Vorwort
Dieser erste Teil "SARAJEVO - Zuflucht im Nirgendwo" entspringt einem Schreibprojekt der einstigen Gruppe "Foyer de la Littèrature".
Er handelt von grenzenloser Liebe, Trennung, Verfolgung, Flucht und Verrat vor dem Hintergrund schrecklicher Geschehen während und nach dem serbisch-kroatischen Krieg der Ära Milosevic. Handlungsorte sind Kroatien und vorwiegend Sarajevo im heutigen Bosnien-Herzegowina.
Die Handlung bietet einige überraschende Wendungen und Aspekte, die nicht zuletzt der Phantasie und der Kreativität der am Projekt mitschreibenden Autoren zu verdanken sind.
Das Buch ist allen Autoren dieses ersten gemeinsamen Projektes der Gruppe "Foyer de la Littérature" gewidmet.
gez. Sina Katzlach & Lonelysetter
Einleitung
Maria schüttelte ihre langen, tizianroten Locken und drehte sich lasziv ihrem Spiegelbild zu. Ihre grünen Augen glitzerten geheimnisvoll und katzenhaft durch das dämmrige Licht des Abendrots, das sich im Fensterglas mit der untergehenden Sonne vermählte und einen gebündel- ten, warmen Glanz ins Zimmer warf. Sie hatte sich lange darauf vorbereitet, beinahe gewusst, dass dieser Tag kommen würde, an dem sich ausbezahlte, was sie mit viel Mühe und Not investiert hatte. Maria fragte sich, wie er wohl heute aussehen möge, nach all den langen Jahren des Fortbleibens, des Vermisstseins dort draußen, in der Wüste des Lebens. Sie hatte es kaum glauben können, dass er tatsächlich noch lebte. Doch nun hatte sie Hoffnung.
Was bliebe ihr, wenn sich diese Hoffnung, dieser Stroh- halm, an den sie sich klammerte, als trügerisch heraus- stellte? Würde sie je wieder an ihn glauben können? Sie mochte nicht daran denken. Jetzt, wo sie so lange schon gewartet hatte, sich endlos durch Träume gewühlt, überprüfte sie noch mal ihre Schönheit, deren Silhouette sich im zarten Saum der Dunkelheit in der Blüte ihrer Pracht zeigte.
"Nein", sagte sie sich, "ich werde mein Glück ergreifen, an mir führt kein Weg von ihm vorbei." Inbrünstig hoffte sie, dass seine Anwesenheit in der Heimatstadt nicht nur ein Gerücht sein würde. Eine Kontaktaufnahme ihrerseits war nach den bisherigen Vorkommnissen absolut undenkbar. Zudem befürchtete sie, ihn in Gefahr zu bringen. Ihr war nur allzu gut in Erinnerung, was geschah, bevor er verschwand. Sie wusste, sie stand nach seiner spektakulären Flucht immer noch unter polizeilicher Beobachtung. Eine Kontaktaufnahme ihrerseits könnte ihn ans Messer liefern.
Sollte sie es dennoch wagen? "Wie mag er heute wohl aussehen? Wird er sich mir zu erkennen geben?", fragte sie sich. Der bloße Gedanke, wieder in seinen Armen zu liegen, ließ ihr Herz rasen. Sie durfte jetzt auf keinen Fall den Kopf verlieren. Immer wieder hatte sie sich gefragt: „Warum ausgerechnet er, warum dieser Eine? Gab es nicht genug andere Auswahlmöglichkeiten?“
Ihr kam es vor, als hätte sie schon lange den Kopf verloren. Wie lange hoffte sie schon, endlich ihn, den Einen wieder zu sehen, der ihr damals viel zu nahe kam. Sie wusste, dass er in einer gefährlichen Situation schwebte. Man war ihm auf den Fersen..
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I. Eine Reise in Nichts…
Es wurde immer später, jetzt musste endlich etwas geschehen. Maria löschte das Licht und schob vorsichtig die Gardine des Fensters zur Straße beiseite. Da stand er wieder, wie alle Abende zuvor, der dunkelgraue Wagen, den sie schon seit Tagen in der Nebenstraße bemerkt hatte. Dieses Fahrzeug gehörte keinem der Nachbarn. Und wieder schien es ihr, als säßen zwei Leute in diesem Wagen, die ihr Haus beobachteten.
Also doch! - Sie wurde observiert. Plötzlich sah sie das Glimmen einer Zigarette im Fahrzeug. Die Angst kroch in ihr hoch. "Werde ich ihn jemals wieder sehen?", fragte sie sich.
Als Maria sich im Spiegel betrachtete und versuchte, künstlich ihr Lächeln zu trainieren, kam es ihr wie eine Maske vor, unter der sie ihre wahren Absichten und Wünsche verborgen hielt. Sie schaute immer wieder in den Spiegel und fragte sich, ob es nicht einen Ort gäbe, wohin man gemeinsam fliehen könne. Weg aus dieser Scheiße, doch wohin? Nein, Flucht mitten in der Nacht, das hatte keinen Sinn, das machte sie nur verdächtig.
Nun, sie wurde beschattet - und die, die sie beobachteten, wussten genau, dass auch sie es wusste. "Warum ...", überlegte sie, "... sollte ich in dieser grauslich kalten Nacht nicht zu ihnen ans Auto gehen und fragen, ob ich eine Tasse heißen Tee anbieten kann?" So gäbe es die Chance, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. "Die beiden wissen mit Sicherheit mehr als ich“, dachte sich Maria, „vielleicht kann ich ja von ihnen Neues erfahren, zumindest irgendeine Andeutung, warum ich noch immer täglich beobachtet werde." Sie rief sich zur Ordnung und versuchte, ihre Gedanken wieder in geregelte Bahnen zu bringen. In der jetzigen Situation hatten irreale Gefühle rein gar nichts zu suchen.
Genau genommen wusste sie nicht einmal, ob sie nicht eher Grund zur Wut haben sollte, statt sehnsüchtig auf einen zu warten, von dem sie sich schnöde verraten fühlte. Die Liebe zu ihm war hingegen stärker, und dies wusste sie nur allzu gut.
Nichtsdestotrotz: Es galt, einen kühlen Kopf zu bewahren. Ansonsten sah sie ihn schon über den nassen Asphalt der Straße unter ihr rollen. Plötzlich hörte sie das Signal des Martinhorns eines schnell näher kommenden Krankenwagens. Sie schob wieder vorsichtig die Gardine zur Seite und sah, dass er vor ihrem Haus hielt. Zwei Männer in weißen Kitteln holten eine Trage aus dem Laderaum und kamen auf ihre Haustür zu.
Es schellte... Ging-Gong - Ging-Gong!!!
