Jonathan saß in der Ecke seines kleinen Zimmers auf seinem Lieblingskissen und starrte an die Wand. Vor dem vergitterten Fenster wurde es schon dunkel. Eigentlich hätte er längst in der großen Halle unten erscheinen sollen, um mit den anderen Heimkindern zusammen zu Abend zu essen. Doch bis jetzt hatte ihn noch niemand geholt und selbstständig würde er dort nicht hinunter gehen. Nicht bei diesem widerlichen Essen. Nicht heute.
Vielleicht wussten sie sogar davon und hatten ihn deshalb in Ruhe gelassen. Den ganzen Tag lang waren sie schon nett zu ihm gewesen, hatten ihn zu nichts gezwungen, hatten ihn nicht angeschrieen, nicht geschlagen, nicht getreten, nicht in den Keller gesperrt. Ja, man hatte ihm sogar etwas zu essen in sein spärlich eingerichtetes Zimmer gebracht, das fast einer Gefängniszelle glich. Ein sechs Quadratmeter kleiner Raum mit einem winzigen, vergitterten Fenster; ausgestattet mit einer Truhe für seine Kleidung, einer alten Matratze und einer löchrigen Wolldecke, die als Bett dienten, sowie seinem blauen Lieblingskissen mit den roten Herzen, das er vor Jahren von seiner Mutter bekommen hatte, und das er nur behalten durfte, da er jegliche Nahrung verweigert hatte, nachdem sie es ihm, genau wie seine anderen Habseligkeiten, nach seiner Ankunft im Heim weggenommen hatten.
Jonathans Blick wanderte von der befleckten Wand auf den ausgetretenen Dielenboden und blieb an dem kleinen Foto seiner Familie hängen. Seine Eltern, seine fünf Jahre ältere Schwester Joanne und er bei einem ihrer unzähligen Urlaube in Norwegen. Auf dem Foto war er gerade mal sechs Jahre alt gewesen.
Tränen stiegen ihm in die Augen, liefen ungehalten über seine Wangen und tropften auf seinen zerschlissenen, mausgrauen Pullover.
Genau vor einem Jahr waren sie spät abends noch mit dem Auto von einem Weihnachtsmarkt zurück gefahren.
Wie er diese Advents-Ausflüge gehasst hatte – überhaupt, Weihnachten war noch nie sein Ding gewesen!
Seine Eltern hatten Glühwein getrunken, auch er hatte probiert und war jetzt ziemlich schläfrig geworden. Sie waren in Schnee gekommen. Den ersten Schnee in jenem Winter. Alles hatte mit einem harmlosen Schneetreiben begonnen; ihnen hatte nichts passieren können, sein Vater hatte ja schon längst die Winterreifen montiert. Rasend schnell war das Ganze dann aber zu einem heftigen Schneesturm geworden. Innerhalb weniger Minuten hatte es meterweise Schnee hergehauen. Selbst mit ihrem geländegängigen, blauen, 4-Personen-Jeep waren sie nur noch so über die Landstraße dahin gekrochen. Jonathan hatte keinen Meter mehr weit sehen können, weder zur Frontscheibe hinaus, noch zu seinem Seitenfenster. Im Schritttempo waren sie weiter gefahren. Stehen bleiben hatten sie nicht gekonnt, sonst wären sie innerhalb kürzester Zeit gänzlich zugeschneit gewesen. Über das lange Nachdenken und sachte Schaukeln des Jeeps war Jonathan dann doch noch eingeschlafen.
