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Prolog

„Alles ist in Ordnung.“

Diese Ruhe war bedrohlich. Wäre alles in Ordnung gewesen, hätte sie ihre Hand nicht mit derartiger Kraft auf ihre Stirn gelegt und so fest gedrückt, dass sie ihren Kopf keinen Millimeter mehr bewegen konnte. Sie zappelte mit ihren Füßen in der Hoffnung, die fremde Frau zu treffen, deren Gesicht sie nicht erkannte, damit sie ihren Griff endlich lockerte. Und sie zappelte, um die schwere Masse der Erinnerungen abzustoßen, die sie wildes Rauschen hören und dieses unkontrollierbare Schleudern spüren ließen.

„Psst“, machte die Frau.

Schon kamen zwei weitere Frauen, drückten ihre Arme und Beine gegen den kalten Boden.

„Was habt ihr vor?“, schrie sie immer wieder.

„Du sollst still sein.“

Sie sprach so ekelhaft ruhig.

„Ich möchte dir nicht auch noch das Maul stopfen müssen.“

Es kam noch eine Person in den Raum. Aus irgendeinem Grund brach Panik in ihr aus. Sie schrie sich die Seele aus dem Leib. Die Frauen hatten Mühe damit, sie im Zaum zu halten.

„Machen Sie, dass sie aufhört!“, sagte die Frau, die ihren Kopf fest hielt, zu der vierten Person.

Diese schlich zurück in die Dunkelheit, die nur durch eine schmerzhaft grelle Lampe über ihr durchbrochen wurde. Ein kleiner, weißer Lichtkegel in einem Raum, dessen Größe sie nur erahnen konnte.

Ihre Haare waren nass von den Tränen, die bereits zahlreich über ihre Wangen geflossen waren. Und sie schwitzte vor Aufregung, doch das alles bemerkte sie ganz plötzlich nicht mehr. Auch nicht den Schmerz der Todesangst, der sie seit Stunden begleitet hatte, auch nicht das leise Summen des Apparates.

Das Einzige, was sie bemerkte war, wie die Kraft langsam aus ihrem Körper gesogen wurde, ihre Augen schwerer und das Licht der Lampe angenehmer wurden, beruhigender. Gemütlich sah das Licht aus und so wunderschön, bevor es schließlich ganz erlosch.

Eins

Der Tag, an dem ich mich zu fragen begann, blieb immer in meinem Gedächtnis. In der Nacht hatte ich einen Traum gehabt, dessen düstere Stimmung bis in den Morgen hallte. Er war mir so vertraut wie sonst weniges, denn er suchte mich so oft heim.
Und dann begann ich, mich zu fragen, warum mein Nacken so schmerzte. Ich hatte nichts getan, um Schmerzen zu verdienen, denn ich war selbst zu den Pflanzen so gut wie zu Mensch und Tier. Etwas zerrte an dem geblümten Saum meines Kleids. Ich blickte in Jadelyns blaue Augen, das eine von dünnen, schwarzen Strähnen bedeckt. Neun junge Jahre waren diese Augen alt.

Sie kicherte.

„Bist du da?“, fragte sie.

„Ich sitze doch neben dir“, antwortete ich müde.

Wieder kicherte sie belustigt.

„Aber dein Kopf ist ganz woanders.“

Ich wandte meinen Blick von ihr ab.

„Du wolltest wohl sagen, sie ist mit ihren Gedanken woanders. Ihr Kopf kann nicht woanders sein, denn dann hätte sie ja gar keinen mehr. Ich mag mir nicht ausmalen, wie das aussähe.“

Vega war noch jünger als Jadelyn, doch sie bildete sich gern ein, die Welt besser zu kennen. Glücklich wippten beide auf ihren Stühlen hin und her und neckten sich. Im Vergleich zu meinen Schwestern war ich heute leblos wie eine Puppe und das ließen sie mich spüren.

„Nicht einschlafen, Flora!“, rief Vega.

Ich zuckte zusammen.

„Ihr Name ist Florence“, entgegnete ihr Jadelyn.

Noch immer starrte ich schlaftrunken vor mich hin.

Vega lehnte sich nach vorne, um ihrer Schwester möglichst nahe zu sein, wenn sie sie eines besseren belehrte.

„Beides lässt sich mit 'Blume' übersetzen“, sprach sie in ihrem gebildeten Tonfall.

„Nun mach dich doch nicht schlauer, als du bist!“

Jadelyn hatte sich nun auch nach vorne gelehnt.
Ich stellte mir vor, ein Spiegel zu sein. Links neben mir Jadelyn, mit ihren pechschwarzen Haaren, die wie Seide über ihre Schultern fielen, ihr kühler Teint mit diesem zarten, bläulichen Unterton, ihre wachen Augen, so tiefblau, als hätte man sie einem Aquarell entnommen.

Rechts von mir Vega, ihr Spiegelbild, ihrer Schwester wie aus dem Gesicht geschnitten. Das einzige, was die beiden voneinander unterschied, waren die Farben ihrer Schlafgewänder. Wie verrückt musste es sein, ein Spiegel zu sein. Meine Gedanken schweiften ab.
„Was tu ich denn immer, wenn Mutter fort ist?“, fragte Vega.

Die hohe Stimme und ihre kindliche Betonung schmerzten in meinen müden Ohren.

Ich wollte antworten, als sie begann, mit den flachen Händen auf dem dunklen Holztisch zu trommeln und fröhlich erklärte: „Dann setze ich mich in die Bibliothek und schaue mir die Bücher an.“

Stolz begann sie, das Wort Bibliothek zu buchstabieren. Ich stellte mir unterdessen bildlich vor, wie die kleine Vega an dem sperrigen Mahagoni Schreibtisch saß und ihr bei jedem der Schmökern erneut bewusst wurde, dass sich nicht ein einziges Bild in den verstaubten Büchern finden ließ.

Knarrendes Holz ließ meinen Blick zur Tür gleiten. Mutter trat ein. Sie trug wie immer eines ihrer schönster Kleider, hatte ihr dunkles Haar wie gewohnt geflochten und erinnerte mich sogleich an meine Schwestern. Ein Spiegelbild, das sich bereits zurecht gemacht hatte. Sie hob ohne Mühe den großen Krug mit dem frischen Saft von der Anrichte und kam auf mich zu.

„Stimmt etwas nicht?“, sprach sie ruhig.

„Mein Nacken schmerzt“, antwortete ich leise, ohne zu merken, dass die Mädchen uns aufmerksam zuhörten.

Mutter griff mit ihrer freien Hand nach meinem Nacken, streichelte ihn leicht und flüsterte: „Es geht vorbei.“

So, wie sie es immer sagte.

Sie goss mir Saft nach, während ich mir schwer tat, mich daran zu erinnern, auch nur einen Schluck getrunken zu haben.

„Tut es das nicht alles?“, fragte ich in den Raum und nahm keine Notiz von der dröhnende Stille um mich herum.

Besorgt sah Mutter mich an.

„Das tut es.“

Die Art, mit der sie diese Worte sagte, gefiel mir nicht.

„Alles geht vorbei?“, hakte ich also weiter nach.

Mutter legte einen traurigen Ausdruck in ihr Gesicht.

„Das tut es“, wiederholte sie.
Ich sah auf mein Glas. Eigentlich mochte ich keinen Saft. Es gab weniges, das ich mochte. Ein Leibgericht schien ich auch nicht zu haben, denn ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals eines gehabt zu haben. Ich spürte die Blicke meiner Familie auf mir und da fühlte ich mich irgendwie fremd in der gelassenen Atmosphäre des Morgens. Ich war der Störfaktor, das fünfte Rad am Wagen. Ist es nicht eigentlich seltsam, dieses Gefühl als normal zu empfinden?

Wie so einiges an diesem Tag, kam mir auch das nicht ungewöhnlich vor. Ich ließ mich weiter vom Tagesablauf treiben.
Wie auf Knopfdruck begannen die Mädchen wieder mit den Füßen zu zappeln, sich Geschichten zu erzählen und sich scheinbar unbeschwert in den Tag fallen zu lassen. Ich verstand sie nicht mehr so ganz. Warum lachten und tobten sie, wo Fehler und Sorgen unseren Tag manchmal so abrupt beeinflussten?

'Sie sind jung', redete ich mir ein.

'Sie wissen ja gar nicht, wie schmerzhaft ein steifer Nacken ist.'
„Florence?“

Ich hatte gar nicht mehr an Mutters Blick gedacht, der noch immer auf meinen Schläfen hing. Leise ächzend versuchte ich, meinen Kopf in ihre Richtung zu lenken.

„Denk nicht so viel nach, sonst wirst du niemals wach!“

Ich verengte meine Augen zu schmalen Spalten. Hatte ich nicht selbst zu entscheiden, wie viel ich dachte? Mutter schien meine ungewöhnliche Art zu reagieren weitere Sorgenfalten ins Gesicht zu meißeln.

Ja, es war nicht die Regel, dass ich nicht unterworfen den Kopf senkte, hinnahm und befürwortete was sie sagte. Langsam begann ich mich zu fragen, warum eigentlich? Und warum fragte ich mich so vieles an diesem Morgen? Eine unbekannte Lebhaftigkeit stieg langsam in mir auf und gleichzeitig wurde ich noch träger als ich es war. Tatsächlich nahm die Trägheit überhand.

„Mutter“, hauchte ich erschöpft, „ich fühle mich nicht wohl. Darf ich heute zu Hause bleiben?“

Mutter hatte sich an das gegenüberliegende Kopfende des Tisches gesetzt, statt sich zu ihren Kindern zu gesellen. Sie war versunken in die Zeitung, hob ihren Kopf nur zaghaft und ich konnte sehen, wie sehr ihre Gedanken noch an dem Artikel klebten.

„Was möchtest du?“, fragte sie mich mit energischer Stimme, die ich nicht gewohnt war.

„Ich bitte dich darum, mich heute erholen zu dürfen.“

Krampfhaft versuchte ich, so höflich zu klingen, wie ich es an einem trägen Morgen wie diesem nur konnte. Sie schüttelte langsam und mit hochgezogener Augenbraue den Kopf.

„Denkst du, du erholst dich, wenn du im Bett liegst und schläfst und sogar noch mehr nachdenkst, als du es sowieso schon die ganze Zeit tust?“

Zaghaft zuckte ich die Schultern, worauf Mutter ihre Aufmerksamkeit wieder ihrer Zeitung zuwendete.

„Du wirst heute gehen. So wie immer.“

Damit beendete sie das Gespräch.
Enttäuscht ließ ich die Schultern fallen. Tatsächlich hatte ich schon oft gefragt und nie war es mir erlaubt, zu Hause zu bleiben. Ich beobachtete noch für eine Weile, wie sie ruhig dasaß und las, an ihrem Kaffee nippte und sich manchmal räusperte. Als ich meinen Blick dann wieder von ihr löste und ihn in Vegas Augen fallen ließ, erschrak ich.

Ausdruckslos starrte sie mich an und sagte keinen Ton und als wäre ich in der Tat ein Spiegel, der seine Spiegelbilder bannte, hing auch Jadelyns glasiger Blick auf mir. Bevor ich etwas denken oder sagen konnte, legten die beiden gleichzeitig ihre Leblosigkeit ab und benahmen sich so, wie ich sie kannte.

Keine Sekunde durfte der Spuk gedauert haben, wobei mir jetzt erst auffiel, dass die beiden auch, als ich mit Mutter gesprochen hatte, mucksmäuschenstill gewesen waren. Es fiel mir schwer, die Situation zu begreifen und langsam aber sicher begannen meine Gedanken wild umherzuwirbeln und sich zu verknoten. Ich wurde von der Last in meinem Kopf nahezu erdrückt, was mir das atmen erschwerte. Was war nur an diesem Tag anders als an all den normalen Tagen zuvor? Eine weitere Frage, die in mir stach.

„Entschuldigt mich“, nuschelte ich irgendwann verwirrt und stand auf.

„Es wird Zeit, mich auf meine Arbeit vorzubereiten.“
Vier tiefblaue Augen blitzten immer dann vor meinem inneren Auge auf, wenn ich blinzelte. Ich stand vor dem großen Spiegel in meinem Zimmer. Er hing viel zu hoch, sodass ich auf Zehenspitzen stehen musste, um mich gut betrachten zu können. Die wildesten Vermutungen spukten durch meine Gedankengänge. Ich wagte zu denken, meine Schwestern seien Aufziehpüppchen, geleitet durch Federn und Räder, die ihnen einen Willen vorgaben.

Auf der anderen Seite versuchte ich mich zu beruhigen: Was taten sie so Ungewöhnliches? Zeigten sie nicht einzig Interesse an den Gesprächen zwischen Mutter und mir, indem sie uns konzentriert zuhörten?

Als ich es schaffte, das Thema zur Seite zu schieben, widmete ich mich ganz mir. Ich schlüpfte aus dem geblümten Nachtkleidchen und wählte ein blassrotes Trägerkleid. Meine Haare flechtete ich mir so, wie es Mutter immer tat. Während ich mich zurecht machte, dachte ich an Merkwürdigkeiten und wie der Tag sie mir schenkte.
Jeden Tag schickte Mutter mich in die Stadt zum Arbeiten und gab mir etwas Geld dafür. Ich verstand meine Arbeit nicht. Der Sinn lag wohl darin, zu lernen und meinen Kopf anzustrengen. Komisch, dass Mutter mich zu denken bat, wenn ich in die Stadt ging, mir es aber zu Hause verbot. Und was sagte der Begriff 'Zuhause'?

Jeden Tag stand ich in der Stadt, mit der Aufgabe, sie kennenzulernen. Ich lief umher, beobachtete die Menschen und stellte mir Fragen über sie. Ich setzte mich in den Park und zeichnete die Bäume, ich lief in die Altstadt und versuchte, etwas über die alten Gebäude in Erfahrung zu bringen. Ich kaufte auf dem Markt ein, rechnete mit Äpfeln, im Winter auch mit Mandarinen. Je länger ich darüber nachdachte, desto sinnloser erschien mir die Arbeit.

Zwei

Der kühle Wind kitzelte meine nackten Waden, als ich mich auf den anstrengenden Weg in die Stadt machte. Ich ging wie immer zu Fuß, da Mutter mir kein Geld für die Straßenbahn gab. Des Weiteren flößte sie mir Respekt ein. Ich konnte mir zwar nicht erklären, warum, aber dennoch grauste es mir davor, eine Bahn zu betreten. Unwillkürlich löste die milde Brise eine leichte Gänsehaut auf mir aus.

Als mein Zuhause schon fast aus meinem Blickfeld verschwunden war, blickte ich noch einmal zurück. Von hier aus sah man nur den Efeu, der dreiviertel des alten Backsteingemäuers wie einen Mantel umschloss. Schön sah es aus, so verborgen und zugedeckt von den grünen Ranken.

Jeden Tag sah ich an dieser Stelle zurück und erhob stolz den Kopf bei diesem Anblick, doch heute schüttelte ich ihn abgeneigt. Etwas stimmte heute nicht, nun war es mir endgültig klar.
Ich wandte mich ab und lief schnellen Ganges die Straße hinauf, die auf dem Hügel neben der Stadt lag. Von ganz oben, wo unser Haus längst außer Reichweite war, bot sich mir ein schier endloser Panoramablick über die Altstadt, welcher nur vom Horizont verschluckt wurde. Ich seufzte immer wieder, wenn ich den weit entfernten Marktplatz hinter dem alten Stadttor erblickte, aber ich machte mich schnell auf den Weg, um ihn ebenso schnell hinter mir zu haben.
Ich schlich durch einsame Gassen, als ich die abgelegene Wohngegend verlassen hatte, bis mich belebte Straßen und wild umher schwirrende Menschenmengen nach und nach mein seltsames, fremdes Gefühl vergessen ließen. Es war, als stach mich der Bienenschwarm, der um mich herum wütete. Er betäubte meine Seele und riss mir die Gedanken aus dem Kopf.
Es fiel mir nichts ein, was ich tun konnte. Mutter hatte mir nichts befohlen, keine Aufträge erteilt und ich hielt alles Lernen für so unnötig, dass es mich deprimierte. Also stand ich ratlos da und schien auch so dreinzuschauen, denn plötzlich vernahm ich an meinem rechten Ohr ein herzhaftes Räuspern. Erschrocken fuhr ich herum und sah in das Gesicht eines Mannes mittleren Alters. Sein Haar war bereits grau, der Bartansatz ließ ihn ungepflegt erscheinen, dafür wirkte er umso sympathischer. Er lächelte.

„Suchst du jemanden?“

Stumm schüttelte ich den Kopf und wie ein Spiegel ahmte er meine Bewegungen nach. Welch eine merkwürdige Vorstellung, ein Spiegel zu sein.

„Auch nicht deine Mutter oder deine Familie?“

„Was ist die Familie wert, wenn sie vor mein Gesicht einen Vorhang hängt?“

Worte aus meinem Mund, die ich selbst nicht ganz verstand. Ich schien meine Gedanken auszusprechen, doch ich hatte gar nicht gedacht.

„Wie bitte?“

Die Verwirrung, die sich auf das Gesicht des Mannes legte, ließ mich erröten.

„Ich meine, sie spielt Theater.“

„Sie spielt...“

Der Mann grinste schelmisch und es war, als verstand er mich und als schmiss er mir Worte der Beruhigung zu und so verging die unauffällige Röte in meinem Gesicht wieder.

Jedoch verwirrte ich mich selbst mit den Worten, die ich sagte und so drehte ich mich weg und nuschelte: „Sie verstehen das nicht.“

Ebenso wenig, wie ich selbst. Nun blickte ich in die Richtung, aus der ich gekommen war. Eine enge Gasse neben der alten Stadtmauer, die der modernen, belebten Großstadt half, ihren mittelalterlichen Charme zu bewahren. Schade, dass ich die Mauer nicht sah, denn ich blickte ins Nichts, während ich mich fragte, was der Mann, dessen Anwesenheit ich noch deutlich neben mir spürte, wohl von mir dachte.

Nach Sekunden des Schweigens meinte er: „Ich denke nicht, dass ich das tue.“

Krampfhaft versuchte ich, mich zu verhalten, als betrachtete ich teilnahmslos die Stadtmauer.

„Nein, wie soll ich das auch? Ich kenne dich nicht.“

„Sie kennen mich?“

Reflexartig drehte ich mich wieder zurück und sah ihm in die Augen.

Nun war ich vielleicht verwirrt, aber ich erkannte die Lüge, die ihm aus dem Mund quoll, ich roch sie aus hunderten Metern.

„Ich sagte 'nicht'. Das heißt, ich sagte nein.“

Er schüttelte entschuldigend den Kopf.

„Aber wenn ich dir helfen kann...“

Nun blickte er mich auf eine erschreckend aufdringliche Art an.

„Mein Herr, ich halte es für keine gute Idee, mit fremden Menschen zu sprechen.“

Ich verabschiedete mich mit gespielter Freundlichkeit und beschloss spontan, auf den Friedhof zu gehen und Gräber zu gießen, für die es niemand tat, während ich einen beliebigen Weg scheinbar zielstrebig verfolgte.
Es war still auf dem Friedhof. Der Wind ließ die Blätter rascheln, nicht einmal die Vögel zwitscherten. Mutter ging nie mit mir auf den Friedhof, ebenso hatte sie mir nie verraten, wo die Gräber meiner Verwandten lagen. Triste und schlichte Grabsteine standen geordnet in Reihen.

Die Vorstellung, sie würden in die Sonne blicken, die glitzernd durch die Baumkronen blinzelte, gefiel mir. Vor dem ein oder anderen Grab lagen welke Blumensträuße und als ich darüber nachdachte, wie trostlos sie wirkten, so halbherzig in den Dreck geworfen wie sie aussahen, wurde mir klar, dass hinter jedem von ihnen doch Tränen steckten mussten, dass jeder einzelne berührt worden sein musste. Dass es für jeden Strauß einen Menschen gab, der etwas Verlorenes betrauerte.

Ich wischte mir eine Träne von der Wange. Manchmal verfluchte ich meine Sentimentalität.

Ich hatte am steinernen Brunnen die Gießkanne füllen lassen, die immer am Eingang stand und selten Verwendung zu finden schien und schleppte sie nun mühsam zu den Gräbern, um die ich mich des Öfteren kümmerte.

Die Menschen, die dort bestattet waren, kannte ich nicht und meist waren die Namen auf den Grabsteinen durch Wind und Wetter nicht mehr zu erkennen, aber ich hatte die Beete so leer und verlassen vorgefunden und irgendwie brach es mir das Herz, mir vorzustellen, dass keiner mehr an sie dachte oder sich um das Letzte, was sie hinterlassen hatten, kümmerte. Als wäre ihr ganzes Leben nichts wert gewesen.

Welchen Wert hatte ein Leben denn überhaupt, wenn es sowieso zu Ende ging? Auch wenn ich hin und wieder an die Verstorbenen dachte, so konnte ich doch nichts dagegen tun, dass sie eines Tages vergessen sein würden.
Traurig hingen die zerbrechlichen Köpfchen der Stiefmütterchen. Schon länger hatte es nicht mehr geregnet und so umsorgte ich sie, als waren sie selbst die unbekannten Toten. Ich versuchte, die Trauer, die an diesem Ort gefangen war, hinab zu schlucken, aber die eine oder andere Träne war für einen mitfühlenden Menschen wie mich unvermeidbar.
Etwas später hatte ich mich auf eine kleine Parkbank auf dem Friedhof gesetzt. Das Licht, so wie es durch die dichten Kronen der Trauerweiden schien, verlieh dem Bild vor mir einen abendlichen Charme, dabei war es gerade einmal Mittag. Ohne zu wissen, wie es mir möglich sein sollte, diesen Glanz einzufangen, begann ich, es aufzumalen und versank in dem Papier vor mir, als wäre es ein Tor zu einer anderen Welt und so verging die Zeit wie im Fluge. Der Abendrot begrüßte mich, brachte milde Winde mit. Zeit, mich auf den Heimweg zu machen.

Drei

„Flora!“

Kaum dass ich die Türe hinter mir geschlossen hatte, fiel mir Vega um den Hals.

„Wo warst du so lange?“

„Lange?“

Ein Stein fiel mir vom Herzen, als ihre Wärme meinen Hals umschloss und sie so lebendig und normal wirkte wie immer. Doch so warm Vegas Umarmung war, so kalt war der Blick, mit dem Mutter mich ansah.

„Du bist spät“, sprach sie energisch und das tat sie selten.

„Verzeihung.“

Ich muss ausgesehen haben, wie ein Hund. Der Unterste

im Rudel.

Mutter legte ihre Hand auf meine Schulter und befahl mir, ihr ins Wohnzimmer zu folgen, wo sie sich mir gegenüber auf ihren großen Ohrensessel setzte.
„Mein Kind, ich verstehe deine Unruhe.“

Sie sah besorgt aus.

„Das tust du?“, fragte ich und lächelte herzlich.

Mutter verstand mich, schließlich war sie meine Mutter. Mein Lächeln schien sie anzustecken.

„Morgen schon wird alles wieder so sein, wie du es gewohnt bist.“

„Woher weißt du das?“

Mit ihren Händen umschloss sie die meinen. Sie waren immer kalt, selbst an wärmsten Sommertagen.

„Die Nacht macht manchmal merkwürdige Dinge mit uns“, erklärte sie mir und ich merkte Neugierde in mir aufkeimen.

Hin und wieder erzählte Mutter mir von den Magiern und all den Geheimnissen um sie und dabei benutzte sie denselben geheimnisvollen Ausdruck in ihrer Stimme. Auch wenn ich genau wusste, dass sie das Funkeln in meinen Augen bemerkt hatte, ging sie nicht näher darauf ein und bot mir stattdessen Abendessen an, was ich dankbar ablehnte und schickte mich früh zu Bett. Da ich ahnte, die Nacht würde mich verändern, beschloss ich, wach zu bleiben. Ganz unauffällig, damit es die Magier nicht bemerken konnten.

Ich döste. Einige Traumbilder ohne Zusammenhang blitzten auf, manchmal hörte ich Alltagsgeräusche, redende Menschen und vorbeirollende Züge, sie vermischten sich mit Geräuschen aus der Realität, die ich nur zaghaft bemerkte.

Es klapperte, raschelte, jemand räusperte sich so leise es ging. Ein Stich an meinem Arm riss mich aus dem Halbschlaf, ich schreckte auf. Nach einigen Sekunden, in denen ich mich in meinem Schlafzimmer wiederfand und das Blut in meinen Ohren pochen hörte, blickte ich in das erschreckte Gesicht meiner Mutter.

„Ich“, stammelte ich, „hatte einen Traum.“

Mutter versteckte etwas hinter sich, was ich in meiner Müdigkeit nicht bemerkte und so kam sie auf mich zu, setzte sich auf mein Bett und ließ den Schreck mehr und mehr aus ihrem Gesicht verschwinden. Zurück blieb etwas, was ich nicht zu deuten vermochte.

„Mein Kind.“

Mutter flüsterte. Die Spritze, die sie in ihrer Hand hielt, fiel in mein Blickfeld.

„Es wird kein Magier kommen.“

Ich verstand sie beinahe nicht, so bedrohlich ruhig war ihre Stimme. Mir wurde warm.

„Was hast du vor?“

Es fiel ihr merkbar schwer, die richtigen Worte zu finden und obwohl ich tausend Fragen gehabt hätte, wartete ich ab. Ich sah, wie Mutter langsam Tränen in die Augen stiegen.

„Dein Verhalten gestern hat mir Sorgen gemacht“, schluchzte sie bemitleidenswert.

„Als du in der Stadt warst, ging ich in die Apotheke, wo man mir das riet.“

Sie deutete auf die Spritze.

„Natürlich verstehe ich, dass dir das Angst macht. Es tut mir leid.“

Darauf stand sie auf und schritt dramatisch zur Tür.

„Warte“, rief ich ihr entgegen und da auch ich wollte, dass mein seltsames Verhalten ein Ende fand, strich ich den Ärmel meines Nachtkleidchens über meine Schulter und befahl: „Nun mach schon.“

 

...

Mein Kopf surrte unangenehm, während er mir meine Frage beantwortete. Kurz fühlte ich mich, als wären Tage vergangen, seit ich sie ihm gestellt hatte.

„Ganz frisch. Er springt ihnen glatt ins Gesicht.“

Ich lächelte.

„Das ist frisch genug.“

Er war vertrauenswürdig, ich kaufte meinen Fisch schon immer bei ihm. Er schenkte mir ein Lächeln und bedankte sich, als ich ihm einige Geldstücke hinlegte, mich verabschiedete und mit dem Fisch im Korb weiterging. Er roch unausstehlich. Ich mochte keinen Fisch und so sollte das Abendessen für mich ausfallen.

Nachdem ich den Markt abgelaufen war, setzte ich mich auf die Bänke der Brücke über dem Fluss, die an schönen Tagen wie diesen eigentlich immer besetzt waren. Ich lauschte dem Rauschen des Stroms und dachte darüber nach, was ich gelernt hatte.

Stundenlang war ich an diesem Morgen mit Vega in unserer Bibliothek gesessen, um ihr etwas Lesen beizubringen. Wir hatten Märchen gelesen. Mutter hatte das nie mit mir getan. So hatte ich also viele Märchen kennengelernt und dachte sie noch einmal durch.

Ich sah sie glasklar vor mir. Wie ein Film spielte sich vor mir ein Schauspiel ab. Sie tanzten auf dem Fluss: die Feen, die Zauberer, die Prinzessinnen. Ich ließ sie springen, wie auf Schlittschuhen über das Wasser gleiten und ich wollte hinterher. Ganz heimlich begann ich zu lächeln, stand auf und lehnte mich über das Geländer. Ich beobachtete meine Schattengestalten, meine Marionetten, wie sie schwebten und sangen. Wie gerne hätte ich die Lieder aufgeschrieben und sie auf der Geige gelernt. Ich summte die Melodie der Silhouetten, so wie der Wind sie zu mir her trug und vergaß.

Ich vergaß Tage. Tage im Winter, Tage im Frühling und Tage wie gestern.

„Gestern haben wir ihn weggebracht. Sie haben meine Hilfe gebraucht, ihn zu tragen. Ein schwerer Brocken war das.“

Ich löste meinen Blick vom Flusstheater und belauschte das Gespräch zweier uniformierter Männer neben mir.

„Gestern erst?“, nuschelte ein korpulenter Mann. Er mahlte ein Brötchen mit seinen großen Hauern und sah beeindruckt zu seinem großen Kollegen auf.