Ihr blieb fast das Herz stehen. Maria fragte sich, was dies zu bedeuten habe. Mit ihr war alles in Ordnung, was wollten die Sanitäter denn ausgerechnet von ihr? Vermutlich war es ein Irrtum, möglicherweise war ihre ältere Nachbarin wieder einmal im Vollrausch zusammen- gebrochen. Mit Alkohol hatte diese sonst weniger Probleme - dafür aber ohne… Während Maria noch unentschlossen auf die Tür starrte, schellte es erneut. Ihr war nicht wohl; sie zitterte am ganzen Körper. "Vielleicht ist es doch ein Notfall von nebenan", redete Maria sich ein. "Mag sein, dass sie nicht im Stande ist, selbst zu öffnen."
Bange Sekunden… doch dann fasste Maria sich ein Herz und drückte kurz entschlossen den Türöffner. Sie hörte ein Poltern gegen die Tür, löste die Sicherheitskette - und schon standen die beiden Sanitäter vor ihr. Den unteren Teil ihrer Gesichter hielten sie mit berufstypischen Atemschutzmasken bedeckt. Der offensichtlich Ältere schnarrte sie an: "Schnell, schnell, Sie müssen sofort mitkommen! Packen Sie nur Ihre persönlichen Papiere ein, nichts weiter! Und vergessen Sie Ihren Reisepass nicht!"
"Reisepass?", ihr stockte beinahe das Herz. Hatte sie richtig gehört? Weshalb sollte ein Sanitäter von ihr einen Reisepass wollen? Spätestens in diesem Moment ahnte Maria, dass sie die Tür besser nicht geöffnet hätte. "Schnell, schnell, wir müssen weg!" drängte der Ältere wieder. Völlig verstört und ängstlich, mit zitternden Händen, kam Maria dann der Aufforderung nach, griff ihre Dokumente aus dem Sideboard und wollte die Papiere übergeben. Sie kam nicht mehr dazu, denn in diesem Moment wurde sie nach hinten gerissen - ein stechend - ätzender Geruch bohrte sich in ihre Atemwege - und sie verlor das Bewusstsein.
Eine Ewigkeit später, wie es Maria schien, erwachte sie in einem dämmrigen, schlauchförmig wirkenden Gebäude mit einem kuppelförmigen Glasdach. Über ihr stachen gleißend Sonnenstrahlen durch das schmutzige Fenster- glas und blendeten sie durch die noch halb geschlossenen Lider. Eine Woge der Übelkeit kam in ihr hoch, und sie konnte soeben noch vermeiden, sich zu übergeben. "Wo bin ich?", fragte sie sich und fühlte die Panik in hohen Wogen in sich aufsteigen. Was war geschehen? Schwach konnte sie sich an die beiden weiß gekleideten Männer erinnern - dann an nichts mehr... Maria bemerkte, dass sie auf einer Trage lag, wollte in Panik aufstehen, war jedoch unfähig, sich zu bewegen. Wurde sie betäubt und ver- schleppt? Steckte die Polizei dahinter, die sie ständig observiert hatte - oder gar Marlon, ihr Freund? Ihr kam es vor, als hörte sie Turbinengeräusche von Flugzeugen oder Hubschraubern. Befand sie sich hier vielleicht in einer Flugzeughalle? Wirre Gedanken - zwischen Visionen und Realität – schossen ihr durch den Kopf… Der Drang zur Flucht wuchs mehr und mehr in ihr. Sie musste nur raus hier, die Halle unbemerkt verlassen können und sich klamm- heimlich zu ihren vermuteten Observierern schleichen. Wie dies allerdings gehen sollte, war ihr ein Rätsel. Sie gemahnte sich zur Ruhe und versuchte nochmals sich zu erheben. Mit angstgeweiteten Augen bemerkte sie dann, dass sie mit Lederriemen auf der Trage festgeschnallt war. Noch völlig benommen kam es ihr vor, als hörte sie eine Polizeisirene.
"Schnell, schnell", dann eine Stimme: "bringen wir sie zu ihm!" Starr vor Schreck sah Maria, dass sich ein Mann mit einer dunklen Strumpfmaske zu ihr hinunter beugte, ihr den linken Ärmel des T-Shirts hochschob - und ihr eine Spritze in den Arm setzte. Sie wollte schreien, bekam jedoch keinen Ton mehr heraus; ihr wurde heiß im Kopf - und dann wurde es dunkel um sie. Dass ihr schwarz vor Augen wurde, lag nicht nur an der Betäubungsspritze, sondern auch daran, dass fast im gleichen Augenblick die Trafostation beschossen wurde, die die ganze Gegend mit Strom versorgte und eine weitere Granate in der Halle explodierte, in der Maria lag. Von diesem Terroranschlag, auf ein ausgerechnet an diesem Tage in dieser Halle zum Weitertransport zwischengelagertes militärisches Munitionskontingent, erfuhr Maria aber erst viel später, als sie ihr rot gelocktes Haar vermisste und ihre Augen jeden Glanz verloren hatten.
Nicht ahnend, was passiert und wie viel Zeit vergangen war, erwachte Maria aus ihrer Ohnmacht durch ein monotones "Flap-Flap-Flap-Flap-Flap", was sie zunächst nicht zuordnen konnte. Sie wollte sich nach vorn erheben, wurde aber sofort wieder zurückgedrückt und verspürte dabei unsägliche Schmerzen am ganzen Körper, über dem eine silberne Decke lag. Ihr rechter Arm schaute unter der Decke hervor - mit Verbänden umwickelt. Ein Schreck durchfuhr sie. Wo war sie hier? Was war passiert? Und immer wieder dieses monotone "Flap-Flap-Flap-Flap-Flap". Neben ihr saß schweigend ein Mann mit Fliegerhelm, der sie sofort wieder sanft auf die Trage niederdrückte, sowie sie versuchte, sich zu erheben. Krampfhaft versuchte Maria, das mit Falten übersäte, verhärmte Gesicht, das sich ihr etwas abwandte, unter dem Helm zu erkennen. Irgendetwas an ihm rief eine Erinnerung in ihr hervor, die ihr Herz selbst in dieser bizarren Situation zum Rasen brachte. Intuitiv spürte sie, dass er es gut mit ihr meinte. Sanft und beruhigend strichen seine Hände über ihre Wange. ... Wer war er?
Es schüttelte und rüttelte plötzlich; und wieder das monotone "Flap-Flap-Flap-Flap-Flap…" - leicht änderte sich der Ton. Und dann dieser Fliegerhelm. Wie sollte sie das deuten? Wer war dieser Mann? Dann war ihr klar, sie wurde in einem Hubschrauber transportiert. Aber wohin? "Halte dich ganz ruhig, du bist schwer verletzt, wir fliegen dich in eine Klinik" - hörte sie eine beruhigende Stimme. Bevor sie fragen konnte, wurden die Schmerzen plötzlich wieder stärker - und sie verlor erneut das Bewusstsein.
