Paul war schon immer ein guter Schwimmer gewesen. Als kleines Kind hatte ihn seine Mutter mit ins Freibad genommen, wo er scheinbar keinerlei Wasserscheu zeigte, auch wenn er daran natürlich keine Erinnerung hatte. Seine erste bewußte Erinnerung war ein Ring. Ein roter Ring aus Gummi, den er im Rahmen seines Schwimmabzeichens mit fünf Jahren aus zwei Meter tiefem Wasser heraufgeholt hatte. Er konnte sich fast plastisch an den Eindruck dieses Tauchens erinnern, als sich das Wasser um seinen kleinen Körper schloß, ihn wie ein warmer Mantel umhüllte und alle anderen Geräusche dämpfte, als er in diese fremde Welt eines städtischen Schwimmbeckens versank.
Schnell zeigte sich, daß er nicht nur Leidenschaft, sondern auch Talent mitbrachte. Seine Bestzeiten in der Vorschulgruppe, von seinem damaligen Schwimmverein mehr aus Spaß denn aus wirklichem Wettbewerb aufgezeichnet, hatten noch heute Gültigkeit. Mit 8 Jahren war er sein erstes Kinderrennen geschwommen, mit 10 Jahren bereits Meister in seiner und der nächsthöheren Altersklasse. Auf den Sichtungslehrgängen mit 15 und 16 hatte er genug Eindruck hinterlassen, um in die Sportförderung zu kommen, eine Karriere als Leistungssportler stand ihm offen.
Wäre Melanie nicht gewesen.
Melanie war Pauls beste Freundin gewesen, ein intelligentes Mädchen, mit hübschen Locken und scheinbar grenzenloser Abenteuerlust. Sie hatten sich in der Grundschule kennengelernt und waren fortan unzertrennbar. Beide teilten ihre Leidenschaft zum Schwimmen und waren mit Beginn der Freibad-Saison nach der Schule nur noch dort oder an einem der vielen Seen in der Umgebung zu finden, in denen das Baden erlaubt war. Sie war längst keine so gute Schwimmerin wie Paul, aber der ständige Aufenthalt in Freibädern und an Baggerseestränden hatten ihr den gleichen braungebrannten und durchtrainierten Körper verliehen wie ihm. Wobei es schon gewisse Unterschiede zwischen ihnen gab, wie Paul eines Tages an einem irritierendem Nachmittag feststellen mußte, als ihn die prickelnde aber irgendwie auch angenehme, auf jeden Fall aber ungewohnte Enge in seiner Badehose zu einem unfreiwillig langem Aufenthalt im kalten Wasser des Baggersees zwang. Fortan sah er Melanie mit anderen Augen, und auch ihr Verhalten ihm gegenüber veränderte sich, wie er irgendwann feststellte. Scheinbar wollte sie ihn testen, denn ihre Abenteuerlust übertrug sie nun in Aufgaben für Paul. Für einen Jungen von 14 Jahren war ein Sprung vom Zehnmeter-Brett schon eine ordentliche Aufgabe, vor allem wenn es noch darum ging, kopfüber zu springen. Ihr zuliebe tat er es, konnte sich aber an das unangenehme Knacken und Zwiebeln beim Eintauchen erinnern. Nein, ein Vogel war er wahrlich nicht. Eher ein Fisch.
In jenem Sommer, Paul war fast 17, kam Melanie auf die Idee, einmal durch den großen See und wieder zurück zu schwimmen. Eigentlich war dieser See nicht zum Baden freigegeben, da er über einige Zu- und Abflüsse verfügte und mit bis zu 50 Metern sehr tief war, was zu Strömungen führte, die ihre Wirkung bis an die Wasseroberfläche zeigten.
„Wir sind gute Schwimmer, uns passiert doch nichts. Jetzt komm, du Angsthase!“, hatte sie ihn noch in der Schule geneckt, also waren sie am Nachmittag mit ihren Fahrrädern aufgebrochen. Da es kein wirklicher Badesee war, gab es auch keinen Badestrand, der einen mit seinem hellen Sandbett hätte begrüßen können. Sie waren deshalb an einer der vielen Anglerbuchten von den Rädern abgestiegen, hatten sich ausgezogen und dann in Badesachen langsam ins Wasser gewatet. Es war ungewohnt kalt, viel kälter als die Badeseen oder gar das beheizte Freibad, aber an einen Rückzieher war da nicht mehr zu denken. Auf halber Strecke, über dem tiefsten Punkt des Sees, waren ihm die vielen Strömungen aufgefallen, die an seinem Körper zogen, und auch Melanies bis dahin übertrieben lautes Planschen hatte ein wenig nachgelassen, vermutlich um sich mehr auf den zurückzulegenden Weg zu konzentrieren.
„Laß uns zurückschwimmen, der Weg wird sonst zu weit!“, hatte er noch gerufen, aber Melanie war jetzt nicht mehr zu stoppen: „Jetzt haben wir es doch fast geschafft, und die Wiese da drüben sieht doch gemütlich aus, da können wir uns ausruhen.“
Mit schnellen Zügen hatten sie die zweite Hälfte des Weges hinter sich gebracht und waren zitternd am anderen Ufer aus dem Wasser geklettert. Der Augustwind hatte noch genug Wärme gehabt, um angenehm auf der Haut zu wirken und die Kälte aus den Gliedern zu vertreiben. Mit der Wärme waren auch die Gefühle wieder zurück, und auch wenn der Schmerz viele Bilder dieses Nachmittags für immer gelöscht hatte, konnte er sich an warme Haut, sanfte Berührungen und den Geschmack ihrer Lippen erinnern. Wie eine Seerose hatte sie geschmeckt, seine Melanie.
Ein leises Donnergrollen hatte sie aus ihrer Zweisamkeit gerissen. Auch der Wind war stärker und kälter geworden, so daß es Zeit für die Rückkehr wurde.
„Vielleicht sollten wir laufen?“, hatte Melanie in einem ihrer seltenen vorsichtigen Momente gefragt. Paul hatte den Kopf geschüttelt.
