Ich machte niemandem außer mir Vorwürfe. Ich war schließlich auch schuld an seinem Tod. Ich hätte dieses schreckliche Unglück verhindern können. Ich hätte ihn viel früher schon zum Arzt schicken sollen. Ich hätte hartnäckig bleiben sollen. Er schob es auf seinen Stress und ich nahm es hin. Es ist so leer und so kalt ohne ihn. Ich kann es manchmal noch gar nicht verstehen, dass ich ihn nie wieder in den Arm nehmen kann, kann nicht wahrhaben, dass er nie wieder strahlend mit einem selbst gepflückten Strauß Blumen und einer Tüte Brötchen sonntags in die Haustüre tritt. Immer denke ich, gleich kommt er nach Hause und begrüßt mich mit einer Umarmung oder einem Kuss.
Wenn ich das alles nur rückgängig machen könnte! Ich kann nicht verstehen, warum ausgerechnet er so bald gehen musste. Er war gerade einmal 28 Jahre alt. Und wir waren glücklicher denn je, wollten heiraten, Kinder haben, für immer und ewig zusammen bleiben. Meine Freundin redet immer wieder auf mich ein und will mich davon überzeugen, dass es nicht meine Schuld war. Er hatte ein Magengeschwür, sagt sie immer wieder. Er hätte mir doch etwas davon sagen sollen. Wir haben uns schließlich alles erzählt. Ich hätte ihn zu einer Operation überreden können.
Ich lege drei rote Rosen auf sein Grab. Es schmerzt mich die Vorstellung, dass er nun dort unten in einem Sarg liegt. Leblos, kalt und tot. Ich habe viel geweint. Habe nun keine Kraft mehr zu weinen, fühle mich elend. „Ich gehe nun zu deinem Arzt“, sage ich zu ihm in der Hoffnung, dass er mich hören kann, „um herauszufinden, woran du gestorben bist. Ich möchte es wissen, nein, ich muss es wissen, muss wissen, ob ich deinen Tod hätte verhindern können.“
Der Arzt bestätigt, dass er Krebs hatte. Es ist schlimmer als ich dachte. Er hatte nicht nur ein Geschwür im Magen, sondern der Krebs hatte gestreut und er hatte nahezu überall in seinem Körper Metastasen. Ich kann es nicht fassen. Man hat es zu spät erkannt, hat es erkannt, als es bereits zu spät war. Und er, er hat sich nie beschwert, hat niemals über Schmerzen geklagt. Ich verstehe das nicht. Er hat mir nichts gesagt!
Sein Zimmer habe ich gelassen, wie es war. In einer Schublade in seinem Schreibtisch finde ich eine Art Tagebuch. Ich nehme es und setzte mich in eine Decke eingemummt aufs Sofa und beginne darin zu lesen.
4. März 97
Ich habe heute in der Uni eine faszinierende junge Frau kennengelernt. Was heißt kennen gelernt. Ich saß in der Mensa am gleichen Tisch wie sie. Ich glaube, sie hat mich nicht bemerkt, da sie sich angeregt mit ihrer Freundin unterhalten hat. Sie scheint ein sehr fröhlicher Mensch zu sein. Ich mag es wie sie lacht. Sie lacht nicht aufdringlich, nein, sie lacht herzlich, unbeschwert und regt zum Mitlachen an. Sie ist eher klein (im Vergleich zu mir mit meinen 1,90 m sehen alle klein aus), hat blonde Haare und sieht sehr zerbrechlich aus (zerbrechlich, nicht mager süchtig). Wenn man sie sieht möchte man sie am liebsten beschützen. Mir geht es jedenfalls so. Ein Mal hat sie flüchtig zu mir herüber geschaut. Es war jedoch zu kurz um ihre Augenfarbe zu erkennen. Ich schätze ihre Augen sind entweder grün oder blau. Wären sie braun, würde es mir auch nichts ausmachen...
