„Lass mich fliegen!“, das waren ihre letzten Worte. Dann verschwand sie in der Nacht, die Türe ließ sie offen stehen. Ich stand auf der Schwelle und sah ihr nach. Eisiger Nordwind blies in den Flur herein. Schon bald glich meine Nase einem Eiszapfen. Doch noch immer stand ich dort und starrte in die Finsternis. Schneeflocken peitschten mir ins Gesicht trotz des Vordaches. Schon bald war die Straße mit einer weißen Schicht überzogen, wie aus Watte. Alles sah so friedlich aus, ein Winterwonderland. Was wollte sie mir damit sagen? ‚Lass mich fliegen‘, das klingt seltsam. Ich wusste nichts damit anzufangen.
Plötzlich ging das Licht aus. Die Glühbirne war kaputt gegangen und riss mich zurück in die Realität. Auf der Türschwelle hatte sich eine dünne Schicht Schnee angesammelt, auf meinen Füßen auch. Ich hatte schon immer gesagt, wir müssten den Flur besser heizen. Aber nein, wir mussten ja Geld sparen.
Langsam drehte ich mich um, nicht ohne nochmals über die Schulter zu blicken in der Hoffnung, sie stände dort und sähe zu mir herüber. Dann schloss ich die Türe hinter mir und ging in mein Zimmer hoch. Der Rest des Hauses schlief schon. Ich teilte mir die Wohnung im zweiten Stock mit meinem Bruder, unser Vater lebte mit seiner Freundin einen Stock unter uns. Unsere Mutter war tot.
Ich sank auf mein Bett, wo ich mich unter meiner Decke ausstreckte. Hier war es auch nicht gerade warm. Unser Haus war schon alt und alles andere als gut isoliert. Mit hinter dem Kopf verschränkten Armen starrte ich zur Decke. Das Licht, das von draußen durch mein Fenster fiel, warf gespenstische Schatten an meine Zimmerwände, doch ich war mit den Gedanken wo anders. Bei ihr. Bei meinem Mädchen. War sie das überhaupt noch? Ich wusste es nicht. Ich wusste gar nichts in diesem Moment.
'Lass mich fliegen', immer und immer wieder gingen mir diese Worte durch den Kopf. 'Lass mich fliegen'. Ich hatte sie nie hier, bei mir, festgehalten, oder?
Sie hatte mir keinen Kuss gegeben, nicht wie üblich. Wir hatten uns nicht umarmt. Sie war einfach gegangen. Hinaus in die Nacht. Und ich lag nun hier. Seit drei Monaten waren wir nun zusammen. Fast keiner wusste davon. Wir hielten unsere Liebe geheim, denn dann konnte uns niemand beeinflussen oder reinreden.
Wieso sollte ich sie fliegen lassen? Und vor allem wohin? Hatte sie vor ins Ausland zu gehen? Aber dann hätte sie mir doch davon erzählt. Allerdings, wieso konnte ich mir da so sicher sein? Sie vertraute mir doch, oder?
Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Meine Gedanken waren ein einziges Chaos, in das ich keine Ordnung bekam. Mir schwirrte der Kopf und ich grübelte Stunde um Stunde, ohne Erfolg.
Irgendwann schlief ich dann doch ein.
Weit vor mir sah ich sie stehen. Ich rannte los, langsam konnte ich Details ausmachen. Es war weit bis zu ihr. Ich konnte sehen, dass sie mit dem Rücken zu mir stand. Ganz gerade, die Arme an ihrer Seite herunterhängend, schon fast steif. Den Kopf gerade in die Ferne gerichtet. Sie stand an einem Abgrund. Als ich das wahrnahm, durchfuhr mich eine Welle der Panik. Was wollte sie da? Ich rannte noch schneller, war mit den Kräften schon fast am Ende. Mein Atem ging nur noch keuchend. Und trotzdem kam ich nur schleppend vorbei. Ich stolperte. Fing mich wieder. Rannte weiter. Immer weiter. Ihr entgegen.
Schon fast war ich bei ihr angekommen. Ich wollte meinen letzten Atem zusammen nehmen und ihren Namen rufen. Doch plötzlich machte sie einen Schritt nach vorne und sprang. Mir gefror das Blut in den Adern. Ich blieb stehen. Wie versteinert starrte ich ihr hinterher. Sie verschwand unterhalb der Felskante. Doch wenige Sekunden später tauchte sie wieder hervor. Sie lag in der Luft, die Arme weit ausgestreckt. Wie ein Vogel. Ja, wie ein Vogel schwebte sie dort meterweit über dem Boden. Ich konnte mich nicht von ihr loslösen. Langsam ging ich weiter nach vorne. Mein Atem ging vom Rennen noch immer stockend. Den Blick noch immer in die Luft gerichtet stieß ich mir den Fuß an einem Stein an. Ich schaute hinunter. Dort lag ein Zettel unter dem kleinen Felsbrocken. Ich bückte mich und hob ihn auf. Danke, dass du mich hast fliegen lassen.
stand dort in ihrer verschnörkelten Schrift.
Ihre Nummer hatte keinen Anschluss mehr. Und auch ihre Wohnung stand leer. Ich konnte sie nicht erreichen, egal wie oft ich es auch versuchte. Irgendwann gab ich auf.
Ich sah sie nie wieder nach dieser Nacht. Das einzige, was mir blieb, waren Erinnerungen. Gedanken an die drei Monate mit ihr.
Hatte ich alles nur geträumt?
Texte: Tabea Mitchel
Bildmaterialien: found on http://abbyk1122.tumblr.com/post/39414137883 | Edited by Tabea Mitchel
Tag der Veröffentlichung: 02.01.2013
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