„Ja, gestern Abend. Und nun ist er wohlauf.“

Aus irgendeinem Grund fand ich das Gespräch um einiges interessanter als meine wirren Tagträume.

„Und du?“

Der Dicke war beeindruckt.

„Was hast du dann getan?“

Der Kopf seines Freundes hob sich noch ein wenig und er grinste triumphierend.

„Als er aufwachte, habe ich ihm erklärt, dass er sich zu ändern hat. Ich habe ihm befohlen, zu kämpfen. Er nickte nur und meinte, das würde er tun.“

Ich wollte mich weiterhin auf den Fluss und meine Gedanken konzentrieren, doch ich konnte es nicht. Meine Aufmerksamkeit galt vollkommen den fremden Männern.

Während ich mich also dagegen wehrte, ihnen zuzuhören, redeten sie weiter und wechselten das Thema.

„Der Mann der Buchhändlerin ist tot.“

„Das wundert mich nicht. Er hat mich schon zu Lebzeiten empört.“

„Der Schmied hat's mir erzählt.“

„Was hielt er davon?“

„Geflucht hat er wie ein Seemann und schlimme Dinge hat der gesagt.“

„Hat er ihn denn gut gekannt?“

„Jahrelang waren sie wie Brüder gewesen, hat er gesagt.“

„Nun, dann hat er ihn zurecht zu verfluchen.“

„Der Bauer aus der Vorstadt sprach wie immer von dem Lauf der Zeit. Ich muss gestehen, ich dachte kurz darüber nach.“

„Sag das nicht so laut!“

Erschrocken fuhren die beiden herum.

„Hat die Kleine es gehört?“

Ich drehte mich zu den beiden um.

„Das habe ich.“

Wie kleine Kinder wichen sie ängstlich zurück. Ein Moment, in dem ich mich überlegen fühlte. „Gehen wir“, meinte der Große und drehte sich um.

Der Dicke musterte mich noch einige Sekunden, bis sein Kollege ihn hinter sich her zerrte.

Ich lachte über die Merkwürdigkeit einiger Gestalten dieser Stadt. Ein toter Buchhändlergatte, ein fluchender Schmied, uniformierte Männer, die den Menschen Stärke beibrachten. Ein kleiner Krimi, der irgendwo zwischen uns waberte.

Ich stützte mein Kinn auf meine verschränkten Arme, die auf dem Brückengeländer ruhten. Meine Fantasiegestalten hatten sich zurückgezogen. Ob sie nun nach Talern tauchten, die auf dem Grund des Flusses lagen? Unangenehmer Fischgeruch stieg in meine Nase. Mein Zeichen, dass es Zeit war, nach Hause zu gehen. Und wieder begannen meine Füße zu schmerzen.

„Mutter, ich habe keinen Hunger.“

Nebenbei goss ich mir Saft ein.

Sie reagierte nicht.

„Kanntest du den Mann der Buchhändlerin?“, fragte ich sie daraufhin.

„Kannte?“

Reflexartig drehte sie sich zu mir und sah mich fragend an.

„Er ist tot“, meinte ich trocken.

Fassungslos wiederholte sie: „Er ist tot...“

Sie ließ sich schockiert auf einen Stuhl sinken.

„Du liebe Zeit“, murmelte sie.

Ich bemerkte, dass sie das Glas Saft dringender brauchte als ich und drückte es ihr in die Hand, woraufhin sie es in einem Zug austrank.

„Die arme Frau Buchhändlerin“, begann ich und setzte mich neben Mutter.

Sie starrte kopfschüttelnd vor sich hin.

Ich erzählte weiter: „Sie vermisst ihn sicher sehr.“

„Dazu hat sie keinen Grund“, rief Mutter und stand auf.

Sie rief nach Jadelyn und Vega, die zum Essen kommen sollten und holte den Fisch aus dem Ofen. Diese Hektik, mit der sie in den Küchenschränken nach Gewürzen kramte, kannte ich nicht an ihr.

„In welcher Beziehung standest du denn zu ihm?“

Sie drehte sich um, sah mich kurz an und kramte weiter.

„Das ist jetzt alles nicht mehr wichtig. Ein Freund meiner Eltern, deiner Großeltern, ist er gewesen und auch die spielen keine Rolle mehr. Sie sind doch alle dieselben, diese alten Leute. So erbärmlich und so eiskalt.“

Ich mochte es nicht, wie sie über meine toten Großeltern und deren Freunde sprach und versuchte, meine Meinung mit ihr zu teilen.

„Nun, ich finde es traurig, dass all ihre Mühen scheinbar umsonst waren und der Gewinn, den sie zu Lebzeiten verbuchten, relativiert scheint. Was hat man denn vom Leben? Man muss doch sowieso dem Tod ins Auge blicken. Meinst du, unser Tun ist so nichtig wie ein Windhauch?“

Mutter hatte ihre ungewöhnliche Hektik bemerkt und lehnte nun mit einem neuen Glas Saft am Küchentisch. Sie sah mich durchdringend an, als ich von Tod und Windhauch sprach.

„Noch so eine Frechheit, Florence“, meinte sie dann, „und du isst nicht mit.“

Ich senkte unterworfen den Kopf.

„Verzeihung. Aber wie ich bereits sagte: Ich habe keinen Hunger.“
In diesem Moment stürmten Jadelyn und Vega die Küche. Ich vergaß die Buchhändlerin und den Verlust des Lebens, während die Sonne unterging und der Fisch langsam weniger wurde.

...

 

Ich glaube, sie streichelte meinen Kopf, fuhr mir mit langsamen Bewegungen durchs Haar, sang sanfte Schlaflieder und ich atmete ruhig. Ich spürte, wie sich meine Lunge füllte, entleerte. Die Zeit schlich von einer Ecke des Zimmers zur anderen. Mein Arm schmerzte an den Stellen, an denen er nicht taub war.

Ich ging in Richtung Sonne und wieder zurück und noch immer saß sie da, sie summte. Es ging nicht weiter, es ging einfach nicht weiter. Stimmen sangen durcheinander, aber es klang so schön. Ich sah die Welt, das Universum.

Ich blickte zwischen All und Erde hin und her. Nach sekundenlangen Stunden begann ich, in fremde Leben zu klettern und in fremden Gärten mit fremden Kindern zu spielen.

„Die Zeit vergeht so langsam“, hauchte ich.

Keine Antwort. Sag doch etwas. Ich wollte schreien, aber mein Atem ließ mich nicht. Ich strengte mich an, aber es bewegte sich nichts in mir.
Während ich so dalag und wieder lernte, zu vergessen und in Rausch Trance auf die Zeit wartete, mich ab und wiederaufbaute, bemerkte ich gar nicht, dass ich träumte.

Vier

Meine Mutter und ihre Rauschgifte.

Vega und Jadelyn, die ausdruckslosen Aufziehpüppchen.

Merkwürdige Menschen in der Stadt und tote Buchhändlergatten.

Gestern war alles noch klar gewesen, daran erinnerte ich mich. Ein schöner Tag, bis auf ein paar Schleierwolken, aber was interessierte mich der Himmel. Mein Kopf war verschont geblieben von den Wolken. Ich hatte die angenehme Ehre gehabt, oberflächlich durch den Tag zu stapfen und nicht nachzufragen, wo die Tiefe blieb. Aber dann war ich schlafen gegangen und machte, wie es schien, einen Fehler: Ich wachte auf.

„Ich will schlafen gehen“, jammerte ich müde.

„Aber Florence, heute ist so ein schöner Tag, schau!“

Vega riss die Vorhänge zurück, die Sonne schlug mir ins Gesicht.

„Lass das!“, rief ich, „der Tag ist nicht schön.“

„Wieso?“

Mutter betrat das Zimmer, als hätte sie an der Tür gelauscht.

„Was, liebe Florence, ist an diesem Tag nicht schön?“

Nun zwang sie mich auch noch, solche merkwürdigen Tage zu mögen.

„Warum spritzt du dir deine Medizin in Zukunft nicht selbst, wenn die Folge davon ist, dass meine Gedanken in alle Richtungen springen, nur nicht dorthin, wo ich sie haben will?“

Die Sonne schlug mir ins Gesicht. Nein, falsch. Es war meine Mutter.

„Leite deine Gedanken besser auf das, was du gerade gesagt hast.“

Meine Wange brannte.

„Das Frühstück fällt für dich heute aus. Zieh dich um und mach dich auf den Weg!“

„Fein“, rief ich und verließ eilig die Küche, bevor Mutter bemerken konnte, dass der Schmerz mir die Tränen in die Augen getrieben hatte.
Es war mir egal, wer sie war, ich konnte in diesem Moment einfach nichts mit meiner Mutter anfangen. Überhaupt konnte ich mit dem ganzen Tag nichts anfangen und überlegte mir, ob ich mich nicht auf dem Friedhof auf eine Bank legen und dösen sollte, bis der Abend hereinbrach. Vermutlich würde ich dafür allerdings zu aufgewühlt sein. Mutter hatte mich noch nie geschlagen, wie konnte sie nur so eiskalt dabei sein?

Ich schlug meine Zimmertüre grob zu und ließ mich auf mein Bett fallen. Meinen Kopf vergrub ich in meinem Kissen und dann weinte ich einfach. Ich hörte nicht mehr auf und musste feststellen, dass ich schon ewig nicht mehr geweint hatte. Warum nicht? Es war ein so ungewohntes Gefühl, die unangenehme Nässe um die Augen zu spüren, dass ich noch mehr schluchzte. Schon wieder fingen meine Gedanken an, wirr zu werden.

„Warum höre ich nicht auf, zu denken? Warum lasse ich meine Gedanken so tief gehen, sodass ich sie nicht wiederfinde? Dann hetze ich ihnen hinterher und jage ihnen nach und je mehr ich jage, desto weniger schaffe ich es, einen von ihnen zu fangen. Hör auf zu denken, fange an zu vergessen! Nein, kein Vergessen. Ich will eine Erklärung.“

„Ich beobachtete alle Taten, die unter der Sonne getan wurden. Das Ergebnis: Das ist alles Windhauch und Luftgespinst.“

Ich sprang auf eine Treppenstufe.

„Ich dachte mir: Auf, versuch es mit der Freude, genieß das Glück! Das Ergebnis: Auch das ist Windhauch.“

Noch eine Treppenstufe.

„Über das Lachen sagte ich: Wie verblendet!, über die Freude: Was bringt sie schon ein?“

Ich nahm gleich zwei Stufen auf einmal.

„Windhauch, Windhauch, das ist alles Windhauch.“

Meine Worte hallten in einem Raum aus Blüten und warmen Pflastersteinen, die Bilder verschwammen und ich wachte auf.
Träume sind seltsam. Während ich mich langsam aufrichtete und die Parkbank jede meiner Bewegungen mit einem unangenehmen Quietschen kommentierte, bemerkte ich die drückende Stimmung dieses traurigen Ortes, die meinen Kopf zum zerbersten bringen wollte.

Meine Schulter schmerzte vom morschen Holz, auf dem sie wohl stundenlang geruht haben musste und meine Gedanken erklärten mir allesamt dasselbe: Ich bin fertig. Fertig mit diesem Tag. Fertig mit diesem Leben. Fertig mit dieser Welt. Wo immer ich auch war, ich wollte weg. Von zu Hause, von diesem Friedhof, aus dieser Stadt. Was war los mit meiner Psyche? Mein Selbst begann abscheulich auf mich zu wirken.
Ich wurde wacher und durfte bemerken, dass ich tatsächlich auf der Parkbank eingeschlafen war und noch nicht einmal diesen Fremden auf dem Friedhof bemerkt hatte. Ein Fremder auf dem Friedhof? Seit wann besuchte jemand außer mir den Friedhof? Ich sah der Silhouette hinterher, die hinter Sonne stehlenden Trauerweiden verschwand.

„Hallo?“, rief ich und sprang von meiner morschen Sitzgelegenheit.

Noch etwas wackelig auf den Beinen lief ich der Gestalt hinterher wie ein Rehkitz der Mutter.
Der besondere Grauton, den seine Haare trugen ließ mich erkennen, dass am Grabe vor mir der Mann kniete, der mich schon einen Tag zuvor in der Stadt angesprochen hatte.
„Entschuldigung?“

Ich ging langsam auf ihn zu. Vermutlich sprach ich zu leise und so räusperte ich mich.

„Entschuldigen Sie?“

Er drehte sich um, starrte mich aus großen, grünen Augen an.

„Florence“, rief er aus.

„Was?“, fragte sich mein Kopf.

„Was?“, fragte ich ihn und versuchte mich an den Moment zu erinnern, an dem ich ihm meinen Namen verraten hatte.

„Oh, tut mir leid. Ich wollte dich nicht erschrecken.“

Er legte sich den Finger auf den Mund und deutete mir an, still zu sein, wobei ich gar nichts gesagt hatte.

„Das muss eine seltsame Situation für dich sein“, bemerkte er, während er sich aufrichtete.

Er war so viel größer als ich.

„Überhaupt scheint das nicht dein Tag zu sein.“

Ich verzog das Gesicht.

„Man kann es mir ansehen, ja?“, entgegnete ich ihm.

Schon wieder grinste er so schelmisch.

„Das dort ist meine Großmutter.“

Er sprach, als wollte er mich ihr vorstellen. Doch die Daten auf dem Grabstein verrieten mir, dass sie mich schon lange nicht mehr zum Gruß in die Arme schließen konnte.

„Ich komme nicht oft hier her“, erzählte er, ohne den Blick vom letzten Überbleibsel seiner Großmutter abzuwenden, „allerdings wusste ich, dass du hier sein würdest.“

Kurz schienen meine Gedanken vor Verwirrung still zu stehen, ich wollte auf dem Absatz kehrt machen, doch ich war zu neugierig.

„Das muss ein Zufall sein, denn das wusste keiner außer mir“, stellte ich fest.

Vage schlich sich ein beängstigender Gedanke ein, der mir einreden wollte, dieser Mann würde mir nachstellen. Er brauchte nur zu lachen und meine Angst war verflogen. Er war gut. Zu gut, um mir etwas anzutun. Ich hatte mich noch nie auf meine Menschenkenntnis verlassen. Aber Etwas in meinen Gedanken versicherte mir: Er war gut.

Er nahm meine Hand.

„Übrigens: Man nennt mich Professor Avan-Nycholas Coelestin.“

Und schüttelte sie zum Gruß, während ich nicht bemerkte, wie wenig er auf das einging, was ich ihm sagte. Auf das eigentlich Absurde an dieser Begegnung.

„Nun, such dir einen Namen aus. Ich höre auf Avan, ich höre auf Nycholas und wenn du magst, so höre ich sogar auf Professor Coelestin.“

Aus Anerkennung für seinen Professorentitel grinste ich für eine Sekunde, empfand es dann aber als falsch, einen Menschen anzulächeln, der so merkwürdig war wie all die Tage der letzten Zeit. „Coel“, meinte ich nach einer Weile des Schweigens.

„Dann nenne ich Sie Coel.“

Einfach so, weil es anders klang.

Und er hörte nicht auf zu grinsen. An diesem traurigen Ort, neben seiner toten Großmutter. Er grinste einfach. Mein Blick sollte ihm sagen, dass er sich respektlos verhielt.

Doch statt seine Heiterkeit abzulegen und mit den Toten zu fühlen, hauchte er: „Es ist schön, dich zu sehen, Florence.“

Angst hätte meine Glieder ergreifen sollen. Und eine Flucht hätten sie in Angriff nehmen sollen.

„Woher kennen Sie mich? Wie kommen Sie darauf, mich aufzusuchen?“

„Nun...“

Er schien in den Baumkronen nach Worten zu suchen.

„Ich kenne dich schon länger. Dass du dich nicht an mich erinnerst, ist Teil des Plans.“

Und da spürte ich, dass kurzer Schrecken auf meinen Magen schlug.

„Ein Plan? Wessen Plan sollte denn...“

„Psst“, unterbrach er mich und blickte wild um sich.

„Ich würde dir so gerne alles erzählen. Wie lange warte ich schon darauf? Aber hier ist es zu gefährlich. Ich muss dich in Ruhe sprechen und zwar bald. Ewig kann ich nicht warten. Ewig sollten wir nicht warten.“

Seltsamerweise war ich tatsächlich dazu bereit, mich darauf einzulassen.

„Wo kann ich Sie finden?“

„Weißt du, wo dich die Schnauze des Wildschweins hinführt?“

Ich vermutete, dass er von der Bronzestatue in der Innenstadt redete.

„Dann weißt du auch, wo du mich findest.“

Wieder sah er sich um.

„Ich gehe nun. Wir sehen uns bald, Florence.“
Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, ging er auf dem Kiesweg in Richtung des östlichen Friedhofstor.

Verwirrt und in Gedanken blickte ich ihm hinterher, als er sich noch einmal umdrehte und zu mir herüber rief: „Sagtest du nicht, deine Familie spielt Theater?“

Ich erinnerte mich.

„Du hattest Recht. Achte darauf!“

Ein quietschendes Eisentor, sich entfernende Schritte, ein Mädchen, dessen Neugierde ihr Blut fast zum Kochen brachte. Das hatte er angerichtet: Professor Coelestin. So plötzlich wie er aufgetaucht war, so plötzlich war er wieder verschwunden. Seine Worte sollten mir die restliche Woche im Kopf herum wabern. Meine Familie spiele Theater, es gäbe einen Plan...

Fünf

Von da an huschten die Tage vorbei wie Hirngespinste, als wäre alles unwichtig außer diese kleinen Momente. Die Details dieser Tage: Kleine, unscheinbare Mosaiksteinchen, die ein glitzerndes Bild ergaben. Seltsam, sich plötzlich zu fragen, wofür man sich jeden Tag aufrappelte.

Seltsam, zu bemerken, wie die Blicke der eigenen Mutter bissen, als wären sie nicht von dieser Welt, als wären sie auf jemand Fremden gerichtet, als würden sie von einer Fremden ausgehen. Ich war ein seltsam bunter Farbklecks in einem traurigen Roman. Und ich wollte wissen, wieso.
Man könnte sagen, es fiel mir in den folgenden Tagen wie Schuppen von den Augen. Ich war es nicht selbst, mit der etwas nicht stimmte. Zumindest nicht ganz.

Es war um mich herum. Dieser Roman um mich herum, der bisher immer so offensichtlich gewirkt hatte. Es wurde Zeit, zwischen den Zeilen zu lesen.
Also machte ich mich ängstlich und nervös auf den Weg zu Professor Coel. Ich war mir sicher, ich würde Antworten auf Fragen bekommen, die mir selbst nicht ganz klar waren und so zögerte ich bei jedem Schritt, den ich in Richtung des bronzenen Wildschweins tat. Ich legte meinen Kopf an dessen kalten Schädel und blickte in dieselbe Richtung, in die die Statue es tat.

Mein Herz sprang, als ich einen Schuppen zwischen Restaurant und Museum entdeckte, der in der modernen Stadt leicht fragwürdig wirkte. Auch hatte ich ihn nie zuvor bemerkt. Ich war mir sicher, ihn noch nie gesehen zu haben. Man vermochte den Mief des Ziegenmists bis in die gut gepflasterte Fußgängerzone zu riechen, in der ich mich befand und meinen Kopf gegen ein Schwein drückte.

Es ging eine Kraft davon aus und so empfand ich es als selbstverständlich, dass das mein Ziel sein sollte. Ich schluckte und überquerte die viel befahrene Straße. Als ich den Geruch tatsächlich wahrnahm, blieb ich stehen und blickte kurz zurück. Da war niemand, der mich beobachtete.
„Verrückt“, flüsterte ich vor mich hin.

Denn ich wartete auf eine Erklärung von einem Menschen, den ich kaum kannte, für die Merkwürdigkeit der Zeit, in der ich steckte. Vielleicht sogar für meine Gedanken, meine Verwirrung. Und die letzten Tage vergingen so schnell, warum verging die Zeit so schnell?
Nachdem ich meiner Meinung nach genug gedacht hatte, atmete ich tief durch und klopfte an den heruntergekommenen Schuppen, über dessen plötzliche Anwesenheit sich scheinbar niemand außer mir wunderte.

„Florence“, hörte ich eine tiefe Stimme hinter der Tür rufen. Schritte näherten sich ihr und Coel öffnete sie mit funkelnden Augen.

„Du bist hier! Ich wusste es. Ich bin verwundert, dass es so schnell ging.“

Mit einer höflichen Geste bat er mich hinein, so als würden wir gleich im großen Ballsaal tanzen. Hier drin war es ebenso trist und heruntergekommenen wie von außen. Ein paar gestapelte Holzkisten sollten wohl Möbel ersetzen, Stroh und Heu diente als Boden. Es zog durch ungleichmäßig ausgesägte Fenster.

„Wohnen Sie hier?“, fragte ich mit abfälligem Unterton.

„Nun, begrüß mich doch nicht so überschwänglich, kleine Florence!“

Er lachte, als er die Tür schloss.

„Verzeihen Sie. Ich bin etwas durch den Wind.“

Ich senkte entschuldigend den Kopf.

„Ach“, machte er und stellte sich mit verschränkten Armen neben mich, um mit mir den Schuppen zu begutachten, „das nehme ich dir nicht übel. Es ist eine merkwürdige Zeit.“

Er sprach tatsächlich meine Gedanken aus.

„Ja, ich wohne hier. Würde ich das nicht, würde ich auf der Straße sitzen.“

Ich fühlte Mitleid für diesen mysteriösen Mann und wollte mehr über ihn erfahren.
„Erzählen sie mir von sich“, bat ich also.

„Das würde zu lange dauern. Zusammenfassend lässt sich sagen: Ich war als Professor für Pharmakologie an der Entwicklung von Medikamenten beteiligt und habe meine Arbeit verloren, als ich etwas rebellierte.“

Ich zog eine Augenbraue hoch, ging einige Schritte in diesem tristen Zuhause umher.

„Nein, so meine ich das nicht“, bemerkte ich.

„Erzählen Sie mir von dem Plan, den sie neulich angesprochen haben. Ich möchte wissen, was wir beiden miteinander zu tun haben und vor allem...“ Ich stockte kurz.

„Und vor allem, was mit mir und meiner Welt los ist.“

Er schenkte mir ein verständnisvolles Lächeln.

„Kleine, unwissende Florence. Du wirst aus allen Wolken fallen.“

Da war sie ja, meine Nervosität. Ich hatte sie ganz vergessen.

„Möchtest du dich setzen?“

Das tat ich.

Und er erzählte: „Florence, du fühlst dich fremd, bist verwirrt, denkst viel nach und verstehst nicht so recht was geschieht. Du fragst dich, warum Dinge geschehen.“

Er traf genau ins Schwarze, was mein Gefühl der Aufklärung durch Coel noch bestärkte.

„Ich hatte früher oft mit Menschen wie dir zu tun, als ich noch an der Universität geforscht habe. Ich bin schuld, dass sie so sind. Ich bin schuld, dass du so bist. Es gibt vieles, woran du keine Erinnerung hast, was du hinnimmst, obwohl es nicht richtig ist. Das Leben, das du lebst, ist nicht richtig. Das habe ich irgendwann eingesehen. Ich kann mit deiner Hilfe vielleicht etwas verändern. Es gibt einiges, was ich dafür erforschen muss und du kannst mir helfen. Neulich auf der Straße habe ich dich sofort erkannt. Ich habe aus dir etwas anderes gemacht. Etwas besonderes.“

Langsam begann ich, den Kopf zu schütteln.

„Ich verstehe nicht. Ich lebe ein falsches Leben? Bin ich etwa kein Mensch? Ich verstehe das nicht“, stotterte ich.
„Lass es mich dir erklären.“

Er setzte sich auf die knarrenden Holzkisten. Für einen kurzen Moment hatte ich Sorgen, sie würden unter seinem Gewicht zusammenbrechen. Während er mich durchdringend ansah, griff er meine Hand und hielt sie ganz fest. Nicht so fest, dass es weh tat, sondern genau richtig. Seine großen Hände umschlangen die meinen fast komplett.

„Erinnerst du dich an die Spritze, die deine Mutter dir gegeben hat?“

Erschrocken versuchte ich, meine Hand aus seinem Griff zu lösen. Ich konnte mir nicht erklären, woher er von der Spritze wusste und noch weniger, woher er wusste, dass ich Mutter dabei erwischt hatte.
„Psst“, meinte er daraufhin. Eine verschwommene Erinnerung wurde ganz kurz in mir wach gerufen. Ich hätte es beinahe nicht bemerkt. Ich las in seinen Augen, wie er damit kämpfte, die richtigen Worte zu finden. Er wirkte ängstlich und so spürte ich plötzlich, dass es nichts Gutes war, das er mir zu sagen hatte.

„Du erinnerst dich daran?“, fragte er nochmal, noch etwas ruhiger.

Ich zögerte, nickte dann aber doch beunruhigt. Er atmete tief durch.

„Diese Spritze“, fuhr er fort, „enthält Viterna. Ein Mittel, das ich entwickelt habe. Viterna verändert nichts in dir.“

Ich verstand nicht, wovon er sprach, legte meine Stirn ratlos in Falten.

„Es macht, dass etwas in dir so bleibt, wie es ist. Du behältst deine Erinnerungen. Alles, was du kennst.“

Ganz deutlich hörte ich den Haken seiner Worte heraus.

„Aber?“, fragte ich ungeduldig.

Welchen Grund hatten seine Erklärungen? Er schloss die Augen, holte schon wieder tief Luft. Inzwischen malte ich mir das Schlimmste aus und konnte seine Antwort kaum erwarten. Ich war so nah an der Wahrheit, dass ich mich innerlich dafür rüstete.
„Du lernst nichts Neues. Du bleibst genau so wie du jetzt bist. Du wächst auch nicht, du alterst nicht. Wann war das letzte Mal, dass du Nahrung zu dir genommen hast?“

Nun fiel es mir wirklich wie Schuppen von den Augen. Ich konnte mich also nicht an mein Essen erinnern, weil ich nie etwas aß. Anscheinend verrieten meine großen Augen ihm die Antwort.

„Ist es nicht schön, dass die Teller sich von allein leeren und die Tassen ihren Tee scheinbar selbst trinken? Ein faszinierender Zauber, nicht wahr?“

Trotz der aufregenden Situation beruhigte mich sein schelmisches Lächeln, das er so gezielt aufsetzte, als er mir von dem Zauber erzählte. Es riss mich mit. War er einer der Magier, von denen Mutter mir manchmal erzählte?
„Aber wofür das Ganze?“, wollte ich wissen.

Ich hatte das Gefühl, vor einem Vorhang zu stehen, der nur noch durch ein paar wenige, hauchdünne Fäden die Theaterbühne hinter sich versteckte. Die Bühne, welche ich mein Leben nannte. Coel wurde schlagartig wieder ernst. Ob er mir damit zeigte, dass die Fäden zu reißen begannen? „Florence“, sprach er mit finsterster Miene. Ich bekam Angst und meinte sogar, zu zittern.

„Du kannst nicht altern und du isst dein Essen nicht, weil du es längst nicht mehr zu tun brauchst. Durch deine Adern fließt kein Blut. Schon lange tut dein Herz keinen Mucks mehr.“

„Das kann nicht sein“, stieß ich aus, riss mit einem Mal meine Hand aus seinen Klauen und trat ein paar Schritte zurück. Ich zweifelte an dem Verstand dieses Mannes, ich zweifelte an dem meinen.

„Das kann nicht sein“, wiederholte ich.

„Das würde bedeuten, ich wäre...“

„Florence“, unterbrach er mich, „du bist tot.“
Mir wurde schlecht. Ich wusste nicht, ob diese Panik, die mich plötzlich überfiel, Coel galt oder dem, was er gesagt hatte. Ich rieb mir die Hand, die er gehalten hatte, als würde sein Wahnsinn auf mich abfärben und ging rückwärts, bis ich an die Wand stieß.

„Ihre Kollegen hatten Recht“, rief ich.

„Sie sind wahnsinnig. Was fällt Ihnen ein, mir nachzustellen? Mir mit solchen Geschichten Angst einzujagen?“

Ich war außer mir vor Angst.

„Florence, beruhige dich!“

Er saß vor der Tür, vor meinem einzigen Ausweg. Und so war ich gefangen in dieser kleinen Hölle. Worauf hatte ich mich nur eingelassen?

„Sie sagten, ich sei tot. Ich stehe vor Ihnen. Ich schreie in ihr Gesicht und sie erklären mich für tot?“

Sicher würde gleich ein Fußgänger meine Schreie hören und nach dem Rechten sehen.

