihm nicht nach trauern“, sagte Leean sich, als ihr bewusst wurde, dass sie erleichtert war Nick jetzt wenigstens einen Monat lang nicht näher kommen zu müssen, als allen anderen auch.
„Wir können nochmal von vorne anfangen, wenn dieser Monat um ist. Aber bis dahin bin ich nicht auf ihn angewiesen. Wir werden sehen, wie sich alles entwickelt.“

„Was ist denn mit Nick und dir passiert?“, fragte Tabea am nächsten Morgen, als Leean und sie sich gerade auf ihre Plätze in der Klasse setzten.
„Was soll passiert sein?“, fragte Leean zurück.
„Ihr seid heut' irgendwie nicht so turtelmäßig wie sonst“, fand Tabea.
„Ach,“ Leean packte ihre Deutschsachen aus. „Wir haben beschlossen eine Beziehungspause einzulegen.“
Tabea sah sie verblüfft an. „Wieso das denn?“
„Blöde Geschichte.“
„Erzähl.“
„Da gibt's nicht viel zu erzählen. Ich bin einfach noch nicht zu dem bereit, was er von mir will. Das ist alles.“
„Verstehe. Ich frage lieber gar nicht erst weiter.“
„Kluge Entscheidung. Und ich habe dir nichts gesagt.“
„Ist in Ordnung. - Bist du heut' wieder bei Jesse?“
„Ich denke schon, ja. Das letzte Mal, glaub' ich. Er kommt Montag wieder zur Schule.“
„Vielleicht hast du ja guten Einfluss auf ihn gehabt und er integriert sich jetzt in unserer Klassengesellschaft.“ Tabea grinste.
„Wieso müssen sich bei uns eigentlich immer alle selbst darum bemühen Anschluss zu finden? Warum geht nicht einfach 'mal jemand von uns auf sie zu?“, fragte Leean.
„Du bist ja jetzt auf Jesse zugegangen. Sogar bis zu ihn nach Hause“, lachte Tabea. „Den Rest muss er jetzt selbst hinkriegen.“
„Dafür ist er zu schüchtern.“
„Das glaub' ich sogar. Ich hab' noch kein einziges Wort gehört, das aus seinem Mund kam.“
„Dann hab ich das erste von ihm gehört, als ich vor seiner Zimmertür stand.“
Beide lachten.
„Vielleicht ändert er sich ja dir zur Liebe. Gut aussehen tut er immerhin.“ Tabea grinste und zwinkerte Leean zu. Diese grinste ebenfalls, gab ihrer Freundin aber einen freundschaftlich ärgerlichen Stoß. „Du spinnst.“
Am Nachmittag des Tages machte Leean sich, wie in letzter Zeit ziemlich häufig, wieder auf den Weg zu Jesse. Er öffnete ihr die Tür, bevor sie klingeln konnte und ging mit ihr in sein Zimmer.
„Ich hab' dir 'mal wieder ein Arbeitsblatt mitgebracht. Aber das ist nur zum Üben. Musst du nicht unbedingt machen.“ Leean legte einen Zettel auf Jesses Schreibtisch und setzte sich dann in den Sessel, während Jesse selbst am Schreibtisch platz nahm.
„Kannst du mir das mit dem Bestimmen der Tangentensteigung am Graphen nochmal erklären?“, bat er.
„Ja, klar.“ Leean stand auf und trat an den Schreibtisch heran. „Welche Aufgabe sollen wir rechnen?“
Leean erklärte Jesse die entsprechende Aufgabe. Danach verbrachten sie den Nachmittag damit, dass sie sich unterhielten, gemeinsam an Jesses Laptop durchs Internet stöberten und sich gegenseitig freundschaftlich ärgerten.
Als Leean am Abend später als sonst nach Hause ging, verabschiedete sie sich bis zum Montag von Jesse und spürte ein warmes Kribbeln im Bauch, als er sie diesmal von sich aus zum Abschied umarmte. Jesse zitterte leicht, als er Leean losließ. Auch er spürte ein Kribbeln im Bauch, aber ihm war absolut nicht wohl dabei. Leean hatte einen Freund und er wollte sich nicht unnötig etwas auf ihre Freundschaft einbilden. Als sie gegangen war, ging er langsam zurück in sein Zimmer. Er hatte sich gerade auf sein Bett gelümmelt, als seine Schwester ins Zimmer kam.