8. März 97
Ich habe mich noch nie so wenig auf das Wochenende gefreut wie heute. Ich weiß, das klingt kindisch, aber am Wochenende kann ich sie nicht sehen. Ich führe mich auf wie ein Teenager, ich weiß, aber mich hat es total erwischt. Gestern ist mir ein Buch heruntergefallen und sie hat es für mich aufgehoben und mir dabei tief in die Augen geschaut. Sie hat strahlend, glänzende blaue Augen. Ich glaube, ich habe sie so angesehen, als ob sie eine Außerirdische sei als ich mich bei ihr bedankt habe. Doch bevor ich sie auf eine Tasse Kaffee einladen konnte, war sie wieder verschwunden. Und jetzt liege ich auf meinem Bett und träume von ihr, wie ein Schuljunge.
9. März 97
Gestern hat mich Max besucht und mich überredet mit ihm und zwei Freundinnen von ihm einen trinken zu gehen. Ich wollte zunächst nicht, doch Max der Draufgänger (er hat jede Woche eine andere Freundin) konnte mich schließlich überreden. Ich konnte mir bereits vorstellen mit welchen Absichten Max mit den Mädels weggehen wollte, denn er sagt mir bereits im Auto: die Blonde ist für mich und die Dunkelhaarige für dich. Wenig begeistert begab ich mich also in die Kneipe. Doch als die Mädels kamen, war ich positiv überrascht. Es waren meine Angebetete und ihre Freundin. Für Max lief der Abend nicht so, wie er es sich erhofft hatte, denn die beiden ließen sich nicht von ihm einwickeln, geschweige denn abschleppen. Sie heißt Lisa. Ich hatte kaum Gelegenheit mit ihr zu sprechen, da Max sie umworben hat. Im Gegenzug hat ihre Freundin mich pausenlos ausgefragt. Als Max Lisa einen Klaps auf den Hintern gegeben hat, hat sie ihm eine Ohrfeige gegeben und hat sich verabschiedet. Ihre Freundin ist geblieben. Ich wollte ihr nachgehen, doch ihre Freundin ließ mich nicht.
Sicherlich denkt sie, dass ich genauso einer bin wie Max. Toller Freund!
Ich gehe jetzt noch ein wenig spazieren.
10. März 97
Wie gut, dass ich gestern noch in den Park gegangen bin. Das Schicksal oder was auch immer hat mir sie in die Arme stolpern lassen. Ich bin gerade ziellos herumgeschlendert und da rollte sie direkt, ungelogen in meine Arme, da sie sonst hingefallen wäre. Sie fährt noch nicht lange Inlines und ist daher auf mich zugesteuert um nicht hinzufallen. Anschließend sind wir in ein Café gegangen und haben uns sehr gut unterhalten. Wir haben uns für morgen verabredet. Wie gehen ins Kino. Ich freue mich darauf!
Ich lege das Buch bei Seite, da mir Tränen übers Gesicht laufen und ich nicht möchte, dass die Seite nass wird. Ich gehe in die Küche und hole mir ein Taschentuch. Ob ich weiter lesen soll? Es tut so schrecklich weh das alles noch einmal zu erleben, wie wir uns kennengelernt haben. Es ist schon nach zwölf. Ich muss doch morgen, besser gesagt heute früh aufstehen. Muss in die Uni gehen.
Ich konnte mich heute kaum konzentrieren. Stets hatte ich Bilder von ihm und mir vor mir. Es fällt mir sehr schwer an etwas anderes zu denken. Zum Glück kann ich heute eine Stunde früher gehen. Zu Hause angekommen setzte ich mich wieder aufs Sofa und nehme sein Tagebuch in die Hand.
16. März 97
Diese Woche habe ich sehr viele schöne Momente mit ihr erlebt. Wir waren im Kino, sind zusammen Inlines gefahren und vieles mehr. Der erste Eindruck von ihr hat nicht getäuscht. Sie ist wirklich sehr lebensfroh, genießt jeden Augenblick. Wir haben sehr viel miteinander gelacht. Verblüfft war ich, als sie plötzlich so gut Inlines fahren konnte. Ich habe sie natürlich zur Rede gestellt. Sie hat sich in meine Arme fallen lassen, weil sie mich kennen lernen wollte. Als sie mich fragte, ob ich ihr deswegen böse sei, musste ich innerlich lachen.