„Florence, ich war noch nicht fertig.“

Er war aufgestanden, schritt langsam, mit beruhigenden Gesten auf mich zu und mit einer Stimme, ruhig wie eine Winternacht, wenn der Schnee jedes schmerzende Geräusch verschluckte. Ich hasste diese Art von Ruhe. Diese völlig falsche Ruhe.
„Es ist mir egal ob Sie fertig sind.“

Ich wollte zur Tür, ich wollte wegrennen, aber er hielt mich fest.

„Denke doch mal darüber nach! Tu mir diesen einen Gefallen!“

Ich zappelte, aber er hielt meinen Arm fest. Es gelang mir nicht, mich aus seinem Griff zu lösen.

„Lassen Sie mich los!“, schrie ich hilflos.

Aber er war immer noch ruhig und versuchte, auf mich einzureden.

„Hör mir zu! Meine Kollegen hatten nicht Recht. Meine Kollegen tun falsche Dinge, sie zerstören das Leben ihrer Patienten. Sie haben dein Leben zerstört. Dein Körper ist wie leergefegt, alleingelassen von deiner Seele. Bitte Florence, ich weiß, dass du das verstehen kannst.“
Das reichte. Ich drehte mich zu ihm um und Biss mit aller Kraft in den Arm, der meinen umklammerte. Mit einem schmerzerfüllten Schrei ließ er los. Und ich rannte. Durch die gesamte Altstadt, hinauf in mein Wohngebiet, bis die Angst nachließ und ich bemerkte, dass ich außer Atem war. Keuchend und mit brennender Lunge setzte ich mich auf den Bürgersteig.

Was war eben geschehen? Ich wollte ihn für einen Wahnsinnigen halten, der nicht wusste, wovon er sprach. Teilweise steckte in seinen Worten allerdings so viel Wahrheit. Aber eine tote Hülle? Ich? Mit aller Kraft versuchte ich, zu begreifen, was er meinte. Mein Leben hätten sie zerstört. Ich hätte meine Erinnerungen, sonst nichts. Es tat weh mir eingestehen zu müssen, dass es passte. Dass es die Antwort auf einige Fragen war.

Aber ich wollte ihn für verrückt halten und so tat ich es. Ich lief auf wackeligen Beinen durch die Straßen und machte einen großen Bogen um mein Haus. Irgendwann fand ich Rast an einem Teich hinter einem Häuserblock. Und da saß ich und sah zu, wie die Wasseroberfläche das Licht der Straßenlaternen zum glitzern brachte.

Ich war tot. Ein Kadaver, der durch Erinnerungen vor dem Verwesen geschützt war. Die Hälfte meiner Gedanken füllte sich mit Gewissheit, die andere Hälfte mochte nicht. Sie mochte leben. Es konnte nicht vorbei sein, ich wollte nicht nur als Schatten auf dieser Erde wandeln, ohne jeglichen Wert, ohne tieferen Sinn. Wofür hatte ich mich dann angestrengt? Wofür hatte ich gelebt? Die Begrenzung des Lebens hatte alles ausgelöscht.

Ein Mensch kann nicht denken, wenn er tot ist, dachte die andere Hälfte. Aber in einer Stadt, in der Magie die Teller leerte, war da nicht alles möglich? Coel wusste so vieles über mein Leben, aber vielleicht stellte er mir einfach nach und in seinem Wahn dachte er sich Gruselgeschichten aus, mit denen er mir Furcht einflößen wollte. Vielleicht war er ein verrückter Magier, der mein Leben verzauberte.

Oder ich war wirklich nur so lebendig, wie tanzender Staub über trockenem Asphalt, verteilt in einem Windhauch der Nichtigkeit.

Ein weiterer Grund, warum die andere Hälfte nicht wollte, dass er Recht hat, waren die Millionen Fragen, die das aufwarf.

Wann war ich gestorben?

Wie war ich gestorben?

Warum hielt Mutter mich mit dieser Spritze am Leben?

Ich bemerkte nicht, dass mein Blick von den Tränen, die in mir aufkeimten, verschwommen war. Die Welt bestand aus einem Rauschen. Und mein Blick war gefangen in sachtem Glitzern. Und mein Kopf lag so schwer auf meinem Hals, dass ich ihn fallen lassen wollte.

Und ich entschied mich für die andere Hälfte. Dafür, dass ein verwirrter Zauberer meine Welt zum Einsturz bringen wollte. Und zittrig und Gedanken verdrängend schritt ich in die Dunkelheit. Und in mein Zuhause. Und legte mich in mein Bett. Ganz kurz stieg Angst in mir auf, als ich keinen Hunger spürte. Aber die andere Hälfte beruhigte mich. Es ist nur sein Zauber. Es vergeht. Ich werde mit ihm reden, dann lässt er mich in Frieden. Es ist nur sein Zauber. Und Morpheus schloss mich in seine Arme.

Sechs

Es vergeht. Es vergeht. Die Welt war glasig und verschwommen, als hätte ich immer noch Tränen in den Augen, die ich einfach nicht weinte. Aber ich hätte sie geweint, hätte ich geweint. Hatte ich das? Ich hatte einen rauchigen Geruch in der Nase und Angst vor meinem Zustand.

Coel musste mich noch einmal verzaubert haben und nun hatte er mich endgültig aus der Bahn geworfen. Ich war gefangen in einem Rausch. Ich war umhüllt von merkwürdigem Rauch und dennoch bei klarem Verstand. Ich wusste noch, was ich wollte. Dass ich in Ruhe gelassen werden wollte. An dieser Stelle hatte Coels Zauber versagt. Nein, ich würde mich ihm nicht fügen.

Was musste er sich das harmloseste und unbedeutendste Mädchen der ganzen Stadt für seine Zaubertricks herauspicken? Ich erinnerte mich nicht daran, wie ich aufgestanden war. Überhaupt waren meine Erinnerungen an vergangene Tage getrübt.

Immer wieder fehlten Details, die ich brauchte, um mich sicher zu fühlen. Und Mutter klang so still. Ihre Stimme war weit entfernt, als stünde sie hinter einer dicken Panzerglasscheibe. Das gefiel mir. Geht nur alle aus meiner Umlaufbahn. Gebt mir Platz für mich. Ich merkte kaum, wie ich aufstand und die Zeit ganz eilig an mir vorbeihuschte. Und dass ich auf der Straße stand und mein Bewusstsein ganz, ganz zart und so langsam wiedererlangte, dass ich es nicht bemerkte.

Ich fand mich vor der Schnauze des kupfernen Wildschweins. Wie war ich auf die Idee gekommen, hierher zu gehen? Noch bevor ich bemerkte, dass ich war, wo ich war, spürte ich Coels Präsenz ganz deutlich. Und ich wunderte mich nicht. So wie der Zauberer den Verzauberten fand, so fand auch der Verzauberte den Zauberer. Mein Kopf schmerzte.

„Bitte lassen Sie das“, hauchte ich noch ganz geschwächt.

„Liebe Güte, lassen Sie mich in Frieden!“

Da er nicht antwortete und noch ein bisschen verschwommen wirkte, redete ich weiter.

„Ich möchte nichts hören von Ihren Geschichten über böse Professoren und lebende Tote und über Sie, als Retter der Welt. Es geht mir gut und ich brauche keine Hilfe. Die brauche ich erst in Zukunft, wenn Sie nicht mit ihren Zaubertricks aufhören. Vielleicht sollten Sie zunächst selbst über Hilfe nachdenken.“
Und endlich antwortete er, nachdem ich einige Pausen gemacht hatte, um ihn zu Wort kommen zu lassen, er mich aber immer hatte warten lassen.

„Ich hatte alle möglichen Reaktionen erwartet. Aber das? Das ist originell.“

Meinte er das ernst?

„Was wollen Sie? Geld? Meine Mutter ist vermögend, nennen Sie mir einen Betrag. Ich möchte nur meine Ruhe.“

Meine Augen sahen ihn nun wieder gestochen scharf, es war beinahe ungewohnt. So entging mir sein mitleidiger und dennoch gefasster Blick nicht. Kein gewöhnlicher Gesichtsausdruck für einen Wahnsinnigen.

„Das will ich auch. Das alles lässt mir keine Ruhe. Ich möchte das nicht mit ins Grab nehmen. Weißt du, ich werde sterben. Eines Tages. Anders als manch anderer in dieser Stadt.“

Er vertrat seine These hartnäckig. Ich stützte mich schon die ganze Zeit am hohen Sockel der Statue ab, musterte Coel atemlos. Zauberei sog dem ahnungslosen Opfer die gesamte Kraft aus dem Körper. Scheinbar wollte er, dass ich zuerst aufgab, weil etwas an seinen Worten wahr war. Und wenn auch nur ein Fünkchen Wahrheit daran klebte wie hartnäckiger Schimmel, so wollte er, dass ich glaubte. Wieso?

„Wir könnten uns setzen. Magie scheint dich ziemlich zu schwächen. Und dann reden wir darüber. Was hältst du davon?“

„Nicht viel“, antwortete ich aus Reflex.

„Aber es ist wohl notwendig.“
Hinter Theken von eifrigen Marktverkäufern wartete ganz in der Nähe des Flusses eine Sitzgelegenheit auf uns und unsere Geschichten. Ich stöhnte erleichtert auf, als mich meine schwachen Beine endlich nicht mehr tragen mussten. Coel beobachtete mich eindringlich, da ich mich schwer atmend von der unnachgiebigen Holzbank tragen ließ.

„Du liebe Zeit“, nuschelte er.

Ich hörte, wie ein amüsierter Unterton in seiner Stimme mitschwang.

„Das habe ich nicht gewollt.“

Höchstwahrscheinlich meinte er meine körperliche Verfassung. Ich musterte sein eingefrorenes Grinsen.
„Ich habe noch nie einen Magier kennengelernt“, fiel mir auf. Er zuckte die Schultern gelassen. „Sind denn alle so aufdringlich wie Sie?“

Und schnurstracks drückte meine Frage das Lächeln aus seinem Gesicht.

„Es ist zu deinem eigenen Wohl.“

Ohne diesen heiteren Klang blies mir seine Stimme eiskalt vor Ernsthaftigkeit ins Gesicht. Konnte dieser Mann lügen? Ich schüttelte den Kopf, als wollte ich damit diese beängstigenden Gedanken verscheuchen, die mir einreden wollten, dass er doch die Wahrheit sagte.
„Warum geben Sie sich solch eine Mühe? Was wollen Sie denn von mir?“

Ich sprach ihn an als unschuldiges Mädchen, das Angst vor seinem Verfolger hatte. Und dann riss er mir mein sicheres Haus ein.

„Lass mich dir nur ein paar Fragen stellen. Wenn du mir dann noch immer nicht glaubst, hast du deine Ruhe vor mir.“

Ich sah ihn ein Weilchen an. Er meinte es ernst. Verzog keine Miene. Mit einem kurzen Nicken bat ich ihn, fortzufahren.

„Ich sagte zu dir, dein Herz schlüge nicht mehr. Hast du das überprüft?“

Die Farbe wich mir spürbar aus dem Gesicht.

„Ich...“

Das schien ihm Antwort genug.

„Warum nicht?“

Ich suchte eine Antwort zwischen den Pflastersteinen, während Coel sein Lächeln in meinem ratlosen Ausdruck wiederfand. Warum hatte ich das nicht getan? Ich hatte nicht eine Sekunde daran gedacht. Ich hatte so eine schöne Lösung gefunden, das alles zu verdrängen. Aber versucht, es wahr zu haben, das hatte ich nicht.

„Ich werde dir verraten, warum.“

Coel lehnte sich näher zu mir. Er flüsterte, denn es war ihm scheinbar wichtig, dass uns niemand belauschte.

„Dein Kopf kann nicht so weit denken. Weißt du noch? Dort oben sind nur deine Erinnerungen.“ Er drückte ganz leicht auf meine Stirn.

„Du kannst nicht wahrhaben, dass dein Herz nicht schlägt. Scheinbar schafft es deine Mutter ganz gut, dich so gut wie möglich am Leben zu halten, indem sie dich in der Stadt denken lässt.“ Was? Wieder etwas, das Coel über mich wusste. Wieder etwas, das Sinn machte.

„Es ist mir allerdings schleierhaft, wie das möglich ist.“ Auch er tastete mit seinem Blick nun den Boden ab und suchte nach Antworten, bis seine Augen an mir hängen blieben.
„Tu mir einen Gefallen“, meinte er dann.

Natürlich zögerte ich, was er wohl als ein Ja interpretierte.

„Bitte fühle, ob dein Herz schlägt.“

Mir wurde kurz übel. Aber da ich nun mal noch immer dachte, ich wäre gesund und in Ordnung, hob ich meine rechte Hand und legte sie möglichst dort auf, wo sich mein Herz befinden sollte. Und wartete.

Nichts.

Tränen stiegen in meine Augen. Ich drückte etwas fester.

Nichts.

Panik keimte in mir auf. Ich nahm zwei Finger und drückte sie mir an den Hals.

Nichts.

Die Tränenwand in meinen Augen zerbrach, benetzte meine Wangen.

„Oh nein“, hauchte ich.

Und die Einsicht sprudelte auf mich ein.

„Bitte nicht“, flehte ich Coel flüsternd an und da streckte er einfach seine Arme aus und drückte sich fest an mich.

„Das ist schwer. Das verstehe ich.“

Seine warmen Worte und seine noch wärmeren Arme kitzelten nun auch die restlichen Tränen aus mir heraus.
Wer weiß, wie lange wir so dasaßen. Wer weiß, wie ahnungslose Fußgänger uns angesehen haben mussten. Ich war versunken in dieser Einsicht, in diesem Schwall aus Fragen.

„Psst“, machte Coel irgendwann.

Er löste seinen Griff, woraufhin ich mich aufrichtete und wischte mir die Nässe von den Backen. „Du musst Millionen Fragen haben“, erkannte er und lächelte mich mitleidig an.

Ich nickte.

„Was haben Sie mit mir gemacht?“

Meine Stimme zitterte. Das war ich nicht gewohnt und der Kloß in meinem Hals wuchs wieder.

„Na, na“, lachte Coel.

„Ich finde, wir sind beim Du angelangt. Keine Sorge. Ich verrate dir jedes Detail, das du wissen willst. Aber es gibt da etwas, das ich selbst nicht verstehe. Es war der erste Gedanke, den ich hatte, als ich dich wiedersah: Wie kann dieses Mädchen um so vieles älter aussehen als damals? Wie kannst du aufnehmen und verstehen, was ich dir sage, wenn dein Kopf nur mit Erinnerungen gefüllt ist?“
Mich überkam das Verlangen, nach Hause zu gehen.

„Ich muss mit meiner Mutter reden.“

„Hältst du das für eine gute Idee?“

Wäre ich nicht so aufgelöst gewesen, hätte ich ihm zu verstehen gegeben, wie gut ich diese Idee fand, aber ich wollte ihm zuhören.

„Ich werde dir nun etwas über diese Stadt und ihre Bewohner verraten. Sie sind unbarmherzig, eiskalt und bitterböse, ohne es zu wollen. Sie halten den Tod für eine Schandtat und darauf bestehen sie. Weil sie es nicht anders kennen.“

Ich bemerkte, dass ich das auch schon erkannt, es aber nie hinterfragt hatte.

„Und warum denken wir nicht so?“

So langsam hatte ich mich an unseren flüsternden Ton gewöhnt. Er ließ seine Augenbrauen kurz springen, sodass ich bemerkte, dass er an dieser Stelle ratlos war.

„Magier blicken prinzipiell anders auf die Welt. Ich sehe die Magie als etwas höheres als den Menschen. Menschen sind unvollkommen, der Tod wahrt ihre Unvollkommenheit. Und du? Du bist einfach außergewöhnlich. Ich würde das zu gern genauer untersuchen.“

Ich schaffte es mehr und mehr, mein Gesicht gefasster wirken zu lassen, und so las er es ab, dass ich ihn fragen wollte, wie ich helfen konnte. Was war ich denn auch schon wert als Tote? Als Überbleibsel meiner Seele? Mein Leben brauchte doch seinen Sinn.
„Du müsstest einiges riskieren. Ich werde verachtet in dieser Stadt und das nur wegen meinen Ansichten. Ich muss uns beide unsichtbar für die Menschen machen. Hier wird viel geplaudert und ich kann dir versprechen: Wenn sie herausfinden, dass du mir hilfst...“

Er sah traurig aus.

„Ich habe die Sorge, dass du dann selbst deine restlichen Erinnerungen verlierst.“

Ich blieb dabei. Weil ich Hauch war. Flehend nahm er meine Hand.

„Ich würde so gerne ihre Ansichten umkehren und noch lieber würde ich wissen, wie du lernst. Ich lehne mich vielleicht zu weit aus dem Fenster, aber wer weiß, ob ich dich nicht retten kann? Wenn es eine Möglichkeit gibt, den Toten zumindest die Leblosigkeit zu nehmen, ist es dann nicht möglich, die am Leben gehaltenen ins wahre Leben zurück zu holen? Vor allem dich, da es einiges gibt, was dich von den anderen unterscheidet.“

Aufmerksam folgte ich seinen Überlegungen.

„Verstehst du, die schlimmen Fälle sind nur scheinbar lebendig. Sie sind wie ein Film, den man immer wieder abspielen, aber nicht verändern kann. Sie sind gefangen in einer ewigen Zeitschleife zwischen dem Hier und dem Jenseits. Aber du, du lässt dich weiter formen. Und du bist wirklich bereit, mir zu helfen?“

Wie gerne hätte ich diese Frage sicher beantwortet, aber ich fühlte mich etwas zu überrumpelt, um klare Gedanken fassen zu können. Wobei ich selten besonders klare Gedanken fasste, da ich ja... „Es ist plötzlich alles so sinnlos“, erklärte ich gefasster, als ich mich fühlte, „als würde ich stören auf dieser Welt, da ich eigentlich in ein Grab gehöre. All die Jahre meines Lebens sind mit einem mal entwertet. Die Freude ist so eitel. Nichts bleibt von ihr übrig. Wie sieht die Zukunft eines Menschen aus, der tot ist? Wie soll das weitergehen? Werde ich auf ewig sinnlosen Beschäftigungen in der Stadt nachgehen?“

Coels Seufzer klang nicht vielversprechend.

„Die Wirkung von Viterna hält für eine Ewigkeit.“

Coels Satz löste Verzweiflung in mir aus. Ich sah mich für immer in einer Zeitschleife gefangen, statt zu reifen wie sonst jeder junge Mensch und es trieb mir die Tränen zurück in die Augen, sodass ich augenblicklich davon ablenken wollte. Es waren noch zu viele Fragen ungeklärt.

„Woher weißt du so viel über mich?“, wollte ich dann wissen.

Dieses 'Du' stand ihm nicht. Er nannte sich immerhin Professor.

„Ich hab dich etwas beobachtet, dir hier und da ein paar kleine Zauber geschickt.“

Das klärte die ein oder andere Merkwürdigkeit der vergangenen Tage.

„Zu deinem eigenen Schutz“, fügte er hinzu und sprach mit einer Stimme, die genau so klang wie das eben Gesagte.

Beschützend. Irgendwie hatten seine Augen etwas Forderndes an sich. Als würden sie mir in kleinen Schüben Blitze schicken, die schrien, dass ich helfen sollte.
„Ich helfe dir.“ Ich hoffte, bestimmt genug zu klingen, damit Coel es nicht wagte, mich umzustimmen. Er dachte nach, das war ein gutes Zeichen.

„Ich nehme deine Hilfe sehr gerne an, kleine Florence. Aber du wirst viel verlieren.“

„Professor Coel, ich habe mein Leben verloren. Was soll mir jetzt noch passieren?“

Er lachte kurz auf, allerdings klang er nicht im Geringsten amüsiert.

„Da hast du Recht. Aber wärst du auch bereit wegzulaufen?“

Ich erschrak.

„Eben“, sagte mir Coels Blick.

Meine Antwortet erwartete er daher nicht.

„Ja.“

Das war ich tatsächlich. Je weiter weg von meiner Familie desto besser. Sie waren allesamt seltsam, ich fühlte mich fremd bei ihnen und Mutter hatte mich angelogen und zu einem ewigen Leben verdonnert.

„Du würdest zu mir in die Hütte ziehen?“, fragte Coel in einer Tonlage, so überrascht, dass ich meine Antwort überdachte. Zwar war es mir momentan unangenehm, bei meiner Familie zu hausen, aber war es unangenehmer als ein bequemes Bett?

Mein Gesicht zuckte, so schwer fiel mir die Entscheidung und so war ich Coel für seine folgenden Worte dankbar: „Ich hätte da vielleicht eine Idee.“

Er kaute nachdenklich an seinen Nägeln, anscheinend war es nicht die beste Lösung, die sich finden ließ.

„Eine Unterkunft außerhalb der Stadt, die sicher und gemütlich ist. Ein etwas sonderbarer Ort, aber gemütlich.“

„Sonderbar?“

Er achtete nicht auf meine Frage, stattdessen entschied er sich.

„Ja, ich bringe dich zu ihm.“

Zu ihm? Ich stutzte. Wollte ich noch mehr Menschen kennenlernen?

„Wohin?“, fragte ich skeptisch.
„Zu Teiko, meinem Sohn.“

Die Tatsache, die mir plötzlich klar wurde, nämlich dass ich ziemlich wenig über Coel wusste und die, dass ich ihn überzeugt zu haben schien, ließ mich meine Voreiligkeit etwas bereuen.

„Warum wohnst du nicht bei ihm?“

Und wieder gefiel mir das 'Du' an ihm nicht. Beinahe ratlos zuckte er die Schultern.

„Er ist nicht besonders gut auf mich zu sprechen. Vielleicht, weil ich an der Entwicklung von Viterna beteiligt war, vielleicht auch nicht. Es wird an seiner Verwirrung liegen.“

Eigentlich mochte ich Coel doch nicht folgen.

„Ich weiß ja nicht“, seufzte ich.

Er grinste verständnisvoll, meinte: „Mach dir keine Sorgen, er mag etwas wirr im Kopf sein, aber er gehört zu den Guten. Ich habe lange nicht mehr mit ihm geredet, sicher freut es ihn zu hören, dass ich mein Vorhaben, gegen dieses falsche Weltbild der Stadtbewohner und gegen diese armen Patienten vorzugehen, in die Tat umzusetzen versuche. Übrigens ist sein Häuschen außerordentlich einladend und magisch. Es wird dir gefallen. Und Teiko wirst du lieben.“

Wenn er tatsächlich ähnlich verwirrt war wie ich, mochte er vielleicht Recht haben. Und da ich es sowieso nicht ertragen hätte, so weiterzumachen wie bisher und nach einem Sinn in meinem Dasein zu haschen versuchte, willigte ich ein. Coels dankbares Lächeln verstärkte dieses Gefühl und wir hätten auch gleich aufbrechen können, aber meinte, am helllichten Tag wäre es trotz dieser schützenden Zauberei etwas zu gefährlich und er wollte es unter keinen Umständen zulassen, dass jemand merkte, dass er mich aus der Stadt brachte.

Mit ihm zu planen, wie er mich kommende Nacht aus dem Haus bringen wollte, fühlte sich ungewohnt an. Es war aufregend. Nicht aufwühlend, nicht schockierend, keines der Gefühle, die Tage wie die letzten prägten. Nein, es war nur aufregend und ich hoffte, dass meine Familie nichts erahnte. Aber seltsames Verhalten war schließlich das, was meine Welt füllte, seit ich tot war.

Ich bat Coel, einige Schritte mit mir in Richtung meines Zuhauses zu gehen. Letzte Details unserer Reise wurden geklärt, immer wieder sollte ich wiederholen, was ich zu beachten hatte, was ich keinesfalls falsch machen durfte. Neben dem alten Stadttor war eine kleine Seitengasse.

Ich wollte hindurch spazieren, da hielt Coel an und sprach: „Ich nehme nun den Rest des Zaubers von dir.“

Ich drehte mich, da ich etwas weiter gegangen war, zu ihm um.

„Hast du denn nicht bemerkt, dass du für deine Mitmenschen unsichtbar warst?“

Seine Augen funkelten amüsiert. Ich merkte einen sachten Sog, der mich in Coels Richtung ziehen wollte und einen ganz kurzen, eiskalten Windhauch, sodass ich vor Schreck kurz die Augen schloss und als ich sie öffnete, war Coel verschwunden.

Es hing nur noch ein Satz in der Luft, der mehr aus einem Gefühl als aus Worten bestand, als wollte er mir nur noch einmal zuflüstern: „Denk an alles, was ich dir sagte.“

Sieben

Diese würzige Brise, die der sachte Nachtwind durch mein Fenster stieß, war mir nie aufgefallen. Die Nacht sah merkwürdig aus, so alleingelassen von der Sonne. Und der Mond war nicht dazu fähig, mir mit seinen streichelnden Strahlen, die die Baumkronen nur spärlich zum leuchten brachten, das unbehagliche Gefühl zu nehmen. Ich musste vor dem Fenster stehen und meine Gedanken anstrengen, um zu bemerken, dass ich auf eine mir vollkommen unbekannte Welt blickte.

Ich kannte die Nacht nicht. Weder sie, noch die Aussicht aus meinem Zimmer, sei es Tag, oder Nacht. Ich hatte die Nacht nur am vergangenen Abend kennengelernt, aber ich war zu benommen, zu verzaubert gewesen, um sie wahrzunehmen. Traurig, wie bekannt mir jedes Detail meines Alltags war, denn genauso fremd war mir jeder Teil dessen, was außerhalb davon lag. Ich ging nur bekannte Wege und das jeden Tag.

Mutter hatte gesagt, sie habe ein Auge auf mich. Sie hatte mich den ganzen Abend über kritisch beobachtet. Ich hatte versucht, mir nicht das Geringste anmerken zu lassen, allerdings hatte ich nicht die Befürchtung, sie könnte ahnen, dass ich sie heute Nacht verließ. Vermutlich dachte sie, es habe mit meinen verwirrten Gedanken zu tun und sie müsse mir nochmals Viterna spritzen und mich weiterhin lernen lassen in der Stadt.

Der Gedanke daran, dass sie mich vielleicht erwischen könnte, weil sie mir schon wieder einen nächtlichen Besuch abstatten wollte, machte mir Angst und ich hoffte jede Sekunde mehr, einen grauhaarigen Magier unter meinem Fenster zu entdecken. Ich musste warten.

Er hatte mir befohlen, zu warten. Still zu stehen an einem geöffneten Fenster, die Lichter gelöscht, den Mund geschlossen. Er sagte, den Rest würde ich vor Ort erfahren, wobei ich mich fragte, wie er mir seinen Plan erklären wollte, ohne meine Mutter ungewollt einzuweihen. Vielleicht wieder mit diesem Gefühl der Worte, wie er es am Mittag getan hatte?

Ich blieb still und wiederholte in meinem Kopf seine Worte:

Still stehen, warten, die Lichter gelöscht, den Mund geschlossen.

Still stehen, warten, die Lichter gelöscht, den Mund geschlossen.

Je öfter ich mich das in Gedanken aufsagen hörte, desto lauter wurden die Worte und begannen so viel Tiefe zu erlangen, dass sie langsam aus mir heraus drangen und mich einhüllten in einen Strudel, der das Bild, das mein Auge mir zeigte, zum verwischen brachte.

Ich brauchte nicht mehr darüber nachzudenken, denn ich hörte sie von alleine. Ich hörte meine Stimme aus allen Richtungen schallen, sodass ich mein Gleichgewicht und jeglichen Sinn für die Lage meines Körpers verlor. Und so flog ich durch die verschwommene Umgebung, als wäre ich selbst die milde Sommernachtbrise.

In die tanzenden Dunkelblau- und Grautöne um mich herum mischte sich ein grünlicher Schimmer, der sich mehr und mehr zu zwei gleißend grünen Augen formte und eh ich mich versah, stand die Welt wieder still, nachdem ich erneut diesen Sog gespürt hatte, der die Magie von mir nahm.

Die grünen Augen gehörten zu Coel und ich stand an dem Teich, den ich eine Nacht zuvor schon besucht hatte. Da er einige Häuserblöcke von unserem Haus entfernt lag, brauchte ich keine Angst um die Lautstärke von Coels Stimme mehr zu haben, denn wecken konnte er hier allenfalls ein paar Goldfische.
„Da bist du ja“, flüsterte er amüsiert wie immer, wenn er einen Zauber angewandt hatte. Seine Magie schien ihm Spaß zu machen.