„Scheint als hättest du endlich eine Freundin in deiner Klasse gefunden“, grinste sie.
„Wie kommst du darauf?“, fragte Jesse leicht verwundert.
„Ihr habt heute so viel und so laut gelacht, dass man euch im ganzen Haus gehört hat“, meinte Jane. Jesse hob die Schultern. „Ich verstehe mich ganz gut mit ihr.“
Wie heißt sie eigentlich?“, wollte Jane wissen.
„Leean“, gab Jesse zur Antwort.
„Aha... Julian erzählt du seist verliebt.“ Jane grinste. Jesse schüttelte ärgerlich den Kopf. „War ja zu erwarten.“
„Was? Dass du dich verliebst, oder dass Julian das erzählt.“
Jetzt musste auch Jesse grinsen. „Beides.“
Jane grinste ebenfalls. „Es stimmt also?“
„Ich weiß nicht. Ich kenne sie doch gerade 'mal einen Monat.“
„Schon 'mal was von ,Liebe auf den ersten Blick' gehört?'
„Dann hätte ich mich in sie verlieben müssen, als ich das erste Mal in die Klasse kam.“
„Hast du vielleicht auch.“
Jesse zuckte die Schultern. „Alles scheißegal.“
„Warum?“
„Sie ist mit einem Typen aus deiner Klasse zusammen.“
„Ach ja?“
„Ja.“
„Mit wem denn?“
„Den Namen hab' ich vergessen. So'n Blonder. Sie hat ihn vom Bahnhof abgeholt, als ihr von der Klassenfahrt kamt.“
„Das weiß ich nicht. Habe ich nicht mitbekommen.“
„Aber du musst doch wenigstens wissen neben wem sie immer im Bus sitzt und so.“
„Ich achte kaum auf die Leute, die mit mir in einem Bus sitzen, wenn sie mir auch egal sein können. Erst jetzt, wo ich weiß in wen du dich verliebt hast, wird sie mir auffallen.“
„Der Typ ist jedenfalls kleiner als ich und wohnt auch in der Siedlung drüben.“
„Hellblond?“
„Ja, ziemlich.“
„Du meinst bestimmt Nick.“
„Ja, kann sein, dass der so heißt.“
„Na ja. Man erzählt sich, dass es in seiner Beziehung zur Zeit kriseln soll. Was dahinter steckt, weiß ich aber nicht.“
„Schön wär's“, meinte Jesse. „Aber es geht mich ja nichts an.“
„Wieso nicht? Wenn du dich gut mit ihr verstehst, kannst du sie doch einfach fragen.“
„Nicht einfach so aus der Luft gegriffen. Ich habe keine Lust mir die Freundschaft mit ihr zu verscherzen.“
„Du wirst ja sehen was 'bei 'rum kommt.“

Am nächsten Montag stand Jesse bereits an der Bushaltestelle, als Leean und Nick zusammen dort ankamen. Jesse sah sofort, dass die beiden nicht wie sonst Hand in Hand daher geschlendert kamen, verbot es sich aber irgendetwas daraus zu schließen. Leean grüßte Jesse mit einem fröhlichen ,Hi' und stellte sich neben ihn. Nick stellte sich zwar dazu, wusste aber nicht so recht wie er sich verhalten sollte.
Auch als Leean und Nick sich voneinander verabschiedeten, weil sie in unterschiedlichen Klassen waren, geschah dies nicht wie Jesse es vorher ein paar Mal beobachtet hatte mit einem Kuss, sondern mit einen schlichten ,Bis später'. Tabea war bereits in der Klasse, als Leean und Jesse eintraten.
„Tu mir den Gefallen und sei heute nicht so schüchtern wie sonst“, bat Leean Jesse.
„Das krieg' ich nicht hin. Mich muss jemand dazu anspornen“, entgegnete dieser.
„Hi Tabea“, grüßte Leean ihre Freundin.