II. Sarajevo - Stadt der Hoffnung
Im Schein der aufgehenden Sonne kamen am Horizont schemenhaft die Umrisse einer Stadt in Sicht. Im Näher kommen sah man schon vereinzelt die Spitzen der Minarette von Moscheen: S a r a j e v o ! Teilweise noch Trümmerlandschaften; nur wenige Gebäude hatten den Krieg überstanden; teilweise waren schon wieder neu erstandene Hochhäuser und Glaspaläste zu sehen.
Die Rotorgeräusche des Hubschraubers wurden lauter – und langsamer. Im Sinkflug steuerte er ein U-förmiges, offenbar vom Krieg verschontes Gebäude mit einem roten Kreuz auf dem Dach an, blieb zunächst darüber stehen – und setzte dann auf dem Scheitelpunkt des Kreuzes ab. Kaum schwieg der Motor und die Rotorblätter standen, wurde die Tür aufgerissen.
Am Hubschrauber standen vier Sanitäter und offenbar ein Arzt, die gemeinsam mit der Besatzung des Hubschraubers die Trage mit der noch bewusstlosen Maria vorsichtig auf einen Transportwagen schoben – und dann damit eiligst über das Dach in Richtung Aufzug liefen. „Sofort in den OP“, rief der Arzt ihnen nach, "ich komme sofort!" Noch war er im Gespräch mit Marias Flugbegleiter im Flieger- helm. "Wird sie durchkommen?", fragte dieser besorgt. Er, Marlon, verfluchte sich selbst, dass er die Frau, die er vor vielen Jahren verließ, um sie aus der Schusszone zu halten, dennoch wieder in Gefahr gebracht hatte. Er rückte seinen Helm etwas in den Nacken und sah dem Arzt bang und dennoch fest in die Augen.
"Wir tun unser Bestes", antwortete der Arzt bereits ungeduldig, "ich muss jetzt dringend in den OP! - Ach ja, wie hieß die Dame noch?" "Mara Stefani", antwortete Marlon, "wie ich schon per Funk sagte, sind ihre Papiere bei der Explosion mit verbrannt. Ich werde mich sofort um neue kümmern und sie bringen!". "Die Klinikkosten übernehme ich auch", rief Marlon dem bereits davoneilenden Arzt noch nach. Es schien, als habe er diesen Arzt gekannt.
Mit seinen Gedanken war Marlon aber schon wieder bei Maria, als er schnell in den schon startbereiten Helikop- ter sprang. Die Flugsicherung, bei der dieser Flug über Sarajewo nicht angemeldet war, würde bereits nach ihnen fahnden. „Flieg so tief wie möglich“, wies Marlon den Piloten an, „damit uns das Radar nicht erfasst.“
Seine Gedanken schweiften während des Fluges wieder ab zu Maria, deren beinahe für sie tödlich verlaufene Entführung er zu verantworten hatte. Er konnte es nicht mehr ertragen, wie Maria unter seiner Schuld litt, welchem Druck sie ständig durch die Überwachung durch Polizei und Staatschutz ausgesetzt war, weil sie jede Aussage über die schrecklichen Geschehnisse von damals verweigerte. Und dies nur, um ihn zu schützen. Sie musste ihn wahnsin- nig lieben, um dies alles durchzustehen.
Er dachte seit dem schweren Abschied vor langer Zeit täglich an sie. Das Getrenntsein von ihr konnte er nun nicht mehr länger ertragen – er musste sie zu sich holen! Die Aktion mit dem Krankenwagen, um sie aus dem von der Polizei überwachten Haus zu holen, hatte ja auch geklappt. Aber wer hätte damit gerechnet, dass ausge- rechnet zu der Zeit, als Maria auf den Hubschrauber wartete, die Flugzeughalle auf dem kleinen Feldflughafen von NATO-Gegnern mit Raketen beschossen wurde. Und dass ausgerechnet in dieser Halle Munition gelagert war, die explodierte. Im allerletzten Moment, bevor die Halle komplett in die Luft flog, konnte er Maria, seine Allerlieb- ste, noch aus dem Feuer retten. Aber um welchen Preis? Was hatte er Maria angetan? Sie hatte die Flammenhölle durchlebt und schlimmste Verbrennungen davongetragen. Sie rang in dieser Minute mit dem Tod. In seinen müden Augen standen Tränen.
Was war damals geschehen, noch bevor die gedachten Grenzen zwischen Serbien und Kroatien von Heckenschüt- zen trotz Waffenstillstands besetzt worden waren? Marlons Rückblende bot ihm keine erfreulichen Bilder. Er hatte einer Spezialeinheit angehört und war auf Milosevic angesetzt gewesen.
In dieser Zeit hatte Marlon auch Maria kennen gelernt, sich Hals über Kopf in sie verliebt und war auf Gegenliebe gestoßen. Nach dem misslungenen Anschlag auf Milosevic, bei dem er seine Geliebte Maria als Lockvogel eingesetzt hatte und bei dem Maria durch eine schlimme Fügung des Schicksals gefangen genommen wurde, versprachen sich die Schergen um einen der schlimmsten Diktatoren jener Zeit leichtes Spiel – und hielten sie als Druckmittel fest, um auch ihn, den Drahtzieher des Anschlags, in die Hand zu bekommen. Selbst den grausamsten Verhör- und Foltermethoden der Serben hielt Maria stand und blieb stumm.
Ruhig und voll konzentriert, mit Schweißperlen auf der Stirn, die hin und wieder während des Instrumentierens von einer der OP-Schwestern abgewischt wurden, versuchte der Arzt, Dr. Vladic, das Leben von Mara Stefani zu retten. Nach mehreren Stunden war das Schlimmste geschafft, und sie befand sich, wenn nicht Unvorhergese- henes dazwischen kam, außer Lebensgefahr. Es hatte sich gezeigt, dass die Folgen der Verbrennung zwar fürchter- lich aussahen, aber nicht so gefährlich waren, wie die Folgen offensichtlicher physischer Folterungen, die ihm auffielen.
Von all den Geschehnissen, die sich in der leicht maroden Klinik von Sarajevo abspielten, wusste Marlon nichts. Vor seinen Augen hatte er noch immer das Bildnis, wie sie da vor ihm lag, mit schwersten Verbrennungen und abge- sengtem Haar. Ihre wunderschönen langen Haare, wie hatte er sie geliebt… Sie hatten ihn oft genug wie ein roter Schleier umgeben, während sich seine große Liebe an seine Brust schmiegte. Zehn Jahre war es nun her, als er sie das letzte Mal in den Armen hielt.