Ich war noch etwas perplex, da ich keinen Zauber erwartet hatte und untersuchte meine Arme und Beine, um zu überprüfen, ob ich alles von mir mitgenommen hatte. Er grinste schief und wirkte unwirklich im Licht der Straßenlaternen. Aber wahrscheinlich war es nur die seltsame Situation, die diesen Moment so unwirklich erscheinen ließ.

„Guten Abend“, meinte ich schließlich, als der Rest meiner Seele angekommen war.

Oder das, was noch übrig war, von meiner Seele. Wenn es eine Seele gab. Ich klang zu höflich für ein Mädchen, das weglief und seine Familie zurückließ. Bei dem Gedanken daran hätte mir vor Sehnsucht schlecht werden sollen, aber tatsächlich war es mir egal.
„Wie geht es jetzt weiter?“, wollte ich wissen. Coel nickte und leitete meinen Blick somit an das Ende der Straße.

„Teikos Wagen steht dort hinten auf einem Parkplatz.“

„Holt er uns ab? Ich dachte, ihr hättet ewig nicht mehr miteinander gesprochen?“

Sein Lächeln blieb ihm erhalten, aber seine Augen bekamen einen reumütigen Ton.

„Ich weiß, man sollte sich nicht die Sachen seiner Mitmenschen nehmen, aber ich habe keinen Wagen.“

Ich musste kurz auflachen, was mir etwas peinlich war, als ich den Widerhall hörte. Kurz darauf bemerkte ich, dass ich noch nie Auto gefahren war, dass ich noch nie mit der Straßenbahn gefahren war und dass ich noch nie Bus gefahren war. Mein Leben lang war ich nur gelaufen. In die Stadt, um den Block und nach Hause.

Als die Steinchen unter unseren Schuhen knackten, während wir die Straße entlang liefen, die ich nicht kannte versuchte ich, Hoffnung in meinem Dasein zu finden. Ich würde bei Teiko meine Hände im Boden vergraben und nach dem wühlen, was der ganzen Erde seinen Sinn gab. Bei all den neuen Eindrücken, die ich haben würde und dem Vergnügen, was sie mit sich brachten, bei all der Mühe, mit der ich Coel half, seinen Traum zu verwirklichen, würde ich diesen Sinn erkennen. Ich musste ihn erkennen.

„Na los“, sagte Coel, als wir auf dem Parkplatz angekommen waren, „steig ein!“

Er zog einen Schlüsselbund aus seiner Manteltasche und drückte auf ein kleines Knöpfchen, sodass der Wagen, ein mechanisches Quietschen von sich gab und seine Lichter kurz aufleuchten ließ. Ich stand etwas gelähmt davor, etwas ängstlich, da öffnete Coel mir die Türe. Das Auto hatte nur zwei Türen und zwei Sitze. Ich hatte von Autos gelesen, die mehr Sitze als nur zwei hatten. Ich hatte einiges gelesen und was hatte es mir eingebracht? Mein Wissen gab mir keinen Vorteil, denn ich war gleich tot wie die Ungebildeten oder die Mäuse in der Gosse.

Wir fuhren langsam durch die Straßen der Wohngegend, doch ich empfand es als ziemlich schnell. Meine Augen zuckten, so schnell wanderten sie von einer Häuserfassade zur nächsten und kaum hatte ich meinen Blick auf eine davon gerichtet, da war sie an der Scheibe vorbeigezogen. Allmählich wurde die Landschaft ländlicher, die Häuser weniger, bis keines mehr vor uns lag. Merkwürdig, diese Leere. Wer brauchte so viel Wiese? So viel Wald?

Die Wiesenfläche war weit wie ein Meer. Sie ragte hunderte Meter hinaus, allerdings konnte ich es beinahe nur erahnen, da die Dunkelheit mein Bild verschluckte, was auch die hellen Lichtkegel der Scheinwerfer nur bedingt ändern konnten. Aber das ewige Grün war nicht so unbändig wie das Meer, also warum bebaute es keiner? Einige Bäume flitzten wie Gespenster an uns vorbei, als Coel schneller wurde.

„Ist es schön?“, fragte Coel.

Ich nickte überwältigt.

„Es ist leer“, bemerkte ich.

Er erfreute sich an meiner Weltfremdheit und lachte fröhlich, während er einen Schalter umlegte. Ich hörte unangenehmes Rauschen, gefolgt von melodischen Klängen. Alles was ich sagte bestand aus Fragen.

„Was ist das?“

„Das ist das Radio. Ein ziemlich altes Lied. Aus den 70ern, glaube ich.“

Ich nickte, dabei verstand ich es nicht gänzlich.

„Wie schnell fahren wir?“

„Etwa hundert.“

„Hundert was?“

„Kilometer pro Stunde.“

Wieder lachte er. Ich musste albern auf ihn gewirkt haben.

Nach einer Weile hatte ich mich langsam an die verschwimmende, rasende Umgebung, das ständige Summen des Motors und das rauschende Radio gewöhnt und dem Gefühl des Ungewohnten wich pure Müdigkeit und der Wunsch, endlich anzukommen. Meine Lider brannten und da sie danach verlangten, meine Augen zu verschließen, ließ ich sie einfach gewähren und mich vom Schlaf mitreißen.

Acht

Unsanftes Ruckeln ließ mich langsam erwachen. Wir fuhren über einen Kiesweg und so öffnete ich schwerfällig die Augen. Als ich mich langsam wieder anständig hinsetzte, da ich, versunken in Träumen, in eine äußerst unbequeme Position gerutscht war, bemerkte ich, dass der Himmel sich vor der Ankunft der Sonne schon voller Vorfreude erhellte. Mein Traum waberte noch im Wagen herum. Ich träumte ihn oft, deshalb machte ich mir nicht lange Gedanken darüber.

„Alles in Ordnung?“, fragte Coel, angestrengt auf den holprigen Weg blickend.

Irgendwas auf meinem Rücken schmerzte von meiner krummen Position.

„Was meinst du?“

Ich hätte ihm eine ganze Liste aufzählen können. Er zuckte die Schultern und als er weiter redete, machte es den Eindruck, er rede mit der Windschutzscheibe, so konzentriert schien er zu sein. „Ich hatte mich nur gefragt, ob du immer solch einen unruhigen Schlaf hast.“

„Weiß ich nicht“, gab ich trocken und mit heiserer Stimme zurück, während ich die Gegend begutachtete.

Wir waren wohl schon seit längerem auf diesem Kiesweg, denn die ebene Straße war nirgends mehr zu sehen. Stattdessen erstreckte sich neben uns ein scheinbar endloser und undurchdringlicher Wald, zu unserer Linken lag allerdings Wiese. Wie sollte es auch anders sein. Ob es wohl noch immer dieselbe Wiese war, wie vor Stunden? Ich versuchte mit meinem Blick irgendwo ein Häuschen zu erhaschen, musste aber, stetig ängstlicher werdend, bemerken, dass Teiko sehr abgeschieden lebte.

Und es hörte nicht auf. Es baute sich diese Spannung im Auto auf, die vermutlich nur ich bemerkte. Sie sagte mir, dass wir dem Ziel näher kamen. Coel nahm eine Abzweigung, die einen Hügel hinaufführte. Hätte mein Herz noch geschlagen, so hätte es kurz ausgesetzt, als ich es im blass-blau des frühen Morgens erblickte. Der Wald, der noch immer rechts neben uns lag, lichtete sich und machte die Sicht auf die nicht enden wollende Ebene frei, die am Fuße des Hügels noch schlief.

Links allerdings türmten sich verloren am Horizont mit Gras bedeckte Berge auf. Und davor stand - trotz seiner Einsamkeit fast ebenso anmutig - ein Haus. Kein kleines Häuschen, wie ich es erwartet hatte. Die tausenden, rot leuchtenden Backsteine weckten Erinnerungen an zu Hause. Es ragte wie ein Schloss aus der Erde, so allein wie es dort stand und die wild wuchernden Sträucher und Büsche, die hohen Fichten, die es umschlossen, luden mich ein, statt mich vor Ehrfurcht niederknien zu lassen. Coel wurde auf dem großen Schotterhof langsamer, bog nach links und blieb dann stehen.

„So“, stieß er fröhlich aus.

Er hatte sehr dicht und schräg vor einer steinernen Treppe geparkt, die zur Haustüre führte. Keine große Flügeltüre, einfach nur eine Holztüre.

Er sprang aus dem Auto, stieg die Treppe hinauf und klopfte an. Lange tat sich nichts, woraufhin er nochmals klopfte. Mir stieg ein leichter Druck in den Kopf, der irgendetwas in meinen Ohr knacken ließ, als ich ihm langsam folgte. Mit einem Mal wurde die Tür nach innen aufgerissen.

Ich blickte in ein entsetztes Gesicht.

Mein Blick bestand aus schwarz und weiß. Teiko hatte eine furchtbar blasse Haut, die sich nur um seine Augen herum ungesund abdunkelte. Sein kurzes, pechschwarzes Haar hing in kurzen Fransen über seine Stirn und zitterte im Wind. Dabei wehte noch nicht einmal Wind. Er trug einen schwarzen Stoffmantel mit vielen Taschen und dunkel glänzenden Knöpfen. Das einzig farbige, das ich auf den ersten Blick erkannte, waren seine großen, grünen Augen und diese waren aufgerissen vor Schreck.

„Vater“, hauchte er.

Es klang fragend.

„Mein Sohn. Fabelhaft siehst du aus.“

Teiko kratzte sich nervös durch den dicken Mantel. Er löste den Blick nicht von seinem Vater, antwortete ihm nicht, obwohl Coel sichtbar und freudig gespannt darauf wartete.

„Hast du meine Nachricht nicht erhalten?“

Teikos grüne Augen zuckten.

„Welche Nachricht?“

Warum sprach er so sanft, wo ihm Ärger und Überraschung doch ins Gesicht geschrieben standen?

„Ich habe sie dir durch die Welten zukommen lassen. Wir brauchen dringend eine Unterkunft.“

Teikos Ausdruck wurde noch etwas verärgerter, seine kantigen Gesichtszüge wurden noch schärfer, da wandte er seinen Kopf zu mir.

„Guten Tag“, meinte er plötzlich lächelnd.

Ein Luftzug strich seine Haare und seinen stillen Ärger etwas aus dem Gesicht. Sie wirkten länger als zuvor.

„Guten Tag.“

Ich klang schüchterner, als ich war.

„Ich bin Teiko.“

Er reichte mir nicht die Hand, setzte nur ein liebes Lächeln auf.

„Florence“, antwortete ich, verschreckt wie ein Reh.

Er hatte einen ziemlich breiten und dafür schmalen Mund, wenn er so grinste. Aber ich erkannte viel von seinem Vater in seinem Gesicht. Sicher hatte Coel früher ebenso dunkles Haar gehabt.

„Wo kommst du her?“, wollte er wissen.

Coel sah mich an. Flehte, nett zu ihm zu sein.

„Aus der Stadt.“

Ich bemühte mich, durch meine Unsicherheit nicht schnippisch zu wirken.

Teiko sah so durcheinander aus, ein Gesicht wie ein Püppchen. Ein düsteres, doch mir flößte es keine Angst ein.

„Worum geht es noch gleich?“

Seine Stimme hatte keinen besonderen Ausdruck, als er seinen Vater ansprach. Wie ein Püppchen. Die Art von Püppchen, die man auch noch liebte, wenn ihnen ein Arm fehlte.

„Würdest du uns ein paar Tage bei dir wohnen lassen?“

Sie sahen sich nahezu ewig an.

„Würde ich das?“ Teiko meinte es nicht abweisend, viel mehr rang er innerlich mit sich selbst und sah an Coel vorbei auf den Wagen. Ich wusste, was nun folgen würde.

„Seid ihr in meinem Wagen angereist?“

Ich sah keine Chance in Teikos Augen und spürte bereits, wie meine Waden mich zurück in das Auto ziehen wollten. Teiko schritt etwas zur Seite, nachdem Coel ihn kurz entschuldigend angesehen hatte, womit er weniger Reue als Selbstschutz ausdrückte.

„Reden wir drinnen.“

Das sagte er dann. Nicht etwa „kommt bitte herein“ oder „ruht euch erst einmal von der langen Fahrt aus.“

Er sagte: „Reden wir drinnen.“

Und dann sollten wir wieder verschwinden. Teiko mochte uns nicht.

Er verschwand in der Dunkelheit hinter dem Türspalt, durch den er die ganze Zeit nervös geblinzelt hatte und gerade, als ich ihm folgen wollte, hielt Coel mich noch für einen Moment zurück, um mir zuzuflüstern: „Hab keine Angst.“

Angst wovor? Ich drückte die Türe auf, blickte auf einen langen, dunkel gehaltenen Gang und bemerkte Spannung. Unerklärliche Spannung, die Übelkeit erweckte. Ich schreckte zurück und schüttelte mich, versuchte, dieses miserable Gefühl abzuschütteln, aber es gelang mir nicht. Dies war zweifellos das Haus eines Magiers.

„Lass es zu“, befahl Coel und drückte mich in die zähe Luft der Bedrängnis und ich setzte meine Schritte ganz vorsichtig, wie ein Kind, das das Laufen lernte. Als ich begann zu versuchen, die Atmosphäre zu akzeptieren, sah ich die hohen, abgerundeten Fenster am Ende des Gangs, wo er breiter wurde, sodass der Raum an ein Foyer erinnerte.

In der Mitte thronte eine breite Wendeltreppe, die zu einem Rundgang im ersten Stockwerk führte. Die helle Garnitur vor der Treppe bildete einen Kontrast zum dunklen Olivgrün der Wand. Es sah modern aus, doch durch hölzerne Balken an der Decke blieb es urtümlich.

Teiko war hinter einer Türe im Hausflur verschwunden, hinter der sich eine kleine Küche versteckt hatte. Alles Moderne war hier scheinbar ausgesperrt, es herrschte das Ländliche. Ich spürte noch Coels Hand auf dem Rücken, die mich in den Raum schob und musste mich durch eine Wand aus ungewohnt duftender Luft drücken.

„Bitte setzt euch“, sprach Teiko und deutete höflich auf zwei Stühle an einem kleinen Tischchen, während er mit der anderen Hand ein Glas aus einem Hängeschrank kramte.

Vorsichtig quetschte ich mich durch umherfliegende Fetzen, woraus auch immer sie bestanden. Sie trugen etwas magisches bei sich, das hatte ich im Gefühl. Überhaupt bestanden sie einzig aus einem Gefühl, das mich bedrückte.

Ich zwängte mich mit Hilfe von Coel auf den Stuhl. Er drückte meine Schultern sachte nach unten und ließ sich dann neben mir nieder. Teiko stellte grob sein Glas auf den Tisch. Er erzitterte, als der Wind sein Haar noch etwas länger machte. Wo gab es Wind, der Haare wachsen ließ? Der Gedanke daran gefiel mir.

Zwar verführte mich die Magie, die auf mich drückte dazu, wegzulaufen, aber die erschöpfende Vorstellung daran, mich durch dieses Gefühlsmeer wieder zum Ausgang zwängen zu müssen war stärker. Teiko hatte sich eine aufwändig verzierte Flasche aus einem Schrank gezogen und schenkte sich einen großen Schluck der goldbraunen Flüssigkeit ein. Ein holziger, bitterer Geruch stieg mir in die Nase. War das für mich? Ich wollte nach dem Glas greifen, als Teiko es schnappte in einem Zug austrank.

„Alkohol am frühen Morgen?“, fragte Coel vorwurfsvoll.

„Und was stimmt mit deinen Haaren nicht?“

Teiko blickte ihn finster an und strich seine langen Fransen aus dem Gesicht, die mittlerweile schon bis über seine Augen reichten.

„Du nimmst mein Auto“, erklärte er gereizt, als er sich auf den dritten Hocker sinken ließ, „tauchst hier ohne Vorwarnung auf und willst eine Unterkunft, bringst ein fremdes Mädchen mit und anstatt dich für dein Verhalten wenigstens zu entschuldigen, machst du mir Vorwürfe.“

Das fremde Mädchen zog schützend seine Schultern nach oben.

„Dazu bin ich berechtigt, denn ich bin dein Vater und dass du meine Nachricht nicht bekommen hast, ist nicht meine Schuld.“

Etwas taktlos wäre es durchaus von uns gewesen, wären wir wie aus dem Nichts aufgetaucht. Aber das war es nicht, was diesen Hass in Teikos Augen auslöste. Das war nicht allein die Tatsache, dass wir hier waren.

„Berechtigt. Damit ist das also gerechtfertigt.“

Der Wind war verschwunden. Teiko wirkte ruhig und gefasst. Er wirkte bestimmt. Seine Nervosität war verblichen. Er blickte auf das leere Glas vor ihm.

„Außerdem wissen wir beide, dass es deine Schuld ist.“

Das kränkte Coel.

„Unsinn. Ich habe keinen Fehler gemacht.“

„Natürlich hast du das nicht.“

Teikos Satz triefte vor Sarkasmus. Er schenkte sich noch einen kleinen Schluck ein und leerte das Glas ebenso schnell wieder.

„Florence“, begann er dann, „du musst dir das nicht anhören. Ich zeige dir den Garten. Er ist wunderschön heute Morgen.“

Fröhlich grinsend stand er auf, aber ich blieb sitzen. Diese Anstrengung wollte ich mir nicht antun. Als er bemerkte, dass ich ihm nicht folgte, kniete er sich neben mich, ich saß starr auf meinem Stuhl.

„Du darfst nicht darüber nachdenken. Das ist der Trick: Akzeptiere es einfach, lass es einfach außer Acht.“

Also sagte ich zu mir, dass es in Ordnung sei und dass es nun einmal so sei. So ging das Aufstehen einfacher. Als ich dann hinter Teiko den Rest des Gangs nach hinten zu der kleinen Sitzgelegenheit durchlief und wir nach links abbogen, wo eine gläserne Tür nach draußen führte, war das Gefühl nur noch ein leichter Druck, als wäre mir etwas Wasser in die Ohren geraten. Die Sonne ging nun auf und stand ganz dicht über den Bergen am Horizont. Sie tauchte alles in goldgelb.

„Der perfekte Moment“, flüsterte Teiko und drückte die Glastüre auf. Ein großer, roter Ahornbaum, darunter weiße, verspielt gestaltete Gartenstühle, ein passender Tisch dazu. Es war das erste, was mir ins Auge stach, denn es bildete ein Zentrum. Das Zentrum des Gartens, welches einen märchenhaft verträumten Eindruck lieferte. Der umliegende Rest des Gartens minderte diesen Eindruck nicht im Geringsten.

Blumenbeete mit einer Artenvielfalt, von der mir beinahe schwindelig wurde. Gemüsebeete, vor denen ein kleines Bänkchen wachte, das im selben, romantischen Stil gestaltet war wie die Stühle unter dem Ahornbaum. Mit Beeren besetzte Sträucher zu meiner Rechten, die an einem kleinen Abhang lagen. Eine aus großen, flachen Steinen bestehende Treppe führte zu einem Teich, darüber sprang eine kleine Brücke, die zwar keinen Sinn hatte, aber niedlich aussah. Ein Garten wie ein Traum.

„Herrlich, nicht wahr?“

Teiko stemmte zufrieden die Hände in die Hüften.

„So könnte es immer sein.“

Ich konnte ihm wirklich nicht zuhören, wirklich nicht. Diese Faszination hatte mich umgeworfen.

„Sieh dir alles gut an. Es gibt hier viel zu entdecken.“

Auf Spielplätzen war ich nie gewesen, daher wusste ich gar nicht genau, wie man spielte und wie man sich austobte, aber ich hatte nichts dagegen, es herauszufinden.

„Ich rede drinnen mit Avan.“

Mit diesen Worten verschwand er wieder. Ich hatte fast vergessen, dass Coels richtiger Vorname Avan war. Avan Niklas hieß er, vielleicht auch anders. Nun war ich doch tatsächlich einen Mann gefolgt, dessen vollen Namen ich vergessen hatte.

Neun

Durch Teikos Garten zu wandern ist, als ob man durch die Seiten in ein Märchenbuch springt, das aus tausend Welten besteht. Als ich die Gegend um den Teich betrat, weitete sie sich und bekam einen prachtvollen Glanz und der Teich spiegelte eine Berglandschaft, wie sie gar nicht existierte.

Ich entdeckte ein kleines Boot, als ich einige Meter am Ufer des magisch entstandenen Sees entlang ging und fuhr damit etwas nach draußen. Auf der Mitte des Sees angekommen bemerkte ich dann, wie die sich spiegelnde Berglandschaft nun auch diese Seite des Wassers umhüllte. Als ich etwas später wieder das Festland betrat, bekam der Garten wieder seine ursprüngliche Form. Erst dann wurde mir überhaupt bewusst, wie zauberhaft es hier war.

Am großen Ahornbaum hing nun eine Schaukel. In Vegas Bilderbüchern schaukelten die Mädchen oft, ich stellte es mir immer schwindelerregend vor. Tatsächlich war es aber lustig, wenn man schaukelte, während der Ahornbaum aufblühte und Kirschblüten hinab rieseln lässt. Man schwingt hin und her, ein kleiner Sog zieht den Körper immer wieder nach unten, man schaut zu wie man über den Boden in den Himmel fliegt, bevor man wieder zurückgezogen wird.

Etwas später erholte ich mich auf dem Bänkchen vor dem Gemüsegarten und wagte es, mich zu fragen, ob ich naschen konnte, obwohl ich es nicht zu tun brauchte. Ich rupfte eine Tomate von der Pflanze, öffnete den Mund und nahm einen kleinen Bissen, kaute und schickte ihn von einer Zahnreihe zur anderen. Doch der Brei in meinem Mund bekam einen bitteren Geschmack, sodass ich ihn angeekelt wieder ausspuckte.

Mir war zum weinen zumute, doch da ich das in diesem heiteren Umfeld nicht geschehen lassen wollte, warf ich die Tomate in einen Busch und lief in Richtung Haus.

Sicher gab es noch hunderte magische Entdeckungen zu machen, aber im Moment war ich mehr daran interessiert, zu erfahren, wie es mit unserer Unterkunft aussah. Auch, um dieses niederschmetternde Erlebnis von eben etwas zu vergessen.

Ich lief gegen eine Wand. An dieses drückende, magische Feld hatte ich gar nicht mehr gedacht. Es ist in Ordnung, sagte ich zu mir und drückte mich hindurch und mit jedem Schritt ging es einfacher. Vor der Küche blieb ich stehen.

Die Türe war sperrangelweit geöffnet, doch ich stand neben dem Türrahmen, sodass die beiden, die dort drin lautstark diskutierten, mich nur sehen konnten, wenn sie viel weiter links standen. Scheinbar saßen sie allerdings noch am Tisch, rechts an der Wand.

„Wer ist sie?“, fragte Teiko energisch.

„Eine Freundin.“

Coel war um einiges ruhiger als sein Sohn.

„Was soll das heißen? Sieh doch, wie jung sie ist! Wer ist sie?“

Ich sah sein Gesicht nicht, aber er fühlte sich sicher in die Ecke gedrängt. Gerade als er antworten wollte – ich hörte ihn schon einatmen – ergriff Teiko noch einmal das Wort.

„Sie ist eine deiner Patienten, nicht wahr?“

Stille.

„Was würde das ändern?“, fragte Coel nach einer Weile.

„Rein gar nichts. Ihr könnt so oder so nicht bei mir wohnen.“

Ich hörte Teikos Schritte, die sich nach links bewegten und schritt vorsichtig etwas zurück. „Mein Gott, ich will nicht wissen, was du mit ihr vor hast.“

Ich fand, dass Teikos Stimme etwas zu herablassend klang, immerhin war es sein Vater, mit dem er sprach.

„Nur Gutes. Das wird dir gefallen. Florence ist außergewöhnlich. Irgendetwas in ihr scheint noch zu leben und stell dir vor, was geschieht, wenn ich herausfinde, was und vor allem wie das möglich ist. Ich könnte die Welt verbessern.“

„Es ist immer dasselbe mit dir.“

Teiko schenkte sich irgendetwas ein.

„Ich würde es gut heißen, würde ich dich nicht so gut kennen.“

Die Stille verriet mir, dass er sein Glas wieder leerte.

„Würdest du bitte den Whisky beiseite stellen?“

Teiko ging nicht auf Coels Bitte ein.

„Überhaupt verstehe ich nicht, warum du zu mir kommst. Ich habe dir gesagt, ich will das nicht. Immer wieder.“

„Teiko, warum sollte ich dir fern bleiben? Du bist mein Sohn.“

„Das ist das einzige Argument das du hast.“

Nun schrie Teiko.

„Das einzige. All die Jahre. Ich bin dein Sohn, deshalb denkst du, alles mit mir machen zu können.“

„Was ist denn in dich gefahren?“

Coel versuchte, mit dem lauten Ton seines Sohnes mitzuhalten.

„Ich habe dir nie irgendetwas Schlimmes getan.“

„Wie nennst du das dann?“, fragte Teiko, lief hinüber zu Coel und ich konnte förmlich spüren, wie erwartungsvoll er ihn anblickte.

„Man muss auch Opfer bringen für...“

„Ich will, dass ihr verschwindet.“

Der Satz schien den ganzen Raum in eine andere Stimmung zu versetzen. Nein, ich wollte nicht mehr nach Hause.

„Versteh doch, ich weiß nicht, wohin wir gehen sollen. Sie werden schon bald wissen, dass Florence bei mir ist. In der Stadt sind wir dann, ob mit oder ohne Magie, nicht mehr sicher.“

Teiko seufzte. Er seufzte tief.

„Du hättest es verdient, geschnappt zu werden“, fand er, „aber das Mädchen? Wenn ich das tu, tu ich es allein für das Mädchen und nicht für dich.“

War das etwa eben der Hauch einer Chance?

„Wenn du weiterhin wütend sein musst...“

„Nun fange nicht wieder davon an. Ihr bleibt also vorerst hier, denn es ist sicher hier. Versteh mich nicht falsch: Dass du Florence ins Leben holen willst, ist die erste gute Idee, die du je hattest. Aber wir wissen alle, weswegen du das tust und vor allem für wen.“

Ich hätte gerne mehr von ihren Familienangelegenheiten gewusst. Ich verstand nicht, worum es ging, aber wir durften bleiben. Das war die Hauptsache, so glaubte ich zumindest.

„Du unterstützt mich also?“

Es folgte noch ein schmerzhaft tiefer Seufzer von Teikos Seite.

„Unglaublich, dass ich das mache. So gesehen, nein. Ich unterstütze dich nicht, ich möchte dem Mädchen helfen.“

„Dann dürfen wir also bleiben?“, fragte Coel noch ein letztes Mal.

„Ja, bleibt. Aber wisst es zu schätzen! Das macht mir große Umstände.“

„Es gibt nichts, was sich nicht mit etwas Magie regeln lässt“, lachte Coel.

Teiko nicht.

„Du verstehst es nicht“, murmelte er enttäuscht vor sich hin. Seine Schritte näherten sich der Tür, ich musste verschwinden. Und so schlich ich eilig um die Ecke und tat, als würde ich eben durch die Gartentür gegangen sein.

Teiko lächelte, als er mich erblickte. Seine Haare waren wieder kurz, sein Blick klar, seine Haltung sicher. Er stand wartend an der Ecke und löste den Blick nicht von mir, bis ich ihn erreicht hatte.

„Gehen wir nach oben?“, fragte er mich dann.

„Ich habe ein Zimmer für dich.“

Ohne auf meine Antwort zu warten, ging er voraus. Die Wendeltreppe war nicht breit genug, um nebeneinander herzugehen, aber ich blieb immer ganz dicht hinter ihm und folgte den gefächerten Stufen bis hinauf in den ersten Stock, dessen Hausflur den besagten Rundgang bildete.

Der Gang war relativ breit und so machte ich ein paar große Schritte um direkt neben Teiko gehen zu können.

Als sein Rücken aus meinem Blickfeld neben mich verschwand fielen mir die hölzernen Statuen auf, die in regelmäßigen Abständen scheinbar eine Dekoration des Rundgangs bilden sollten und deren gläserne, himmelblaue Augen, die mich verfolgten. Sie starrten mich an, sie folgten meinem Blick. Sie lebten. Nein, sie wirkten nicht nur lebendig, sie waren es und hielten ihre merkwürdig geformten Speere dicht an ihren verängstigten, verhungerten Körper. Sie musterten mich von oben bis unten.