Plötzlich hatten ihn ein lauter Knall und der schrille Schrei seiner Schwester aufgeweckt. Er hatte die Augen aufgerissen. Für einen kurzen Moment hatte er nicht gewusst, wo er war. Zuerst hatte er vor dem Fenster nur nachtschwarzen Himmel gesehen, dann nur Schnee. Ein panischer Aufschrei war ihm in der Kehle stecken geblieben, als er sich bewusst geworden war, dass sie sich überschlagen hatten. Sein Vater hatte die Kontrolle über den Geländewagen verloren und sie noch nicht wiedererrungen gehabt. Im nächsten Augenblick war Jonathan hart gegen den Sicherheitsgurt geworfen worden, sodass er kurzzeitig keine Luft mehr bekommen hatte. Die Tür auf Joannes Seite war stark eingedrückt gewesen. Seine Schwester war schräg im Gurt gehangen. Er hatte sofort gewusst, dass er sie für immer verloren hatte. Doch gleichzeitig war er so geschockt gewesen, das die Trauer, die ihn eigentlich hätte überwältigen müssen, ausgeblieben war. Von seinem Rücksitz aus hatte er gesehen, dass seine Mutter aus unzähligen Wunden geblutet hatte, seinen Vater hatte er nur von hinten sehen können, doch er hatte sein leises Wimmern gehört, das er geflissentlich versucht hatte zu ignorieren. Gerade als er sich hatte ausschnallen wollen um zu seinen Eltern vorzukriechen, hatte sich der Jeep plötzlich um eine weitere halbe Umdrehung überschlagen und war auf dem Dach liegen geblieben. Die Frontscheibe war gesplittert, dann hatte Jonathan einen harten Schlag auf den Hinterkopf bekommen und ihm war schwarz vor Augen geworden.
Als er mit einem ziemlich starken Schwindelgefühl und stechenden Kopfschmerzen wieder erwacht war, hatte sich seine Umgebung verändert. Er hatte sich in einem winzigen, mit piepsenden und bunt blinkenden Geräten gefüllten Raum wiedergefunden, in dem mindestens zwei unklare Schatten umhergehuscht waren. Erst nach ein paar Minuten war er wieder gänzlich zu Bewusstsein gekommen und hatte seinen Aufenthaltsort als Rettungswagen identifizieren können. Eine Flut von Erinnerungsfetzen und Gedanken hatte ihn überkommen und ihn zu einem Kampf gegen die Ohnmacht gezwungen, den er knapp, aber letztendlich doch, gewonnen hatte. Die Schatten waren schärfer geworden, drei Notärzte waren es, die da um ihn herumgewuselt waren. Einer von ihnen hatte sich dann über ihn gebeugt und beruhigend auf ihn eingeredet. Jonathan war viel zu aufgewühlt und geschockt gewesen, als dass er dessen Worten hätte Glauben schenken können.
„Alles wird wieder gut.“ hatte der junge Arzt immer und immer wieder wiederholt. Jonathans Schädel hatte höllisch geschmerzt, trotzdem hatte er den Kopf gedreht und ihm direkt in die Augen gesehen. In dem klaren Blau hatte Mitleid und Bedauern geschrieben gestanden.
„Wo... sind meine... Eltern?...und meine Schwester?“ war es aus dem Jungen hervorgebrochen.
„Ich fürchte, für deine Schwester können wir nichts mehr tun. Um deine Eltern steht es momentan nicht sonderlich gut. Tut mir leid!“
Zumindest war er ehrlich gewesen und hatte nicht versucht die Wahrheit vor ihm zu verhüllen. Die Lügen hätte er sowieso nicht geglaubt.
„Kann ich sie sehen?“
Der Arzt hatte mit den Schultern gezuckt, war dann zu den anderen zweien getreten und hatte mit ihnen diskutiert.
Jonathan hatte in sich hinein gehört. Mal abgesehen von seinem Kopf und den paar Prellungen hatte ihm nichts weh getan.
Er hatte gewusst, er würde es überleben und von nun an alleine klarkommen müssen – oder bei einem miesen Drachen - seiner Oma - leben. Er war sich sofort klar gewesen, dass er es irgendwie schon schaffen würde, zu verschweigen, dass er noch eine Großmutter hatte.
Ein anderer Arzt war heran getreten.
„In ein paar Minuten sind wir im Krankenhaus. Dann untersuchen wir dich erst mal ausgiebig, aber davor darfst du noch kurz deine Eltern sehen.“
Fragend hatte Jonathan ihn angesehen.
„Versprochen!“
Das war doch schon mal etwas gewesen: Ein Arzt, der sein Wort gegeben hatte.