„Hi“, grüßte diese zurück und meinte dann an Jesse gewandt: „Oh Jesse, du bist ja auch wieder da.“
Jesse lächelte verlegen. „Ja, zum Glück. Da muss ich nicht noch mehr Einzelunterricht nehmen.“
Leean knuffte ihm in die Seite. „Jetzt sag nicht, dass du bei mir nicht mehr gelernt hast als bei unseren Lehrern.“
„Mehr? Ich weiß nicht. Vielleicht einfacher, weil du auf Schülerebene erklärt hast, aber mehr bestimmt nicht.“ Er zwinkerte Leean zu. Tabea lachte. „Du bist doch eigentlich total gut in der Schule. Jedenfalls hast du die Klausur vor deinem Fehlen ja mit einer Eins abgeschlossen. Wieso beteiligst du dich dann nicht im Unterricht?“, fragte sie.
„Weil ich zu schüchtern bin“, gestand Jesse verlegen. „Mich muss jemand dazu zwingen.“
„Wie meinst du das?“, wollte Tabea wissen.
„In Berchfeld hat mein Freund immer gesagt ich solle mich melden. Und dann hab ich das getan. Aber hier...“
„Ja, stimmt, bei Jasper ist damit nicht zu rechnen“, meinte Tabea.
„Wieso setzten wir uns nicht einfach so um, dass du neben mir sitzt? Dann zwinge ich dich dazu“, schlug Leean vor.
„Du tauschst den Platz nicht mit Jasper. Auf diese Nervensäge neben mir kann ich gerade noch so verzichten“, protestierte Tabea.
„Wir nehmen einfach einen Einzeltisch und stellen ihn bei uns mit 'ran“, meinte Leean.
„Okay, das von mir aus. Da hab' ich kein Problem mit.“
Gesagt getan. Jesse und Leean schoben einen Einzeltisch an ihre Reihe und so saß Jesse ab jetzt neben Leean, die ihn im Unterricht dazu anspornte sich zu melden und durch die Jesse jetzt auch mit den anderen aus seiner Klasse in Kontakt kam.
An diesem Tag fragte Jesse Leean noch nicht was zwischen Nick und ihr los war. Er wollte ihr und sich selbst nicht den Tag verderben und war sich außerdem noch nicht sicher genug, dass wirklich etwas nicht stimmte. Als aber die ganze Woche zwischen Leean und Nick distanziert verlief, fragte er sie an einem Tag, als sie nach der vierten Stunde Schluss hatten, weil der Unterricht der fünften und sechsten Stunde ausfiel und sie ohne Nick nebeneinander im Bus saßen: „Ist zwischen Nick und dir irgendetwas schief gelaufen?“
Leean sah ihn kurz an und blickte dann aus dem Fenster. „So ziemlich, ja.“
Jesse wagte es nicht weiter zu fragen und schwieg deshalb. Dann sah Leean ihn wieder an. „Musst du gleich nach Hause oder willst du heute mit zu mir kommen?“
Jesse war zwar überrascht, stimmte aber zu. „Gerne, danke.“
„Du kannst zum Mittagessen bleiben, wenn du willst. Dann lernst du meine Mutter und meinen Bruder kennen. Mein Vater kommt erst heute Abend irgendwann nach Hause.“
„Wenn deiner Mutter und deinem Bruder das egal ist, bleibe ich gerne.“
„Bei meiner Mutter ist jeder Gast willkommen. Und mein Bruder ist erst elf. Dem ist sowieso fast alles egal.“
„Okay, dann bleibe ich.“
„Hallo Mama!“, rief Leean, als sie zusammen mit Jesse das Haus betrat.
„Hallihallo!“, rief diese aus der Küche zurück.
„Hi Leean!“, hörte man Jonny aus seinem Zimmer rufen. Leean musste lachen. „Hi Jonny!“, rief sie zurück und trat dann mit Jesse zusammen in die Küche, um ihn ihrer Mutter vorzustellen. Diese grüßte ihn freundlich und stellte sich mit ,Mary' vor. Auch Jonny schloss Jesse sofort ins Herz, verschwand aber gleich nachdem er seinen Teller leer gegessen hatte wieder, weil er sich bei seinem Freund ein Computerspiel geliehen hatte, das er unbedingt weiter spielen wollte.
