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Maggies Kindheit

Zwölf Jahre lang ließ ich es zu. Meine ganze Kindheit – normalerweise die schönste Zeit im Leben – missbrauchte mich mein Vater. Mal abgesehen von ein paar kleinen Widersetzungen unternahm ich nichts, zu viel Angst hatte ich vor den Bestrafungen. Ich holte mir keine Hilfe, sondern ließ mich zerstören.
Mein einziger Freund – mein Tagebuch – erfuhr alles und musste aber auch viel durchmachen. Oft riss ich ihn auseinander, aus Wut und Verzweiflung. Viele Seiten und Einträge gingen verloren. Das Einzige, was heute noch von ihm übrig ist, möchte ich dir nun hier zu lesen geben.

7. Mai 1988


Wieso? Wieso machen Eltern so etwas?
Aus Liebe entsteht ein neues Leben, ein kleiner Mensch wird in die Welt gesetzt. Aufgezogen mit Liebe – normalerweise!
Was, wenn nicht??
Tränenüberströmt kauerte ich mal wieder in meinem Zimmer. Ein zitterndes Häufchen Elend in der Ecke. Ich war bei meinem Vater im Bett gewesen, mal wieder...
Aber ich hatte keine Geschichten vorgelesen bekommen, ich war auch nicht getröstet worden wegen meinem Liebeskummer.
Von Anfang an war alles anders gelaufen, schon im Kindergarten hatte ich es festgestellt. Klar, meine Familie war anders, schon mal daher, weil meine Mutter kurz nach meiner Geburt verstorben war. Ich weiß nicht wieso, niemand hat es mir je gesagt. Es war einfach so... Und ich hatte mich mit der Zeit daran gewöhnt und die Lage akzeptiert, wo wie sie war.
Was war mir auch anderes geblieben?
Früher habe ich gefragt. Ich hatte es nie verstanden – wie auch? Ein fünf-jähriges Mädchen versteht nicht, dass es missbraucht wird. Es versteht nur, dass etwas anders ist, vielleicht auch falsch.
Meine Freundinnen hatten über ihre Eltern gesprochen, die ihnen Geschichten vorgelesen hatten, sie getröstet hatten und mit ihnen gespielt hatten. Es ging um Kissenschlachten, Versteckspiele unter der Bettdecke und, und, und... Bei mir nie! Ich hatte nie mitreden können. Nie!
Jedes Mal, wenn ich mit einem Kissen ankam, oder auch nur mit einem Buch, rastete er aus. Mein Erzeuger schrie und tobte. Und ich bekam Schläge. Grün und blau waren meine Arme, mein Rücken,... einfach alles. Mein ganzer Körper. Anfangs habe ich es ihnen erzählt, meinen Freunden. Sie haben gelacht, mich als Lügnerin bezeichnet... und irgendwann habe ich nichts mehr gesagt. Ich habe den Schmerz hinuntergeschluckt, mich vom Kummer zerfressen lassen, immer weiter. Hab mich in mich selbst zurückgezogen. Das tue ich auch heute noch.
Schon lange komm ich nicht mehr mit Büchern oder dem Wunsch nach Kissenschlachten zu ihm. Und trotzdem hatte es nicht aufgehört. Ich bekomm weiterhin Schläge... und das ist nicht alles... er vögelt mich! Mein eigener Erzeuger hat mit mir Sex. Ich bin wehrlos. Ein kleines Mädchen, unfähig, sich zu wehren. Schon ein paar Mal hatte ich es versucht – und war bestraft worden, schlimmer als je zuvor. Hilfe holen trau’ ich mich nicht... Wer weiß schon, wozu Menschen fähig sind?!

11. Mai 1988


Warum gibt es mich eigentlich? Schon seit Jahren kämpfe ich mich nur so durchs Leben. 14 Jahre lang – fast. Morgen hab ich Geburtstag. Und ich hab Angst!!
Die Definition von Geschenken versteht ja wohl auch jeder anders. Wahrscheinlich bekomm ich eh nur wieder... Ich will gar nicht darüber nachdenken!!
Warum? Warum haben sie mich produziert? Warum mich ins Leben gesetzt? Um ihren Spaß zu haben?? Und dann gab es einen „kleinen“ Zwischenfall – den Tod meiner Mutter!? War es so? War es nur ein „Zwischenfall“? Oder Bestandteil eines Plans? War meine Mam gar nicht durch die Geburtsfolgen gestorben? Hatte er sie ermordet?
Zutrauen würde ich es ihm ja. Aber kann ein Mensch (der noch dazu Vater ist) wirklich so ein mieses Arschloch sein?
Ich kann nicht mehr! ER hat Spaß daran... und ich? ICH bin völlig am Ende...
Ob es jemals aufhört?...