Ein Blick, so erfüllt von Selbstmitleid und Trauer und ein Gesicht, so verbrannt und eingefallen, dass es mir die Tränen in die Augen trieb. Ihre beigen Knöchel waren verwurzelt mit dem gleichfarbigen Sockel, sie zitterten vor Angst und waren dennoch angetrieben von Neugierde, als unsere Blicke sich trafen und sie ihre Köpfe interessiert in meine Richtung reckten.

Ich erstarrte vor Schreck. Sie alle waren Mädchen, gekleidet in dunkle Fetzen, wie die Sammlerinnen der Steinzeit. Doch waren sie aus Holz. Was hatten solch hölzerne Sklavinnen hier verloren?

„Teiko?“

Ich griff nach dem Saum seines Mantels.

„Keine Angst“, sprach er und legte eine Hand auf meine Schulter.

„Was sind sie?“

Ich flüsterte, da ich Angst hatte, sie konnten mich hören und verstehen. Offenbar waren sie ein Zauber, aber worin lag der Sinn?

„Das sind Spiegelungen deines Ichs, der Unsicherheit und des Negativen in deinem Inneren“, erklärte er, wobei er sich meinem flüsternden Ton angepasst hatte.

Außerdem hatte er sich etwas zu mir herab gebeugt und blickte mit mir in dieselbe Richtung.

„Warum ausgerechnet meines Inneren?“, wollte ich verwirrt wissen.

„Nicht nur deines. Ich sehe mein eigenes Inneres in ihnen. Stell sie dir vor, wie Spiegel. Du siehst ein anderes Bild als ich.“

Er machte eine Pause und ließ mir die Gelegenheit, es zu verstehen.

„Selbst wenn wir nebeneinander davor stünden, wäre es nicht dasselbe Bild.“

Ich löste meinen Blick von dem hölzernen Zauber vor mir und ließ ihn kurz in Teikos Augen fallen.

„Die Vorstellung, ein Spiegel zu sein, ist ziemlich sonderbar, nicht wahr?“

Teiko grinste breit. Seine Zähne waren ziemlich klein und etwas krumm, doch es passte auf eine merkwürdige Weise zu seinem Gesamtbild.

„Darüber habe ich auch schon nachgedacht“, gab er zu und nickte anerkennend.

Dann richtete er sich wieder auf und lief zielstrebig weiter, während er mir erklärte: „Wie vieles in diesem Haus lassen sie sich abschalten. Sie sind abscheulich, deshalb musst du sie mit dem besten, was du hast, überdecken.“

Wir blieben vor einer in dunkles Holz gerahmten, gläsernen Flügeltüre stehen. Durch das milchige Glas sah man nicht einmal Umrisse im Zimmer dahinter. Eingearbeitete, weiße Ranken versperrten die Sicht zusätzlich.

„Was meinst du damit? Wie kann ich das überdecken?“

Er sah ins Nichts, folgte irgendwelchen vorbeifliegenden Hirngespinsten, war ganz versunken in seine Nachdenklichkeit und meinte dann: „Das verrate ich dir, sobald ich es herausgefunden habe.“ Damit öffnete er die Türe. Wir befanden uns in einem Raum, der von Licht durchflutet war und helle Wände begrüßten mich freudestrahlend.

Der Boden glänzte blitzblank. Dies war der hellste Marmor, den ich je gesehen hatte. Die Wände hingegen bestanden aus rauem, kalten Putz. Feigefarbene Vorhänge waren zur Seite gehängt, damit alles Licht der Sonne in den Raum treten konnte. Auch über dem Bett war ein solcher Vorhang angebracht, es sollte wohl einen Baldachin andeuten. Das Bett war frisch gemacht, dessen Wäsche fast so hell wie das Sonnenlicht und es duftete im ganzen Raum nach Vanille.

„Du liebe Zeit“, entfuhr es mir.

Teiko lachte auf.

„Ich weiß.“

Er war todernst, trotz seines Lachens.

„Ich habe es für eine Freundin eingerichtet.“

Irgendetwas in seiner Stimme kitzelte meinen Nacken vor Traurigkeit.

„Braucht sie es denn nicht?“, fragte ich daher.

„Nein, keine Sorge“, hauchte er. „Sie braucht es nicht mehr.“

Wieder schaute er in die Ferne und schien diese zu beobachten, vielleicht sah er auch einfach nur das Bild seiner Freundin durch das Zimmer tanzen.

„Ist sie hübsch?“

Er lächelte verlegen und blickte zu Boden. „Sie war bildschön“, schwärmte er gedankenverloren.

Sie war? Mich durchfuhr ein kurzer Schmerz des Mitleids.

„Das tut mir leid“, stotterte ich.

Er kaute auf seinen Lippen, die Augen benetzt mit Tränen.

„Es tut mir leid“, wiederholte ich.

Er schluckte sie hinunter, er schluckte seine Tränen und diese Tristesse, die sich mit einem Mal über seinen Anblick gelegt hatte, einfach so hinunter.

„Ach“, machte er dann und grinste mir entgegen, „dafür kannst du doch nichts.“

Ich ließ mich auf das Bett fallen und starrte an die Decke. Hier hatte seine Freundin gelegen. Hatte er viele Freunde?

„Du musst mir von ihr erzählen“, befahl ich ihm, während ich weiterhin an die Decke blickte und mit meinen Gedanken ein Fresko darauf zeichnete.

Da er nicht antwortete, setzte ich mich auf und wartete, sein eingefrorenes Gesicht musternd, auf seine Antwort.

„Das sollten wir vertagen.“

Er trug eine Armbanduhr und las die Zeit davon ab. „Mittagszeit“, sagte er.

Ich hatte ziemlich lange im Garten gespielt. Er stand auf und wollte das Zimmer verlassen, drehte sich aber nochmals um. „Danke trotzdem.“

Ich zuckte die Schultern. Er war nicht derjenige, der sich zu bedanken hatte.

„Liest du gerne?“

Ich nickte. Er deutete mit seinem Kopf in Richtung des Bücherregals, das in der Ecke stand. Es brauchte keine weiteren Erklärungen, deshalb drehte er mir den Rücken zu und schloss die Türe hinter sich. Und da war ich nun. Wir wussten wohl beide, dass er mich nicht einfach allein gelassen hatte.

Wir wussten wohl beide, dass er auch hier ein paar Zaubereien versteckt hielt, die ich sofort gierig aufsuchen wollte. Warum tat er das? All die niedlichen Zauber rund um sein Haus waren mehr als verständlich. Aber warum tat er sich diese Holzstatuen an? Statt einen Weg zu finden, sie zu ignorieren, hätte er sie doch einfach verschwinden lassen können?

Nun, hier war ich also. Im Haus eines Magiers, im Zimmer einer Verstorbenen, über grausige Statuen nachdenkend, unter jedem Kissen, in jeder Ecke nach Magie suchend.

Zehn

Ich hatte aufgegeben, nach Absurditäten zu suchen, denn sie ließen sich nicht finden. Dieses Zimmer voller Vanille war abgeschottet von all der Magie in diesem Haus. Ich befand mich in der Normalität, die ich verlassen hatte, als ich Teikos Haus betreten hatte. Vielleicht auch schon, als ich aus meinem Zimmer geschwebt war.

Genau genommen hatte ich immer schon in einer derartig verzauberten Umgebung gelebt, zumindest soweit ich mich erinnern konnte. Die Zeit war mit der Piratengeschichte, die ich gelesen hatte, wie im Fluge vergangen. Es zog etwas durch das offene Fenster, der Saum meines Kleidchens flatterte, Sommerbrise umgarnte meine Waden. Ich ließ mich nieder auf die Fensterbank und hatte Aussicht auf die Berge. Vielleicht würde ich eines Tages dort wandern gehen. Sicher hatte Teiko einige interessante Gedanken, die er dort mit mir teilen konnte.

Du und ich sehen nie dasselbe Bild im Spiegel. Der Wind strich durch weite Weizenfelder, die knapp unter dem Fenster begannen und erst am Fuße der Berge endeten. Ich sah die einzelnen Halme, wie sie wogen und sich verneigten. Warum fühlte ich mich nur immer so poetisch, wenn ich las?

Ich begann zu summen. Das hatte ich schon lange nicht mehr getan. Es war, als wäre es Jahre her gewesen, dass ich, den Kopf auf meinen verschränkten Armen ruhend, auf den Fluss geblickt und die Gestalten meiner Tagträume dort tanzen gelassen hatte. Ich hatte sie mitgenommen. Sie und ihre Tanzlust, die sie heute in den Weizenfeldern auslebten. Sie drehten sich wild mit dem Wind, sodass mir fast schwindelig wurde und die Melodie, die sie gesungen hatten, war mir noch vertraut. Auf der Geige hätte sie himmlisch geklungen. Doch diese Schönheit war so nichtig...

Es klopfte. Teiko trat ein und wunderte sich über meine Fähigkeiten, mich stundenlang selbst beschäftigen zu können. Er meinte, er könne so etwas nur in seinem Garten, deshalb sei er die meiste Zeit dort. Grinsend setzte er sich neben mich auf die Fensterbank.

„Hast du dich entschieden, mir von deiner Freundin zu erzählen?“, fragte ich.

Das war unsensibel und kratzte ihm das Lächeln von den Lippen, nachdem ich es eingefroren hatte.

„Eigentlich wollte ich nur nach dir sehen.“

Ich schmiss ihm eine gleichgültige Handbewegung entgegen.

„Ich habe gelesen.“

Ich hatte ihm wirklich die Heiterkeit aus den Augen gewaschen.

„Helena hat auch gerne gelesen“, erzählte er abwesend auf den Boden blickend.

„Helena?“, wiederholte ich überrascht.

Der Name passte so sonderbar gut zu diesem Raum. Er schien zu leuchten, als Teiko ihn aussprach. Und im selben Moment wurde er von einem milden Windhauch verwischt.

„Ja, meine Freundin.“

Er stand nervös auf, als er fortfuhr: „Es ist nicht einfach, zu sagen, dass sie meine Freundin war. Meine Freundin, meine Geliebte. Überhaupt ist es seltsam, über sie zu reden.“

„Dann musst du das auch nicht“, unterbrach ich ihn, und grinste noch über den Gedanken verwischender Lichtstrahlen.

„Auch wenn ich es gerne gehört hätte.“

Er blinzelte mich aus Verwirrung an. Und als er diese bemerkte, schüttelte er wieder erheitert den Kopf.

„Du kommst mir bekannt vor“, scherzte er, „wie mein Spiegelbild.“

Ich lachte.

„Stell dir vor, dein Spiegelbild käme dir nicht bekannt vor. Stell dir vor, wie traurig das wäre.“

Er lachte mit mir. Ich bewunderte ihn dafür, wie er zwischen seinen Stimmungen auswählen konnte. Im einen Moment durchstach mich sein Blick vor Ernsthaftigkeit, im anderen war er so albern, dass ich ihn bis in die Zehenspitzen liebenswürdig fand, aber genauso schaffte er es auch, dass ich ihn bemitleidete, weil er es selbst so überzeugend tat.

Wir diskutierten über Spiegelbilder, über Bilder, die wir beide sahen, über den Eindruck, den die Natur machte und wir tauschten unsere Gedanken aus. Was auch immer er sagte, ich konnte ihm zustimmen. Seine Ansichten waren vertraut, wir sahen die Welt mit ähnlichen Augen.

Er klagte irgendwann über Hunger und sparte sich die Frage, ob ich mit ihm zu Abend essen wollte. Ich wollte Coel noch eine gute Nacht wünschen, aber Teiko meinte, er sei damit beschäftigt, sich ein kleines Plätzchen für all die Forschungsarbeiten herzurichten, die ihm bevorstanden. Als langsam die Sonne unterging, ging ich mit ihr.

Elf

Die Gedanken tanzten, schwangen durch das ganze Zimmer. Ich war so unruhig und aufgewühlt, denn es war zu viel. In dieser Stille war es mir erst möglich, zu realisieren, was ich getan hatte. Aus der sicheren Umgebung war ich geflüchtet. Vermutlich wurde ich schon längst gesucht, vermutlich würden sie mich schon bald finden. Ich war mit Fremden zusammen.

Nach dieser kurzen Zeit war es mir außerdem noch längst nicht möglich, meinen Zustand zu akzeptieren. Mein Körper lebte nicht mehr. Ich hatte den Tag mit Freude verschwendet und alles was ich davon hatte, war, dass ich tot war. Das Vergnügen war ein einziges Luftgespinst, das mir nichts einbrachte, denn ich war tot. Ich war tot. Meine beängstigenden Gedanken schmissen mich von den weichen Federn. Ich brauchte mehr Raum und eilte aus dem Zimmer.

Ich hatte mir gar nicht die Mühe gemacht, den perfekten Platz, die melancholischste Umgebung oder das süßeste Fleckchen von Teikos Garten herauszupicken. Ich saß einfach auf der Bank vor dem Gemüsebeet und blickte in die Dunkelheit zwischen den dünnen Zweigen der Sträucher, die sich nicht einmal vom Wind biegen ließen, so still war die Nacht.

Der Himmel war gesprenkelt mit Millionen von Sternen. Ich versuchte, das unheimliche Geräusch einer schleichenden Gestalt zu ignorieren, aber als das Gras von zwei schweren Füßen immer lauter raschelte, drehte ich mich um. Teiko rieb sich scheinbar verschlafen die Augen, tänzelte mit einer Fröhlichkeit an mich heran, dass ein jeder gedacht hätte, es wäre der herrlichste Sommertag. Er lachte, als unsere Blicke sich trafen und winkte mir zu, was seltsam aussah, da ich nur wenige Meter von ihm entfernt saß.

„Du bist wie ein kleines Sternchen“, erzählte er erheitert, als wolle er seine schönste Anekdote zum besten geben, „scheinst auch nur zur Mittagsnacht.“

War es die Müdigkeit in seinem Ausdruck oder war er auf eine beängstigende Weise anders als am helllichten Tag?

„Zur Mittagsnacht?“, wiederholte ich. „Meinst du die Mitternacht?“

Teiko zuckte die Schultern und wagte ein, zwei Blicke hinauf zu den Sternen.

„Hm“, machte er dann, „du bist sonderbar.“

Ich schluckte. Das war nicht der Teiko, den ich am frühen Morgen kennengelernt hatte. Das war nicht der Teiko, der seinem Vater zwar nervös, aber bestimmt und selbstsicher gegenüberstand, der tapfer seine Tränen hinab schluckte, als er von seiner Freundin erzählte. Als er es schaffte, seinen Blick von der dunkelblauen Himmelsscheibe zu lösen, sahen wir uns an. Wir waren Fremde.

„Alles in Ordnung?“, fragte er.

Ich nickte.

„Ich möchte den Garten bei Nacht genießen“, log ich.

Mit dieser Art von Teiko, warum auch immer diese Seite an ihm existierte, wollte ich nicht über Zweifel und Ängste reden.

„Und was machst du hier?“

Es entfuhr ihm ein fragender Laut, während er sich den Unterarm durch den dicken Stoff seines schwarzen Mantels kratzte.

„Es ist spät“, versuchte ich, zu erklären.

Er wackelte auf mich zu, setzte sich neben mich.

„Kann nicht schlafen. Muss ständig nachdenken.“

„Worüber denkst du nach?“, wollte ich wissen.

„Helena, Vater, dich...“

Er stützte sich erschöpft mit den Ellenbogen auf seinen Schenkeln ab.

„Die Situation. Ist nicht einfach. Wirklich nicht einfach.“

Ich nickte verständnisvoll.

„Es tut mir leid, dass unser Besuch dich so überrascht hat. Wir...“

Er unterbrach mich.

„Ich will nicht mitleidig klingen, aber ihr verlangt mir einiges ab. Ausgerechnet in dieser Zeit, unter diesen Umständen. Das fällt mir schwer.“

Sein Selbstmitleid kränkte mich etwas aber ich vergaß es sogleich wieder.

„Geht es um Helena?“

Als er nicht antwortete, hakte ich weiter nach: „Wie lange ist es her?“

Er schüttelte den Kopf.

„Weiß nicht. Ich habe längst kein Zeitgefühl mehr. Eine Woche? Zwei?“

Ein eiskalter Schauer durchfuhr mich, da ich nicht damit gerechnet hatte, dass Helena erst eine Woche tot war. Teikos Damm war gebrochen und die Worte sprudelten aus ihm heraus.

„Sie ist noch nicht einmal beerdigt. Ich kann mir nicht merken, wann die Beerdigung ist. Das hätte sie nicht gewollt. Ich versuche, es zu verdrängen und zu vergessen, wo sie doch noch nicht einmal sechs Fuß unter uns liegt.“

Ich rückte näher an ihn heran und versuchte mein Beileid auszudrücken, indem ich ihm die Schulter tätschelte.

„Was ist denn geschehen?“, wollte ich wissen.

Ich bemerkte nicht, wie er etwas zur Seite wich, sich gegen meine Frage sträubte.

„Ich möchte nicht darüber reden.“

Damit gab ich mich nicht zufrieden.

„Hat es mit Coel zu tun? Hasst du ihn deswegen? Hat er ihr etwas angetan?“

Er hielt sich den Kopf, damit er nicht platzte.

„Nicht so viele Fragen auf einmal. Willst du mich umbringen?“

Ich zog die Hand zurück.

„Entschuldige“, meinte ich verlegen.

Er atmete tief durch, bevor er den Griff um seinen Kopf lockern konnte und starrte eine Weile in die Ferne.

„Es ist dunkel“, bemerkte er dann.

Ich sah mich um. Der Mond schien hell, also zuckte ich die Schultern.

„So dunkel war es schon lange nicht mehr.“

Teiko war abwesend, seine Worte nicht an mich gewandt.

„Ich finde es nicht allzu finster“, versuchte ich dennoch, mit ihm zu kommunizieren.

„Nicht hier. Dort.“

Er nickte in Richtung der Sträucher, die seinen Garten umzäunten. Ich folgte seinem Blick.

„Du kannst es nicht sehen“, erklärte er. „Das würde dir den Grund nehmen, hier zu sein.“

„Welche Dunkelheit meintest du nun?“, wollte ich noch immer wissen.

Endlich schaffte er es, mir in die Augen zu sehen. Er trug diesen Wahnsinn auf seinen Lidern. Er trug diese gequälte Mimik in seinem Gesicht, was ihn zutiefst außergewöhnlich machte.

„Die Welt vor mir. Als Magier erschaffe ich nicht. Ich bin Bote zwischen dem Hier und einer Welt, die voller Lösungen steckt. Wir Magier können nichts gestalten oder kreieren, wir haben nur die Gabe, uns das, was wir brauchen aus einer Zwischenwelt zu ziehen. Ein Universum, das verwoben in das unsere ist.“

Früher wie heute übermannte mich die Faszination an der Magie. Geschichten wie diese sog ich mit größter Leidenschaft auf.

„Jeder Magier schiebt seine eigene Welt vor sich her und doch sind all diese einzelnen Dimensionen miteinander verbunden. Man kann hinein schauen, wie durch eine Glasscheibe, dabei ist es eher eine Art verschwommener Lichtkegel, indem alles schwebt, was magisch ist. Du brauchst nur das Gesuchte zu erblicken und es zu nehmen. Das Richtige auszumachen und es auf deine Seite zu ziehen, erfordert endlose Konzentration, die uns Magiern scheinbar angeboren ist. Es bedarf beinahe keiner Anstrengung.“

Ich lächelte amüsiert. Ich hätte sie gerne eingesehen, aber ich sah in keine Zwischenwelt vor mir. Teiko blickte sehnsüchtig in den Lichtkegel, den ich nur erahnen konnte. Unheimlich, sich vorzustellen, zu jedem Zeitpunkt von Magie umgeben zu sein, als Unwissender aber nichts davon zu ahnen.

Traurig merkte Teiko nach einiger Zeit an: „Zumindest ist es für alle anderen nicht anstrengend.“ „Ist es das für dich?“

Alles was ich sagte, bestand aus Fragen.

„Nicht nur anstrengend. Für mich ist es unmöglich.“

Noch nicht einmal Geschichten über Helena ließen ihn so niedergeschlagen aussehen, wie in diesem Moment.

„Ich greife hinein, aber ich verwische alles. Was ich greifen will, rinnt mir durch die Finger. Ich finde keinen Halt daran.“

Er schluchzte laut und hielt seine Augen fest in der Ferne. Teikos Tränen konnte ich nicht ertragen. Ohne Coel wäre ich nicht auf die Idee gekommen, dass es gut tat, in tröstenden Armen zu liegen. Und so umklammerte ich Teiko, sodass es ihm fast unmöglich war, sich zu rühren und es zu erwidern. Er legte einfach seinen Kopf an meinen und ließ sein Schluchzen in meine Haare rieseln.

„Ich kann nicht bewusst zaubern“, gab er mit wackeliger Stimme zu.

„In den ungünstigsten Momenten ziehe ich ohne meinen Willen sinnlose Dinge heraus. Ich kann es nicht kontrollieren. Die Unfähigkeit macht mich wahnsinnig. Weißt du wie es ist, als Magier nicht zaubern zu können?“

Ich konnte mir eine Gegenfrage nicht verkneifen.

„Wie muss es für einen Vogel sein, nicht fliegen zu können?“

Für einen Moment war es still.

„Das ist der passende Vergleich“, fand Teiko und ergänzte: „Als würden die Saiten des Cellos nicht erklingen, wenn du sie streichst.“

Als Dank, dass sich unsere Gedanken so ähnelten, vergrub ich meinen Kopf etwas weiter in seiner Schulter. Irgendwie konnte ich ermessen, wie es ihm gehen musste. Irgendwie tröstete ich mich selbst mit meiner Umarmung und mit der zarten, bitteren Duftnote, die irgendwo an Teikos aufgewärmten Mantel hing. Jeder in diesem Haus hatte sein Päckchen zu tragen.

 

„Was sieht Coel in den Holzstatuen?“

Ich wusste nicht, welchen Gedankengang ich gegangen war, um bei diesem Satz zu landen.

Beide hatten wir uns beruhigt. Mein Mitleid drückte nicht mehr allzu stark und Teikos Schluchzen war verstummt.

„Den Teufel“, zischte er wie eine Schlange: Die Bewegungen geschmeidig, die Zunge unkontrolliert.

Aber man konnte sehen, wie auch sein Körper sich anspannte, als er sich Coel vor sich dachte und wie es Erschöpfung, oder gar Verzweiflung mit sich brachte.

„Wieso gehen wir nicht schlafen?“

Er strich mir kurz mit dem Handrücken über die Wange. Diese Geste kannte ich nicht, aber scheinbar malte er mir sanft etwas Zuneigung ins Gesicht.

„Es wird frisch, oder nicht, Flora?“

Wie konnte er mich nur an Vega erinnern und an ihre Angewohnheit, mich genauso zu nennen? Da bemerkte ich, dass er Recht hatte. Ich brauchte endlich Schlaf, denn auch die Nacht zuvor hatte ich zu wenig davon bekommen und für einige Stunden alles abzuschalten war nötig, damit ich nicht explodierte.

Zwölf

„Florence“

Coel rief mich. Die Sonne fiel nur leicht durch die Vorhänge, sodass ihr Licht fliederfarben schimmerte.

„Florence?“

Nein, er rief nicht, er sprach ruhig, um mich nicht zu erschrecken, denn er stand vor meinem Bett. Ich durchbrach die letzten Reste meines Traums und glitt in die Realität, wand mich herum und streckte mich. Müsste ich Erholung definieren, so würde ich jenen Morgen beschreiben.

„Guten Morgen“, sang Coel.

Der Schlaf war doch noch nicht ganz aus mir gewichen. Ich traf, verträumt wie ich war, meine Entscheidung: Ich stehe nie wieder auf.

„Du musst mitkommen, es wird Zeit, dass wir beginnen.“

Da wurde mir klar, wie aufgeregt Coel war. Womit wollte er beginnen? Ich hatte meine Frage nicht gestellt, aber sie stand scheinbar auf meiner Stirn.

„Hast du schon vergessen, weswegen du hier bist?“

Er kniete sich neben das Bett, wo ich mit der Nase in ein Kissen versunken war und drohte, wieder einzuschlafen.

„Heute finden wir heraus, was du bist.“

Es war das Wörtchen „was“, das mich schlagartig weckte. Ich wollte eigentlich nicht beginnen, einzusehen, dass ich „etwas“ war. Etwas anderes als all die normalen Menschen.

Coel tippte mich an, da ich, so wach ich mich auch plötzlich fühlte, die Augen noch immer verschlossen hielt.

„Komm schon, du hast lange genug geschlafen.“

Ich öffnete meine Augen einen winzigen Spalt und sah zu, wie Coel auf die Uhr blickte.

„Mittagszeit.“

Dieser Mann hatte einiges mit seinem Sohn gemein. Was verabscheute Teiko so an ihm? Um die Mittagszeit war ich bisher immer schon längst in der Stadt gewesen.

„Na schön“, murmelte ich und wand mich wieder auf die andere Seite, wobei ich mich dieses Mal allerdings aufrichtete. Ich wagte einen Blick zum Fenster. Jeder Tag war wunderschön und wolkenlos. Im Garten würde es herrlich sein.

„Wo ist Teiko?“, fragte ich, als ich Coel ins untere Stockwerk folgte.

„Vermutlich in der Kapelle. Dort ist er oft und betet für Helena.“

Links von der Wendeltreppe, gegenüber der Gartentüre war ein weiterer kleiner Gang, von dem eine einzige Türe links abging. Coel führte mich dort hinein und ich stand in einer Art Büro, vielleicht auch einer Bibliothek. Er nannte es 'Teikos Arbeitszimmer' und bat mich, Platz zu nehmen.

„So“, begann er und werkelte an diversen Schubladen herum, bis er ein Blatt Papier und einen Stift gefunden hatte.

Er setzte sich mir gegenüber an den dunklen Schreibtisch aus Eichenholz, worauf ich etwas näher heran rückte, damit ich meine Ellbogen darauf legen konnte.

„Bevor ich irgendetwas tun kann, muss ich ganz genau wissen, wo die Unterschiede zwischen dir und den anderen Patienten sind.“

Ich nickte entschlossen, um mir nicht anmerken zu lassen, dass ich gänzlich vergessen hatte, weswegen Coel mich hierher gebracht hatte.

„Ich stelle dir nun ein paar Fragen, die dir vielleicht etwas sonderbar vorkommen. Aber ich bitte dich, alle ehrlich und genau zu beantworten.“

Wieder willigte ich nickend ein und dann begann er.

„Was ist das erste, woran du dich erinnern kannst?“

Das erste, das allererste.

Meine Überlegungen führten zu nichts, irgendwie blieb ich an den vergangenen Wochen hängen.

Nach einer Weile meinte Coel: „Ich weiß, dass deine Erinnerungen nicht sehr weit zurückreichen. Verrate mir die erste Erinnerung, die du hast.“

Das konnte er nicht ernst meinen. Er wollte Geschichten aus meiner Kindheit hören, dachte sicher nicht daran, dass ich alles vergessen hatte. Wieso hatte ich das alles vergessen? Die Zeit mit meiner Mutter, bevor meine Schwestern geboren wurden war verdeckt von einem eisigen Vorhang. Ich sah sie nicht als Babys, ich sah sie, wie sie eben waren. Vega und Jadelyn. So hatte ich keine Wahl und musste erzählen, was ich wusste.

„Mein Nacken schmerzte an jenem Tag. Mir war elendig zumute, obendrein verhielten sich meine Schwestern merkwürdig. Das war der Tag, an dem ich dich kennengelernt habe.“

Coel sah mich besorgt an, bevor er aufschrieb, was ich ihm gegeben hatte.

„Florence, das ist erst einige Wochen her“, bemerkte er.

„Ich weiß.“

Ich zuckte die Schultern. Mehr hatte ich nicht bei mir.

„Na schön.“

Murmelnd malte er seine Notizen auf das Blatt Papier.

„Du weißt, dass das nicht normal ist?“

Ich nickte traurig und fragte mich, ob es noch nicht einmal eine Sache gab, die mich nicht gänzlich außergewöhnlich machte.

„Vielleicht liegt es an dem Mittel, das deine Mutter dir gespritzt hat. Viterna löscht keine Erinnerungen, es verankert sie. Ich habe zwar eine Vermutung, die alles in einen Zusammenhang stellen würde, aber das ist eigentlich nicht möglich.“

Ich konnte ihm nicht ansatzweise folgen, doch die Idee, dass es nicht Viterna war, was meine Mutter mir gespritzt hatte, sprach mich an.

