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11. April 2008



Ein Freitagnachmittag im Krankenhaus.
Ich saß auf der Kante seines Krankenbettes und bemerkte zum ersten Mal, seit seinem Krankenhausaufenthalt, dass er nicht mehr der war, den ich kennen gelernt hatte und kannte. Natürlich hatte er noch seine braunen, streichholzlangen Haare, aus denen die blonden Strähnen noch nicht ganz herausgewachsen waren, aber er war nicht mehr der große, schlanke, braungebrannte Junge, den alle Mädchen bewundert hatten. Sein Gesicht war bleich, die Wangen eingefallen und in seinen sonst so schönen, dunkelbraunen, fast schwarzen Augen, spiegelte sich der Tod. Magen- und Lungenkrebs. Und dabei war er mit seinen neunzehn Jahren nur knapp drei Jahre älter als ich. Sein Äußeres hatte sich verändert, aber ich liebte ihn immer noch. Sein Bettnachbar beobachtete uns schweigend, wirkte dabei aber keinesfalls unverschämt. Wir unterhielten uns, sprachen über alles mögliche, aber wir umschritten das Thema, das vielleicht am wichtigsten gewesen wäre. Er sprach nicht gerne über seine Krankheit. Auch mit mir nicht. Nur dann, wenn ich ihn dazu zwang, weil ich wusste, dass er es in sich hinein fraß und das Bedürfnis hatte über alles zu reden, nur nicht wusste wie. Als ich ihn während einer Redepause betrachtete, stand er plötzlich auf und trat ans Fenster, obwohl er so schwach war, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Eine Zeit lang stand er dort, klammerte sich an den Fenstergriff und blickte hinaus. Irgendwann stand ich auf und ging langsam näher. Er drehte sich zu mir um und ich sah zum ersten Mal in meinem Leben, dass ihm eine Träne die Wange herunter lief. Es war die erste Träne, die er in meiner Gegenwart weinte und er wischte sie auch nicht weg. Es tat weh ihn so zu sehen, denn immerhin kannte ich ihn schon länger als sieben Jahre und war nun schon fast eineinhalb Jahre davon mit ihm zusammen. Er rang nach Luft. Ich musste schlucken und fragte: Wie schlimm sollen deine Schwerzen denn noch werden? Eine Antwort erwartete ich nicht, doch nach einer Pause nannte er leise meinen Namen und sagte stockend: Die Schmerzen sind nicht so schlimm, wie meine Gefühle.
Ich verstand ihn nicht gleich und als er das merkte, sagte er: Ich habe nicht mehr lange zu leben, hat der Arzt gesagt. Und wenn ich nicht wüsste, dass ich dich zurücklassen muss, dann würde ich gerne sterben. Jetzt find auch ich an zu weinen. Ich hatte nie wahr haben wollen, dass er irgendwann wirklich gehen musste und ich ihn verlieren würde. Er umarmte mich, drückte mich noch einmal fest und ich spürte eine weitere Träne auf meiner Schläfe. Er sprach nur leise, als er wieder meinen Namen nannte und sagte: Wein doch nicht. Für dich geht das Leben weiter, aber versprich mir, dass du mich überwinden wirst, auch wenn du mich nicht vergisst. Du darfst es nicht unterdrücken, wenn du jemanden liebst, nur weil du vielleicht wieder an mich zurück denkst.
Er sprach nur zögernd und ich wusste, dass es ihm schwer fiel. Nicht nur wegen seiner Krankheit, sondern auch wegen mir. Ich nannte nur seinen Namen. Mehr konnte ich nicht sagen, aber er bat so lange, ich solle ihm mein Versprechen geben, bis ich es tat und küsste mich dann.
Und dann...
Dann war er tot.
Ich begriff es erst, als ich merkte, dass ich einen schlaffen Körper in den Armen hielt und als er auf meine Frage, wie lange der Arzt ihm noch gegeben hatte, nicht mehr antwortete. In dem Moment, in dem ich begriff, dass sein Leben vorbei war, schrie ich. Ich schrie seinen Namen aus Verzweiflung. Es war das Einzige, was aus meiner Kehle drang und als ich ihn zum dritten Mal hervorgebracht hatte, sprang der Junge aus dem Nachbarbett auf. Ich sah noch sein entsetztes Gesicht, in dem zu sehen war, dass er verstanden hatte, weshalb ich schrie.
Dann brach ich zusammen.
Viel mehr weiß ich nicht.
Als ich wieder zu mir kam und die Augen öffnete, lag ich in einem Krankenbett und das erste, was ich sah, waren die besorgten Augen des Jungen, der Sein Bettnachbar gewesen war. Dann erblickte ich auch meinen Vater und den Arzt, der auch Ihn des öfteren untersucht hatte. Erst wusste ich nicht, was das alles zu bedeuten hatte, doch als mir dann alles wieder einfiel, konnte ich es nicht verhindern, dass mir die Tränen unaufhaltsam aus den Augen liefen.
Ich habe ihn geliebt, verstehst du? Wirklich geliebt. In meinen Armen ist er gestorben. Ich konnte und wollte lange nicht wahr haben, dass er nicht mehr existierte, dass er nicht mehr mir gehörte, weil ich ihn selbst nach seinem Tod noch lange geliebt habe.
Manchmal frage ich mich, ob ich ihn immer noch liebe.

Und deshalb ist es so schwer ihn zu überwinden...

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Tag der Veröffentlichung: 08.02.2010

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