28. Juni 1988


Faszinierend! Über einen Monat ist es her, dass er mir zuletzt weh getan hat. Ist es jetzt endlich vorbei?! Hat er es eingesehen?
Das Saufen und Paffen hat er nicht aufgehört... Soll mir auch egal sein, solange er mich in Ruhe lässt.
Das war bisher noch nie. Seit ich denken kann (wahrscheinlich seit ich drei oder vier war) gab es keine längere „Pause“ ohne Schläge und Co. als drei Tage, zumindest keine, die mir in Erinnerung geblieben ist. Und das wäre sie ziemlich sicher.
Hoffentlich bleibt das so. Zumindest so lange, bis ich einen Fluchtplan habe, oder den Schritt zur Hilfe von Fremden wagen kann, ohne Gefahr zu laufen, in den Keller gesperrt zu werden...

03. Juli 1988


Das war ja wohl auch nur Wunschdenken... Alles vorbei! Gestern hat dieses Arschloch mich wieder mit ins Bett genommen. Sturzbesoffen war er gewesen. Ich hab mich geweigert, am Anfang, und Schläge kassiert... mein ganzer Rücken ist wund... und ich hab nachgegeben...
Die ganze Nacht hab ich nicht geschlafen! Das ist so demütigend... Am liebsten würde ich weg wollen... ganz weit weg! Aber wohin???
Freunde hab ich keine... Großeltern auch nicht mehr, meine Tante ist nicht viel besser und ausziehen kann ich noch nicht. Nicht mit 13... Geld hab ich auch keins. Klar, ich könnte mir eins besorgen. Er würde es wahrscheinlich nicht einmal bemerken...
Jetzt muss ich erstmals raus hier... wenigstens für ein paar Stunden!
Eigentlich müsste ich in der Schule sein, aber da werd’ ich ja eh nur gemobbt... Also ab in den Park, vielleicht auch in den Wald. Mal sehen...


Tatsache ist, dass ich an diesem Freitag, den 3. Juli 1988 dann doch nicht in den Park oder Wald ging, sondern geradewegs in das verrufenste Viertel der Stadt. Zu einem illegalen Waffenhändler. Geld hatte ich von meinem Erzeuger mitgenommen. (Ich weigere mich immer noch, ihn als meinen Vater zu betrachten...) Es schien mir nicht falsch, und das ist auch heute nicht der Fall.
Ich hatte keine Ahnung von Waffen und war mir auch ziemlich sicher, dass ich mit keiner umgehen konnte, dennoch ließ ich mich von einem tätowierten und gepiercten, überhaupt ziemlich wild aussehenden Typen beraten. Er wollte nicht meine Beweggründe für eine Pistole wissen und ich sagte sie ihm auch nicht. Wir trafen das stille Abkommen, ich verrate ihn nicht und er mich nicht.
Mit einer kleinen, einfach zu bedienenden Pistole – und um einiges weniger Geld – verließ ich den Laden wieder und ging nach Hause. Dort wartete schon ein zugetrunkenes Arschloch auf mich. Ohne mich zu wehren, stieg ich mit ihm ins Bett. Es ekelte mich, so wie jedes Mal, aber ich wusste, dass ich alldem an diesem Tag ein Ende bereiten würde, egal wie viel ich danach dafür zahlen müsste. Notfalls hätte ich sogar mein restliches Leben im Gefängnis verbracht.
Aber es kam anders als erwartet. Das Glück stand auf meiner Seite. Ziemlich bald war er nicht mehr ansprechbar. Ich wollte gerade meine neu-erworbene Pistole hervorziehen, als es sachte an der Tür klopfte. Zugegeben, ich bin im ersten Moment ziemlich erschrocken, aber dann öffnete ich, ohne darüber nachzudenken, wieso nicht geklingelt worden war, und stand – zum Glück hatte ich mir etwas angezogen – drei Polizeibeamten und einem gut aussehendem Jungen (damals geschätzt auf 16) gegenüber.
Die Polizisten nahmen meinen besoffenen Erzeuger mit und der Junge blieb bei mir.

Heute wohnen wir zusammen mit zwei kleinen Jungs und einem Mädchen in einem Haus mit Garten, weit weg von meinem Geburtsort und den Plätzen der schlechten Erinnerungen. Ich kann mit gutem Gewissen sagen, dass wir bessere Eltern sind, als meine es waren. Vielleicht nicht die besten, aber auf jeden Fall menschlich und fürsorglich. Ich arbeite als Arzthelferin und Matthias als Polizist.
Schon damals war ich ihm, wie er später erzählte, aufgefallen (ich hatte ihn nicht einmal bemerkt). Er hatte es sich zum Hobby gemacht, mich zu beobachten und irgendwann war ihm bewusst geworden, dass etwas an meiner Familie faul ist. Rein auf Vermutungen basierend hatte er sich an einen Polizisten, den Freund seines Vaters, gewandt und sie mit ein wenig Überzeugungsarbeit dazu gebracht, meinem Erzeuger einen Besuch abzustatten. Mich hat er somit erlöst und aus meiner schrecklichen Situation gerettet.
Ich wurde in eine Pflegefamilie gesteckt, in der es mir richtig gut ging und zu denen ich heute noch Kontakt habe.
Meinen leiblichen Vater habe ich nie mehr gesehen und ich habe auch jetzt, nach über 20 Jahren, nicht das Verlangen danach.

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Tag der Veröffentlichung: 24.02.2011

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