„Der See ist riesig, wenn wir außen herum laufen, brauchen wir locker ein bis zwei Stunden bis zu den Fahrrädern, schwimmend dauert es höchstens eine halbe Stunde.“
„Du schwimmst ja auch viel schneller als ich.“
„Willst du etwa auf einmal den Angsthasen machen, Melanie? So kenne ich dich ja gar nicht“, hatte er leicht verschmitzt, leicht verunsichert erwidert.
„Na gut“, hatte sie geantwortet, „wer zuletzt drüben ist, ist ein Feigling!“
Mit leichten Schritten war sie ins Wasser gelaufen und ging in einen schnellen Schwimmrhythmus über. Paul hatte ihr einigen sportlichen Vorsprung gelassen, aber 50 Meter erschienen ihm genug. Mit schnellen Schritten war er ihr gefolgt und ins Wasser gesprungen, daß ihm plötzlich noch viel kälter vorkam als auf dem Hinweg. Aber als Schwimmer hatte er gelernt, die Umgebung auszuklammern und sich ganz auf seine Technik und den Weg zu konzentrieren. Mit kraftvollen Zügen war er schnell auf Geschwindigkeit gekommen und hatte Melanie bald eingeholt. Sie war scheinbar wieder in ihren planschenden Schwimmstil übergegangen, denn er vernahm das Schlagen ihrer Arme und ihre Stimme, die ihm irgend etwas zurief. Aber diesmal hatte er sich nicht ablenken lassen wollen, die Strecke war seine Herausforderung, der Sieg sein Ziel. Selbst die gefühlt eiskalten Hände der Strömungen in der Mitte des Sees hatten ihn nicht mehr aufhalten können. Mit einigen letzten Zügen war er schließlich auf der anderen Seite des Sees angekommen und richtete sich im Wasser auf. Ein kurzer Augenblick des Triumphs war es gewesen, dann der Blick zurück über den See auf die Zweitplatzierte.
Da war keine Zweitplatzierte. Keine Melanie.
Was genau damals in seinem Kopf vorgegangen war, wußte er nicht mehr. Das menschliche Gehirn tut sich schwer damit, Dinge zu realisieren, die eigentlich nicht real sein können. Wo sollte Melanie schon sein als 100 oder vielleicht 150 Meter hinter ihm? Er hatte die Augen zusammengekniffen und nochmal geöffnet, er hatte gerufen, dann geschrien, er hatte gebrüllt, war ins Wasser zurückgelaufen, gefühlt den ganzen Weg zurückgeschwommen. Er war wie panisch getaucht, auch wenn das Wasser keinerlei Sicht zuließ, war wieder an Land geschwommen um die Uferböschung nach einer erschöpften, aber glücklichen Melanie abzusuchen.
Nichts.
Irgendwann war er aufs Fahrrad gestiegen und wie ein Irrer Richtung Stadt zurückgerast. Mit Tränen in den Augen war er zu Hause angekommen und hatte seinen Eltern berichtet, kurz danach waren DLRG und Polizei am See. Sie hatten die Uferböschung abgesucht, waren mit Booten übers Wasser gefahren und hatten Taucher eingesetzt, aber Melanie war verschwunden. Und blieb verschwunden. Nur ihren Badeanzug fand ein Angler einige Wochen später an einer abgelegenen Stelle des Sees, wohin ihn die Strömung getragen hatte. Die Polizei nahm Paul daraufhin sehr ernst ins Verhör, denn ihrer Meinung nach taten sich zu viele Fragen auf, und Paul hatte zu wenige Antworten. Am Ende aber konnten alle Freunde, seine Familie und letztlich auch Melanies Eltern bestätigen, welch innige Beziehung die beiden stets miteinander hatten und daß Paul nie im Leben Melanie etwas angetan hätte.
Dieser Tag im August hatte etwas in ihm zerbrochen. Die eine Liebe seines Lebens hatte die andere verschlungen und nicht mehr hergegeben. Sein Urvertrauen in das Element Wasser war verschwunden und einer wütenden Furcht gewichen, die ihm sämtliche Schwimmambitionen nahm. Er war aus dem Schwimmverein ausgetreten und hatte in den folgenden Jahren viel Gewicht zugelegt. Sein Abitur hatte er mit Ach und Krach geschafft und danach eine Lehre angefangen.
Mit den Jahren verblaßten die Eindrücke und aus Erinnerungen wurden Schemen, die ihn langsam losließen. Mit 23 war er zum ersten Mal wieder in ein Schwimmbad gegangen, seine Freunde hatten ihn dazu überredet. Das klare warme Wasser des Beckens weckte mehr gute als böse Erinnerungen. Sein Körper erinnerte sich an das jahrelange Training und lechzte nach Bewegung, also hatte er dem Verlangen nachgegeben. Er war allerdings nicht wieder in einen Schwimmverein eingetreten, sondern hatte sich, teils aus Schutz, teils aus Schuldgefühlen, bei einem DLRG-Kurs angemeldet, um eine Prüfung als Rettungsschwimmer abzulegen. Sein Vertrauen aus der Kindheit, als er die volle Kontrolle über das Wasser zu haben glaubte, kam nicht wieder, aber die rationale Welt der Erwachsenen gab ihm das Gefühl, innerhalb der klar begrenzten Wände eines Schwimmbeckens eine beherrschbare Situation vorzufinden.
Um so unfaßbarer und grausamer war der Anblick, der sich ihm nun bot.
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Wasser ist das Element des Lebens. Im Wasser bildeten sich die ersten Organismen, entwickelten sich in alle Formen und Größen, bildeten Nahrungsketten und bevölkerten den gesamten Planeten. Das Wasser selbst bildete die Grundlage, war Bestandteil jedes Organismus, jeder Zelle. Und auch wenn Wasser für sich genommen nicht lebte, waren von den Urmeeren an durch alle Zeitalter sämtliche Ozeane, Seen und Flüsse stets voller Leben, aufgewühlt von den Gezeiten und Myriaden von Tieren und Pflanzen.
