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Ich rumpelte auf, mir war egal, dass dabei zwei Stühle umflogen und krachend auf dem Boden landeten, sowie ein Glas und ein Teller zu Bruch gingen. Ich konnte nicht mehr. Okay, ich hatte meine Probleme, schulisch und auch persönlich. Doch wieso mussten mich meine Eltern ausgerechnet heute darauf ansprechen und dann auch noch während Oma und Opa zu Besuch waren.
Ich litt seit ungefähr zwei Jahren an Borderline, einer Persönlichkeitsstörung, und verletzte mich auch öfters selbst.
Ich rannte hinaus, im Vorbeigehen an der Garderobe schnappte ich mir noch kurz eine Jacke – wer weiß, wie spät ich zurückkehren würde – und knallte die Tür hinter mir zu. Ich hörte nicht auf zu rennen, bis ich den Waldrand erreichte, dort blieb ich keuchend ein paar Minuten stehen.
Ich mochte den Wald in der Nähe meines Hauses. Hier roch es immer angenehm nach feuchtem Holz und Nadelbäumen, die Sonne kam nur stellenweise durch das dichte Blätterdach hindurch, dort aber tanzten dann Staubteilchen glitzernd in der Luft und der feuchte Boden fing zu dampfen an. Außerdem verirrte sich kaum jemand hierher, früher wurden Gruselgeschichten über den Wald erzählt und anscheinend schenkten immer noch viele Menschen den Geschichten ihren Glauben. Ich jedoch nicht.
Langsam ging ich weiter, ich achtete auf jeden Schritt und spürte den weichen Waldboden unter meinen Füßen. Ich war immer noch wütend, doch ich spürte schon, wie mein Zorn langsam verflog. Ich ging immer weiter in den Wald hinein. Schließlich kam ich zu einem kleinen, aber rauschenden, Gebirgsbächlein. Ich kannte ihn, allerdings war ich bisher immer nur weiter flussabwärts gewesen. Er musste nur ziemlich nah entspringen, denn das Wasser war noch ganz klar und auch eiskalt. Ich setzte mich auf einen großen Stein am Ufer und beobachtete das Wasser und die kleinen Fische. Früher, als ich noch klein war, habe ich mit ein paar Freunden immer versucht, sie in unseren kleinen Eimern zu fangen und mit Heim zu nehmen, doch es war selten, dass einer von uns mehr als nur einen Fisch gefangen hatte, sie waren einfach zu flink für uns. Außerdem bekamen wir dann doch irgendwann Mitleid mit den kleinen Lebewesen und leerten sie zurück in den Bach.
In meiner Hosentasche drückte etwas, zuerst dachte ich, es wäre mein Feuerzeug, doch es war in meiner Jackentasche, also musste es mein Messer sein. Eigentlich hatte ich es gar nicht mitnehmen wollen, doch herausgenommen hatte ich es auch nicht. Jetzt zog ich es heraus. Es war ein relativ einfaches rotes Schweizer-Taschenmesser mit einem kleinen weißen Kreuz, so wie es sich gehörte. Es besaß nur ein Messer, eine Feile und eine kleine Schere, die allerdings miserabel schnitt. Langsam klappte ich die Klinge heraus und betrachtete sie stumm. Die Sonne glitzerte auf dem Metall und es warf helle Kringel auf die dunkle Felswand auf der anderen Uferseite. Vorsichtig strich ich mit dem Finger über die Schneide. Sie war immer noch scharf, obwohl ich sie schon so oft benutzt hatte und fast jedes Mal war eine weitere Wunde an meinem Handgelenk entstanden, aus der dann eine weitere Narbe wurde. Ich versteckte sie schon gar nicht mehr, denn erstens gehörten sie irgendwie zu mir und zweitens wurde es mir irgendwann zu dumm, immer mit langen Ärmeln herumzulaufen. Ich schob meine Jacke am Arm ein Stück höher und wollte es wieder tun. Ich spürte das kalte Metall schon auf meiner Haut, musste nur noch durchziehen, doch dann ließ ich den Arm wieder sinken und hob ein Stück Holz vom Boden auf. Statt mir selbst weh zu tun, schnitzte ich wild darauf herum. Eines der wenigen Male, dass ich mich beherrschen konnte. Im Schnitzen war ich noch nie gut, also überlegte ich auch erst gar nicht, was ich daraus machen konnte. Meine zwei älteren Brüder sind gut gewesen, sie haben allerdings beide vor ein paar Jahren Selbstmord begannen. Seitdem bin ich Einzelkind und mit meinen Problemen alleine, denn meine Eltern verstanden mich nicht.