Ich bin wirklich froh, dass ich sie kennen gelernt habe. Ich würde vor Freude am liebsten die ganze Welt umarmen.
3. August 97
Ich habe schon lange Zeit nichts mehr aufgeschrieben, doch der heutige Tag ist genau der richtige, um damit wieder anzufangen, denn heute sind Lisa und ich zusammengezogen. Heute Nacht verbringen wir die erste gemeinsame Nacht in dieser Wohnung. Was in der Zwischenzeit geschehen ist? Wir waren gemeinsam im Urlaub in Frankreich zusammen mit Max und seiner Freundin. Ja, er hat im Moment seine längste Beziehung überhaupt. Sie sind schon einen Monat zusammen! Ich erinnere mich besonders gerne an diese zwei Wochen, da wir sehr viel Spaß hatten. Am lustigsten war, dass Lisas Koffer gestohlen wurde (sie fand es natürlich nicht sehr lustig) und sie meine Kleider getragen hat, die ihr viel zu groß sind (Maxs Freundin wollte ihr keine Kleider leihen, da sie dies unhygienisch findet). Nach ein paar Tage habe ich mich erbarmt und bin mit Lisa neue Kleider kaufen gegangen (ich habe dies selbstverständlich nur getan, weil ich so schrecklichen Muskelkater vom Lachen hatte). Am Tag unserer Abreise ist übrigens der Koffer wieder aufgetaucht. Der Portier hatte ihn in ein falsches Zimmer gebracht. Er entschuldigte sich mehrmals und übernahm die Kosten für die Kleider, die wir ersatzweise gekauft hatten.
16. August 97
Wir haben die ersten Wochen in unserer Wohnung streitfrei überstanden! Das ist ein gutes Omen!
31. August 97
Meine Mutter und mein Stiefvater waren gestern zum ersten Mal bei uns zu Besuch. Meine Mutter mag sie sehr (normalerweise hat sie immer etwas an einer meiner Freundinnen auszusetzen). Nicht, dass mir das etwas ausmachen würde, wenn sie sie nicht leiden kann, doch es macht die Angelegenheit erheblich leichter.
21. September 97
Ich konnte dieses Wochenende das Bett nicht verlassen, da ich starke Bauchschmerzen hatte. Vermutlich von dem vielen Stress in der letzten Zeit. Lisa hat sich wirklich rührend um mich gekümmert. Hat mir Tee gekocht, Wärmflaschen gemacht, hat den Fernseher ins Schlafzimmer geschleppt, und, und... Sie wollte mich sogar zum Arzt schleppen, doch als es mir heute Abend wieder besser ging, blieb ich verschont.
Er hatte bereits vor zwei Jahren immer wieder Bauchschmerzen! Hätte ich ihn doch bloß zum Arzt geschickt. Er würde jetzt sicherlich noch leben!
30. November 97
Die Vorweihnachtszeit beginnt. Ich liebe diese Zeit. Vor allem liebe ich Schnee. Ich freue mich auf unser erstes gemeinsames Weihnachtsfest! Doch bis dahin ist ja noch ein wenig Zeit...
Hatte heute wieder Bauchschmerzen, habe ihr jedoch nichts davon gesagt, da ich nicht wollte, dass sie sich unnötig Sorgen macht.
1. Januar 98
Wir haben ein wunderschönes Weihnachten gehabt. Wir waren über die Feiertage in der Berghütte meiner Eltern in Österreich. Ich habe mich zunächst gewundert, warum sie sich immer geschickt ums Skifahren gedrückt hat, doch dies hat den einfachen Grund, dass sie es nicht kann und sich nicht blamieren wollte. Ich habe es ihr dann beigebracht. Das war wirklich süß, wie sie mit schlotternden Beinen den Idiotenhügel heruntergekrochen ist. Doch sie lernt sehr schnell und ist nach ein paar Tagen den ganzen Berg herunter gefahren. Sie ist zwar ein paar Mal gestürzt, doch das konnte sie nicht davon abhalten immer wieder herunter zu fahren. Silvester sind wir wieder zurückgekommen und waren auf einer Party.