„Gut, lassen wir das zunächst so stehen. Ich komme darauf zurück. Wenn du so wenig Erinnerungen an die Vergangenheit hast, weißt du denn dann so banale Dinge wie den Namen der Stadt, in der du wohnst?“

Mein erster Gedanke war, dass Coel mich für dumm verkaufte. Die Antwort lag schließlich auf der Hand. Kurz darauf wurde mir klar, dass ich es nicht wusste. Und dann hielt ich mich selbst für unheimlich. Vor allem, weil ich mir Fragen stellte, wie: Diese Stadt hat tatsächlich einen Namen? Ich ließ mir Zeit mit meiner Antwort, schließlich musste ich den Namen kennen.

„Amanecer“, sprach er nach einer Weile bedrückender Stille.

„Die Stadt, in der du wohnst, heißt Amanecer. Stadt des Sonnenaufgangs.“

„Warum weiß ich davon nichts?“

Ich dankte Coel, dass er es immer wieder schaffte, mich verzweifeln zu lassen. Coel schüttelte ratlos den Kopf.

„Wenn ich das wüsste.“

Er sah sich seine Notizen an, während ich den Fall langsam als hoffnungslos abstempelte. Coel kam scheinbar ein interessanter Gedanke. Er blickte mich durchdringend an und füllte seine Mimik mit Nachdenklichkeit.

„Nenne mir die Farbe deiner Haare“, forderte er mich dann auf.

Schwarz, dachte ich sofort. Schwarz wie meine Schwestern, wie meine Mutter und so dachte ich an mein Spiegelbild, an ein Mädchen mit blassrotem Trägerkleid, mit verschwommenem Gesicht, verschwommenen Haaren. Gedanken an mein Äußeres fielen mir schwer.

Ich zögerte, sprach dann aber doch meine wage Vermutung aus.

„Schwarz.“

Wieder schüttelte Coel den Kopf, diesmal etwas langsamer und um einiges besorgter.

„Blond, Florence. Ein dunkles blond, vielleicht auch hellbraun. Aber längst nicht schwarz.“

Ich schluckte und griff nach einer Strähne meiner langen Haare. Tatsächlich leuchteten sie hell.

Aber warum?

„Und deine Augenfarbe?“

Ich hoffte inständig, dass die Antwort 'meerblau, wie einem Aquarell entnommen' war.

„Deine Augen sind grün-grau. Etwas blasser als die meinen“, antwortete Coel selbst.

Aber warum?

„Du siehst dich selbst nicht. Dir fehlt einiges, was andere Patienten besitzen.“

Er schrieb eifrig seine Beobachtungen nieder.

„Und umgekehrt“, diktierte er sich.

Blasses grün-grau. Ich fand die Vorstellung meines Aussehens so absurd, dass ich panisch aus dem Stuhl schreckte und rief: „Gib mir einen Spiegel!“

Die Schultern zuckend sah er sich um und erwartete nicht, dass hinter ihm, auf einem kleinen Holztisch ein liebevoll verzierter Handspiegel lag. Ich hastete hinüber und riss ihn von der glänzenden Tischfläche und ich sah keine Florence in dem vergoldeten Rahmen. Ich sah nicht das Ebenbild einer Jadelyn, keine große Schwester einer Vega.

Ich sah ein fremdes Mädchen, das mir blass und verzweifelt entgegenblickte. Ihr Gesicht trug eine ähnlich fahle Farbe wie die Iris, die ihre engen Pupillen säumte. Feine, helle Haare hingen locker über ihre Ohren und Coels maßlose Untertreibung wurde deutlich: Ich war blond, sodass es mit hellbraun nicht mehr vergleichbar war. Ich war blond. Ich, die tote Florence. Der Tod hatte mich aufgehellt, die dunklen Pigmente des Lebendigen waren aus mir gewichen.

„Was hast du mit mir getan?“

Ich ließ den Spiegel sinken, betroffen von Gesehenem.

„Mit deinem Aussehen habe ich nichts zu tun. Das bist ganz allein du.“

Das war ich nicht. Ich hatte mich anders gesehen und dass ich mich falsch sah, war vollkommen lächerlich. Doch tatsächlich hatte ich nie über mein Aussehen nachgedacht, nicht eine Sekunde lang. Ich hatte es nicht wahrgenommen, wie so einiges.

Ich ließ mich zurück auf meinen Stuhl sinken. Unfähig, den Kopf wieder zu heben.

„Verstehst du es nun?“, fragte Coel vorsichtig.

Ich nickte, ohne aufzusehen. Mit einem Seufzer warf Coel sich in die Lehne.

„Genug der Fragen. Was ich gehört habe, reicht mir.“

Der plötzliche, befehlende Ton ließ mich aufhorchen.

„Ein Jammer, dass keine Untersuchung uns weiterbringt. Nicht einmal Blut kann ich dir abnehmen“, fand er.

Ich wagte es nicht, nachzufragen, warum er das nicht konnte. Schließlich widerte mich auch die Tatsache an, dass kein Herz mehr in mir schlug. Leichen konnten abstoßend sein, besonders jene, die bei vollem Bewusstsein waren. Coel wippte mit seinem Stuhl hin und her.

„Was mache ich nur mit dir?“

„Du bist dir also unsicher, dass das Mittel, das meine Mutter mir gespritzt hat, dein Mittel gewesen ist?“

„Viterna...“, flüsterte Coel und schüttelte gedankenverloren den Kopf.

„Wie hübsch, dass du es 'mein Mittel' nennst. Der Name war die Idee eines Kollegen. 'Lass es uns Viterna taufen', meinte er, weil es übersetzt 'ewiges Leben' heißt.“

Ich lauschte seinen Erzählungen nur ungeduldig.

„Coel“, unterbrach ich ihn dann, als er davon berichtete, wie er nach einigen Überlegungen zu dem Schluss gekommen war, dass Viterna das Falscheste war, was er je zustande gebracht hatte.

Wie er zu seinen Kollegen sprach, wie sie ihn für Verrückt erklärt hatten und wie er, nachdem seine Karriere beendet und all sein Geld ausgegeben war, auf der Straße landete.

„Ich glaube, dass meine Mutter etwas damit zu tun hat.“

Somit war sein Wille, mir weiterhin seine Lebensgeschichte aufzuhalsen, verstummt.

„Ich teile deine Vermutung.“

Ich zog unwissend die Augenbrauen nach oben, damit er nicht dachte, ich wäre zu hundert Prozent sicher.

„Hat nicht alles angefangen, als Mutter mich nachts geweckt hatte, um mir diese Spritze zu verpassen? Ich meine, ich kann mich von diesem Zeitpunkt aus nur ein paar Tage zurückerinnern und wie du sagtest, hat Viterna entweder seine Wirkung verfehlt oder aber, das was mich verändert, ist etwas ganz anderes.“

„Der Meinung bin ich auch.“

Er nickte zustimmend und ich meinte, etwas Stolz in seinem Blick zu erkennen, der mir galt. Er flüsterte nur, als er seine Pläne schmiedete.

„Wenn ich euer Haus durchsuchen könnte, um irgendwelche Hinweise zu finden...

Wenn ich deine Mutter aushorchen könnte, ganz still und heimlich...“

Die Vorstellung, dass er ging, um zu spionieren, flößte mir etwas Angst ein.

„Das kannst du nicht von hier aus?“, wollte ich daher wissen.

Er wedelte meine Idee durch den Raum, als er abwinkte.

„Ich kann mit Magie nachhelfen. Aber das Grobe sollte ich selbst machen. Ich möchte sicher gehen, dass alles glatt und gründlich abläuft.“

Aber das bedeutete, dass ich entweder mit Teiko hier bleiben musste, den ich erst seit einem Tag kannte, oder ich musste mitkommen und dadurch meine Sicherheit gefährden.

„Mach dir keine Sorgen, Florence“, versuchte er, mich zu beruhigen. „Ich bin in ein bis zwei Tagen wieder da. Du kannst Teiko begleiten.“

Als wäre es sein Stichwort, hörte ich eine Türe, die sachte ins Schloss fiel. Coel folgte den Geräuschen mit seinem Blick und als er Schritte hörte, ein vorsichtiges Räuspern und das Quietschen einer Lederjacke, die von seinem Träger abgenommen wurde, stand er auf und bat mich mit einer Gestik, ihm zu folgen.

„Ich bin zu Hause“, sagte Teiko, die Wangen gerötet von dem Fußmarsch, den er eben hinter sich gebracht hatte. Er sah gesund aus, wenn auch tieftraurig.

„Schön.“

Wie wenig Bedeutung doch selbst besondere Worte haben konnten, wenn man sie lieblos dahin warf, wie Coel es eben getan hatte.

„Und ich gehe“, beendete er seine Aussage.

„Was?“ Ich trat vor ihn. „Du willst sofort aufbrechen?“

Teiko blickte zwischen uns hin und her.

„Je schneller, desto besser. Wir können all den Aufsehern der Stadt nicht ewig etwas vormachen, irgendwann werden sie herausfinden, wo wir sind. Und wenn sie dafür Magier auf ihre Seite ziehen müssen. Es ist wichtig, dass wir uns beeilen.“

Was wollte dieser Mann eigentlich erreichen? Wir standen so knapp hinter der Startlinie, dass das Ziel nicht einmal zu erahnen war. Von Schnelligkeit konnte keine Rede sein. Enttäuscht sah ich Teiko an.

Halte deinen Vater auf, wollte ich sagen, aber da war Coel schon durch die Tür und hinterließ uns eine Botschaft, ein Gefühl, das Worte malte: „Alles wird gut, nur ein paar Tage, dann wirst du leben.“

Schade, dass ich mir da nicht so sicher war, wie er.

Dreizehn

„Mach dir nichts daraus“, meinte Teiko, noch bevor ich begreifen konnte, was Coel eben getan hatte.

„Wegrennen kann er durchaus gut.“

Die Wahrheit seiner Worte wollte mich irgendwie nicht beruhigen.

„Er kann doch nicht...“, stotterte ich.

Ich sah überrumpelt durch die Tür nach draußen. Eine Bitte um Teikos Wagen hatte Coel nicht geäußert, dennoch war er wieder darin abgereist.

„Nein, die feine, englische Art ist es nicht.“

Er tätschelte kurz entschuldigend meine Schulter und ich bemerkte wieder den zartbitteren Geruch an ihm, als er sich umdrehte und in die Küche lief.

„Für ihn ist es allerdings ganz normal. Wenn er sich etwas in den Kopf setzt, dann hält ihn so schnell keiner mehr auf.“

„Aber das ist doch gut, oder?“

Ich folgte ihm und erwartete, dass er sein Fläschchen aus dem Schrank zog, aber es blieb, wo es war.

„Es ist gut, dass ihm keiner ins Gewissen reden kann, wenn er offensichtlich Unrecht hat? Avan ist ein schlauer Mann, er kann einiges erreichen, wenn er sich wirklich dafür einsetzt. Allerdings ist es oft das Falsche. Und wenn es das ist, kann man nur hoffen, dass er das eines Tages von selbst einsieht.“

Während Teiko das Fenster öffnete, um frische Luft hereinzulassen, setzte ich mich an denselben Platz, den ich auch am Tag zuvor schon belegt hatte.

„Aber genau das hat er doch“, entgegnete ich ihm und seiner Abneigung seinem Vater gegenüber.

„Ja.“ Ihm entfuhr ein abfälliger Laut. „Bagatellen...“

Er stand mit dem Rücken zu mir und sah hinaus in die Ferne, wahrscheinlich begutachtete er noch nicht einmal die Landschaft, sondern blickte in seine Magierwelt, um seine Helena zu finden.

„Was ist los? Warum hasst du ihn so sehr?“, fragte ich dann einfach.

Seine Schultern fielen etwas in sich zusammen, als er seufzte.

„Es geht dich wirklich nichts an.“

Er drehte sich um und dem gesunden Rot in seinen Wangen war die übliche Blässe gewichen.

„Ich möchte nicht darüber reden“, fügte er hinzu, bevor er das Thema wechselte.

Ich bemerkte, wie zottelig und lang seine Haare heute waren. War das der Grund, weshalb seine Gesichtszüge heute so klar und ebenmäßig wirkten? Keiner hätte geahnt, was in ihm vorging, hätte man nur sein Äußeres an diesem Tag gesehen. Wo fahle Haut gestern noch ungesund gewirkt hatte, erschien sie heute vornehm und überaus passend zu seinem Auftreten, das mich sein schwaches, sonderbares Verhalten in der Nacht vergessen ließ.

„Wunderbar, da lässt dich Avan einfach hier stehen, ohne sich die Mühe zu machen, darüber nachzudenken, dass ich vermutlich auch keine Zeit für dich habe.“

Das kränkte mich auf eine Art, die sich ungewohnt anfühlte.

„Wo gehst du hin?“, fragte ich traurig.

„Nirgends, nicht heute.“

Teikos Augen wurden trüb von den Tränen, die darin aufstiegen und eine solide Tränenwand bildeten.

„Helenas Beerdigung ist morgen.“

Ich wusste nicht, wie ich zu reagieren hatte.

„Oh“, begann ich dann, „dann verbringe ich den Tag im Garten.“

Wo sonst sollte ich die Zeit verschwenden? Die ewige Weite, die der Garten offenbarte, hatte noch viel Raum für eine Entdeckerin zu bieten.

„Ich kann dir nicht versprechen, dass das geht“, säuselte Teiko in meine Richtung und blinzelte mich entschuldigend an.

Mit der Aufforderung, ihm zu folgen, eilte er aus dem Zimmer. Tatsächlich ging er ziemlich gemächlich den Gang entlang, aber es war etwas anders in seinem Schritttempo, in seiner Gangart. Etwas zielstrebiges, etwas klares. Er brauchte die Glastüre vor dem Garten nicht zu öffnen, damit ich bemerkte, wie bemitleidenswert er plötzlich aussah. Alle erdenklichen Brauntöne sprangen mir ins Auge, wo ich gestern noch ein kunterbuntes Blumenmeer erspähen konnte. Der zentral liegende Ahornbaum hatte seine Blätter abgeworfen, die Gemüsebeete waren wie leergefegt, der Teich ausgetrocknet. Der Rest bestand aus traurig hängenden Köpfchen von beigefarbenen Blumen oder dem, was davon übrig war. Welch eine Schande. Was war über die Nacht geschehen?

„Je klarer ich bin, desto grauer ist es hier“, sprach Teiko traurig neben mir.

Ich drückte mit den Fingerkuppen leicht gegen die Glasscheibe, die mich vom Garten trennte, was ihn auch nicht lebendiger machte.

„Was soll das heißen?“

„Dass meine Verwirrung schwankt und der Garten das zum Ausdruck bringt. Du weißt schon, der Wahn, wenn man es so ausdrückt, wie mein lieber Herr Vater. Der Garten ist eine Ausgeburt meiner Magie und scheinbar irgendwie mit mir verbunden.“

Ich wendete den Blick von dem Elend ab, sah stattdessen fragend Teiko an, denn dieser Ort begann, immer verrückter zu werden und wenn ich nicht alles verstehen konnte, würde ich es nicht hier aushalten. Nicht einen ganzen Tag allein.

„Es gibt Tage, da fühle ich mich ganz normal. Es gibt aber auch Tage, da ist mein Kopf verflucht wirr. All die Gedanken, all die Eindrücke...“

Wir gingen gemächlich zur Küche zurück und setzten uns uns gegenüber. Teiko schenkte sich ein Glas Wasser ein.

„Kannst du heute also zaubern?“

Er lachte.

„Das wäre schön. Nein, aber dafür ist die Chance einer Entgleisung geringer.“

Das Wort „Entgleisung“ hallte in meinem Kopf wider und vermutlich dachten wir in diesem Moment dasselbe.

„Ich hoffe nur inständig, dass es morgen genauso ist.“

Das war der Satz, der diese Idee in mir weckte.

„Soll ich dich begleiten?“, fragte ich schüchtern.

Es war vermutlich nicht nur eine schlechte Idee, sondern eine gewisse Respektlosigkeit Helena gegenüber. Das bemerkte auch Teiko.

„Du kanntest sie doch gar nicht.“

Trotz dessen sah ich, wie er mit sich rang und innerlich abwägte, was er wollte.

Er ließ mich etwas zappeln, bis er sagte: „Es wäre sicher im Interesse der Trauergemeinde, dass ich mich beherrschen kann.“

Er konnte den Blickkontakt nicht zu mir halten, was auch mich etwas verlegen machte.

„Und in deiner Gesellschaft kann ich das, denke ich.“

Damit fing er mich. Er warf die Angel aus und fing mich wie eine Forelle. Doch statt zu zappeln wie ein armes Fischlein an Land, ließ ich mich gerne darauf ein. Ein Lächeln zuckte auf, das ich nicht zurückhalten konnte, für das ich mir aber den miesesten Moment ausgewählt hatte. Denn er lächelte nicht und griff mit seinen glasigen Augen meine Mundwinkel, verachtete sie und zog sie wieder hinab.

„Ich leiste dir gerne Gesellschaft“, versprach ich ihm dann.

„Na schön.“

Teiko gefiel seine Entscheidung, mich dabeihaben zu wollen, nicht.

„Dann wecke ich dich morgen pünktlich. Es ist ein weiter Weg zur Kirche...“

„Und wir haben keinen Wagen“, beendete ich seinen Satz.

Mit einer hochgezogenen Augenbraue sah er mich an.

„Stimmt. Was denkt Avan, wer er ist?“

Er schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte.

„Er wird uns wohl oder übel einen besorgen müssen. Das dürfte für einen Magier wie ihn kein Problem sein.“

Der Satz triefte vor Sarkasmus. Ich zuckte gedankenverloren die Schultern. Eine Beerdigung. So etwas kannte ich nicht, ich konnte mir nichts darunter vorstellen. Ich sah ein tanzendes Mädchen, wenn ich an Helena dachte. Ich stellte sie mir brünett vor. Lange, fließende Haare, ein puderfarbenes Kleidchen. Das war alles, was ich dachte und was ich sah. Aber eine Beerdigung?

„Geh schlafen, Flora.“

Ich zuckte zusammen und fühlte mich auf den Arm genommen, schließlich trafen wärmende Sonnenstrahlen statt milder, nächtlicher Brise meine Schultern.

„Es ist Mittag“, erwiderte ich daher.

Er schüttelte gespielt fürsorglich den Kopf.

„Diese Zeit muss nervenzehrend sein. Geh schlafen, das tut dir gut.“

Damit erhob er sich und zupfte kurz an meinem Ärmel, damit ich ihm Folge leistete. Ich entschied, es zu tun. Und als ich ihm in Helenas bescheidenes Schlafgemach gefolgt war und er sich angespannt vor das Fenster stellte und sich daran heftete, wurde mir übel. Er klebte sich an die Scheiben, obwohl er Meter von ihnen entfernt stand.

Irgendetwas zog ihn zu dem hölzernen Rahmen, irgendwie hielt er ihn und die gläsernen Scheiben eng umschlugen, irgendeine Kraft ging von ihm aus, welche sich mit Coels Gefühl der Worte vergleichen ließ. Mir stieg der allseits bekannte magische Druck in den Kopf, ich wankte und ließ mich durch die zähflüssige Luft auf den Boden fallen.

Mein Augenlicht flackerte, das Sonnenlicht verschwamm und verwischte. Es war unerträglich – doch daran dachte ich nicht. Ich konnte es gar nicht, denn bevor ich es denken konnte, war es vorbei.

„Sieh an!“, hörte ich Teiko rufen.

Erst dann fiel mir auf, dass ich mein Augenlicht für kurze Zeit ganz verloren hatte.

„Sieh an!“, rief Teiko immer wieder, mit dem größten Enthusiasmus in der Stimme.

„Hier hast du deine Antwort.“

Langsam und verwirrt stand ich auf.

„Was ist passiert?“

Meine Worte klangen verwischt wie zuvor das Sonnenlicht. Jenes war plötzlich erloschen.

„Ich wollte die Zeit verändern, ich wollte zur Dämmerung springen“, erklärte mir Teiko, während er mich stützte.

Es war erschreckend zu sehen, wie lebendig er von dem einen auf den anderen Moment aussehen konnte.

„Die Zeit ist noch dieselbe. Aber die Fensterläden sind geschlossen, siehst du? Das ist gut, Flora. Ich habe willentlich gezaubert.“

Ich lehnte mich etwas gegen seine Hände, die auf meinen Schultern ruhten.

„Mit dem falschen Ergebnis“, korrigierte ich ihn.

„Mag sein. Dennoch ist das etwas besonderes. Das ist schon lange nicht mehr geschehen.“

Ich gönnte ihm sein Glück nur zu gerne, ich freute mich sehr für ihn. Aber was Magie mit mir anstellte, wusste er doch. Wie sie mich auslaugte und wie schlecht sie mir bekam. Dementsprechend enttäuschend war es, zu sehen, dass er das vergessen oder schlichtweg ignoriert hatte. Sein Wunsch, dass ich mich schlafen legte, würde sich erfüllen. Erschöpfung hatte er bei mir nämlich erreicht mit seiner Zauberei. Ob willentlich oder nicht.

Vierzehn

Ich lehnte etwas unbeholfen am Türrahmen, nachdem Teiko mich geweckt hatte. Er hatte die Vorhänge zurück gerissen und mehrmals meinen Namen gerufen, dann war er wieder aus der Tür gestürmt und hatte die Hektik irgendwo in meinem – oder besser gesagt, in Helenas Zimmer stehen gelassen. Ich war aufgesprungen und ihm gefolgt und seitdem lehnte ich dort.

Er zupfte an seinem Kragen, band verzweifelt seine blutrote Krawatte, zerrte immer wieder daran, bis sie ganz zerknittert war.

„Wie geht es dir?“, wagte ich dann zu fragen.

Ich sah seine Verzweiflung durch den Spiegel, durch den er mich anblickte. Er antwortete nicht und konzentrierte sich wieder auf seine Kleidung, die aus schwarzem Hemd, schwarzer Hose und der mitgenommenen Krawatte bestand. Das Sakko über seinem Hemd hatte dieselbe düstere Farbe.

„Teiko?“

Ich wollte eine Antwort, um mir keine Sorgen mehr machen zu müssen, wobei seine Antwort mein unbehagliches Gefühl wohl noch verstärkt hätte. Seine Haare glänzten und hingen ihm schwungvoll bis zum Kinn. Ich sah leichte Abstufungen darin, als hätte er sie erst kürzlich geschnitten.

„Bist du fertig?“, fragte er mich nach einer Weile.

Ich sah an mir hinunter. Mein Kleidchen hatte vom Schlafen einige Falten abbekommen, durch ein, zwei Blicke in den Spiegel war mir aufgefallen, wie durcheinander mein blondes Haar war, an das ich mich noch immer nicht gewöhnt hatte und überhaupt waren die letzten Tage nicht die gesündesten für die Pflege meines Erscheinungsbilds gewesen. Teiko musterte mich – das Abfällige in seinem Blick entging mir nicht.

„Sicher willst du dich waschen. Im Schrank oben sind noch ein paar schwarze Kleider – sie könnten dir passen.“

Welchen Schrank meinte er?

„Das geht nicht.“

Ich konnte auf keinen Fall Helenas Klamotten zu ihrer Beerdigung tragen, ich würde mich selbst dafür verfluchen.

„Nein, nein“, beruhigte er mich, „sie gehörten meiner Mutter. Such dir ein schönes aus.“

Seine Hände zitterten vor Hektik aber seine Stimme war ruhig und lieb zu mir. Irgendwie streichelte sie meinen Hinterkopf. Ich fror sehr angenehm.

Es war mir nicht möglich, mir beim Herausputzen Zeit zu lassen. Besonders, weil ich Teiko nicht noch mehr Unruhe verpassen wollte. Seine Mutter hatte die schönsten und schwarzesten Kleider, die man sich vorstellen konnte. Eine Art schwarz, die nichts düsteres besaß. Eine Eleganz, die mich erstaunte. Und sie passten alle.

Ich wählte eines, dessen Saum nicht allzu nah am Boden hing, dessen Ärmel mir bis zu den Ellen reichte und der mein Schlüsselbein geradeso sichtbar machte. Es war einfach gehalten und würde nicht für Aufsehen sorgen. Meine Haare blieben offen und glatt. Und dennoch staunte Teiko, denn zum ersten Mal trug ich etwas anderes als das faltige Sommerkleidchen. Ich trug das schwarz seiner Mutter. War das richtig?

„Das ist hübsch“, fand er, als ich die Wendeltreppe herab kam.

Er sah kaum hin. Viel zu war abwesend war er und mit der Angst davor beschäftigt, sich von Helena zu verabschieden.

„Mir fehlen Schuhe“, merkte ich an.

„Diese hab ich dir herausgesucht“, murmelte er nach kurzer, angestrengter Überlegung.

„Ebenfalls von meiner Mutter.“

Was er ausgesucht hatte, waren schlichte, schwarze Ballerina Schuhe, die vom Lack glänzten. Sie standen auf der Treppe vorm Haus und warteten darauf, dass wir uns auf den Weg machten.

„Hast du nun einen Wagen?“, fragte ich, während er um mich herum schwirrte, wie eine Biene um Blumen, die sie nicht mehr zu bestäuben brauchte.

„Ich hab mit Avan geredet, er müsste uns einen gebracht haben.“

Dann stellte er sein Schwirren ein, seine Flügelchen verstummten. Er kam auf mich zu und zupfte mir das Kleid an den Schultern zurecht, legte mir die Hände auf und konnte nicht anders als laut zu seufzen.

„Gehen wir“, sagte er darauf.

'Ziehen wir in den Krieg', hörte ich mich denken.

Wir verließen das Haus ganz förmlich, stiegen ganz gewöhnlich in Coels Wagen – wo auch immer er ihn her hatte – und Teiko startete den Motor, wie an einem ganz normalen Tag. Wie konnte man sich an so einem Tag so unbeteiligt verhalten?

Teiko bog in die Straße ein, die Coel und ich Tage zuvor verlassen hatten, um zu Teikos Haus zu gelangen. Wir fuhren auf dem Teil der Straße, den ich noch nicht kannte, der in Richtung Berge führte. Sie türmten sich immer höher, je näher wir ihnen entgegen fuhren. Es tauchten eingezäunte Tiere auf. Kühe, Pferde, Schafe. Nachdem die Straßen kurviger wurden, steuerte Teiko auf einen Berg zu.

Ich spürte seine bedrückte Stimmung und wie sie jedes Wort, das in mir aufkeimte, unterband. Also ließ ich es einfach auf mich wirken, wie der Wagen nun einen steileren Weg zu bewältigen hatte und der Berg langsam unter uns versank. Selbst der Himmel trug etwas Trauriges. Wolken, die zu brechen drohten, versteckten ihn hinter sich.

Auf dem Weg liefen manchmal schwarz gekleidete Menschen, die das selbe Ziel vor sich hatten, wie wir. Wir mussten ihnen ausweichen, denn sie gingen nicht zur Seite. Ich spielte nervös mit meinen Fingern. Was würden die Leute über Teikos Begleitung sagen? Würden sie angewidert auf mich zeigen?

'Schaut euch die Untote an, die er dabei hat! Sie trägt die Kleider seiner Mutter.'

Wenn ich so darüber nachdachte, war es schrecklich geschmacklos. Aber ich tat es für Teiko, und wenn ich es den Leuten ins Gesicht schreien musste. Er hatte gesagt, ich täte ihm gut.

Vor uns und vor den Steinbrüchen, die bis zum Gipfel hoch ragten, türmte sich ein Riese von einer Kirche auf. Ich kannte die Kapelle auf dem Friedhof oder Bilder von gotischen Kirchen aus Büchern, aber das übertraf die kleinen Illustrationen und das niedliche Gemäuer auf dem städtischen Friedhof. Teiko brachte den Wagen irgendwo daneben auf der Wiese zum Stillstand und rührte minutenlang keinen Finger.

„Teiko“, unterbrach ich ihn dabei, „was denkst du heute über die Chance einer Entgleisung?“

Er blickte in die Magierwelt und schüttelte bedacht den Kopf.

„Ich weiß es nicht“, nuschelte er ängstlich „und ich will auch nicht darüber nachdenken.“

Ich verstand, dass es ihm schwerfiel, aufzustehen und hinauszugehen, das Opfer des Gevatters zu betrachten.

„Wir sollten aufstehen“, wand ich nach einer Weile der Stille ein.

Er schüttelte stumm den Kopf, hauchte dann: „Was werden sie sagen?“

„Welchen Unterschied macht das?“, antwortete ich und machte unüberlegt den Anfang, indem ich die Tür öffnete.