Deshalb hatte der Lichtblitz über dem See vor langer Zeit auch keinerlei Aufmerksamkeit erregt. Noch hatten Menschen das Land nicht nutzbar gemacht, und die Tiere gingen nach dem kurzen Impuls ihres Fluchtinstinktes wieder zum Grasen, Jagen oder Dösen über. Auch im See selbst hatte es keine sichtbaren Veränderungen gegeben. Es war ein recht ungleichmäßig geformtes Gewässer, mit einer flachen Uferzone und einer dann steil abfallenden Schlucht, die sich quer durch den See zog, einem alten tiefen Flußbett folgend. Die Zu- und Abflüsse sorgten für einen langsamen Strom in der Nähe der Oberfläche, aber in der tiefen und lichtlosen Mitte des Sees hatten sich kleine Wirbel am Grund gebildet, die um kahle Felsen strichen und nur selten von einem Fisch oder dem Kadaver eines ertrunkenen Tiers gestört wurden.
Einer dieser Strudel zog sich in einer langen Bahn am Grund entlang. Es handelte sich um altes Grundwasser, nur wenig von den frischen Zuflüssen der oberen Seezone berührt und eigentlich völlig normal, auch wenn der Strudel mit der Zeit an Kontur gewann. Er war irgendwann unbemerkt etwas schneller geworden, als es die umliegenden Wassermassen eigentlich zugelassen hätten und leckte wie ein neugieriges Tier über die kahlen Felsen in der Dunkelheit. Ohne sich seiner Existenz oder der Notwendigkeit einer Existenz überhaupt bewußt zu sein, begann der Strudel, zu sammeln. Kleine Steine, große Steine, rauhe Steine. Es gab Unterschiede in der Struktur, manche ließen sich mitschwemmen, andere waren schier unverrückbar und boten dem Strudel Widerstand. Wirklich interessant aber waren viel kleinere Dinge, Dinge die sich bewegten. Der Strudel bewegte sich auch, also mußte es einen Zusammenhang geben, eine Ähnlichkeit. Kleinstlebewesen, die sich vom Wasser treiben ließen und mehr durch Zufall in die tieferen Regionen des Sees glitten, wurden vom Strudel gepackt und mitgeschleppt. Sie bewegten sich, winzige Fühler manchmal, oder kleine Beinchen, die im Wasser des Strudels zappelten, ohne wirklich etwas auszurichten. Der Strudel erkundete die Struktur dieser Dinge, von elementarer Neugier getrieben, ohne zu wissen was Neugier eigentlich ist. Die Bewegungen der Tiere verursachten Reaktionen in seinem eigenen Wasser, zumindest solange sie sich bewegten, denn irgendwann hörten sie alle damit auf und zerfielen in ihre Einzelteile. Der Strudel hatte keine Einzelteile, er konnte nicht zerfallen, er war bereits elementar.
Mit der Zeit wurden die Dinge größer und komplexer, statt der Beinchen gab es Flossen, die seinem Wasser viel Widerstand boten. Aber auch der Strudel hatte gelernt und verstand, wie die Dinge aus vielen Teilen funktionierten. Sie alle brauchten Wasser, um sich zu bewegen, ihre Körper bestanden größtenteils aus Wasser. Sein eigenes Wasser konnte der Strudel mittlerweile gut kontrollieren, er konnte Geschwindigkeit und ein wenig auch die Richtung ändern, und er konnte die Zusammensetzung variieren. Er hatte große Dinge in seinem Sog gehabt, die sein Wasser durch ihren Körper fließen ließen. Hielt er diesen Fluß an, endete auch die Bewegung des Dings.
Im Element des Lebens reifte durch diese Eigendynamik allmählich die Erkenntnis heran, daß die anderen Dinge der Welt es brauchten. Indem der Strudel den anderen Dingen sein Wasser gab oder es vorenthielt, konnte er ihr Leben kontrollieren. Und er lernte, daß Stärke durch Dichte kommt, daß die anderen Dinge ihre Welt auf kompakten Strukturen aufbauten, die ihnen einen kleinen Raum zum Leben innerhalb dieses Körpers gaben, während der Strudel selbst sich grenzenlos fühlte. Das Wasser um ihn herum schien passiv zu sein, nie zeigte es Reaktion auf sein Verhalten oder machte Anstalten, es ihm gleich zu tun. Dafür wurden die anderen Dinge immer interessanter, immer komplexer. In ihren Körpern nahm der Strudel mehr wahr als nur die Materie, es floß Energie durch sie hindurch. Bahnen, die den ganzen Körper durchzogen und mehr oder weniger schwache Impulse aussendeten, die alle in einem großen Teil des Körpers gesammelt wurden. Diese Impulse veränderten sich zusammen mit dem Verhalten der Dinge, wenn der Strudel sein Werk begann, wurden hektischer, sorgten für andere Impulse. Wenn er ihnen das Wasser vorenthielt, war es wie ein gewaltiger Wirbel, ehe die Ruhe eintrat. Bei jedem Ding kam die Ruhe anders, überhaupt war jedes Ding einzigartig, sah anders aus, roch anders, fühlte sich anders an. Dieser Wirbel an Impulsen war jedoch das spannendste an ihnen, denn in ihm erkannte sich der Strudel wieder.
Eines Tages kam dann das riesige Wesen. Ohne Verständnis von Raum und Zeit hatte sich der Strudel unzählige Wesen angeschaut, sie untersucht, in ihre Einzelteile zerlegt und Erkenntnisse seinem Wasser angeeignet. Große und kleine Wesen hatte er erforscht, aber dieses hier war anders. Es war komplexer, dichter, und seine Impulse bildeten einen derartigen Wirbel, daß der Strudel begeistert gewesen wäre, hätte er gewußt was das ist. Er nahm das Ding in sich auf, schleppte es mit, drang in es ein, wollte keinen Impuls verlieren. Es gab Öffnungen wie bei jedem Ding, aber auch die gesamte Oberfläche konnte der Strudel durchdringen. Einige Teile waren merkwürdig, sie schienen kein Leben zu beinhalten, sendeten keine Impulse aus, vielmehr waren sie wie eine Oberfläche über der Oberfläche. Als das gewaltige Impulsgewitter geendet hatte und der Strudel anfing, das Ding in seine Zellen zu zerlegen, ließ er die merkwürdigen Oberflächen aus seinem Wasser in die Dunkelheit gleiten.