Wie durch Watte hörte Maria ein gleichmäßiges Tut-Tut- Tut-Tut-Tut..... - und dabei das Klappern von Werkzeug? Oder waren es Instrumente? Sie öffnete vorsichtig ihre Augen, sie schmerzten. Kaltes Neonlicht strahlte ihr von der Decke entgegen. Wo war sie hier? Wie war sie hierher gekommen? Offenbar lag sie in einem Bett. Sie wollte ihren Arm heben, aber es ging nicht, er war schwer wie Blei. Am Körper spürte sie Verbände, sah Schläuche und Kanülen…; neben sich irgendwelche Apparate…
Da fasste sie jemand an den Arm. Mit viel Mühe drehte Maria vorsichtig ihren Kopf zur Seite - und sah eine Krankenschwester an ihrem Bett. "Frau Stefani..., Frau Stefani..., hören sie mich?" klang wie von Ferne eine ihr unbekannte Stimme. "Sie haben es geschafft, die Operation ist gut verlaufen. Sie sind hier auf der Intensivstation!" "Frau Stefani? - Wer war das? War etwa sie gemeint?" - fragte sich Maria. "Draußen wartet schon seit einiger Zeit ein Herr auf sie. Ich glaube, es ist ihr Mann! - Ich lasse ihn mal herein, aber bitte nur ganz kurz! Danach kommt der Arzt noch zu ihnen“, hörte sie noch ganz benommen die Stimme der wieder davoneilenden Schwester.
Ein etwa 1.75 Meter großer Mann trat ein. Er trug Zivil - Blue Jeans, weißes T-Shirt und schwarze Sandalen an den nackten Füßen. Er kniete sich vor das Nachbarbett zu einer anderen Frau herunter, damit sie den Kopf nicht anheben musste, und flüsterte mit Tränen in den Augen: "Vesna, ich bin ja so froh, dass ich Dich lebend wiedergefunden habe. Erkennst Du mich, meine Stimme?" Ein Strahlen ging über das Gesicht der Frau und sie versuchte, sich aufzurichten. "Nicht doch, bleib ruhig liegen, Du bist schwer verletzt und brauchst viel Ruhe." Vesna hatte Gregor sofort erkannt, als er zur Tür herein kam. Keine halbe Stunde waren sie verheiratet, als sie von Uniformierten abgeholt wurde.
Vesna hatte so viele Fragen, doch sie merkte selbst, dass das Sprechen noch gar nicht möglich war - und aufschrei- ben konnte sie auch noch nichts, dazu waren ihre Arme viel zu schwer und zu schmerzhaft.
Enttäuscht folgte Maria mit ihren Augen der männlichen Gestalt, die sich über die junge Frau im Nachbarbett beugte. Vesna war vor zwei Wochen bei einem Autounfall schwer verletzt worden, und sie hatte bis vor sieben Tagen im Koma gelegen. Bis dato war Vesna allein auf der Station, doch seit Marias Aufwachen lagen sie nun gemeinsam auf der Intensiv-Station, in Vorbereitung darauf, in ein normales Zwei-Bett-Zimmer verlegt zu werden.
Aber hatte die Krankenschwester nicht Maria angespro- chen? Wer war denn dieser Mann im Flur gewesen, der sich als ihr Ehemann ausgab? Sie hatte plötzlich unbändige Angst… und das Gefühl, dass ihr das Herz zerspringt.
Maria war wie erstarrt, als sich dann nochmals die Tür aufschob und ein großer Mann im stationseigenen grünen Kittel neben ihr Bett trat, sich zu ihr hinab beugte und sie leidenschaftlich auf den Mund küsste. Dabei sah sie seine braunen, liebevollen, aber auch tränengefüllten Augen; solche Augen hatte nur ein Mann auf der Welt... - Marlon! Sehr müde und gealtert sah er aus...
Bevor er etwas sagen konnte, schlug das Überwachungs- gerät über Marias Bett grell Alarm. "Herr Stefani, sie müssen leider jetzt gehen, es ist noch zu anstrengend für ihre Frau!", hörte sie die Schwester. "Nein, Nein, Nein... bitte noch nicht!", schrie Maria mit letzter Kraft und sich fast überschlagender Stimme. Beruhigend strich Marlon der Frau, die er trotz jahrelanger Abwesenheit noch immer liebte, über die Wange. "Du solltest nicht sprechen, Maria“, flüsterte er ihr leise aber eindringlich ins Ohr. „Sorge Dich nicht und werde schnell gesund. Ich werde Dich besuchen, so oft ich kann. Und - Maria! Hör mir jetzt bitte gut zu - und stelle keine Fragen: Ich werde immer noch verfolgt – wenn man mich findet, wird man mich töten. Du hattest einen schweren Unfall und liegst jetzt hier in Sarajevo in der Klinik. Hier bist du sicher und wirst gut versorgt. Niemand kennt dich…
Ich kann Dir nicht zeigen, wie sehr ich dich liebe und wie oft ich mich nach dir gesehnt habe! Sobald es geht, werde ich dich zu mir holen. Ich lebe hier mit einer anderen Identität, die niemand kennt. Zu Deiner Sicherheit habe ich dich hier unter dem Namen MARA STEFANI eingeliefert und als meine Frau ausgegeben. Deine Papiere sind beim Unfall verbrannt. Merke dir deinen Namen 'MARA STEFANI' gut! Reagiere auf keinen anderen Namen! Falls du ihn mal vergessen solltest, schau auf die Rückseite des Covers dieses Romans 'Liebe kennt keine Grenzen'
. Ich habe dir deinen Namen dort hinein geschrieben. Das Buch ist unauffällig. Ich lege es jetzt in deine Nachtkonsole. Sollte Dich aber jemand nach Weiterem fragen, Wohnung, Herkunft oder ähnlichem, täusche einfach Gedächtnis- schwund vor. Das kann nach einem Unfall vorkommen. Der Roman, in dem Dein Name vermerkt ist, sollte immer bei dir sein, egal was passiert!
Wenn es ernste Probleme gibt, aber nur dann, halte dich an Oberarzt Dr. Vladic, er ist so etwas wie ein Freund von mir."
"Die Schwester schaut schon böse – ich muss jetzt gehen!" Marlon legte das Buch in die Konsole, wandte sich noch einmal an die leise schluchzende Maria: „Weine nicht, mein Herz - und denke immer daran – ich liebe dich, so wie Du bist – und ich bin immer in Deiner Nähe!"
Bevor Maria noch etwas sagen konnte, erstickte ihr Marlon mit einem leidenschaftlichen Kuss ihre Worte - und ging ohne ein Adieu. "Bring mir das nächste Mal bitte einen Spiegel mit..." rief Maria ihm mit tränenerstickter Stimme noch nach, aber Marlon war schon gegangen.
“Dr. Vladic macht gerade Visite“, sagte man Marlon, als er am Arztzimmer anklopfte. Während er auf ihn wartete, dachte er an die gemeinsame Studentenzeit mit Mirco Vladic, wie sich ihre Wege vor 19 Jahren trennten und sich sein Leben damals dramatisch veränderte.
Während sein ehemaliger Kommilitone, Zimmergenosse und Freund Mirco sein Medizinstudium abschloss, promo- vierte und – sicher nur mit Unterstützung seines recht begüterten Vaters – heute auch diese Stelle als Oberarzt in einer der modernsten und größten Kliniken Bosnien- Herzegowinas innehatte, hatte er, Marlon, nichts – gar nichts...