„Was ist eigentlich mit Nick los?“, fragte Mary, als sie sich eine zweite Portion Spaghetti auf den Teller lud. „Ich habe ihn jetzt ja schon bald zwei Wochen nicht mehr gesehen.“
„Ja, ich hatte eine kleine Auseinandersetzung mit ihm“, sagte Leean.
„Inwiefern?“, wollte Mary wissen. Leean zögerte, weil Jesse ebenfalls anwesend war, sagte dann aber: „Weißt du, er hat jetzt schon ein paar mal darauf gedrängt, dass ich endlich mit ihm schlafen soll. Aber das will ich nicht, weil ich nicht bereit dazu bin. Und das will er nicht verstehen.“
„Er will unbedingt mit dir schlafen?“, fragte Mary nach. Leean nickte. „Ich habe mich ziemlich bedrängt gefühlt. So als wolle er jetzt nur noch darauf hinaus.“
„Das ist natürlich absolut scheiße von ihm“, fand Mary. „Hast du Schluss gemacht?“
Leean schüttelte den Kopf. „Nein, aber wir haben uns darauf geeinigt eine Beziehungspause zu machen. Einen Monat lang.“
„Und dann?“
„Dann entscheiden wir, ob aus uns wirklich noch 'was wird oder nicht.“
„Eine gute Entscheidung, denke ich“, meinte Mary. Jesse schwieg die ganze Zeit. Erst als er nach dem Essen mit Leean in deren Zimmer saß, sagte er: „Du, Leean, das mit Nick, das tut mir leid.“
Leean winkte ab. „Das ist schon okay. Ich brauche diese Pause.“
„Scheiße ist es trotzdem. Die ganze Geschichte.“
„Schon, aber ändern kann ich es auch nicht. Ist egal. Hattest du 'mal eine Freundin? Oder hast du zur Zeit eine?“
„Ich? Nein. Weder das eine noch das andere.“
Leean streckte sich auf ihrem Bett aus, auf dem Jesse und sie saßen. „Okay.“
„Was haben wir in Deutsch auf?“, wollte Jesse wissen.
„Nichts, soviel ich weiß. Nur diese Tabelle mit den Pro- und Kontra-Argumenten für Computerarbeit an Schulen sollen wir zu Ende machen. Aber die hatten wir ja schon fertig.“
„Stimmt, okay.“

„Kommt ihr alle zur Oberstufenparty?“, rief Jasper, als er eine Woche später die Klasse betrat
„Wann ist die denn?“, fragte Tabea.
„Jetzt am Wochenende. Samstag von 20 Uhr“, gab Jasper zur Auskunft.
„Und wo?“
„Im Kernpark. Unten am Königsplatz.“
„Leean, gehst du hin?“, wandte Tabea sich an ihre Freundin.
„Gehst du? Dann geh' ich auch“, entgegnete Leean.
„Okay, wir gehen“, stellte Tabea klar.
„Jesse, kommst du auch?“, fragte Leean.
„Ich weiß nicht“, zögerte dieser. „Was heißt denn Oberstufenparty? Wer kommt da alles hin?“
„Elfer, Zwölfer und Dreizehner unserer Schule. Alle sechs Klassen“, erklärte Leean.
„Komm schon, du bist dabei“, meinte Tabea. Jesse zögerte immer noch, stimmte dann aber ebenfalls zu und versprach zu kommen.
„Leean, ich brauch' noch 'was zum Anziehen. Du musst heute unbedingt noch mit mir shoppen gehen“, fiel Tabea plötzlich ein.
„Was brauchst du noch zum Anziehen? Du hast genügend Flitterkram. Ich helfe dir sogar beim Aussuchen, aber kauf dir bloß nicht wieder 'was Neues“, meinte Leean.