Nach ein paar Minuten setzte ich das Messer ab und stellte zu meinem eigenen Erstaunen fest, dass das Holzstück ein kleines Schwert geworden ist. – Nicht sonderlich schön, aber gut erkennbar. – Ich steckte das Messer wieder ein, das Holzschwert behielt ich allerdings in der Hand. Irgendwie gefiel es mir. Langezeit saß ich da, ohne mich zu bewegen, beobachtete nur das Wasser. Ich hörte ein Rascheln, schaute kurz um, entdeckte niemand und ließ mich dann nicht weiter stören. Plötzlich knallte es ein paar Meter hinter mir, ich erschrak, wäre fast ins Wasser gefallen und spürte dann einen Streifschuss am linken Arm. Nur meine Jacke, die ich inzwischen angezogen hatte, bekam ein Loch. Mein Arm blieb zum Glück heil. Blitzschnell sprang ich ins Wasser und ging hinter dem Stein in Deckung. Ein weiterer Schuss zischte knapp neben meinem linken Ohr vorbei, prallte an der Felswand ab und ging in eine andere Richtung davon. Entweder ich hatte verdammt viel Glück, oder aber der Waffenbesitzer wollte mich überhaupt nicht treffen. Ich grübelte darüber nach, was ich jetzt machen sollte. Und erst jetzt wurde ich mir der Gefahr so richtig bewusst und Panik stieg in mir hoch. Anscheinend hatte es irgendjemand darauf abgesehen, ein 17-jähriges Mädchen im Wald zu ermorden, oder als Geisel zu nehmen, was ich mir noch viel schlimmer vorstellte. Der Schussregen wurde nicht eingestellt und jede Kugel verzielte mich oder meine Deckung nur um wenige Millimeter. Auf einmal hörte ich zwei Schüsse, sehr kurz nacheinander. Meiner Ansicht nach zu kurz nacheinander für nur eine Pistole. Eine Kugel flog zischend knapp über mir vorbei, ich konnte mich gerade noch rechtzeitig ducken, und die andere riss in meine Jacke am Rücken ein Loch. Ein stechender Schmerz überkam mich, er ging von meinem Rücken aus, fast wäre ich zusammen gebrochen. Doch mit zusammen gebissenen Zähnen kämpfte ich um mein Bewusstsein. Jetzt ohnmächtig zu werden, wäre das Schlimmste gewesen, was hätte passieren können. Die Streifwunde - zumindest vermutete ich, dass es eine war – brannte höllisch und blutete leicht, wie ich, nachdem ich meine Hand dagegen gedrückt hatte, feststellte. Mir fiel mein Messer wieder ein, viel konnte ich damit wahrscheinlich nicht ausrichten, aber ewig hinter dem Stein sitzen zu bleiben, erschien mir auch keine Lösung. Früher oder später würden sie herkommen und nachschauen, dann wäre mein Leben auf jeden Fall erledigt. Ich steckte das kleine Holzschwert in meine Hosentasche – wieso wusste ich in diesem Augenblick auch nicht, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es mir später noch helfen könnte – zog mein Messer heraus und klappte es auf, dabei passte ich verdammt auf, dass sich das Sonnenlicht nicht auf dem Metall reflektierte und mich verriet. Da hinter mir die Felswand war und von vorne und links schon Schüsse gekommen waren, war der einzige vielleicht hoffnungsvolle Fluchtweg nach rechts. Das bedeutete allerdings, dass ich meine Deckung aufgeben und gegen den Strom im Fluss weiter gehen musste. Mit einem tiefen Atemzug nahm ich das Messer zwischen die Zähne, so wie ich es in Western-Filmen schon öfters gesehen hatte – vielleicht half es mir ja – zog meine Springerstiefel und meine Lieblings-Lederjacke, die ja inzwischen ein Loch hatte, aus – lieber die opfern, als