Er war ein Nobody, ein Gejagter, der sich nirgendwo mehr sicher fühlte. Die Häscher, ehemalige Getreue Milosevics, die immer noch davon träumten, das ganze alte Jugosla- wien zu einem Großserbien zu vereinen, ließen auch heute, nach Milosevics Tod, nicht locker. Sie wollten Rache für den missglückten Anschlag auf ihren Präsidenten, bei dem sechs ihrer Kameraden der Leibgarde und zwei serbische Frauen und drei Kinder, die zufällig in der Nähe waren, zu Tode kamen. In keinem Balkanstaat war er mehr sicher vor seinen Häschern, und dies schon seit fast 15 Jahren. Auch die Polizei hatte ihn auf der Liste, da bei dem Anschlag auch Zivilisten getötet wurden. Nur seine große Liebe zu Maria, die jetzt durch seine Schuld so schwer verletzt wurde, war ihm geblieben.
Wie kam es dazu: Marlon hatte sich im September 1991, zwei Jahre nach dem Berliner Mauerfall, während der Semesterferien eine Auszeit genommen. Er war nach Berlin gefahren, um sich die neue deutsche Hauptstadt anzuse- hen und sich einen schon lange gehegten Wunsch zu erfüllen, den Besuch der Berliner Charité. Hier hatte schon sein großes medizinisches Vorbild, Professor Sauerbruch, gewirkt.
Aber es kam ganz anders: Er war knapp vier Tage in Berlin, da hörte er abends im Hotel in den Nachrichten von den ethnischen Säuberungen und den furchtbaren Massakern durch die Jugoslawische Volksarmee und durch serbische Freischärler in Vukovar, ganz in der Nähe seines Heimat- dorfes. Zigtausende Kroaten waren auf der Flucht.In großer Sorge um seine Eltern verließ er noch in der Nacht Berlin.
Sein Herz schlug höher, als er sein kleines kroatisches Dorf erreichte. Die Beschädigung einzelner Häuser und die Stille im Dorf ließen ihn nichts Gutes ahnen. Dann aber, als er das alte Bauernhaus seiner Eltern unversehrt erblickte, fasste er wieder Hoffnung.
Diese Hoffnung fand dann aber ein jähes Ende, als er die halb geöffnete Haustür seines Elternhauses aufstieß und den Flur betrat… Da lagen sie… übereinander, wie hingeworfen … Vater und Mutter. Die Wände blutbespritzt, Blutlachen auf dem Boden... Man hatte ihnen die Kehle durchschnitten. Ihm wurde speiübel… Ein furchtbarer Anblick, der Marlon seitdem Tag und Nacht begleitete.
Marlons Leben veränderte sich an jenem Tag. Er hatte nur noch ein Ziel vor Augen, die Täter und den Verantwort- lichen für diese Gräueltaten zur Rechenschaft zu ziehen: Milosevic, den Führer dieser serbischen Horden!
Während seines Militärdienstes in Kroatien hatte Marlon eine Ausbildung zum Sniper, einem Einzelkämpfer und Präzisionsschützen, durchlaufen. Allein beseelt von seinen Rachegedanken und ohne an sein weiteres Leben zu denken, brach er nun sein Studium ab und meldete sich wieder bei seiner ehemaligen Sniper-Einheit. Dort brauchte man jetzt jeden Mann für den Kampf gegen die Jugoslawische Volksarmee und die serbischen Freischär- lertruppen, die seine Eltern so grausam getötet hatten…
Noch ganz in Gedanken versunken, legte ihm plötzlich jemand die Hand auf die Schulter. Erschreckt sprang Marlon hoch… Mirco Vladic stand vor ihm.
„Mara ist über den Berg.", sagte Marlons langjähriger Freund, der ihm stets loyal zur Seite gestanden hatte, mit betont ruhiger Stimme. "Sie hat Verbrennungen dritten Grades. Es ist aber eine Frage der Zeit, wann man sie oder dich hier in der Klinik erkennt. Mara sollte schnellstmög- lich an einen sicheren Ort gebracht werden. Hier in der Klinik schwebt ihr beide in Lebensgefahr, denn dem Klinikpersonal kann man nicht trauen!"
Andererseits, meinte Mirco, könne er aber derzeit aus ärztlicher Sicht eine Entlassung nicht verantworten, da die geschädigte Unterhaut im oberen Körperbereich Maras noch dringend der stationären Behandlung bedürfe. Die leicht verbrannte Kopfhaut sei weniger das Problem, hier reiche eine Salbenbehandlung. Auf Marlons Frage, wann er Mara holen könne, rechnete Mirco noch mit etwa drei Wochen, falls Marlon die notwendige Nachsorge sicher- stelle.
Man sah Marlon seine Verzweiflung an. Was sollte er machen? Nehme er Maria jetzt mit, bedeutete das für sie den sicheren Tod, da ihre schweren Verbrennungen durch ihn nicht weiterbehandelt werden könnten. Aber drei weitere Wochen Angst, dass man Maria finden könnte - um sie dann wieder als Faustpfand zu benutzen, um dann auch seiner habhaft zu werden? Ähnliches hatte er erlebt – und wollte das nicht ein zweites Mal mitmachen. Aber - wie sollte es weitergehen?
Mirco nahm ihm die Entscheidung ab und schlug vor, Mara vorerst in ein Einbettzimmer seiner Infektions-Station verlegen zu lassen. Damit hätte nur er und seine Stations- schwestern, denen er absolut vertraute, Zutritt. Falls Marlon sie besuchen wolle, könne er den Schlüssel bei der Stationsschwester holen. Aber – in drei Wochen müsse Marlon eine andere Lösung gefunden haben, da er dann nicht länger mehr für Maras Sicherheit garantieren könne.
Marlon blieb nichts anderes übrig, als diesen Vorschlag anzunehmen. Konnte er Mirco Vladic vertrauen? Er musste ihm vertrauen! Was sollte er sonst machen? Er war schließlich mal sein Freund… er war Kroate wie er selbst… - und würde ihn sicher nicht verraten!
„Weiß Mara um ihren Zustand?" fragte Marlon besorgt. „Nein, Nein…" meinte Mirco bereits auf die Uhr sehend, "ich werde es ihr jetzt gleich bei der Visite sagen müssen.“ „Ich möchte aber dabei sein, Mirco!" bat Marlon mit Entschlos- senheit in den Augen. Dr. Vladic kannte diesen Blick noch aus früherer Zeit, nickte nur kurz - und Marlon folgte ihm schweigend auf die Isolierstation.