Geübt durch Zeitalter voller Informationssammlungen begann der Strudel, die neuen Eindrücke zu filtern. Er hatte gelernt, dass die Wirbel Informationen waren, die diese Wesen von ihrer Umwelt sammelten, Bilder und Geräusche, Gerüche und Strukturen, die in der weißen weichen Zentrale der Wirbel verarbeitet wurden. Anders als der Strudel selbst konnten diese Wesen offenbar nicht mit ihrem ganzen Volumen Eindrücke verarbeiten, sie hatten spezialisierte Teile für jede Wahrnehmung. Ein befremdliches Konzept für eine Entität, die nur aus einem Element bestand und keine Diversifikation kannte, aber dafür um so interessanter. Und dieses Wesen war etwas ganz besonderes, denn es hatte mehr Informationen in sich als alle Wesen davor zusammen, es vermittelte derart plastische Eindrücke von einer Welt, die der Strudel nicht kannte, dass sich unbemerkt seine eigene Struktur veränderte. Eine Idee entwickelte sich in dem Strudel. Wenn diese Wesen mit anderen Wesen kommunizierten, dann mußte es einen Nutzen haben. Was, wenn es andere Strudel gäbe, mit denen man kommunizieren könnte? Andere Wesen wie es selbst?
Unbemerkt war in dem Strudel die Vorstellung eines eigenen Ichs entstanden, die Anerkennung der eigenen Existenz als Basis für den Wunsch nach Kontakt mit Gleichartigen. Nach ungezählten Zeitaltern, in denen der Strudel seine eigene Bewegung den Strömungen des ihn umgebenden Wassers untergeordnet hatte, begann er mit der Beharrlichkeit, wie sie nur ein Elementarwesen jenseits aller Zeit haben kann, sich langsam aus seiner Bahn zu kämpfen. Tropfen für Tropfen löste der Strudel seinen uralten Weg auf und erkundete mit dünnen Fäden seines Wassers die ihn umgebende Finsternis. Irgendwann sorgten Übung und Wille für mehr Kontrolle über seinen unstrukturierten Körper, bis er sich eines Tages wie ein Schwarm aus unzähligen Fischen elegant und koordiniert durch das Wasser des Sees gleiten lassen konnte. Der Strudel begegnete vielen Wesen, aber die meisten kleineren ließ er ziehen, denn sie waren uninteressant geworden. Ihre Wirbel boten keine Erkenntnis, keinen Hinweis auf die Existenz von etwas, das wie er sein könnte. Und große Dinge wie das, das ihn zum Aufbruch bewegt hatte, gab es offenbar keine mehr im See.
Irgendwann gelangte der Strudel an die Oberfläche des Sees und kam zum ersten Mal mit etwas in Kontakt, das sich für ihn nicht greifen ließ. Offenbar endete hier das Wasser, aber es war auch keine feste Oberfläche. Dafür war diese kaum zu greifende Materie voller Informationen. Es trug Gerüche an ihn heran, viele davon kannte er durch Dinge, die er untersucht hatte. Im Wasser waren diese Gerüche auch, aber nur von den Wesen die dort lebten, hier jedoch, an der Oberfläche, gab es mehr Gerüche. Eine weitere Idee reifte in dem Strudel, denn vielleicht war dieses große Wesen ja ein direkter Hinweis für ihn gewesen. Vielleicht war es ein Botschafter aus dieser so fremden Welt, mit der Aufforderung sie zu erkunden. Das Wesen hatte neben seinem eigenen Geruch noch einen besonders intensiven anderen Geruch mit in seine Welt gebracht, vielleicht sollte es diesem Geruch nachgehen. Erste Hinweise, wo sich ähnliche Gerüche befinden würden, übermittelte die scheinbare Leere an der Oberfläche, also begann der Wirbel, zielstrebig diesen Eindrücken zu folgen. Er würde den Überbringer der Botschaft schon finden.
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Paul konnte sich nicht bewegen, seine Kehle war wie zugeschnürt, die Augen entsetzt geöffnet, auch wenn das Bild in seinem Kopf keinen Sinn ergab. Eigentlich hatte er nur noch ein paar Bahnen schwimmen wollen. Paul kannte Oliver, den Bademeister des Freibads, er durfte auch abends nach der Uni noch ein paar Bahnen ziehen, quasi als Einzeltherapie. Und jetzt stand er in Badehose am Beckenrand, während sich vor ihm eine Wassersäule auftürmte. Sein Hirn hämmerte ihm ein, daß das nicht sein konnte, Wasser bildet keine Säulen an Land, in der Luft. Klar, es gibt Springbrunnen mit Fontänen, aber erstens gab es so etwas hier im Freibad nicht und zweitens waren solche Fontänen laut durch die sie erzeugenden Turbinen und bestanden im Grunde nur aus Gischt.
Aber hier gab es keine Gischt.
Die Wassersäule vor ihm bestand aus völlig ruhigem dreckigem Wasser, an dem ein undefinierbarer Gestank hing. Paul konnte durch das Wasser das Becken und den dahinterliegenden Turm des Bademeisters sehen, in dem Oliver mit seinem Tagesbericht beschäftigt war und offenbar nichts mitbekam. Er jedoch bekam alles mit, sein Gehirn raste vor Panik. Das mühsam aufgebaute Vertrauen in die Ungefährlichkeit des Wassers brach unter dem Druck der vor ihm stattfindenden Szene zusammen und ließ ihm keine kontrollierte Bewegung zu, nur der Automatismus des Atemreflexes hielt ihn jetzt noch am Leben, sein Körper versorgte sich notdürftig selbst, während sein Geist hilflos rotierte.