Ohne Blaulicht und ohne Sirene waren sie ins Krankenhaus eingefahren. Man hatte ihn auf einer Bahre aus dem Wagen geschoben...
Und mehr wusste Jonathan nicht mehr. Er konnte sich an nichts, was danach geschehen war mehr erinnern. Hatte er seine Eltern noch einmal gesehen? Wie lange war er im Krankenhaus gewesen?
Er wusste erst wieder, wie ihn seine Oma mit zu sich genommen hatte und er sofort mal eine Schimpfparade über sich ergehen hatte lassen müssen. Dann war er zu einem Arzt gekommen, und seine Großmutter hatte ihn direkt anschließend mit der Diagnose „teils Gedächtnisverlust“ kurzer Hand in das Heim gesteckt. Dort hatte er dann nach ein paar Tagen erfahren, dass seine Eltern nicht überlebt hatten.
Wie sehr er sie immer noch vermisste - nach zwölf Monaten. Die Ärzte hatten gesagt, er würde es verkraften. Mit seinen damals elf Jahren würde er alles bald vergessen haben und der Schmerz würde in ein paar Wochen nachgelassen haben. Nichts davon war eingetreten. Nun war er schon zwölf und die Erinnerungen an den Unfall waren kein bisschen verblasst, auch der Schmerz war geblieben.
Jonathan blickte auf, in seinem kleinen Zimmer war es stockfinster, nur ein dünner Lichtstreifen fiel von der Tür aus herein. Ein Mädchen – sie hieß Leonie – stand unter dem Türrahmen und schaute ihn an. In ihrem Blick lag tiefes Mitgefühl.
„Komm rein“, flüsterte er. Er wusste nicht, ob sie es gehört hatte, denn sie zögerte noch einen Augenblick, doch dann trat sie ein, kam zu ihm und setzte sich neben ihn auf das Kissen. Sie legte ihm den Arm tröstend um die Schultern, sagte aber kein Wort. Jonathan hatte sie vom ersten Tag an bewundert, sich jedoch noch nie getraut, sie anzusprechen. Das Mädchen war immer gut gelaunt und hilfsbereit. Noch nie hatte er sich traurig oder wütend gesehen.
Jonathan lehnte seinen Kopf instinktiv an ihre Schulter. Ihre Nähe tat ihm gut, dennoch – oder genau deshalb – liefen ihm wieder Tränen über die Wangen. Wortlos trocknete Leonie sie mit ihrem Taschentuch ab. Sie fragte nicht, was los war. Sie redete nicht auf ihn ein. Ganz still saß sie einfach neben ihm.
Nach einer Weile stand sie auf, leise sagte sie mit weicher Stimme: „Ich muss wieder in mein Zimmer. Wenn du etwas brauchst, komm einfach rüber. Gegenüberliegende Gangseite, fünf Zimmer weiter rechts.“ Sie zwinkerte ihm zu und verließ das Zimmer, bevor er noch ein Wort des Dankes hatte erwähnen können.
Jonathan blieb sitzen. Eigentlich hätte er ins Bett gehen müssen. Morgen würden sie wieder bei Sonnenaufgang mit einem Gong durch den Flur stürmen, die Türen aufreißen und jeden, der nicht zehn Minuten später in der Versammlungshalle zum Frühstück erschienen war, auspeitschen lassen.
Jonathan hatte erst einmal die Lederpeitsche zu spüren bekommen und sich geschworen, nie wieder zu spät zu sein. Noch Tage danach hatte er schreckliche Schmerzen gehabt.
Er stand auf und ging zu dem kleinen Fenster. Draußen schneite es. Langsam fielen dicke Flocken vom Himmel, in der Ferne konnte er die warmen Lichter eines Dorfes erkennen, dahinter den dunklen Wald. Alles sah märchenhaft aus, genau wie vor einem Jahr, doch er wusste, das dies alles täuschte: Diese einzelnen Flocken konnten schon bald zu einem dichten, ungeheuer gefährlichen Schneesturm werden. Er hätte so gern das Fenster geöffnet, die klare, winterliche Nachtluft tief eingeatmet und mit dem Schnee vom Fenstersims einen Ball geformt, aber das Fenster war fest verschlossen. Dennoch zog kalte Luft herein, sodass es den Jungen schon ziemlich bald fröstelte. Mit einem leisen Aufseufzen wickelte er sich in seine Wolldecke ein und setzte sich wieder auf sein Kissen. Ohne sein Zutun nahm nach und nach in seinem Kopf ein Fluchtplan gestallt an. Er hielt es hier nicht länger aus!