Als Maria, die jedes Gefühl für Zeit verloren hatte, Marlon wieder sah, er sich zu ihr hinunter beugte, um sie zu küssen und sie wie früher ihre Arme um seinen Hals legen wollte, wurde sie schmerzhaft daran erinnert, dass ihre Arme schwer und bandagiert waren. "Was ist mit meinen Haaren – hast Du mir einen Spiegel mitgebracht?" fragte Maria ängstlich, nachdem Marlon ihren Kopf wieder vorsichtig auf das Kissen zurückgelegt hatte. „Nein, nein…, meine Liebste, du hattest einen schweren Unfall – und dabei Verletzungen erlitten. Dr. Vladic, dein behandelnder Arzt, möchte dir dazu etwas sagen", flüsterte Marlon mit zitternder Stimme.
Marias Blick wurde ängstlich, ihre feuchten Augen weiteten sich, dann erblickte sie den hageren Mann im weißen Kittel neben Marlon, den sie bisher noch nicht wahrgenommen hatte.
"Mara, sie haben Verbrennungen an den Armen und am Oberkörper, die zum Teil sehr tief sind und stark nässen - und die noch für etwa drei Wochen unserer stationären Behandlung bedürfen. Dann sind sie soweit wieder auf den Beinen, dass ihr Mann sie nach Hause holen kann". „Nach Hause?“, ging es Maria durch den Kopf, „Wo ist mein Zuhause?“ fragte sie sich still und weinte leise. "Und das mit ihren Haaren…", begann Dr. Vladic - nach einem kurzen Moment des Schweigens erneut, wurde aber sofort durch den Aufschrei Marias: „Was ist mit meinen Haaren?“ unterbrochen. „Sie sind leider mit verbrannt, die Kopfhaut ist etwas angegriffen und wird jetzt mit Salbe behandelt. Machen sie sich aber keine Sorgen, die Haare wachsen schnell wieder nach, es hätte viel schlimmer ausgehen können!", beruhigte Dr. Vladic Maria.
Marlon hatte Maria in den Arm genommen und drückte sie an sich. Sie schluchzte. "Hör` auf zu weinen, mein Liebes", raunte Marlon der Liebe seines Lebens ins Ohr. "Sobald es deine Gesundheit zulässt, werden wir gemeinsam das Land verlassen." Sanft strich er über ihre bandagierten Arme, bemüht, ihr keinen Schmerz zuzufügen. Hilflos sah er seinen Freund, Dr. Mirco Vladic an - und bemerkte flüchtig die neugierigen Blicke vom Nachbarbett aus. Er unterdrückte mit Müh und Not einen Fluch, den er um ein Haar zwischen den Zähnen hervor gezischt hätte. Sie waren unvorsichtig gewesen.
Dr. Vladic hatte Marlons Nervosität bemerkt und versprach ihm nochmals leise die sofortige Verlegung Maras auf die Isolierstation. „Verlasse dich darauf, du bist hier in sicheren Händen“, flüsterte Marlon Maria noch zu „ich komme bald wieder“, küsste sie flüchtig – und verließ, ohne sich noch einmal umzusehen, schnell die Station. Mirco, der ihm nachgeeilt war, hörte nur noch Marlons Stimme: „Ich muss schnell weg, Maras Papiere bringe ich Dir, sobald ich sie habe“. Dann schloss sich auch schon die Tür des Aufzuges, der Marlon zum Ausgang bringen sollte.
III. Die Schatten der Vergangenheit
Etwas verwundert über diese Eile, aber ohne, dass man darüber gesprochen hatte, spürte Mirco Vladic die Gefahr, in der Marlon schwebte… und in die er möglicherweise durch die Aufnahme von Mara jetzt auch hineingezogen würde.
Er erinnerte sich wieder an die Pressemeldungen in der Hochphase des serbischen Eroberungskrieges über das gescheiterte Attentat auf Milosevic. Einige Menschen kamen dabei ums Leben; besonders aber erinnerte er sich wieder an die Bilder und Steckbriefe, die fast an jeder Ecke balkanweit auf ihn herabsahen… - Bilder, auf denen er Marlon, seinen Freund und damals oft rebellischen Kommilitonen, erkannt hatte. ER sollte der Attentäter gewesen sein! Mirco hatte es damals nicht glauben wollen. Aber jetzt? Mirco kamen plötzlich Zweifel. Marlon hatte sich verändert, aber NEIN! So kannte er Marlon nicht, Marlon war kein Mörder! Nein!
Seine vermutliche Komplizin war damals von Milosevics Leibgarde gefasst worden. Sie hatte den hellblauen Truck gefahren, der sich in der Nähe des Belgrader Flughafens hinter einer nicht einsehbaren Kurve quer zu Milosevics Fahrzeugkolonne stellte um sie zu stoppen. Ihr Geliebter und seine vermutlichen Helfer hatten so aus einer Hausruine heraus freies Schussfeld auf die Kolonne. Nach einer spektakulären Flucht aus der Haft war diese Frau nie wieder aufgetaucht.
Offenbar wurde die Akte von Marlon und seiner Komplizin auch nach Milosevics Freitod in Den Haag durch den neuen Belgrader Strafgerichtshof für Kriegsverbrecher-Angele- genheiten nicht geschlossen, da der Tod unschuldiger Zivilpersonen, die sich zufällig am Ort des Anschlags aufhielten, immer noch nicht gesühnt war. Und wieder wurde dieser Anschlag durch die Presse der neuen Balkanstaaten, die jetzt wieder friedlich zusammen- arbeiteten, aufgegriffen… und wieder erschienen die alten Bilder von Marlon und seiner ebenfalls noch flüchtigen Komplizin.
Mircos Gedanken überschlugen sich plötzlich. War diese Komplizin etwa Mara, die schwer verletzte Frau, die Marlon ihm unter so geheimnisvollen Umständen gebracht hatte... und die jetzt auf seiner Station lag? Die Frau auf den Bildern hatte langes, dunkles Haar. Er verglich Mara in Gedanken mit den Bildern und versuchte sie sich mit langem Haar vorzustellen. Ja! Die Ähnlichkeit war frappierend. Die Vernarbungen an ihrem Körper… Folgen von Folterungen? Er hatte es vermutet! - Es gab keinen Zweifel… Ja! Das konnte nur Marlons ehemalige Komplizin sein! Innerlich sträubte sich wieder alles in ihm bei dem Gedanken, dass sein langjähriger Freund ein Terrorist sein sollte, der auch nicht davor zurück schreckte, unschuldige Zivilisten zu töten. Einst waren Marlon und Mirko unzertrennlich gewesen. Beide hatten sie auf ihre Art gegen das grausame Regiment Milosevics gekämpft. Zugegeben, jeder auf seine Weise und nach seinen Möglichkeiten, doch immerhin...
Marlon spürte Gefahr. Er hatte sich, als er sich in den letzten Jahren, von allen Seiten gejagt, allein durchs Leben schlagen musste, meistens auf sein Gespür verlassen können.