Langsam begann die Säule, sich vor seinen Augen zu verändern. Wo eben noch Konturlosigkeit herrschte, formte sich jetzt eine Silhouette. Die Säule bildete kleine Wassersäulen aus, die scheinbar mühelos in der Luft schwebten, eine auf jeder Seite. Der obere Teil der Säule bildete unzählige winzige Säulen aus, die wie Schlangen tanzten und ihn aus tausend windenden Köpfen anzustarren schienen. Der obere Teil wurde rund und formte etwas, das Pauls überfordertes Gehirn an einen Kopf erinnerte. Erst langsam, aber dann immer deutlicher formte sich aus dem Wasser eine Gestalt, die kleinen Säulen wurden zu Armen, der Kopf gewann an Kontur, die Mitte der Säule bildete den Rumpf eines Körpers, der immer feiner wurde, wie Marmor unter der Hand eines kundigen Steinmetzes, mit dem Ziel, eine neue Venus zu formen.
Paul kannte die Venus. Er kannte jeden Zentimeter von ihr, die trainierten Arme und den nackten Oberkörper mit dem typischen Kreuz einer begeisterten Schwimmerin, die langen Haare, ohne Farbe in ihrer Wasserform, und natürlich das Gesicht. Dieses Gesicht, das er so sehr geliebt hatte. Entsetzlich verzerrt, wie nach Luft ringend, mit weit aufgerissenen Augen, aber sie war es.
Melanie.
Tastend kam der Arm dieser unerträglichen Gestalt auf ihn zu, die ganze Säule schob sich langsam in seine Richtung, immer weiter vom Beckenrand weg. Sie stand jetzt völlig auf dem Trockenen und hielt doch ihre grausame Form. Pauls sah dies jedoch nicht, er sah nur Melanies Gesicht und ihre Hand, die langsam auf ihn zukam. Nicht bedrohlich, aber in einer verdrehten und ungelenken Haltung, als wenn sie noch nie ihre Hand oder ihren Arm benutzt hätte. Er konnte das Wasser jetzt deutlich riechen, es stank nach Verwesung und Moder. Unaufhaltsam wie die Flut schon es sich langsam immer näher, bis schließlich die Hand mit einem Gefühl nie erlebter Nässe seine Brust berührte.
Es war wie ein Startschuß! Wie damals im Schwimmverein, alle Mann auf die Plätze, fertig, los! Ein riesiger Knoten angestauter Sinneseindrücke explodierte in Pauls Kopf und setzte die Maschinerie seines Körpers wieder in Gang. Seine Beine wollten sich drehen und wegrennen, sein Oberkörper einen schnellen Fluchtweg zum seitlich gelegenen Ausgang einschlagen, heraus kam ein fürchterlich verstolperter Sturz schräg nach hinten, aber die Schmerzen feuerten seine Muskulatur an. Ohne sich umzublicken, rannte er wie noch nie in seinem Leben. Er hörte das Klatschen hinter sich, aber es gab keine Chance, sich umzudrehen. Er wollte sich nicht umdrehen! Er wollte einfach nur weg! mit hastigen Schritten taumelte er auf sein Fahrrad und merkte dann erst, daß seine ganzen Sachen noch im Schwimmbad waren, allen voran der Schlüssel für sein Fahrradschloß.
Er stieg ab und rannte in die Dämmerung.
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Der Strudel verstand nicht. Auch wenn Zeit in seiner Welt keine Rolle spielte, war es doch anstrengend gewesen, den Botschafter zu finden. Zunächst hatte er versucht, sich komplett in der fremden Welt zu bewegen, aber der Uferbereich des Sees bildete bereits ein fast unüberwindbares Hindernis. Mit endloser Geduld hatte er versucht, den See zu verlassen, aber sein Wasser versickerte immer wieder im Schlamm der Böschung und floß schließlich zurück in den See. Mit der Zeit lernte er, daß Dichte zum Erfolg führte. Indem er sein eigenes Wasser in die Konsistenz von schleimigem Pudding brachte, hielt der Strudel lange genug die Form, um erste kurze Ausflüge außerhalb des Sees zu machen. Eine dünne Spur im Wasser von Wesen, die dem Botschafter offenbar ähnlich waren, brachte ihn jedoch auf einen weitaus geeigneteren Weg. Er folgte den Duftpartikeln und gelangte über den Fluß in ein System von dicken und dünnen Wasseradern in festen langen Röhren. Manche dieser Röhren enthielten nur klares Wasser mit kaum erkennbaren Spuren, aber andere Röhren waren so voller Informationen, daß der Strudel völlig überwältigt von der Fülle verharrte und sich durchströmen ließ, während er alles verwertbare gierig in sich aufsaugte. Offenbar mußte dies eine Art Kommunikationssystem sein, denn er erkannte Unmengen an Informationen von offensichtlich unterschiedlichen Wesen. Mit der Zeit lernte der Strudel durch diese Informationen viel über die Wesen und daß ihre Körper wesentlich komplexer waren als die der Wesen im Teich oder gar seine eigene nahezu körperlose Existenz.