Natürlich war er zu spät gekommen und natürlich bekam er eine ordentliche Pracht Prügel zu spüren, die er jedoch fast nicht spürte. Mit den Augen suchte er den Raum nach Leonie ab, er würde ihre Hilfe benötigen, nachher musste er sie unbedingt fragen. Sein Blick kreuzte ihren. Sorge stand ihr ins Gesicht gezeichnet. Sein Herz zog sich zusammen. War es wegen ihm? Sie sollte sich keine Sorgen machen, nicht wegen ihm.
Mit schmerzendem Rücken nahm er an der langen Tafel Platz und würgte ohne mit den Wimpern zu zucken die grünliche Hafergrütze hinunter. Wenn er streikte, würde ihm das nur Ärger bereiten und schließlich musste er ja irgendetwas essen.
Wie er später herausfand, hatte Leonie einen alten Rucksack unter ihrer Matratze versteckt, den sie ihm jetzt zur Verfügung stellte. Bei seinem Küchendienst schaffte er es, ein paar Lebensmittel zu stehlen. Zum Glück trug er einen so weiten Pullover. Den ganzen Tag während der Arbeit, egal ob beim Schneeschippen, Putzen oder Waschen, schmiedete er weiter an seinem Fluchtplan, manchmal sogar zusammen mit Leonie, die zwar begeistert von der Idee war, aber nicht mitkommen wollte. Hin und wieder fiel ihm etwas nützliches in die Hände, das er ungesehen in sein Zimmer bringen konnte.
Beim Abendessen konnte er seine Nervosität kaum mehr verbergen. Heute Nacht war es endlich so weit! Er würde für immer von hier verschwinden. Nie wieder würde er Ehepaare mit ansehen müssen, die andere Kinder abholten und ihn nicht einmal beachteten.
Gehorsam ging Jonathan ins Bett, blieb aber wach und wartete hoffend auf Leonie, die ihm zuerst ein Zeichen geben und dann mit gespielten Bauchschmerzen zu Nachtwache gehen würde, damit er flüchten konnte. Alles war perfekt organisiert, jetzt musste es nur noch klappen. Hoffentlich würden ihm die Wachhunde nicht in die Quere kommen, falls doch, wäre er erledigt.
Da erschien Leonie auch schon in der Tür und nickte ihm kurz zu. Jonathan sprang auf, stürmte auf sie zu und warf sich in ihre Arme. Er wollte sie nicht verlassen, nicht jetzt, da sie sich gerade einmal etwas näher kennen gelernt hatten. Doch es war zu spät, die Flucht stand fest und wenn er nicht diese Nacht flüchte, käme er nie mehr hier weg.
„Tschüss. Ich werd’ dich nie vergessen.“ flüsterte er mit nassen Augen und wollte sie loslassen. Doch Leonie klammerte sich an ihn.
„Nein! Ich lass dich nicht gehen.“ flüsterte sie.
Jonathan verschlug es die Sprache. „Aber... aber ich... ich dachte...“, fing er an.
„Schscht“ sie legte ihren Finger auf seine Lippen. „Ich weiß, dass du dachtest, ich würde sie ablenken, damit du gehen kannst, aber...“, sie unterbrach sich selbst und schüttelte kaum merklich den Kopf.
In Jonathan kroch eiskalte Angst hoch. Er wollte hier raus, JETZT SOFORT!
„...aber ich komm mit.“ hauchte sie jetzt nur noch. Unverständlich sah er sie an.