Als Jesse am Samstag Abend den Kernpark betrat, waren Leean und Tabea schon da, entdeckten ihn aber nicht gleich. Jesse lehnte sich an eine Säule der Halle und betrachtete Leean. Sie trug ein kurzes schwarzes Trägerkleid mit Paillettenaufsatz an den Trägern und um die Taille herum. Dazu schwarze Pumps, mit etwa acht Zentimeter hohem Pfennigabsatz. Ihr welliges Haar hing ihr offen über die Schultern und nur ihr Ponie war mit einer dezenten Pailletten-Haarspange an der linken Seite festgesteckt. Sie war dezent, aber ansprechend geschminkt und sah einfach perfekt aus. Als sie ihn erblickte und auf ihn zukam, lächelte er.
„Hi Jesse“, grüßte sie und umarmte ihn kurz. „Du siehst gut aus.“ Leean ließ ihren Blick anerkennend an Jesse herab gleiten. Er trug ein schwarzes Hemd mit lila-weißem Karo-Muster und in weiß aufgedrucktem Graffiti-Schriftzug auf dem Rücken. Unter dem Hemd, das er offen gelassen hatte, hatte er ein weißes T-Shirt mit schwarz aufgedrucktem Muster an. Dazu eine dunkelblaue Jeans im Used-Look und schwarze Lackschuhe.
„Aber du erst.“ Jesse fing Leeans Augen mit seinem Blick. Sie lächelte verlegen und blickte zur Seite, um das Kribbeln in ihrem Bauch zu vertreiben.
„Komm mit zu den anderen“, sagte sie. Jesse folgte ihr zu einer Gruppe ihrer Klassenkameraden. Die Party war schon im vollen Gange und alle lachten, tranken, tanzten oder alberten herum.
„Hi Jesse“, grüßte Tabea, als Leean mit ihm bei ihnen ankam.
„Willst du 'was trinken?“, fragte Jasper und hielt ihm eine Flasche Alster hin. Jesse wehrte ab. „Noch nicht. Ich hab noch Zeit.“
„Stimmt“, gab Leean ihm recht. „Deshalb trinke ich Cola.“ Sie hielt ihm ihre Flasche hin. „Ist nicht mehr viel drin.“
Jesse nahm die Flasche entgegen. Die Stunden, während alle abwechselnd tanzten und sich lachend unterhielten, während getrunken wurde, vergingen recht schnell. Zwischendurch gesellte Nick sich mit ein paar Freunden zu ihnen, wagte es aber nicht, wie sonst auf Partys, Leean in eine Ecke zu entführen. Gegen Mitternacht setzte sie sich auf eine der Theken, weil sie es nicht gewohnt war so lange auf hohen Schuhen zu laufen. Zwar schmerzten ihre Füße nicht stark, aber sie spürte doch, dass sie langsam anfingen sich bemerkbar zu machen. Jesse stand ihr gegenüber, während Tabea irgendwo mit ein paar Klassenkameraden tanzte. „Willst du noch 'nen Schluck Orangensaft?“, fragte Leean, neben der drei Flaschen davon standen. Jesse schüttelte den Kopf. „Im Moment will ich eigentlich gar nichts mehr.“
„Bist du häufig auf Partys?“, wollte Leean wissen. Wieder schüttelte Jesse den Kopf. „Kaum. Das letzte mal wurde ein Kumpel von mir 18. Aber das ist bestimmt schon ein Jahr her. Ich bin nicht so der mega Party-Typ.“
„Ich auch nicht immer. Wenn ich da bin, habe ich ja meinen Spaß, aber erst muss ich mich dazu entscheiden hin zu gehen. Meist überredet Tabea mich oder so. Aber sonst.“
„Tabea überredet dich und du hast den Spaß.“ Jesse grinste.
„Nicht mehr als sie.“ Leean lachte und zuckte zusammen, als ein Junge aus der 13 ihr von hinten eine Luftschlange über den Kopf blies, die ihr dann auf die Schulter herunter glitt. Jesse lachte und blies sie sanft herunter. Jetzt, wo Leean auf der Theke saß, war sie genauso groß wie er. Sie fuhr ihm mit der Hand durch die Haare und lächelte. Er ließ es geschehen und sah sie lange einfach nur an. Wieder spürte sie dieses warme Kribbeln im Bauch. Jesse ging es nicht anders. Sein Herz schlug wie wild. Die Sekunden zogen sich in die Länge und schienen zu Minuten zu werden. Die Zeit erschien endlos. Ganz langsam trat Jesse einen Schritt auf Leean zu und näherte sich noch langsamer mit seinem Gesicht dem ihren. Er hielt inne, als ihm einfiel, was er einmal irgendwo gehört hatte.