Und dann, endlich, hatte er die Spur des Botschafters erkannt, war ihr gefolgt durch diese lichtlosen Röhren. Ganz fein war die Spur, kaum merklich, aber sie führte ihn schließlich in ein großes Becken mit klarem Wasser. Der Botschafter war das einzige Wesen in diesem Becken, also näherte sich der Strudel ganz vorsichtig. Doch kurz vor dem Kontakt verließ der Botschafter das Wasser, so daß der Strudel zu einer Reaktion gezwungen war, die seine normalen Entscheidungsprozesse bei weitem überforderte. Aber so kurz vor dem Ziel wollte er jetzt nicht aufgeben, also nahm er all seine Erfahrung und Kraft zusammen und folgte dem Botschafter. Dieser hatte ihn offenbar bemerkt, denn er blieb direkt vor dem Strudel stehen, ohne allerdings eine körperliche Reaktion zu zeigen. Dafür sendete er verwirrend vielfältige Duftsignale, die der Strudel so schnell nicht verarbeiten konnte. Als weiterhin keine Reaktion von dem Wesen kam, entschied er sich, dem Botschafter zu zeigen, daß die Botschaft angekommen war, indem er sie plastisch darstellte. Auch dies führte zu keiner körperlichen Reaktion, aber die Duftsignale veränderten sich abermals und wurden noch hektischer. Deshalb versuchte der Strudel es mit direkter Kontaktaufnahme. Ganz langsam näherte er sich und hatte kaum den Botschafter berührt, als dieser endlich reagierte, zum Leidwesen des Strudels allerdings nicht wie erwartet. Statt einen Austausch zuzulassen, entfernte er sich schnell und ließ den Strudel zurück. Der Kontakt mit diesen Wesen erwies sich als komplexer als erwartet, aber es war längst zu spät, um wieder in die lichtlosen Tiefen des Sees zurückzukehren. Er würde den Botschafter finden und dann richtig Kontakt aufnehmen. Mit einem Platschen löste sich die Form des Strudel auf, glitt ins Wasser und das darunter arbeitende Röhrensystem zurück und nahm die Verfolgung auf.
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Paul rannte. Seine Lungen brannten wie Feuer, die Fußsohlen schmerzten unter der ungewohnten Belastung, nackt über Bürgersteige und Straßen zu laufen. Passanten sahen ihm nach, Autos hupten kurz vor der Kollision, aber Paul war nicht aufzuhalten. Irgendwann meldete sich sein Kopf, versuchte dem Körper Signale zu senden, daß der Fluchtinstinkt beendet werden sollte, aber der Körper reagierte nicht. Seine Beine rannten einfach weiter. Eine ziemlich hohe Bordsteinkante brachte ihn schließlich zu Fall. Mit dumpfem Schmerz schlug sein Kopf auf den Stein auf, aber es brachte ihn für einen Moment zur Besinnung. Langsam realisierte er die Situation. Er war fast mitten in der Stadt, Dutzende Passanten und einige verständnislos blickenden Autofahrer beobachteten ihn, ein älterer Herr sprach ihn an. „Junger Mann, geht’s Ihnen gut?“
„Was?“, Paul realisierte den Sinn der Frage nicht.
„Sie sind ja gerannt, als wäre der Teufel hinter ihnen her!“
„Teufel?...was…ich…“
„Sie bluten am Kopf, sollen wir einen Arzt holen?“
Paul schüttelte verständnislos den Kopf, als eine vorbeifahrende Streife hielt und ein Polizist auf ihn zukam. „Was ist denn hier passiert?“
„Der junge Mann hier ist gerade quer durch die Stadt gerannt und eben gestürzt. Ein paar Autos hätten ihn fast überfahren.“
„Was denn, nur in Badehose und ohne Schuhe?“, der Polizist guckte ungläubig und sprach Paul an: „Wie heißen sie, junger Mann?“
„Ich…heißen?“ So ganz drang sein Bewußtsein noch nicht wieder an die Oberfläche, zumindest leistete sein Sprachzentrum noch Widerstand nach dem erlittenen Schock.
„Wir bringen sie besser ins Krankenhaus.“, sagte der Polizist und wollte ihm aufhelfen.
„Krankenhaus…was, NEIN! Ich muß weg, ganz weit weg!“, plötzlich war Paul wieder da. „Es verfolgt mich, verstehen sie? SIE verfolgt mich, sie will mich töten, aber ich hab doch nichts getan! Ich wollte es doch nicht!“
„Wer verfolgt sie?“
„Melanie!“, Pauls Stimme wurde hysterisch.
„Wer ist diese Melanie?“
„Sie ist tot, aber jetzt ist sie wieder da und will mich auch töten! Bitte, ich muß fliehen, so verstehen sie doch!“
Pauls Knie schmerzten, sein Kopf brummte, aber er wußte, daß er in Gefahr war und fliehen mußte, aber der Polizist hielt ihn fest.
„Ich denke, wir fahren erst mal zum Revier, da erzählen sie uns dann die ganze Geschichte.“
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Harald Stemmler hatte schon so einige Irre erlebt, aber der hier war irgendwie besonders. Die meisten Paranoiden, Psychopaten und Wahnsinnigen knickten irgendwann ein, verstrickten sich in Widersprüche oder fingen an, neue Geschichten zu erfinden, aber dieser hier blieb bei seiner Version, ohne daß sie einen Sinn ergab.
„Hast du was über ihn herausgefunden?“, fragte Harald seinen Kollegen Bernd Rogenz, als dieser das Büro betrat.
„Einiges, Harald, zumindest wenn er ist, wer er vorgibt zu sein.“
„Lass hören.“
„Paul Lindenburg, 24 Jahre, ortsansässig, Student. War in seiner Schulzeit ein hervorragender Schwimmer mit Ambitionen auf internationale Wettbewerbe, hat dann aber das Training abgebrochen.“
„Warum?“
„Vor sieben Jahren ist er mit seiner Freundin im großen See schwimmen gewesen, sie ist dabei scheinbar ertrunken. Dass hat ihm wohl die Lust am Schwimmen genommen.“
„Lass mich raten, sie hieß Melanie?“
Bernd Rogenz öffnete nochmal die Akte: „Ja, Melanie Lehmann.“
„Ich glaube, ich erinnere mich an die Sache.“, sagte Stemmler und legte die Stirn in Falten. „Wir haben ihre Leiche nie gefunden, richtig?“
„Richtig.“, Rogenz legte die Akten beiseite. „Ihren Badeanzug haben wir Wochen später in einem Seitenarm des Flusses entdeckt, von ihr jedoch keine Spur. Ziemlich mysteriöses Ding, mir war schon damals nicht ganz klar, welche Rolle dieser Kerl dabei gespielt hat. Letzten Endes erschien es uns aber glaubhaft, daß er schwer in das Mädchen verliebt war und ihr niemals etwas angetan hätte. Und wie sollte ein 17-Jähriger auch ein perfektes Verbrechen ohne Leiche arrangieren. Es gab kein Motiv, keine Zeugen, vom Opfer keine Spur, ab zu den Akten.“
Harald Stemmler atmete tief durch. „Und heute, sieben Jahre nach der Geschichte, rennt Paul Lindenburg wie von der Tarantel gestochen durch die Stadt und erzählt uns, daß er von seiner toten Freundin verfolgt wird.“
„Schuldgefühle?“
„Ungewöhnlich spät und heftig, aber durchaus möglich. Wenn er schwimmen war, kann es durchaus einen Trigger gegeben haben für die Ereignisse von damals.“
„Einen Trigger?“, fragte Rogenz.