das eigene Leben – ließ mich langsam ins eiskalte Wasser gleiten, holte noch einmal tief Luft und tauchte erst mal ein Stück vom Stein weg. Es war anstrengend und ich kam kaum von der Stelle, mein Luftvorrat war innerhalb der kürzesten Zeit verbraucht, doch ich schaffte es trotzdem noch ein ganzes Stück weiter. Schließlich tauchte ich vorsichtig wieder auf, in der Hoffnung, eine halbwegs brauchbare Deckung zu haben. Dem war auch so, das Buschwerk am Ufer war hier so dicht, dass ich nicht sehen konnte, was auf der anderen Seite war. Vorsichtig verließ ich das Wasser und kletterte an Land, ich war bis auf die Knochen durchgefroren und auch jetzt war mir noch eisigkalt. Ich kämpfte mich möglichst leise durch die Büsche, nicht ohne mir ein paar Kratzer zuzulegen und ein paar Dornen unter der Haut zu haben. Mein Rücken tat wieder weh, doch es war aushaltbar. Zumindest konnte ich laufen und auch halbwegs gerade stehen. Da ich kein einziges Geräusch hörte, trat ich, mit der festen Überzeugung, sie abgehängt zu haben, hervor. Um so größer war der Schreck, als ich gleich vier von ihnen – Männer, ganz in schwarz gekleidet, mit Handschuhen und Sturmhaube – im Halbkreis vor mir stehen sah. Mir blieb die Luft weg, Gedanken kreisten durch meinen Kopf. Alle vier richteten ihre Pistolenläufe auf mich. Mein Taschenmesser brachte mir hier auch nichts mehr. Im Gegenteil, womöglich provozierte es sie sogar noch. Also ließ ich es lieber da, wo es war. Am ganzen Leib zitternd wich ich soweit wie möglich zurück. Plötzlich stieß ich mit der Ferse gegen etwas hartes, es fühlte sich nicht an, wie ein Stein oder ein Stück Holz. Vorsichtig schob ich es mit dem Fuß in mein Blickfeld. Mir war durchaus bewusst, dass, wenn ich mich zu ruckartig bewegte, mein Leben beendet wäre. Endlich sah ich den Gegenstand. Es war das kleine Holzschwert, das ich vorhin geschnitzt hatte. Doch es funkelte merkwürdig, obwohl überhaupt keine Sonne durch das Blätterdach fiel und außerdem war es für nasses Holz viel zu hart. Ich war anscheinend die einzige, die das kleine Schwert bemerkte, denn als ich vorsichtig aufsah, blickten die vier Ganoven nur mit gerunzelter Stirn vor mir auf den Boden, dann drehten sie die Köpfe - einen Moment lang fürchtete ich, sie würden das Zeichen zum Feuern geben – und sahen sich gegenseitig fragend an. Ich ging das Risiko ein, erschossen zu werden, und ließ mich langsam in die Hocke sinken. Nichts geschah, außer dass die Pistolenläufe mir folgten, doch das hatte ich erwartet. Ich umschloss das Holzschwert mit der Hand und stand wieder auf. Anscheinend ein wenig zu schnell, denn es knallte plötzlich und mich streifte ein Schuss am Hosenbein, doch sonst passierte wieder nichts. Ich kam zu dem Entschluss, dass die Männer verdammt gute Schützen waren, sonst wäre ich schon lang tot gewesen. Irgendwie wirkten sie unruhig, aber das hatte ich mir wahrscheinlich nur eingebildet. Das Holzschwert war kühl, ungewöhnlich kühl, nicht wie Holz, eher wie Metall, und lag auch ziemlich schwer in meiner Hand. Ich senkte den Blick und schaute es mir nochmals an. – Die Vier bewegten sich immer noch nicht. – Ich entdeckte nichts außergewöhnliches. Ich wagte noch einen Schritt mehr und wechselte es in die andere Hand. Mit einem Mal wurde es blendend hell, alles war für einen