„Die ersten 90% des ersten Kusses hängen von IHM ab, die restlichen 10% von IHR“, klang es in seinen Ohren.
Leeans Nase streifte die seine, als sie ihm diese 10% entgegen kam. Sein Herz setzte einen Schlag lang aus. Als seine Lippen schließlich die ihren fanden, erwiderte sie den zärtlichen Kuss lange. Er küsste anders als Nick. Viel sanfter und mit viel mehr Liebe. Warme Gefühle durchfluteten Leean stoßweise. Alles um sie herum verlor an Bedeutung und rückte in weite Ferne. Noch während sie Jesses Kuss endlos lange erwiderte, legte sie ihre Arme um seinen Hals und glitt langsam von der Theke. Jesse schloss sie sanft in seine Arme. Dann bewegte er sich langsam mit ihr zusammen von der Theke weg in einen etwas ruhigeren Winkel der Halle. Minuten lang standen sie einfach nur da und küssten sich. Jesse genoss Leeans Lippen, bis er plötzlich herum gerissen wurde und in Nicks flammende Augen blickte.
„Was soll das?!“, schrie dieser. „Was fällt dir ein mit meiner Freundin 'rum zu knutschen?!“
Jesse sah Nick irritiert an, der ihn wütend verfluchte.
„Nick!“, schrie Leean dazwischen. Aber Nick hörte nicht und stieß Jesse in eine Gruppe von Leuten. Eine Flasche fiel zu Boden und zerbrach in tausend Scherben.
„Nick!“, schrie Leean ein zweites Mal und zog ihn von Jesse fort.
„Was soll das? Du kannst ihn doch nicht einfach so anfahren!“
Die Blicke der Umherstehenden richteten sich auf sie. Leean stand da und wusste nicht, was sie tun sollte, während Nick und Jesse sich hasserfüllt gegenüber standen. Jesses Gedanken kreisten. Er war nicht der Typ, der sich mit anderen prügelte, sondern versuchte immer alles in Frieden zu regeln. Aber er wollte Leean. Und da Nick sie ebenso wollte wie er würde er auch um sie kämpfen, wenn es darauf ankam. Aber würde sie zu ihm stehen? Oder würde sie zu Nick zurück kehren? Einen kurzen Moment lang zögerte er noch, dann nahm er seinen Mut zusammen, trat auf Leean zu und legte einen Arm um ihre Taille. Sie trat dicht an ihn heran.
„Lass uns gehen“, bat sie an seinem Ohr.
„Leean, lass dich doch nicht auf dieses Arschloch ein!“, rief Nick.
„Ich bin nicht deine Puppe, Nick!“, rief Leean zurück. „Jetzt nicht mehr! Alles, was zwischen uns war, bleibt Vergangenheit!“
Mit diesen Worten nahm sie Jesses Hand, zog ihn mit sich fort und ließ Nick einfach stehen.
„Ihr seid so mega süß!“, rief Tabea, als sie ihre Freundin, die gerade wieder in ein Kussfieber mit Jesse vertieft war, im hinteren Hof des Kernparks gefunden hatte.
Jesse und Leean blickten sich kurz zu ihr um.
„Nick ist total sauer. Aber lasst euch nicht stören. Wir reden später, Leean.“ Tabea lachte und verschwand wieder.
„Scheint als sei unsere Feindschaft besiegelt“, meinte Jesse.
„Er wird sich wieder beruhigen. Jetzt muss er mit meiner Entscheidung leben.“ Leean küsste Jesse ein weiteres Mal.
„Ich liebe dich, Leean“, murmelte dieser. Leean lächelte unter seinen Lippen und erwiderte seine Aussage mit einem lang anhaltenden Kuss.

Impressum

Texte: Ein großes Danke an Dodo, die mir bei der Titelwahl geholfen hat...
Tag der Veröffentlichung: 03.03.2011

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