„Ein auslösender Effekt. Vielleicht hat er im Wasser oder im Schwimmbecken etwas gesehen, was ihn an den Tod seiner Freundin erinnert hat, so daß alles wieder hoch kam. Vielleicht eine andere Schwimmerin, die der Toten ähnlich sah?“
„Nein, er war alleine im Becken, wir haben den Bademeister gefragt.“
„Alleine im Freibad?“, fragte Stemmler.
„Ja, die beiden kannten sich, er durfte nach Badeschluß noch ein paar Bahnen schwimmen.“
„Sonst irgendwas Auffälliges im Freibad?“
„Nein. Eine Brackwasserspur am Beckenrand, der Bademeister meinte, es müsse von irgendwelchen Kids beim Spielen kommen, sonst nichts. Behalten wir ihn hier, Harald?“
„Schlägt er immer noch um sich?“
„Er ist etwas ruhiger geworden, aber läuft immer noch wie ein Tier in der Zelle auf und ab. Du bist der Polizeipsychologe, sollten wir ihn ins Klinikum bringen?“
„Nicht mehr um diese Zeit.“, Stengler sah auf die Uhr, auch sein Dienst hatte schon länger gedauert als geplant. „Wir behalten ihn die Nacht hier und sehen morgen weiter, vielleicht kriegen wir dann mehr aus ihm raus.“
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Die Enge der Zelle machte Paul wahnsinnig. Sie hatten ihn in eine Schutzhaftzelle gesperrt, es gab ein Bett, eine Toilette und ein Waschbecken. Eigentlich war er doch in Sicherheit, oder nicht? Was sollte ihm hier schon passieren? Was war überhaupt passiert? Paul legte sich hin und zwang sich, nachzudenken. Die Erinnerung an die Wassersäule war noch frisch und das Bild von Melanies verzerrten Gesichtszügen brannte vor seinem inneren Auge. Sie hatte ihn gefunden, jetzt, sieben Jahre nach ihrem Tod. War sie überhaupt tot? Es war doch nur Wasser gewesen, nur Wasser. Paul mußte sich zu dieser Erkenntnis zwingen. Nur Wasser. Hier konnte ihm nichts passieren. Und wenn mitten in der Nacht eine stinkende Wassersäule an die Tür des Reviers klatschte, dann würden sie schon sehen, daß er kein Spinner war. Die selbst eingeredete Sicherheit beruhigte Paul ein wenig, so daß sich sein Körper erfolgreich mit dringenderen Bedürfnissen melden konnte. Er stand auf und erleichterte sich an der Toilette. Das Waschbecken hatte keine Schraubhähne mehr, statt dessen gab es ein Sensorfeld. Er hielt die Hände unter den Hahn, wodurch mit einem Klicken der Wasserstrahl ausgelöst wurde. Die Berührung mit dem kalten Wasser jagte Panikwellen durch seinen Körper, blitzartig zuckte er zurück und flog mit einem lauten Krachen gegen das Bett. Da war Wasser, in seinem Zimmer! Überall, er hatte es verspritzt! Es kribbelte auf seiner Haut, überzog ihn mit seiner Nässe, er hatte keine Chance. Seine überreizte Psyche brach unter dem neuerlichen Druck zusammen, wild schreiend jagte er durch die Zelle.
„Ist Herr Stengler noch da?“, der wachhabende Polizist war leicht schnaufend im Büro des Reviers angekommen.
Bernd Rogenz sah von seinen Notizen auf und blickte ihn interessiert an.
„Nein, der ist eben nach Hause, wieso?“
„Der Kerl in Schutzhaft dreht gerade völlig durch, ich glaube der bringt sich selbst um, wenn er so weiter macht!“
„Wir kriegen jetzt keinen Transport mehr ins Klinikum organisiert. Haben wir Möglichkeiten, ihn ruhig zu stellen?“, Rogenz blickte den Kollegen an, auch wenn er die Frage als Vorgesetzter eher an sich selbst gestellt hatte.
„Handschellen?“, fragte der Polizist.
„Ich sehe mir die Sache mal an. Wenn gar nichts anderes geht…“
Rogenz folgte dem Polizisten in den Kellertrakt, wo sich die Zellen befanden. Er hörte bereits von weitem den tobenden Paul Lindenburg. Mit beiden Fäusten hämmerte er an die Tür.
„Lasst mich raus, sofort! Rauslassen!!“
Rogenz trat vor die Tür.
„Herr Lindenburg, beruhigen Sie sich bitte, sonst können wir Ihnen nicht helfen!“.
„Sie müssen mich rauslassen, hier drin kriegt sie mich, hier ist überall Wasser, bitte!“ Paul winselte fast, nur um kurz danach wieder mit den Fäusten gegen die Tür zu hämmern. „Raus, ich muss raus!!“
„Treten Sie von der Tür zurück, dann komme ich rein und wir schauen, wie wir Ihnen helfen können.“
Mehr aus Erschöpfung denn aus Vernunft taumelte Paul ein Stück von der Tür weg, so daß der Polizist mit leisem Knirschen die Tür öffnen konnte. Gerade als sie weit genug offen stand, um eintreten zu können, schnellte Paul wie eine Schlange nach vorne und rammte dem überraschten Rogenz den Kopf in den Bauch. Die Luft aus den Lungen gepresst, sackte dieser nach hinten auf den Boden des Gangs zusammen, aber bevor Paul sich aufrappeln konnte, bemerkte er den zweiten Polizisten. Ein kurzes Schlagen im Nacken, ein warmer Schmerz, der sich in seinem Hinterkopf ausdehnte, dann senkte sich entspannende Ruhe über seinen Geist.