Augenblick in bläuliches Licht eingetaucht. Ich taumelte zurück, zuerst wusste ich gar nicht, was passiert war. Das Licht war genauso plötzlich wieder weg, wie es erschienen war. Ich hielt ein lebensgroßes Schwert in der Hand – und das Holzschwert war verschwunden – es hatte genau den richtigen Griff und war auch nicht zu schwer oder zu leicht, wie für mich gemacht. Von der Schneide ging immer noch ein blauer Schimmer aus. Ich war verwirrt, doch noch verwirrter waren die Männer, sie hatten die Pistolen sinken lassen und sahen mich mit vor Schreck geöffneten Mündern an. Ich ergriff die Chance, bevor sich einer von ihnen besann, hob das Schwert und stürmte, falls man es nicht eher als taumeln bezeichnen sollte, los. Doch kaum, dass die Spitze eindeutig auf den Äußersten von ihnen zeigte, schoss ein blauer Blitz hervor und legte ihn um, ohne Blut und ohne Schrei. Ich begriff und richtete das Schwert nacheinander auf die anderen drei Männer, noch drei weitere blaue Blitze und auch sie waren tot. Danach verwandelte die Waffe sich zurück in das kleine Holzschwert, das es davor schon war. Langezeit betrachtete ich es in meiner Hand, was soeben passiert war, konnte ich mir nicht erklären. Als ich wieder aufsah, waren die Leichen verschwunden und auch sonst war keine einzige Kampfspur vorhanden. Sollte mir auch recht sein.
Nachdenklich machte ich mich auf den Weg nach Hause, doch zuerst schaute ich nochmals bei dem Stein, der mir als Versteck gedient hatte vorbei, meine Stiefel und auf meine Jacke waren noch auf dem gleichen Fleck. Ich zog sie an, das Loch am Ärmel sah man fast nicht, und ging den gleichen Weg, den ich gekommen war, zurück. Als ich den Waldrand wieder erreichte, blieb ich noch kurz stehen und sah zurück, irgendwie hatten die Bäume jetzt eine andere Ausstrahlung, fast so, als ob sie froh wären. In meiner Hosentasche hatte ich die Hand fest um das kleine Holzschwert geschlossen. Ich wunderte mich, wie viel Energie in so einem kleinen Stückchen gewöhnlichem Holz stecken konnte.
Zu Hause entschuldigte ich mich bei meinen Eltern, die ziemlich erstaunt darüber waren, denn normalerweise tat ich das nie. Dann suchte ich im Keller eine schöne Schachtel für das Schwert, ich stellte sie mit der Schnitzerei an eine ganz besondere Stelle in meinem Zimmer, von jedem Punkt aus im ganzen Raum konnte ich es sehen.
Seit diesem Tag im Wald habe ich mich nie wieder selbst verletzt und auch meine Narben kamen mir blasser vor, als je zuvor. In meinem Zimmer roch es immer leicht nach Wald, wenn auch nur für mich und ich war im Jahr öfters im Wald als in meinem ganzen Leben zuvor. Er war wie mein zweiter Wohnsitz. Ich versuchte noch öfters, das kleine Holzschwert wieder in ein großes zu verwandeln, doch ich konnte es nicht, ich war allerdings auch nie wieder in so einer Gefahr wie damals.
Wie viel doch so ein kleines Stück Holz aus einem Wald, der mit Sagen umwoben ist, bewirken kann. Ob vielleicht doch Teile der Geschichten wahr sind? Ich werde es nie erfahren, denn selbst in die Vergangenheit reisen konnte ich nicht und mir eine Reise zu kaufen, war zu teuer.
Vielleicht habe ich auch alles nur geträumt? Wer weiß?

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Tag der Veröffentlichung: 08.01.2011

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