Als der Aufzug im Erdgeschoß hielt und sich die automa- tische Tür öffnete, hatte er bereits seine entsicherte 9mm-Beretta-92 in der Tasche fest umklammert und sich in die Ecke der Kabine gedrückt. Mit einem Blick nahm er die vier Männer wahr, die im Eingang der Klinik standen und in seine Richtung sahen. Blitzschnell schlug er wieder auf den Schließknopf der Tür, zugleich auf den Knopf zur Fahrt ins oberste Geschoß - und warf sich flach auf den Boden. Eine Taktik, die er in seiner Spezialausbildung beim Militär gelernt hatte – und der er schon einige Male sein Leben verdankte. Aber – es passierte… nichts…
Kein Schuss… nichts! Absolute Stille, nur das Geräusch des fahrenden Aufzugs! Hatte er sich geirrt? Hatte er überreagiert? War Maria noch sicher? Konnte er sich auf Mirco Vladic verlassen? Viele Gedanken schossen ihm in diesen Sekunden durch den Kopf.
Als sich im obersten Stockwerk die Tür öffnete, sah Marlon in einen nur schwach beleuchteten Flur. Er stutzte, sah sich nach allen Seiten um… und lief dann, die Hand mit der Pistole in der Tasche, in Richtung des rechten Seitenflügels der Klinik. Dieser war mit dem Obergeschoß verbunden. Vorsichtig, wie er war, hatte sich Marlon, bevor er Maria besuchte, schon mit den Örtlichkeiten der Klinik anhand der aushängenden Feuerschutzpläne vertraut gemacht.
Fast vor jeder Tür standen diese alufarbenen Klinikwagen mit Handtüchern und Kitteln drauf. Personal war nicht zu sehen. Er befand sich offensichtlich in der Wäscheetage. Marlon bemühte sich betont langsam zu gehen, nahm sich einen der weißen Kittel, streifte ihn über… zu eng… aber egal… - Wenn Maria ihn so sehen könnte? Da war er endlich, der gesuchte Personalaufzug. Abwärts! Schnell! Nur raus aus dieser Falle! Schnell!
Im Untergeschoß verließ er an der rückwärtigen Einfahrt für Krankenwagen mit einem freundlichen Nicken in Richtung der dort wartenden Sanitäter strammen Schrittes die Klinik. Vorsichtig observierte er dabei aus den Augenwinkeln die Gegend um das Krankenhaus. Erst als er absolut sicher war, dass er hier nicht erwartet würde, zog er den Kittel aus und steckte ihn in seine Schultertasche. Weitläufig umging er dann die Klinik.
Sein Motorrad, eine alte BMW 500, hatte er aus Gründen der Vorsicht in einer Nebenstraße abgestellt. Prüfende Blicke - es war unversehrt. Die Luft schien rein zu sein.
Wieder kamen Zweifel in ihm auf. Hatte er sich getäuscht? Bisher hatte er sich immer auf sein Gefühl verlassen können. Kurz entschlossen wischte er dann aber die Bedenken beiseite, setzte den Sturzhelm auf, klappte das Visier herab und fuhr noch einmal langsam am Hauptein- gang der Klinik vorbei. Er sah, dass die vier Männer immer noch im Eingang standen, rauchten und lachten. Diesmal hatte ihn sein Gefühl offensichtlich im Stich gelassen. Man hatte nicht auf ihn gewartet. Sollte er noch einmal in die Klinik gehen um nach Maria zu sehen? Nein! Er konnte sich damit erst recht verdächtig machen. Nein! Heute nicht mehr! Nein!
Marlon gab Gas – und fuhr weiter stadtauswärts. Marias neue Papiere mussten schnellstens gefertigt werden.
IV. Träume von einem gemeinsamen Leben in Freiheit
Während Marlon sich in Sicherheit wähnte, überschlugen sich in der Klinik von Sarajevo die Ereignisse. Kaum war er außer Sichtweite, setzten sich die vier Sympathisanten der einstigen Diktatur unter Milosevic in Bewegung. Zum momentanen Zeitpunkt lag ihnen nichts daran, Aufsehen durch eine Schießerei zu erregen und sie bevorzugten den Kalten Krieg. Das harmlos erscheinende Geplauder verstummte augenblicklich als sie Marlon auf der Maschine vorbeifahren sahen. Vielsagend tauschten sie Blicke miteinander aus. Worte brauchte es keine, die nächsten Schachzüge waren längst schon abgesprochen und von oberster Stelle der Untergrundbewegung abgesegnet. Sie machten sich auf die Suche nach Dr. Vladic, um ihn mit ein paar Informationen über Marlon zu füttern.
Dr. Vladic war damit beschäftigt, sich auf die Nachtschicht vorzubereiten. Mittlerweile hatte er gezielt die Gedanken an Mara und Marlon beiseite geschoben, bevor er Gefahr lief, sich in eine Ideologie zu verrennen. Sein langjähriger Freund und er hatten immer loyal zueinander gestanden, und dies sollte sich nun, in Zeiten höchster Not, nicht ändern! Er spürte wohl die Gefahr, in die auch er sich begab, und er unterschätzte auch nicht die Entschlossen- heit der noch bestehenden einzelnen Splittergruppen von Parteisympathisanten Milosevics. Er würde vorsichtig sein, doch beeinflussen ließ er sich nicht - bestimmt nicht von ein paar Steckbriefen an verwitternden Wänden. Immerhin hatte auch er sich eine Weile lang im Blickfeld des diktatorischen Regimes befunden. Dessen aufmerksamen Augen entging nahezu nichts, und sie würden auch vor Diffamierungen Unschuldiger nicht zurückschrecken. Davon war Mirco Vladic mittlerweile fest überzeugt.
Nichtsdestotrotz: Er hatte seine Arbeit zu tun und konnte es sich unter den gegebenen Umständen nicht leisten, allzu viel Engagement in die Rettung eines ehemaligen Studienkollegen zu investieren. Dass Marlon schon immer rebellisch war, blieb ihm schon damals nicht verborgen. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie sich einer wie er in etwas festbeißen konnte. Angst hatte Marlon nie gekannt.
Mit gedrosselter Geschwindigkeit und gemischten Gefühlen befuhr Marlon indes stadtauswärts die zu großen Teilen wieder aufgebaute und im fahlen Licht der Neonre- klamen wieder leuchtende Hauptstraße Smaja od Brosne. Diese unrühmliche „Sniper Alley“ lag nach der Beschie- ßung und Belagerung Sarajevos 1994/1995 total in Trümmern. Sie erhielt ihren Namen, weil seinerzeit aus allen Fensterlöchern Marlons „Kameraden von der anderen Feldpostnummer“, die serbischen Scharfschützen, die Sniper, jede Bewegung auf der Straße sofort unter Feuer nahmen. Tausende unschuldige Zivilisten, Frauen, Kinder… – egal was ins Schussfeld kam -, wurde erschossen.