„Ich hab dich belogen. Es tut mir leid.“ brach es aus dem Mädchen hervor. Tränen liefen ihr über die Wangen. „Ich hab' noch eine Tasche mit Proviant in meinem Zimmer. Ich hol’ sie schnell.“
Schon war sie in der Dunkelheit des Korridors verschwunden. Verwirrt ging Jonathan zurück in sein Zimmer und setzte sich auf sein Kissen, das er schweren Herzens zurücklassen würde.
Wieso hatte sie es ihm nicht gesagt? Traute sie sich nicht? Oder hatte sie befürchtet, er wollte sie davon abbringen?
Ein paar Minuten später trat sie wortlos ein und setzte sich neben ihn. Er war immer noch durcheinander: Einerseits war er wütend auf Leonie, dass sie mitkommen wollte und es ihm verschwiegen hatte, andererseits war er aber auch froh, dass er nicht alleine gehen musste.
Allerdings, wie sollten sie jetzt aus dem Heim rauskommen? Keiner lenkte die Nachtwache ab. Grübelnd starrte Jonathan an die Wand.
„Keine Angst, wir schaffen das schon. Ich hab schon einen Plan.“ versicherte Leonie ihm.
„Und der wäre?“ erwiderte Jonathan noch immer zweifelnd.
„Kann ich dir nicht erklären. Folg mir nachher einfach und bleib dicht hinter mir.“
Er wusste, dass weiter Nachfragen ohnehin keinen Sinn hätte, also ließ er es gleich bleiben. Er versuchte, alle Zweifel abzulegen und ganz auf Leonie zu vertrauen.
Die beiden saßen nebeneinander auf dem Kissen und starrten in die Dunkelheit. Keiner sagte etwas.
Eine geschätzte halbe Stunde später sprang plötzlich Leonie auf und zerrte Jonathan hinter sich her. Gerade noch bekam dieser seinen Rucksack zu fassen. Das Mädchen warf sich ihre Tasche über die Schulter und hastete auf leisen Sohlen zur Tür hinaus. Jonathan warf noch einen kurzen Blick zurück über die Schulter und folgte ihr. Die zwei Kinder verschwanden in der Dunkelheit.
Mit dem Rücken an der Wand entlang schoben sie sich die steile Wendeltreppe, die normalerweise nur für Personal gedacht war, auf der Rückseite des Gebäudes hinunter. Jonathan war es ein Rätsel, wo Leonie den Schlüssen für die schwere Eisentüre herbekommen hatte, aber es war ihm durchaus recht. Immerhin mussten sie so nicht an den Hauptwachen vorbei und quer durch die, wenn auch nur spärlich, beleuchtete Eingangshalle.
Es war stockdunkel im Treppenhaus. Jonathan war mulmig zu Mute. Nicht nur einmal wäre er fast die Stufen hinuntergefallen.
Unten angekommen mussten sie nur noch den kleinen Aufenthaltsraum der Angestellten durchqueren und durch die Türe schlüpfen. Schon waren sie im Freien. Bis jetzt war alles gut gelaufen. Doch der wahrscheinlich schwierigste Teil ihrer Flucht kam jetzt. Vor dem großen Hoftor waren fünf große Wachhunde angebunden. Jetzt galt es, so leise wie nur irgendwie möglich von der Eingangstüre und somit auch vom Hoftor wegzuschleichen. Wenn die Hunde irgendetwas witterten, würden sie Alarm schlagen und sekundenspäter würde der ganze Hof beleuchtet sein, dann gäbe es für sie kein Entkommen mehr.
Nichts geschah, die Hunde blieben ruhig. Jonathan folgte Leonie in Richtung Ostseite des Gebäudes. Sie liefen direkt auf den hohen Stacheldrahtzaun zu. Jonathan hatte keine Ahnung, wie sie hier rauskommen sollten. Doch Leonie zögerte keine Sekunde. Sie war sich ihrer Sache sicher.
Plötzlich knurrte einer der Hunde leise. Jonathan rutschte das Herz in die Hose, sein Atem ging stoßweise. Doch das Mädchen ließ sich nicht einschüchtern, noch hatten die Biester nicht gebellt, noch hatten sie Zeit, den Zaun zu erreichen.