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Endlich gab es eine Spur, der Botschafter meldete sich wieder. Der Strudel hatte sich an einem der Knotenpunkte des Röhrennetzes aufgehalten, hier kamen sehr viele Informationen sehr vieler Wesen vorbei, und irgendwann auch die seines Kontaktes. Warum der Botschafter die Kontaktaufnahme so schwierig gestaltete, wußte der Strudel nicht, aber dieses neuerliche Signal war ein eindeutiger Hinweis auf den Aufenthaltsort. Zielsicher strebte er der dünnen Fährte hinterher und verfolgte sie bis zu ihrem Ursprung. Am Ende der Röhre gab es ein Gefäß, indem der Strudel ganz vorsichtig auftauchte. Die beinahe völlige Dunkelheit stellte kein Problem dar für ein Wesen, das keine Augen hatte und Lichtimpulse nur als eine Information unter vielen gebrauchte. Die Duftspur war viel aufschlußreicher und zeigte den genauen Aufenthaltsort des Botschafters. Er bewegte sich kaum und sendete auch kaum Signale aus, offenbar war er jetzt bereit für die Kontaktaufnahme.
Mit endloser Ruhe brachte der Strudel sein Wasser aus der Leitung in Pauls Zelle. Ohne ein Geräusch näherte es sich dem in Ohnmacht Liegenden und berührte ihn mit einem dünnen Wasserfaden. Der Kontakt war hergestellt, und als keine Reaktion kam, bewegte sich der Strudel weiter auf Paul zu. Tropfen für Tropfen verteilte er sich erst auf den Beinen, dann auf Brust und Armen und schließlich auf dem Gesicht. Das Wissen über die Funktion dieser Wesen hatte dem Strudel mittlerweile klar gemacht, daß ihre Körper arbeitsteilig angelegt waren, daß jede Zelle eine bestimmte Aufgabe hatte und der Körper nur funktionierte, wenn alle Zellen intakt waren.
Paul erwachte und wußte, daß er dabei war, zu sterben. Er lag noch immer auf dem Bett in der Gefängniszelle, aber auf seinem ganzen Körper war Wasser. Nicht irgendein Wasser, keine zufällig verspritzte Flüssigkeit, sondern ein an zähen Schleim erinnerndes kompaktes Wasser, daß ihm jede Chance zur Bewegung oder gar Flucht nahm.
Aber das war jetzt egal.
Er wußte, daß Melanies Tod seine Schuld war. Er hätte sie damals auf dem Rückweg durch den See begleiten sollen. Teufel noch eins, er hätte ihr die Idee mit dem Durchschwimmen ausreden sollen! Sie war keine so gute Schwimmerin gewesen wie er, und selbst er hatte Probleme in dem ungemütlich kalten Wasser gehabt. Was jetzt kam, war seine Strafe, ihre Rache. Es war gerecht.
Der Botschafter sendete jetzt deutlich stärkere Signale, aber sie waren friedlicher Natur. Der Strudel sah dies als ein Zeichen an. Er hatte einen langen Weg hinter sich, und jetzt bestand hier die Chance, mit einem Wesen, das es bisher nur aus der Ferne beobachtet hatte, in engen Austausch zu treten. Wie sahen diese Wesen die Welt, in der sie beide lebten? Aber noch bestand das Problem, wie der Austausch gelingen sollte. Letzten Endes bot sich nur eine Möglichkeit an, denn immerhin bestanden diese Wesen ja zu einem Großteil aus Wasser, dem Element des Strudels. Und wer wirklichen Austausch wollte, mußte den Dingen auf den Grund gehen, egal was es kostet.
Zunächst spürte Paul nichts, aber dann merkte er, wie das Ding auf seinem Körper die Konsistenz veränderte. Nicht gleichmäßig, es hinderte ihn immer noch an der Bewegung, aber direkt auf seiner Haut spürte er tausende kleiner Nadeln, die sich in ihn bohrten. Dann ergoß sich ein Teil des Dings durch seinen Mund, die Nase und die Ohren in seinen Körper. Zuerst dachte Paul, er müsse ersticken, aber offenbar hatte das Ding andere Pläne, denn in die Lungen trat es nicht ein und gab nach einem kurzen Moment die Luftröhre frei, so daß sein Atemreflex weiter funktionieren konnte. Er spürte, wie das Wasser sich in seinem Körper verteilte, in alle Teile seines Verdauungsapparates und auch in Regionen eindrang, die eigentlich nicht über den Mund zugänglich sind. Seine Organe schienen unter dem zusätzlichen Druck fast zu platzen, aber er gab kein Geräusch von sich.
Gerade als Paul dachte, daß es vorbei war, setzte ein Schmerz ein, der schlimmer war als alles, was er jemals zuvor gespürt hatte. Als wenn jede einzelne Zelle aufgerissen und zerfetzt wird, bäumte sich sein ganzer Körper auf und krümmte sich unter dem unmenschlichen Schmerz. Wo eben noch nur das brackige Wasser des Strudels gewesen war, sammelte sich jetzt Wasser aus Pauls Körper, aus seinem Gewebe, seinen Zellen. Tropfen für Tropfen, Atom für Atom drang der Strudel in ihn ein und löste Pauls Existenz auf.
„Es tut mir leid.“, dachte Paul, erfüllt von merkwürdiger Gelassenheit, ehe sich endlose Stille über seinen Geist legte.
Tag der Veröffentlichung: 19.10.2011
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