Ich hörte ihn ein letztes Mal tief durchatmen, dann stieß auch er die Tür auf und stieg aus. Menschen unter dunklen Regenschirmen versammelten sich allmählich vor der Kirche. Wir beiden liefen geduckt. In Abwehrhaltung. Wie Lämmer durch das Wolfsrudel.

Die gierigen Blicke hafteten auf uns. Zuerst nur einer, dann noch ein anderer, bis die traurigen Unterhaltungen lebhaftem Getuschel wichen und wir uns durch eine Schar aus brennenden Blicken drückten. Ohne ein Wort stiegen wir die breite, steinerne Treppe hinauf, die zum Eingang führte.

Die Fassade wurde von detailliert verzierten Steinbögen umrahmt. Insgesamt vier darin eingelassene Eisentüren ließen sich öffnen. Ich verstand die unnötige Höhe des Bauwerks nicht und vermutete den Grund im Inneren, doch mein Unverständnis blieb.

Quer durch die schier endlos hohe Kirche wurde durch ein, zwei Stufen aus dem ebenen Steinboden ein Podest. Darauf stand ein Ambo vor einer Wand aus dunklem Holz, von denen Türen vermutlich in ein Hinterzimmer führten.

Rote Tücher zierten die Wand und vor dem Ganzen stand ein dunkler, offener Sarg. Millionen Blumen in dezenten Farben waren rundherum ausgelegt, Kerzen soweit das Auge reichte. Hoch oben sah ich vorne links und rechts Orgelpfeifen in den Wänden. Hohe, aufwändig gestaltete Fenster luden das Sonnenlicht ein und dunkle Sitzbänke ließen uns einen schmalen Gang, um nach vorn zu gelangen.

Es war ein Gefühl, das mir sagte, dass Teiko keinen Schritt mehr gehen mochte und sich förmlich dagegen wehrte. Ohne nachzudenken legte ich ihm die Hand auf den Rücken, um ihm zu helfen, den Weg zu bewältigen.

Du schaffst es, wollte ich ihm sagen, aber irgendwie kam kein Wort über meine Lippen. Vielleicht aus Ehrfurcht vor diesem Gemäuer, doch dass ich so etwas fühlte, konnte ich nicht mit Sicherheit sagen. Ich schob Teiko also weiter, während er leichte Entrüstung auf mich warf.

Als wir an dem Podest ankamen, auf dem der Sarg stand, trat ich ungehalten an ihn heran, denn die Neugierde überkam mich. Und sie war wunderschön. Blasse Haut, schwarzes Haar, die Lippen voll aber äußerst bleich. Man hatte ihre Lider mit dunklem rosa geschminkt und ihr ein schwarzes Kleid angezogen, dessen Rüschen ihr Dekolletee umspielten.

Der einzige Farbakzent war der Gürtel aus roter Seide. Ihr nahezu lebendiger Eindruck wurde von den roten Rosen, die sie zwischen ihren gefalteten Händen hielt, noch unterstützt. Dies war ein toter Mensch. Ich konnte nicht anders, als mich daran zu erinnern, wie viel Helena und ich in unserem Dasein gemeinsam hatten.

Ihr Anblick war die Stille, die Ruhe. Dennoch wirkte sie, als würde sie sofort aufspringen und durch die Gänge tanzen, als könnte man den Film ihres Lebens einfach weiterlaufen lassen.

Teiko schluchzte neben mir und ich spürte, wie meine Hand, die noch auf seinem Rücken ruhte, mit seinem Weinen erzitterte.

„Meine Helena.“

Ich hatte ihn schon einmal weinen gesehen, doch ich wagte es nicht, es mit diesem Moment zu vergleichen. Er wollte nach ihr greifen, ihr über die Wange streicheln, doch ich hielt ihn davon ab, griff um sein Handgelenk und berührte dabei versehentlich Helena. Sie war eiskalt. Das konnte ich Teiko nicht zumuten. Fast gleichzeitig, wie meine Hand Teikos Gelenke umfasste, fiel sein Gesicht restlos in sich zusammen und er sank zu Boden. Ich musste ihm folgen und fiel auf die Knie.

„Teiko“, flüsterte ich, „steh doch auf!“

„Niemals wieder.“

Gequält presste er die Worte zwischen Wimmern und Schluchzen hervor. Schmerzverzerrt war seine Miene. Ich erinnerte mich an schlimme Alpträume, in denen man die Gesichter der Menschen nur noch entstellt vor sich sah. Teiko aber war nicht entstellt, er war noch immer schön.

„Meine Helena. Wieso traf es meine Helena?“

Ich zog ihn in meine Arme, streichelte seinen Kopf, drückte ihn ganz fest an mich.

'Hör auf zu weinen, Teiko, bitte.'

„Ich würde sie tanzen lassen, wenn ich könnte“, schluchzte ich.

Mir kamen die Tränen. Diese Endgültigkeit, mit der sie aus der Welt ging, die Leblosigkeit, die von ihr ausging. Wie konnte es für die Menschen, die ihr nahe standen, erträglich sein, wenn schon ich den Schmerz über den Verlust ihrer Seele fühlen konnte?

Ich erinnerte mich an meine Tage auf dem Friedhof und wie auch die Gedanken an sie mit der Zeit verschwinden würden, wie ihre Seele es bereits getan hatte. Wiedereinmal musste ich mir eingestehen, dass sie keinen Gewinn davon getragen hatte. Was auch immer sie erreicht haben mochte, das war nun wertlos und ebenso wertlos war auch ich. Meine Gedanken drangen durch meinen Mund nach außen.

„Obgleich sie eine Königin oder eine Heldin war, so ist es nun vorbei.“

Und da war er für einen Moment still. Er löste sich aus meinem Griff, stand langsam auf und rang um Fassung. Sein Blick, der nun wieder auf Helena ruhte, suchte die vergangenen Tage. Als er einfach nicht ging, hakte ich mich bei ihm unter.

„Nun komm!“, bat ich ihn.

Er schüttelte den Kopf.

„Ich bin noch nicht soweit.“

Er klammerte sich an den Sarg.

„Du kannst nicht ewig bleiben, lass los!“

Ich legte die Hand auf seine, und er löste seinen Griff schlagartig. Angestrengt führte ich ihn zu einem Platz auf den vorderen Sitzbänken. Außer uns saß niemand so dreist nahe am Sarg. Ich konnte die Blicke der Fremden in meinem Nacken spüren, sie schüttelten mich. Abwesend war Teiko auf den Bänken in sich zusammen gesackt.

„Ist Helenas Familie schon hier?“, wollte ich flüsternd wissen.

Sein Blick haftete voll und ganz auf dem Sarg, als würde er seine Zeremonie der Verabschiedung aus der Ferne beenden wollen.

„Ich weiß es nicht“, gab er schwach zurück. „Ich frage mich, ob sie mich kennen.“

Immer, wenn er redete, baute sich eine Mauer aus Tränen in seinen Augen auf.

„Ob sie von mir erzählt hat?“

Ich unterdrückte die Frage, ob überhaupt jemand von ihrer Freundschaft gewusst hatte und wagte einen kurzen Blick hinter mich, um dem neugierigen Brennen in meinem Nacken ein Ende zu bereiten. Mehrere Reihen hinter uns waren frei. Wie gern wäre ich nun ein Magier gewesen – dann hätte ich uns unter einem Schleier begraben, der uns für andere unsichtbar machte. Das Verhalten der Leute und ihre Abneigung gegen uns, bestätigte, dass sie nichts – oder nur schlechtes – von Teiko wussten.

Ich zuckte erschrocken zusammen, als die Orgelpfeifen plötzlich harmonische Töne abgaben und den ewig hohen Raum mit Musik ausfüllten. Ein Mann in weißem Umhang, auf den goldene Kreuze gestickt waren, schritt durch eine der Holztüren. Kinder, die nahezu dasselbe trugen, folgten ihm und setzten sich nach einer gemeinsamen Verbeugung auf schlichte Bänke, die in die Wand eingelassen waren.

Ich konnte hören, wie die Menschen weit hinter uns aufstanden und zu singen begannen. Da ich das Lied nicht kannte und da auch Teiko sitzen blieb, tat ich es ihm gleich. Sogleich musste ich mich fragen, warum so traurige Musik gespielt wurde, dass selbst der letzte herzlose Verbrecher wehmütig weinen musste. Ich konnte nicht eine einzige meiner Tränen zurückhalten, dennoch behielt ich mich.

Ich wischte jede Träne tapfer ab und atmete tief durch, um die Fassung zu bewahren, damit ich Teiko stützen konnte, dessen Herz dahinfloss wie ein breiter, trauriger Strom. Das Lied endete irgendwann.

„Liebe Gemeinde...“, säuselte der Mann im weißen Umhang.

Ich schweifte nach ein paar weiteren Worten ab, die vom Verlust geliebter Menschen handelte. Er las es in einem Buch nach und sagte vermutlich bei jeder Beerdigung dasselbe und das widerte mich an. Auch Teiko schien ihm nicht zuzuhören, viel zu sehr war er mit dem Anblick von Helenas offenem Ebenholzsarg beschäftigt. Warum also taten wir uns all die ritualisierten Förmlichkeiten an, mit denen wir uns dem Trauern der Mehrheit anpassten?

Ich hätte es anders gemacht, hätte ich die Beerdigung organisiert, weil jeder Mensch etwas eigenes verdient hatte. Ich hätte die Menschen für sie tanzen lassen. Ein Tanz, der die Tristesse widerspiegelte, anders als solch ausdruckslose Orgelei. Meine Musik wäre voll von Emotionen gewesen.

Ich hätte gesungen: 'Bis dann und gute Nacht. Bis dann und gute Nacht.'

Ich schwelgte in einer Phantasie, die nichts mit unserer Realität gemein hatte, da zuckte Teiko neben mir zusammen.

„Flora, etwas stimmt nicht.“

Schlagartig verkrampfte sein ganzer Körper, Schweißperlen traten auf seine Stirn.

„Psst, bleib ruhig.“

Ich erschrak und betete, dass beruhigende Worte ein Fiasko verhindern konnten.

„Nein, das geht nicht. Hier liegt Magie in der Luft.“

Sein Gesicht verzerrte sich erneut, diesmal vor rein körperlichem Schmerz, doch ich ließ mich nicht beirren und hauchte trotz aufkeimender Panik nur: „Psst, bleib bitte ruhig, Teiko.“

Aber es ließ sich nicht verhindern. Synchron senkte die Trauergemeinde die Köpfe. Sie begannen zu beten, ohne nur einmal aufzusehen. Ich konnte sie nicht verstehen – sie flüsterten, nuschelten, ein beinah melodisches Raunen ging durch die Reihen. Nun konnte auch ich die Spannung spüren – meine Panik dehnte sich aus.

„Versuch, dich zu beherrschen, ich bitte dich!“

Was ich tat war sinnlos, er war außer Kontrolle, nicht ansprechbar und ich hatte schreckliche Angst. Wer konnte wissen, was Teiko aus der Zwischenwelt sog?

Wem je Übelkeit über den ganzen Körper gerannt war, wem je aller Mut aus den Knochen gewichen war, der konnte erahnen, wie der Moment sich angefühlt hatte, als Helena erschrocken ihre Augen aufriss. Aus meiner plötzlich bedrohlich nahe wirkenden Perspektive sah ich sie genau. Die Ausdruckslosigkeit, mit der sie sich aufrichtete, ihre Beine über den Sarg schwang und sich federleicht zu Boden sinken ließ. Ich war gelähmt vor Hilflosigkeit. Niemandem war es möglich, diese Situation umzukehren und die Zügel in die Hand zu nehmen. Lebte sie?

Ich wollte aufstehen und schreien: „Seht nur! Sie lebt!“

Aber etwas in mir wusste, dass sie es nicht tat. Und dieses Etwas wusste auch, dass Teiko nichts mitbekam, weil er sich noch wand vor Schmerz und im Delirium versunken war. Ich stützte ihn, obwohl ich wusste, wie sinnlos das war.

Helenas rote Rosen landeten auf dem Kirchenboden. Elegant tat sie ein paar Schritte und wand sich, als wollte sie ihre neue Lebendigkeit feiern. Ungläubig sah ich zu, wie sie aus ihren zaghaften Bewegungen einen Tanz machte, sich streckte wie die schönste Ballerina, auf den Spitzen ihrer schwarzen Tanzschuhe. Ich erinnerte mich an ferne, ferne Tage und tanzende Traumgestalten auf dem Fluss von Amanecer. Sie glich ihnen, sie war eine davon.

Und sie schwang die Arme und sie drehte Pirouetten, hauchte sich Leidenschaft ein, sodass ich ernsthaft zu zweifeln begann, dass sie tatsächlich tot war. Es hatte den Anschein, als würde sie sich von all ihren Liebsten verabschieden, die in ihrer Trance keine Vorstellung davon hatten, wer oder was neben ihnen durch die Gänge schlich. Ich meinte sogar, sie vor manchen Leuten stoppen zu sehen.

Ich meinte zu beobachten, wie sie ihnen durchs Haar strich, ein Abschiedsgruß hauchte, doch ich konnte nichts fassen. Was eben geschah, war so unwirklich, so verrückt, dass ich nicht wusste, was ich zu denken hatte. Und ihr Körper formte sich so grazil, wie es nur meine Vorstellung hätte sehen können.

Ein paar Minuten mehr und ich wäre vielleicht zu mir gekommen und hätte etwas unternommen, aber plötzlich hielt sie inne und erschrak vor einem Nichts. Sie lief rasch zurück, hob ihre Rosen auf, kletterte auf den Sarg und brachte sich an dessen Fußende in Position. Und dann schlief sie ein, ließ sich leblos fallen und lag da, als wäre eben nicht das wahnwitzigste geschehen, das hätte geschehen können.

Ich sah zu, wie nach und nach Normalität einkehrte. Die Melodie der Trauergemeinde verstummte mit der Zeit und auch Teikos Körperspannung löste sich auf und wich schwerem, erschöpftem Atmen.

„Was ist geschehen?“, fragte er müde.

Vielleicht hätte ich einfach sagen sollen, dass nichts Nennenswertes passiert sei, aber er verdiente, zu wissen, was er getan hatte.

„Sie hat getanzt.“

Ich klang monoton und sah mich in der Kirche um. Keiner wirkte wissend, keiner machte den Anschein, die Auferstehung der Helena zu diskutieren.

Also ergänzte ich: „Aber es ist alles in Ordnung.“

Und so begann der weiße Mann, die Kirche wieder mit seiner Stimme zu füllen.

Fragend sah Teiko mich an und obgleich ich nicht näher auf das Geschehene eingehen wollte, musste ich mich seinem Blick und seinen Fragen stellen.

„Ist es ein Chaos?“

Sein Gesicht zuckte unkontrolliert. Oh Teiko, du liebenswertes, düsteres Püppchen.

„Nein, du hast sie alle verzaubert. Niemand hat etwas bemerkt.“

Er seufzte dankbar.

„Gott sei Dank.“

„Geht es dir gut?“, wollte ich wissen und als er sich langsam wieder aufrecht hingesetzt hatte, strich ich seine Strähnen wieder zurecht.

„Es geht gleich wieder. Verzeih mir, Florence. Das muss dir ganz schön Angst eingejagt haben.“

Ich schüttelte angespannt den Kopf und konzentrierte mich darauf, teilnahmslos zu wirken.

„Aber es bedarf doch keiner Entschuldigung – bei all dem, was ich hier kennenlerne.“

Vielleicht hätte er gelächelt, wenn er nicht getrauert hätte. Vielleicht. Stattdessen nickte er einen Dank in meine Richtung, den ich ebenfalls nickend annahm. Wir wandten uns wieder dem Sprecher zu, nur um mit unseren Gedanken wieder abzuschweifen.

Immer wieder spielte sich der Tanz vor meinem inneren Auge ab, ich hörte die Leute beinah noch flüstern und Teiko wünschte sich vermutlich, er hätte das allerletzte Lebenszeichen seiner Geliebten mitverfolgen können. Jenes Lebenszeichen, was keinesfalls von Leben gezeichnet gewesen war.

Als sich mein Aufenthalt in der Kirche langsam zu ziehen begann und das unangenehme Flattern, das der magische Zwischenfall verursacht hatte schon längst verblasst war, spielte die Orgel ein letztes Mal und der Pfarrer und seine Helfer ließen die Gemeinde wieder allein.

Ein paar Männer in schwarz gingen nach vorn. Teiko eilte es, die Sitzbank zu verlassen, um den Männern Gesellschaft zu leisten, denn sie hatten vor, den Sarg schließen und Teiko wollte den letzten Anblick von Helena in sich aufsaugen. Er stand am Kopfende und als die Männer sich gerade berieten, wer welche Seite des Totenschreins tragen sollte, da sah ich zu, wie Teiko sanft über ihr Haar glitt und sich nicht an ihrer Kälte störte. Ich ging zu ihm hin, durch die Menschenmenge, die aufgestanden war und sich mit leidender Miene unterhielt und legte unterstützend die Hand auf Teikos Schulter.

Der Schmerz überkam mich erneut, als er kaum hörbar in ihr Ohr flüsterte: „Mach es gut.“

Dann musste er sich von ihr lösen, denn die Männer hatten den schweren Sargdeckel auf den Schultern, mit dem sie Helenas Körper für immer in Dunkelheit hüllen sollten. Und bis sie vollkommen von schwarzem Holz verdeckt war, so lange sah Teiko nicht weg.

Und bis sie nur noch eine Erinnerung war, so lange machte Teiko keinen Mucks und hielt den Moment für immer fest, nahm in ganz tief in sich auf, damit er sich immer an ihren letzten Anblick erinnern konnte. Aber dann war er vergangen.

Leise sang ich die Melodie, die meine tanzenden Traumgestalten immer begleitete, mit den Worten, die mir zuvor durch den Kopf gegangen waren.

„Bis dann und gute Nacht. Bis dann und gute Nacht.“

Mittlerweile war mir Teikos abwesender Blick vertraut, wenn er durch die hiesige Welt in eine andere blickte. Er griff nach meiner Hand und hielt sie fest. Und ich erkannte, dass es merkwürdig war. Dennoch verstand ich die Bitte, die damit verbunden war und ging gemächlich in Richtung Ausgang. Ich wollte fragen, warum wir schon gingen, als jemand nach uns rief.

„Du.“

Es war einer der Männer, die den Schrein geschlossen hatten. Teiko ließ meine Hand los und leergefegt blieb sie zurück.

„Hilf uns, sie hinauszutragen!“

Ich wunderte mich kurz, dass er einfach ging und mich stehen ließ. Dass er einfach nach der an den Schrein angebrachten Eisenstange griff, an der Stelle, die Helenas Kopf am nächsten war. Dass er einfach handeln konnte, ohne seinen Blick einmal geradeaus zu richten.

Sie waren alle still, als die Männer den Sarg gemeinsam anhoben.

Sie waren alle still, als sie an ihnen vorbei gingen.

Sie waren still, als sie weinten.

Ich hätte gern eine Hymne gespielt für die Königin, die in ihrem schwarzen Thron an den verzweifelten Gesichtern vorüberzog. Die Menschen folgten ihr ganz leise und bedacht, langsam traf die schwarze Parade, in die ich mich eingereiht hatte, auf den kalten Regen. Auf das Draußen, wo ihre letzte Reise Helena auf den Friedhof führen sollte. In meiner Vorstellung blieb es eine Abschiedsparade und alle feierten sie mit.

Sie hatten Mühe, den Sarg in den dunklen Wagen zu schieben, weil sie alle wollten, dass sie blieb. Die Türen wurden geschlossen, doch der Abschied endete erst, als Teiko seine Hand auf das kleine Fenster in den Türen des Wagens legte und nochmals einen Blick auf das dunkle Holz erhaschte. Dann wurde der Motor angelassen und Helena brach zu ihrer Heimfahrt auf.

Fünfzehn

Etwas neues begann.

Eine gewagte Formulierung, aber das war mein Eindruck, als sie fort war.

„Sollen wir ihnen folgen?“, fragte ich neugierig.

Grabsteine hatte ich bereits hundertfach gesehen, aber wie sie die Menschen hinunter brachten, sie vergruben unter Erde und Laub, das hatte ich noch nie verfolgen dürfen.

„Nein.“

Teiko vergrub die Hände in den Hosentaschen und blinzelte die Regentropfen fort, die seine triefenden Strähnen auf seine Lider warfen.

„Gehen wir etwas umher.“

Obwohl sich der Regen keinesfalls barmherzig anfühlte, gingen wir um die Kirche herum und den Berg hinab. Den Weg, den zuvor unser Wagen zurückgelegt hatte.

Nach und nach stoppte der Regen und ich wünschte mir einen kleinen Zauber, der mein nasses Kleid und den aufgeschwemmten Boden trocken legen konnte. Durch die dünne Wolkenbank drückte sich spärlich etwas Sonnenlicht und die Sommerbrise hatte gerade genug Kraft, um meine Schultern zu kühlen. Ich konnte hinunter ins Tal blicken, außer weiten Feldern und ewigen Wolken aber nichts sehen. Wir gingen, bis der Berg sich ebnete und es dennoch viele Meter bis ins Tal waren.

Neben dem Weg stand das Gras kniehoch und hinter einsamen Hügeln versteckten sich in regelmäßigen Reihen volle Kirsch- und Apfelbäume, deren Äste sich verschnörkelt wie Standbilder einer Verneigung vom Stamm trennten. In deren Mitte tummelten sich Grabsteine, die im hohen Gras untergingen. Wir hatten beide schweigend inne gehalten.

„Wahrhaftig ein Ort der Trauer“, murmelte Teiko und machte sich auf ins dichte, nasse Gras.

Ich konnte kein offenes Grab erspähen. Scheinbar war dies nicht der Ort Helenas letzter Reise. Er war verlassen und zu alt für junges Blut wie das ihre. Der Wind strich ein paar zarte Töne auf die Spitzen der Halme, die die idyllische Stille durchbrachen. Ich lief Teiko hinterher und bemerkte mit jedem Schritt, wie der Saum meines Kleides vor Nässe ein kleines Stück schwerer wurde. Still las ich die Namen auf den Grabsteinen – gut erkennbar und anmutig, ganz anders als in der Stadt.

Teiko lehnte sich an einen der Apfelbäume und ließ seinen Blick schweifen, wie er es nur allzu oft tat. Ich setzte mich auf einen kleinen Fels, der durch die Gräser lugte.

„Was erhoffst du denn dort zu sehen?“, fragte ich und ich klang so verletzt, wie ich mich fühlte. Was war so viel besser in dieser Zwischenwelt, dass er lieber an mir vorbei sah?

„Das kannst du nicht ermessen. Es sei denn, du hast eine Ahnung, was Perfektion ist. Was würde ich geben...“

Es war grausam, zu beobachten, wie sein verzweifelter Ausdruck in Wut umschlug.

„Verflucht!“

Ich erschrak, als seine Faust den Apfelbaum traf.

„Du hast sie nicht tanzen gesehen“, merkte ich beiläufig an.

„Nein, es tat weh.“

Vielleicht hatte ich gedacht, er wollte wissen, wie schön sie war, als sie durch die Reihen lief, daher begann ich: „Ich hatte es mir genauso vorgestellt. Sie war grazil, sie...“

„Hör auf damit!“, rief er plötzlich und lehnte sich erschöpft gegen die Rinde des Baums, die ihm wohl mehr Halt gab, als das kleine Mädchen im Kleid seiner Mutter.

„Hör auf, sie war nie eine Tänzerin.“

Auch sein Kopf fand den Halt des Baums.

„Sie war immer fest auf dem Boden, noch nicht einmal in Träumen hat sie getanzt. Aber sie hat mich gesehen – verflucht, sie hat mich gesehen.“

Ich ließ mich bannen von seiner Erzählung.

„Sie hat über mich gesehen. Über mich hinweg. Die Magie konnte sie nicht belächeln. Sie verstand sie nicht – aber ich war ein Mensch für sie. Ein Mensch, verstehst du? Ich war kein fremdes Wesen, das zu nichts wert ist als aus der Stadt gejagt zu werden.“

Er pausierte, um dem Frust durch ein Kopfschütteln zumindest etwas Ausdruck zu verleihen. „Aus der Stadt gejagt?“, nahm ich die Gelegenheit wahr.

Sofort ging er darauf ein: „'Ihre Ansichten stören die übrigen Dorfbewohner. Wir können keinen Eklat gebrauchen und möchten Sie daher bitten, die Stadt zu verlassen.' Das hatten sie gesagt. Ich wollte nicht, aber sie versprachen mir Geld. Geld, damit ich nicht mehr in diese verhassten Visagen blicken musste. Ich lenkte ein...“

Und als ich mich umsah, wurde mir bewusst, wie das fremde Rauschen der Natur uns von dem Rest der Welt abschnitt.

„Welche Ansichten bringt die Stadt dazu, dich fortzuschicken?“, fragte ich dann.

„Nun, ein anständiges Begräbnis wäre eine Todsünde dort. Wobei der Tod die Sünde selbst ist.“

Ich horchte aufgeregt auf. Das Thema kam mir bekannt vor – hatten Coel und ich nicht Tage zuvor in der Stadt darüber geredet?

„Du teilst unsere Meinung“, rief ich aus.

Und auch der Grund dafür leuchtete mir sogleich ein: die Sicht des Magiers auf die Welt war eine andere.

„Eine Grenze wie der Tod ist unumgänglich. Ich glaube, dass Magie uns zu guter Letzt rettet, aber es gibt für alles eine Zeit. Eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben. Helena kam aus einem kleinen Bauerndorf, ein einfaches Leben führte sie, ganz anders als die Menschen in der Stadt. Sie glauben an niemanden außer sich selbst und wenn sie sterblich sind, bedeutet das, dass sie fehlbar sind und das können sie nicht akzeptieren. Die Bauern glauben an einen Gott. Die Städter könnten sich nicht weniger um sie scheren. Sollen sie doch beten und sterben. Sie sind Niemande, die sich wie Karnickel vermehren, wie Bienen arbeiten und wie Eintagsfliegen sterben. Gesichtslos. Tiere. Ich persönlich glaube einzig an die Magie. Kein Gott, kein Individuum, einfach Magie. “

Vielleicht war es töricht, zu behaupten, jedes seiner Worte zu verstehen, doch ich tat es. Und ich nickte vor Verständnis. Mutter sagte allerlei Dinge, aber ein wahrhaftiges Nicken konnte sie mir nie abgewinnen. Niemand konnte den Gang der Welt durchschauen, niemand konnte wissen, wann es an der Zeit war und das war das Traurige.

Teiko sah, wie meine Überlegungen meinen Ausdruck trübten und ehe ich mich versah, hatte er seine Hand an meinen Hinterkopf gelegt und seine Lippen auf meine Stirn gedrückt. Es war ein Gefühl, das zu weit in der Vergangenheit lag, um in meinen Erinnerungen zu existieren. Zwar schien er es gut zu meinen, aber es irritierte mich. Nach einem Wimpernschlag war es wieder vorbei und still und heimlich wünschte ich mir diesen Wimpernschlag zurück.

„Danke, dass du mich begleitet hast. Das war alles andere als selbstverständlich. Ich glaube, Avan hat Recht, wenn er sagt, dass du etwas besonderes bist“, sagte Teiko dann vornehm.

Ich lächelte höflich und fühlte beinahe, wie der Saum meines Kleids zu trocknen begann.

Wir schlichen zurück zum Wagen. In der Tat war es nicht selbstverständlich, ihn zu begleiten. Ich hätte ihm von meinem Plan erzählen sollen. Davon, dass ich auf der Suche nach Werten und Sinn war, doch es war so still im Auto und das wollte ich nicht durchbrechen. So schien es also während der gesamten Fahrt zu bleiben, doch dann begann ich, über Teikos Blick nachzudenken, bevor er meine Stirn auf diese fremde Weise berührt hatte und ich begriff nicht, worauf er hinaus wollte.

Also fragte ich nach: „Hat es einen Namen?“

Überrascht löste Teiko seinen Blick kurz von der Straße.

„Was?“

„Das, was du vorhin getan hast.“

Das, das diesen feuchten Fleck auf meiner Stirn hinterlassen hatte.

„Du weißt nicht, was ein Kuss ist?“, fragte er belustigt.

„Ich hab darüber gelesen“, gab ich zu. „Ich wusste nur nicht, dass es so nahe ist.“

Schnell blickte er wieder zur Windschutzscheibe, um nicht vom Weg abzukommen. Und er schnaubte amüsiert.