Sie schafften es. Jonathan fühlte das kalte Metall des Zaunes an seinen Händen. Es war stockdunkel, sie hatten den Lichtschein des Heimes hinter sich gelassen.
„Runter!“ zischte Leonie ihm zu. Er gehorchte und sie drückte ihm eine schwere Taschenlampe in die Hand. Er dachte mit und legte zuerst die Hand über die Lampe, bevor er sie anschaltete. Das Mädchen zog einen Saitenschneider aus ihrer Tasche und fing an ein Loch in den Zaun zu schneiden.
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, dann war es endlich so groß, dass die zwei Kinder hindurch kriechen konnten.
Sie waren frei! Endlich!
Doch noch war es nicht geschafft. Sie hatten zwar das Terrain des Heimes hinter sich gelassen, doch bei diesem Wetter konnten sie hier heraußen nicht lange überleben. Jonathans Nerven lagen blank. Er zitterte am ganzen Körper, teils wegen der Kälte, teils vor Anspannung.
Die Kinder stapften durch den knietiefen Schnee in Richtung Stadt, von der sie allerdings erst die Lichter aus großer Entfernung erkennen konnten.
Es war nicht leicht und oft machte einer der beiden schlapp, wollte sich hinsetzten und ausruhen, doch sie ermutigten sich immer wieder gegenseitig. Wenn sie jetzt ihrer Müdigkeit nachgaben, wäre das ihr sicheres Ende.
Am Horizont wurde es schon hell, als sie endlich die verschneiten Felder hinter sich ließen und auf geteerte Straße kamen. Hier war das Laufen schon viel einfacher. Sie kamen schneller voran und hatten innerhalb kürzester Zeit die letzten Meter bis zum Stadtrand zurückgelegt.
Vor dem ersten Haus hielten sie an. Beide hatten ihre Kräfte bis auf das Letzte aufgebraucht. Sie hatten fast nichts mehr zu essen und ihr Wasser war gefroren.
Die Beiden schleppten sich zur Gartentüre einer Villa auf der linken Straßenseite, hinter deren Glasfassade im ersten Stock warmes Licht hervorschien.
Hoffnungsvoll klingelte Leonie. Nichts. Sie warteten noch ein paar Minuten. Dann versuchte Jonathan es noch einmal. Er hatte Erfolg. Kurze Zeit später surrte das Türchen und sie konnten in den Vorgarten eintreten. Eine Frau in rotem Morgenmantel mit besorgtem Gesicht öffnete ihnen die Haustüre.
„Ihr Armen! Wo kommt ihr denn her. Kommt rein. Ihr müsst ja bis auf die Knochen durchgefroren sein.“ Tatsächlich, erst jetzt bemerkte Jonathan, dass er seine Füße nicht mehr spürte.
Leonie wollte schon wieder sprechen, doch die Frau schob die beiden Kinder vor sich her ins Warme der Stube und schloss die Tür hinter sich wieder.
„Tut mir Leid, ich hab' mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Sophia.“ sagte sie und bot den Kindern an, sich zu setzten.
Die Zwei nahmen das Angebot an und setzten sich auf den Fußboden vor den Kamin, in dem ein warmes Feuer prasselte.
„Ich bin Leonie“, stellte das Mädchen sich vor, „und das hier ist Jonathan.“
„Wartet hier. Ich bin gleich wieder da. Ich mache euch nur schnell eine heiße Schokolade. So wie ihr ausseht, könnt ihr die gut gebrauchen, oder?“
Jonathan und Leonie nickten nur.
Die zwei Kinder durften vorerst einmal bei Sophia und ihrem Mann bleiben. Das Ehepaar hatte sich schon länger Kinder gewünscht, bisher war ihnen dieser Wunsch allerdings noch verwehrt geblieben. Jonathan und Leonie lebten sich schnell ein und gingen ihnen zur Hand, wo sie nur konnten. Schnell wurde klar, dass das Ehepaar die beiden adoptieren würden.
Tag der Veröffentlichung: 21.02.2011
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