Marlons Ziel war Ilidza, eine westliche Vorstadt Sarajevos, in der Nähe des Internationalen Airports. Es herrschte reger Flugverkehr. Als er die Ortseinfahrt erreichte, bog er rechts ab, blieb stehen – und sah sich um. Er vergewisserte sich sicherheitshalber noch einmal, dass er nicht verfolgt werde. Während der Fahrt hatte er bei seinen ständigen Blicken in den Rückspiegel nichts Verdächtiges bemerkt. Erst dann durchfuhr er mehrmals eine nach dem Krieg neu entstandene Wohnsiedlung - und bog plötzlich in eine offen stehende Garage ein. Automatisch schloss sich schon das Tor, während Marlon noch den Motor abstellte.
Mehmed, ein Muslim, einer der wenigen Kriegsgewinnler, der durch die Kriegs- und Nachkriegszeit zu Reichtum gekommen war, erwartete Marlon bereits. Mehmed hatte seine jahrelangen guten Bakschisch-Verbindungen und Beziehungen sowohl zu staatlichen Stellen in Bosnien- Herzegowina, zum Schwarzhandel – bis hin zur Balkan- Mafia. Seine Verschwiegenheit und Hilfe, wenn man sie in Anspruch nahm, war immer nur eine Frage des Geldes, das er bestimmt zum Teil auch weiterreichen musste. Aber -, hatte man Geld, konnte man sich auf ihn und seine Verschwiegenheit unbedingt verlassen!
Marlon hatte Mehmeds teure Dienste gelegentlich schon in Anspruch nehmen müssen und war bisher immer gut bedient worden.
In einem Büroraum, der an die Garage angebaut war, trug Marlon Mehmed sein Anliegen vor. Er schob dann Mehmed, der bisher schwieg, sich hin und wieder aber durch seine Barthaare strich, einen Zettel mit Daten für Marias neue Personalpapiere und den Reisepass über den Tisch. Maria sollte seinen angenommenen Namen tragen: Mara Stefani. Mehmed nickte nur kurz: „Bis wann?“ „Bis Ende nächster Woche“, antwortete Marlon. Als Mehmed nach Passfotos fragte, musste Marlon passen und ihm den Grund erklären. Mehmed nickte, stand wortlos auf, ging an einen Büroschrank, öffnete ihn…
Mindestens 40 Perücken in allen Farben, fein säuberlich nebeneinander auf Ständern, kamen zum Vorschein. „Welche Farbe? Lang? Kurz? Mittel?“ fragte Mehmed. Marlon war baff… Damit hätte er nicht gerechnet. Auf Mehmed war eben Verlass!
Auf keinen Fall tizianrote Locken, dachte Marlon, denn damit erkennt man Maria sofort. Er entschied sich spontan für eine hellblonde Kurzhaarperücke. Maria würde dem in Anbetracht der Lage sicher zustimmen, auch wenn sie ihre roten Locken über alles liebte.
Mehmed warf die Perücke auf den Tisch, legte eine Digitalkamera dazu, hielt Marlon seine geöffnete, etwas feuchte flache Hand zum Einschlag hin und murmelte: „Foto unbearbeitet mit Kamera bis spätestens morgen Abend, gleicher Ort; 10.000 Euro morgen. Weitere 10.000 Euro bei Abholung. Dann Termin okay!“.
Der Zahlung in BAM, der bosnisch-herzegowinischen Währung, vertraute er wohl nicht so sehr. Aber er wusste sehr wohl, was er verlangen konnte. Marlon blieb nichts anderes übrig, als einzuschlagen. Heimlich putzte sich Marlon danach die Hand an seiner Jeans ab.
Angesichts seines ursprünglich vorgesehenen, baldigen gemeinsamen Weiterfluges mit Maria nach Südamerika, um seinen Häschern endlich zu entkommen, hatte sich Marlon vor Marias Entführung ausreichend Geld von seinem Schweizer Nummernkonto besorgt. Teile dieses Geldes gingen jetzt für Marias Ausweispapiere drauf. Aber – es musste sein! Dieses Geld war gut angelegt. Diese Papiere waren ein weiterer Schritt zur Verwirklichung seines schon lange gehegten Traums.
Sein Bankkonto, das im Laufe der letzten Jahre schon erheblich geschrumpft war, hatte er der damaligen kroatischen Regierung zu verdanken, die ihn nach dem missglückten Anschlag auf Milosevic aus politischen Gründen sofort aus der Schusslinie genommen – und aus dem Militärdienst entlassen hatte. Man hatte ihm unter großer Geheimhaltung und „in stiller Anerkennung seiner Verdienste“ seine Identität, sein ganzes Leben - gegen eine einmalige Abfindung von 1,2 Millionen Deutsche Mark und eine voll eingerichtete Wohnung hier in Sarajevo, im Nachbarstaat Bosnien, abgekauft. Dazu erhielt er noch die bosnisch-herzegowinische Staatsbür- gerschaft mit anderem Namen und allen notwendigen Papieren, um hier künftig unerkannt leben zu können. Nur gegen eine Gesichtsoperation hatte er sich noch erfolg- reich wehren können. Alle seine Akten wurden vernichtet. In Kroatien war er jetzt ein Niemand, ein Nobody, ein Unbekannter! Seine Heimat hatte sich von ihm endgültig losgesagt. Er war jetzt Bosnier! Die neue kroatische Regierung hatte es sich nicht einmal nehmen lassen, mit Steckbriefen, die seines und Marias Fotos zeigten, an der balkanweiten Suche nach ihnen zu fahnden. Würde man sie heute in Kroatien schnappen, würden sie ohne Zögern an Serbien ausgeliefert werden. Ironie des Schicksals?
Grübelnd, wie er morgen wieder unbemerkt zu Maria kommen könne, um das wichtige Passfoto zu machen, fuhr Marlon nach Hause in seine bisher noch sichere Stadt- wohnung. Wie lange würde sie ihm noch Sicherheit bieten?
Die Nacht war längst angebrochen, aber Marlon hatte noch keinen Schlaf finden können. Nach Mirco Vladic war Maria frühestens in drei Wochen transportfähig. War sie dann auch reisefähig?
Die Angst und Unsicherheit, sie jetzt nicht in seiner Nähe zu haben um sie beschützen zu können, bedrückte Marlon schwer. Hatte er zu viel gewagt? Hatte er das Schicksal herausgefordert, als er Maria zu sich holte? Lebte er seinen Egoismus auf Kosten seiner großen Liebe aus? Konnte er seinem Freund aus Studienzeiten, Mirco Vladic, vertrauen?
Marlon fühlte sich machtlos... und konnte nur Tag für Tag, Stunde um Stunde, hoffen, dass sich sein großer Traum, ein gemeinsames Leben mit Maria in einem fernen Land, frei und ohne Angst, möglichst bald erfüllen würde.
(Fortsetzung folgt in Teil 2)
Texte: Gewidmet den mitwirkenden Autoren dieser Geschichten-Stafette
dem ersten Gruppenprojekt des "Foyer de la Littérature".
Copyright: Cover: googlebild
Tag der Veröffentlichung: 16.07.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Das Buch entstand unter Mitwirkung von:
xchristinax,
fredrikspring
und svenson.