„Du solltest dir diese Geste für die Zukunft merken“, fand er dann.

Zumindest musste ich nicht nachfragen, um zu verstehen, dass es lieb gemeint war. Ich dachte den Rest des Weges weiterhin über seinen Blick nach. Über den Gesichtsausdruck, den er nur für den Bruchteil einer Sekunde trug, bevor er mir einen Kuss schenkte.

Mir gefiel dieser Moment, während das Nass, das er zurückließ, mich abschreckte. Auch mein Kleid war nass gewesen und ich freute mich, zu fühlen, dass es getrocknet war. Es war nicht das Wetter oder der Kuss – es war das Wasser, das mich plötzlich schrecklich ängstigte und ein eiskalter Schauer durchfuhr mich schlagartig.

Ich meinte, mich zu erinnern, keinen Gedanken an das Wasser verschwendet zu haben, als wir Augenblicke zuvor im Regen gegangen waren. Ich meinte, mich zu erinnern, diese Abscheu in einer längst vergangenen Zeit kennengelernt zu haben, doch weiter mochte mein Kopf nicht denken.

Nach endlosen Meilen bogen wir wieder in die Straße ein, die zu Teikos Haus führte. Die düsteren Wolken machten den Nachmittag zum frühen Abend und so passte Teikos müdes Seufzen zu dieser Stimmung. Wir gingen schweigend ins Haus, da fragte ich mich, welche Fortschritte Coel währenddessen in der Stadt machte.

Seine Zauber sollten ihn schnell zu Antworten bringen, seine Magie ihm den Weg zu meinem Leben ebnen. Ich hoffte es für mich und für ihn, wünschte mir, dass er meinen Herzschlag in seinen Händen trug, wenn er zurückkam. Nur einige Tage, hatte er gesagt.

Einer war nun um. Teiko bat mich, den Abend mit ihm zu verbringen, damit er sich nicht in jeder Sekunde daran erinnerte, dass jemand auf dem Sofa neben ihm fehlte. Die Garnitur neben der Wendeltreppe diente uns als Rückzugsort und so sprachen wir über den Tag. Als ich dieses Mal davon begann, von Helenas Tanz zu erzählen, unterbrach er mich nicht, hörte still zu und je mehr sich der Himmel verdunkelte, desto schwerer wurden unsere Lider. Ein Gedanke hielt mich noch kurz wach:

Wofür schlafe ich, wenn ich tot bin?

Sechzehn

Still und heimlich waren wir eingeschlafen. Die Nacht war längst hereingebrochen, als ich wieder aufwachte. Sie hatte der Welt die Farbe gestohlen und nur das Mondlicht schenkte dem Zimmer gnädig ein paar helle Flecken. Ich sah, wie sie sich an der gläsernen Gartentür sammelten und spürte den Drang, die Nacht zu erkunden.

Obgleich ich sie nicht brauchte, wollte ich meine Lunge mit frischer, nächtlicher Luft füllen und so stahl ich mich nach draußen. Leise und ohne Teiko zu wecken, der noch friedlich schlummerte, schob ich die Tür auf und als meine blanken Füße den Garten betraten, spürte ich, wie die magische Energie von meinem Brustkorb sprang. Wieder hatte ich vollkommen vergessen, dass sie noch auf mir gelastet hatte und ich mich, wenn ich bei Teiko war, nicht in der Normalität befand.

Der steinige Weg schmerzte meinen Fußsohlen, daher floh ich ins feuchte Gras, wo der Grund vom Regen noch aufgeweicht war. Ich eilte zur Hecke, die den Garten von der angrenzenden, endlosen Wiesenfläche vor den Bergen abschnitt, um das Gelände außerhalb von Teikos Haus bei Nacht zu erleben. Hier draußen hörte man nur den Wind, der über die Gräser zog, statt des dröhnenden Drucks der Magie. Je mehr Schritte ich machte, desto lauter schien dieses Rauschen zu werden.

Der Boden war hier noch viel weicher als in Teikos Garten. Er war nass, triefend nass und ich versank bis zu den Knöchel darin. Mit etwas Mühe zog ich meinen Fuß aus dem Matsch und sah an mir hinunter. Alles, was ich dann dachte, war:

Wasser.

Schnurstracks überkam mich die Panik und ich rannte los. Es machte keinen Sinn, zu rennen und das erkannte ich noch während meine Beine mich in Windeseile weiter von Teikos Haus entfernten. Mich über meine Reaktion wundernd wurde ich schließlich langsamer.

Mein Instinkt hatte mich vor einer Gefahr gewarnt, die ich bewusst nicht verstand. Irgendwie war tief in mir verankert, dass die Nässe mir schadet. Meine Furcht galt, wie ich dann spürte, auch dem Ausrutschen und dem Gefühl, von Wasser umgeben zu sein. Trotz dieser ungewohnten Gedanken setzte ich meinen gewagten Spaziergang fort.

Das Rauschen in den Baumkronen klang zunehmend wie ein reißender Strom und der immer wässrigere Grund unter meinen Füßen bestätigte mir, dass ein Fluss in der Nähe sein musste. Ich blieb wie angewurzelt stehen, denn der Boden war in tiefe Dunkelheit gehüllt und ich konnte die Lage der gefährlichen Strömung nicht erahnen.

Ich brauchte mich nur umzudrehen und zurückzugehen, doch ich konnte mich nicht rühren. Stattdessen erforschte ich das Geräusch des Flusses, das mir so seltsam vertraut war. Es klang so anders als in der Stadt, wenn die Menschenmassen schwiegen und die Natur die Wellen singen ließ, doch ich erkannte es. Bilder blitzten in meinem Kopf auf. Gefühle traten in mein Gedächtnis.

Meine Füße, wie sie den Halt des aufgeweichten Boden verloren. Die unbarmherzige Strömung, die durch den Regen genährt wurde. Mein Kopf, meine Gliedmaßen, die gegen steinerne Widerstände geworfen wurden. Mein ganzer Körper, der die Orientierung verlor.

Meine Lunge, die sich mit Wasser füllte. Der Verlust jeglicher Kontrolle. Die Einsicht, dass keine Luft mehr meinen Körper zu erfüllen vermochte. Ich erinnerte mich an das Verschwimmen meines Augenlichts und an die größte und letzte Resignation in meinem Leben.

Dann kam mir ein Name in den Sinn: Aria. Der Name des Flusses, der sich durch meine Heimatstadt Amanecer schlängelte und das umliegende, ländliche Gebiet durchschnitt. Das war das Rauschen, das ich in diesem Moment hörte. Das Rauschen, das ich seit geraumer Zeit kannte. Es durchzog meine Kindheit wie ein roter Faden.

Die Bilder tanzten einzeln und unzusammenhängend vor meinem inneren Auge, verknüpft mit den Gefühlen, die ich irgendwo in meinem Hinterkopf behalten hatte. Meine Starre löste sich auf, als ich diese Gedanken zu genüge auf mich wirken gelassen hatte und ich machte auf dem Absatz kehrt.

Ich flüchtete wie schon zuvor, doch dieses Mal wusste ich genau, wovor und obgleich es mir unmöglich war, vor meiner Vergangenheit zu flüchten, warf ich mich durch die Hecken und streifte den Schlamm an meinen Füßen auf Teikos Rasen ab. Ich stürmte ins Haus und bemerkte vor Erregung noch nicht einmal die magische Kraft.

„Teiko!“, rief ich dann, ohne Rücksicht darauf, dass er noch schlief. Er zuckte nur zusammen und sah mich aus großen, verwirrten Augen an.

„Ich weiß etwas. Ich habe es gesehen“, schluchzte ich daraufhin. Er sagte noch immer nichts, presste nur verschlafene Laute hervor. Ich konnte nicht anders als in Tränen auszubrechen und hinauf in Helenas Zimmer zu laufen. Die Holzstatuen kreischten im Dunkel der Nacht.

Das wenige Mondlicht, das auf sie fiel, ließ mich erkennen, wie ihre Körper sich qualvoll wanden, wie sie ihren Kopf festhalten mussten. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Mienen schmerzverzerrt. Das negativste in meinem Inneren wurde von ihnen gespiegelt, so erklärte Teiko es mir.

Ich lief an ihnen vorbei, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen. Auf Helenas Bett kauerte ich schließlich wie ein Kind im Mutterleib, weinte in meine Kissen. Die Erinnerung an die letzten Sekunden in meinem Leben hatte mich für eine so lange Zeit verlassen, aber nun brannte sie lichterloh in meinem Kopf, so lebhaft und klar, dass es mich beinahe verwunderte, wie lange sie verschollen gewesen war. Nach kurzer Zeit hörte ich Schritte.

„Was ist geschehen?“, fragte Teiko sanft und setzte sich auf die Bettkante. Ich spürte nur, wie sich die Matratze bewegte, denn ich lag mit dem Rücken zu ihm. Meine einzige Antwort war ein noch lauteres Schluchzen. Statt weiter nachzufragen, saß er nur da und ich spürte seine Hand, wie sie meinen Hinterkopf streichelte. Erst dann, nach endlosen Sekunden, wagte er, eine weitere Frage zu stellen.

„Was hast du gesehen?“

Ich drehte mich um und sah ihm in die Augen, die ebenfalls spärlich vom Mond beleuchtet wurden.

„Meinen Tod“, antwortete ich dann und weitere Tränen traten in meine Augen.

Teiko nickte verständnisvoll. Vielleicht hatte er schon öfters mit Patienten seines Vaters zu tun gehabt, wodurch Gespräche wie diese normal für ihn waren.

„Willst du darüber reden?“

Ich schüttelte den Kopf, bemerkte daraufhin aber den Drang, es auszusprechen, es aus meinem Kopf zu lassen.

„Es war das Wasser. Ich rutschte an einem Regentag am Ufer der Aria aus und fiel in die Strömung“, erklärte ich. Das Schluchzen schnitt meine Erzählung ab.

„Weißt du sonst noch etwas? Wie alt warst du? Was waren die Umstände?“ Er streichelte über mein Haar, sodass seine Worte weniger eindringlich klangen, weniger wehtaten. Die Muskeln in meinem Nacken entspannten sich bei dieser Berührung und ich seufzte etwas beruhigt.

„Sonst habe ich nichts gesehen“, schluchzte ich. Teiko nahm seine Hand von meinem Kopf und atmete lautlos durch. Ich sah sein Gesicht nicht, aber ich spürte seine Sorge und dass er in Gedanken war.

Er sprach vornehm, aber distanziert, als er verkündete: „Du wirst es morgen Avan berichten. Wenn ich klar bin, werde ich ihm eine Nachricht durch die Welten zukommen lassen können.“

„Wenn nicht?“, wollte ich wissen. Er machte eine nachdenkliche Pause.

„Dann werden wir auf ihn warten und uns stattdessen im Garten vergnügen.“ Mein Herz schlug höher bei dieser Vorstellung. Mir war gewiss nicht danach, ans Spielen zu denken, aber Teikos Garten hatte in der Tat die Kraft, mich abzulenken und mich mit Vorfreude zu erfüllen und Teiko wusste es, da war ich sicher. Er besänftigte mich gekonnt, als kenne er mich schon länger als es der Fall war.

„Und jetzt musst du schlafen“, riet er sanft. Er beugte sich zu mir und hauchte einen weiteren dieser Küsse auf meine Stirn. Vermutlich wusste er, dass er mich damit verwirrte, dass es meine Gedanken von meinem Tod auf seine Geste lenkte. Tatsächlich hatte er Erfolg damit und nachdem er leise aus dem Zimmer gehuscht war, dauerte es nicht lange, bis der Schlaf mich überkam.

Ich hatte erwartet, von den unheimlichen Bildern zu träumen und das tat ich auch gewissermaßen, aber die wahre Vergangenheit vermischte sich mit etwas aus meinem Unterbewusstsein, das sicherlich ebenso viel Wahrheit trug, das jedoch in groteske Eindrücke verpackt war.

Umgeben von Wasser schleuderte ich den Strom abwärts und wenn ich es für den Bruchteil einer Sekunde schaffte, meinen Kopf aus dem Wasser zu hieven, so sah ich meine Mutter und meine Schwestern in weiter Ferne am Ufer. Ich bewegte mich rasant auf sie zu. Jadelyn und Vega winkten mir erwartungsvoll zu, doch je näher ich rückte, desto weiter schien ich mich zu entfernen. Mein Wille entfernte sich. Ich spürte Missmut, denn ich wollte ihnen nicht begegnen, ich wollte nicht zu ihnen.

Schmutziger Nebel schien meine Familie zu verschlucken und ihre Gesichter trugen einen missbilligenden Ausdruck, sie trugen Unreinheit und ich verstand nicht, wieso. Aber der Widerwillen war tief verwurzelt und plötzlich wurde alles so still wie meine Mutter, wenn sie mit ihrer bedrohlich ruhigen Stimme sprach und ich wusste, dass ich entkommen musste. Ich konnte mir nur schlichtweg nicht erklären, warum.

 

Der dritte Tag in Teikos Haus begann ebenso wie meine erste Begegnung mit ihm. Ich fragte mich, wer er war, also in wen ihn sein Wahn an diesem Tag verwandelt hatte. Meine Hoffnung war jedoch, dass er bei Verstand war, denn mein Sommerkleid lag sauber und gebügelt auf dem Beistelltisch in Helenas Zimmer, als ich erwachte.

Nun pirschte ich mich unsicher an die Küche heran, aus der ein angenehmer Geruch kam. Teiko hatte mir den Rücken zugewandt und briet Speck. Ich war der Meinung gewesen, dass ich mucksmäuschenstill gewesen war, doch er drehte sich nach mir um. Sein Augen wirkten trüb, seine fahle Haut rau und kalt, die dunklen Flecken um seine Augen waren nicht zu übersehen, aber er lächelte und ein Windhauch kürzte sein Haar vornehm, also lächelte ich ebenfalls, obgleich die Erinnerung an meinen Tod noch immer wie dunkle Wolken um mein Herz kreiste.

„Flora“, erkannte er richtig. Der Windhauch, der seine Haare geschnitten hatte, erreichte nun auch mich und ich fröstelte. Ich wollte fragen, wie es ihm ging; hinsichtlich Helena, seiner Verwirrung und nicht zuletzt einfach, weil ich Interesse an seinem Wohlbefinden hegte, doch ich wollte nichts in ihm aufwühlen. Zu meiner Erleichterung gab es etwas, das er mir zu sagen hatte und ich hörte die Aufregung in seiner Stimme.

„Avan hat meine Nachricht erhalten.“ Er klang wie ein Kind, das etwas neues gelernt hatte und seinen Weg in Richtung Leben feierte. Die Vorstellung bedrückte mich nur kurz, dann spülte die Momentaufnahme von Teikos Freude sie kurzerhand davon.

„Du machst Witze“, neckte ich und fragte dann: „Hat er geantwortet?“

„Mehr noch.“ Teiko schaltete den Herd ab und ließ den Speck aus der Pfanne auf einen Teller rutschen. „Er ist auf dem Weg. Vielleicht hat er bereits eine Idee, wie er dich zum Leben erwecken kann und wenn nicht, hilft ihm sicher jede Information.“

Unwillkürlich legte ich meine Hand auf mein Herz. Ich wollte, dass Teiko es sagte, weil er es so meinte. Ich wollte nicht, dass er mich nur zu beruhigen versuchte, aber das tat er. Und dennoch ruhte meine Hand auf meinem ebenso stillen Herz und ich hegte Hoffnung.

„Was soll ich dann tun?“ Die Frage war so schnell ausgesprochen, dass sie zunächst keinen Sinn ergeben wollte und während Teiko sein Frühstück zu Tisch trug und ich mich ihm gegenüber niederließ, wich der fragende Ausdruck nicht aus seinem Gesicht, also fuhr ich fort: „Was soll ich tun, wenn ich wieder lebendig bin?“

Er runzelte die Stirn und ich beobachtete neidisch, wie er sich an Speck, Ei und Weißbrot labte.

„Wir könnten gemeinsam auf Reisen gehen.“ Die Idee gefiel mir.

„Ich muss so viel lernen und entdecken wie möglich, ich muss erleben und verändern, ich muss meine Spuren auf der Welt hinterlassen und dann...“ Ich versank in Gedanken. Was dann? Dann würde ich eines Tages wahrhaftig sterben und alles würde wieder nichtig sein. Im Angesicht des Todes waren selbst die tiefgründigsten Philosophien so eitel, so eitel. So eitel, dass ich die Hand nicht von meinem Herz nehmen konnte, als würde ich es schützen vor dem Ende, das es längst erfahren hatte.

„Wie kann ich es nur wagen, solche Gedanken anzustellen?“, rügte ich mich selbst. „Ich bin doch nur eine wandelnde Leiche.“

Teiko sah entgeistert von seinem Teller auf und so sah ich beschämt zur Seite.

„Sind wir das dann nicht alle?“, überlegte er laut. „Wenn du es so ausdrückst – sind wir dann nicht alle...“ Die Pause war nicht nachdenklicher Natur, er schien nur zu spüren, dass ein weiteres Wort endgültiger sein würde, als jene zuvor. „Nichtig?“

Die Türe sprang auf.

„Gewissermaßen haben die Städter recht“, nuschelte ich traurig und senkte den Blick, „der Tod macht das ganze Leben wertlos. Der Tod ist böse.“

„Sag das nicht“, flüsterte Teiko und als ich aufsah, sah ich Panik in seinen Augen. „Tritt nicht auf diesen Weg.“

Ich hörte, dass sich Schritte näherten. Coel war zurückgekehrt und ich fühlte mich mittlerweile heimisch genug, um mich unaufgefordert zu erheben.

„Selbst dein Vater ist für einige Zeit auf diesem Weg geschritten“, erkannte ich, „deshalb hat er Viterna ja erst entwickelt.“ Teiko schüttelte abgeneigt den Kopf. Erinnerungen schossen durch seinen Kopf und brachten sein Haar zum wachsen. Ich ließ das Thema fallen, weil zum einen Coel eintrat und ich zum anderen nicht dafür verantwortlich sein wollte, dass Teiko seine Klarheit verlor.

„Mögt ihr mir bitte ins Arbeitszimmer folgen?“ Coel hatte sich mit beiden Armen am Türrahmen abgestützt und schnaufte nun gehetzt, bevor er sich wieder davon abstieß und in besagtes Zimmer hastete. Die Türe schlug hinter ihm zu.

„Mein Vater“, begann Teiko und erhob sich, „sah keinen anderen Weg, als den Tod zu verfluchen. Er hat meine Mutter an ihn verloren.“ Ich schluckte beschämt, weil ich zu verantworten hatte, dass er mir diesen Teil seines Lebens offenbarte. „Nicht nur das, sie hat ihn aus freien Stücken gewählt. Deshalb wollte er den Tod bekämpfen, damit kein anderer das Leid erfahren musste, das unserer Familie widerfahren war. Er kam zur Besinnung. Ich weiß nicht, wieso, aber er hat sich daran erinnert, dass einzig der Freitod keine Notwendigkeit hat. Der Tod an sich hat sehr wohl seine Richtigkeit.“

Gemeinsam gingen wir ins Arbeitszimmer. Ich versuchte, mein Beileid zu bekunden, aber Teiko winkte ab und versicherte, dass er zu jung gewesen war, um den Verlust zu spüren. Daraufhin wollte ich ihn fragen, ob es der Tod seiner Mutter gewesen war, der ihn so durcheinander gebracht hat, aber ich wagte es nicht.

Coel schien aufgebracht, er schien mit taufrischem Wissen beladen zu sein wie eine Wolke vor dem Donnerschlag. Was vermochte das, zu bedeuten?

Siebzehn

Wir hatten uns um den Schreibtisch versammelt, als wäre er eine Tafel. Ich faltete die Hände und legte meine Ellbogen auf der Tischplatte ab, um möglichst aufmerksam zu wirken, Teiko jedoch lehnte skeptisch in seinem Stuhl und schlug mit den Nägeln auf die Lehne, als würde er Coel auflauern und Coel richtete sein lichtes Haar, bevor er begann:

„Vielen Dank für deine Nachricht, mein Sohn.“ Fast unmerklich verzog Teiko das Gesicht, Coels Worte schienen ihm zuwider. „Aber ich wäre ohnehin hier aufgetaucht. Ihr werdet es nicht glauben. Eigentlich wollte ich Dolores heimlich beschatten, aber sie hat mich aufgesucht.“

„Wer ist Dolores?“ Meine Stimme klang dünn. In Coels Kopf schien es zu rattern, als er mich fragend anblinzelte, doch dann fiel ihm ein, wie wenige Erinnerungen sich zwischen meinen Gehirnwindungen fanden.

„Deine Mutter, Florence. Deine Mutter heißt Dolores Mania.“ Ich nickte, als wäre mir ein Licht aufgegangen, doch tatsächlich klang der Name fremd. Dolores, Jadelyn, Vega und Florence Mania. Sie klangen nicht nach einer Familie, sie klangen grotesk.

„Sie hat dich aufgesucht.“ Teiko griff die letzten Fetzen Coels Erzählung auf, damit er fortfuhr. „Was wollte sie von dir?“

„Sie wollte, dass ich die Magie nutze und ihre Tochter finde.“ Die Ironie brachte ihn zum Erschaudern. „Und ich habe sie hingehalten. Natürlich musste ich sie davon abbringen, jemand anderen für diese Dienste zu erwählen; einen noch gründlicheren Magier etwa. Ich behauptete, ihr helfen zu wollen, aber dass es seine Zeit dauern würde.“

„Hast du denn etwas über das Mittel in Erfahrung gebracht?“, fragte ich vorsichtig.

„In der Tat.“ Er hielt inne. Dann erhob er sich und ging im Zimmer umher, hob ein paar Bücher aus dem dunklen Regal und ließ sie wieder zurückfallen, während Teiko beinahe mit den Kufen scharrte. Coel jedoch atmete nur angespannt, ließ sich schwerfällig in den Ohrensessel fallen, den er in der Ecke des Zimmers fand und offenbarte seinen sorgenvollen Blick.

„Ich denke, es ist an der Zeit, dir etwas zu gestehen“, wisperte er beschämt und sah mich dabei an. Erwartungsvoll setzte ich mich auf und nahm die Hände vom Tisch, legte sie stattdessen auf meinen Schenkeln ab. Ich fing Teikos Blick ein, der immer düsterer zu werden schien und mit ihm die dunkle Haut um seine Augen. Er schien zu ahnen, dass was immer Coel zu sagen hatte, nichts Gutes sein konnte.

„Damals, als Dolores dich und deine Schwestern zu mir brachte...“

„Meine Schwestern?“ Ich mochte ihn nicht unterbrechen, aber an eines konnte ich mich in der Tat erinnern. Meine Verwirrung, als ich das merkwürdige Verhalten meiner Schwestern bemerkt hatte, an dem Tag, an dem Coel mir zum ersten Mal begegnet war. Sie waren ebenso tot. Sie waren noch toter als ich, denn sie schienen tatsächlich eine Zeitschleife zu sein. Ich sackte zusammen, hielt mich dürftig am Schreibtisch fest, um nicht hinabzurutschen.

Teiko legte seine Hand auf meine und sagte nichts, sah mich nicht einmal an, aber es holte mich ein Stück weit in die Gegenwart zurück.

„Deine Entrüstung verstehe ich.“ Coel ließ sich auf den notgedrungenen Themenwechsel ein. „Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir es schaffen, die Toten zurückzuholen. Jedenfalls...“ Ich wollte ihm nicht mehr zuhören. Mit diesem kleinen Windhauch der Wahrheit hatte er meine Gedanken für diesen Tag Schach Matt gesetzt, aber er ließ mich nicht lange trauern.

„Damals, als ich dich zurückgeholt habe, bat deine Mutter mich, dir noch ein anderes Mittel zu verabreichen. Eines, das deine Erinnerungen löscht. Sie meinte, etwas furchtbar traumatisches sei in deinem Leben vor dem Tod geschehen und sie wollte unter keinen Umständen, dass du dich daran erinnerst.“

„Keine Erinnerungen“, erkannte Teiko, ließ die Erkenntnis zu einer Aufzählung heranreifen, „kein Herzschlag, kein Wachstum, keine Möglichkeit, neues zu erlernen. Du hast ihr damit alles genommen – ausnahmslos alles.“ Hass spritzte aus seiner Zunge wie Schlangengift und Coel schützte sich davor, indem er sich in seinem Sessel nach vorne lehnte und den Kopf hob. Übermut brachte Teiko zum Schweigen, nicht aber dazu, seine Feindseligkeit zu vergessen.

„Sie lernt sehr wohl – das ist es ja. Ich bin mir sicher, absolut sicher, dass dieses traumatische Erlebnis damit zu tun hat. Ich bin mir sicher, dass deine Mutter dir dieses Mittel erneut gespritzt hat, aber ich weiß noch nicht, wieso.“

„Ich habe mich merkwürdig verhalten und hegte Gedanken, die meiner Mutter nicht gefielen.“ Im Moment fühlte ich mich leerer als die Leiche, die ich war. Tote Schwestern und keine Erinnerung an Kindheit und das Leben vor dem Tod. Die heile Welt, die Jadelyn und Vega mir am Frühstückstisch so gerne vorgaben, war nie echt gewesen, zumindest nicht in meiner Erinnerung. Es war ein Schauspiel gewesen und ich hatte es erkannt und deshalb wollte Mutter, dass ich es wieder vergesse. Vor den Kopf gestoßen fühlte ich mich. Betrogen und belogen und ich spürte zwar, dass meine Unterlippe zitterte, doch Tränen entließ ich keine.

„Nun denn“, seufzte Coel und lehnte sich wieder zurück. „Dolores verheimlicht uns etwas und wir müssen herausfinden, was das ist.“

„Theoretisch“, hörte ich Teiko neben mir, „könnten wir Dolores einfach verraten, was es mit Florence auf sich hat. Sie ist ihre Mutter. Wenn sie hört, dass es Hoffnung geben könnte, wird sie dich sicher unterstützen.“ Er klang nicht gerade versöhnlich, aber weniger aufgebracht. Der Grund für seine Ruhe war, dass seine Aufmerksamkeit auf mir lag und darauf, meine Hand zu tätscheln, während ich versuchte, Gesagtes zu verdauen.

„Ich vertraue ihr nicht“, gestand Coel, „und ich vertraue der Medizin nicht mehr. Du hast dich also letzte Nacht an etwas erinnert?“ Nun sah ich auf und blinzelte. Ein, zwei Tränen sprangen aus meinen Augen.

„Ich...“, begann ich und sah Teiko an. Die Wunde dieses Blickes in die Vergangenheit war noch so frisch und mein Traum hatte Salz hinein gestreut.

„Sie hat ihren Tod gesehen.“ Der Satz hing schwer im Raum und schlug in Coels Gesicht, das entnahm ich seinen bestürzten Zügen.

„Das ist unmöglich.“ Seine Pupillen sprangen wild umher. „Nein, unmöglich ist es nicht, aber der einzige Reim, den ich mir darauf machen kann, gefällt mir ganz und gar nicht.“

„Wie lautet der Reim?“ Meine Frage brachte Coel dazu, aufzuspringen und zurück zu den Bücherregalen zu hechten. Er ließ seine Finger über die edlen Rücken gleiten, begleitet von Teikos widerwilligem Gurren. Vielleicht war es ein Tick des Mediziners in ihm, Bücher zu studieren, wenn er aufgebracht war, jedenfalls erschreckte er mich und ich fragte mich, ob ich weitere schlechte Nachrichten ertrug, doch im Moment war ich ohnehin taub. Sollte er mich doch restlos erschlagen.

„Das Mittel – Viterna – scheint sich allmählich abzubauen. Ebenso wie das zweite Mittel gegen deine Erinnerungen. Anders könntest du diesen einen letzten Moment deines Lebens niemals zu Gesicht bekommen. Viterna Patienten wissen nichts von ihrem Tod, sie haben keine Erinnerungen daran, nur an das Leben davor. Und du solltest sie erst recht nicht haben.“

„Es baut sich ab?“ Teiko klang hoffnungsvoll, das Tätscheln auf meiner Hand wurde hektischer. „Dann kehrt sie von selbst ins Leben zurück?“

Ich sah sein Gesicht nicht, weil er noch immer die Buchrücken streichelte, aber seine Schultern senkten sich. „Nein“, begann er und drehte sich um. „Ich glaube, sie wird mit ihm vergehen.“

Impressum

Texte: Alle Rechte des Texts liegen bei mir, Linda Rottler
Tag der Veröffentlichung: 11.11.2010

Alle Rechte vorbehalten

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