3. März 98
Ich habe nun schon seit zwei Wochen beinahe ununterbrochen Schmerzen. Ich werde um einen Besuch beim Arzt wohl nicht herumkommen. Schließlich kann ich mich nicht nur von Schmerztabletten ernähren.
Lisa war übrigens beim Arzt. Sie dachte, sie sei schwanger, da ihre Regel ausblieb. Es war jedoch falscher Alarm (eigentlich schade, doch wir habe ja alle Zeit der Welt).
Ich lege das Buch auf den Wohnzimmertisch, da das Telefon klingelt. Es ist Max. Er möchte mich zum Essen einladen. Ich lehne ab. Ich möchte das Wochenende zu Hause verbringen. Er fragt, ob er für mich einkaufen gehen soll. Ich lehne abermals ab, versichere ihm aber, dass mein Kühlschrank ausreichend bestückt ist. Eine glatte Lüge, doch das muss er ja nicht wissen. Ich bekomme ohnehin keinen Bissen herunter.
7. März 98
War gestern beim Arzt. Er hat mich von obern bis unten untersucht und mir gesagt, ich solle am Montag anrufen und mich nach den Ergebnissen erkundigen.
9. März 98
Die Ergebnisse der Untersuchungen sind keines Falls erfreulich. Es wurde Krebs diagnostiziert. Unheilbar! Der Arzt konnte mir nicht sagen, wie lange ich noch leben werde...
Ich kann es ihr nicht sagen! Ich möchte nicht bemitleidet werden, geschweige denn wie ein Schwerkranker behandelt werden. Ich möchte die mir noch verbleibende Zeit unbeschwert verbringen.
Zum Glück haben wir noch Semesterferien. Ich möchte mit ihr verreisen. Vielleicht in die USA. Ich habe dort bereits für ein Jahr gelebt und möchte ihr alles zeigen.
1. April 98
Die Wochen in den USA verbrachte ich schmerzfrei dank der Schmerzmittel, die mir mein Artz mit auf den Weg gegeben hat. Es hat sich kaum etwas verändert in der Stadt, in der ich war. Wir haben bei meinem Freund Gary eine Woche lang übernachtet. Anschließend waren wir noch jeweils eine Woche in Las Vegas, in Sant Fransisco und in New York.
Sie hat zum Glück nicht gemerkt, dass ich Tabletten genommen habe. Ich weiß nicht, wie ich ihr das hätte erklären sollen, ohne mich und die Krankheit, die mich langsam auffrisst zu verraten.
Lisa ist übrigens ein echter Glückspilz. Wie haben im Spielkasino immerhin tausend Dollar gewonnen. Davon haben wir uns Jeans, Karohemden und Cowboystiefel gekauft. In diesen Kleidern sind wir dann fortan herumgezogen und haben uns kaputt gelacht, da wir unsere Aufmachung zum schreien komisch fanden.
Ich habe während diesen Wochen kaum an meine Krankheit gedacht. Lisa ist wie Medizin für mich.
12. April 98
Lisa hatte gestern einen Autounfall. Sie hat ein gebrochenes Bein, eine Gehirnerschütterung und leichte Prellungen an beiden Armen. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn sie dabei tödlich verunglückt wäre. Ich kann nur mit ihrer unbeschwerten Fröhlichkeit stark sein, stark genug um gegen den Krebs anzukämpfen. Umso erleichterter bin ich, dass ihr nichts Schlimmeres zugestoßen ist. Sie lächelt bereits wieder und hat den Schreck gut überwunden. Sie plant sogar bereits, was sie machen möchte, wenn sie wieder aus dem Krankenhaus entlassen wird. Auch ich kann ihre Entlassung kaum erwarten. Ich möchte, dass sie bei mir ist, möchte ihre Nähe spüren, sie in den Arm nehmen und sie nie wieder loslassen.
15. April 98
Ich habe ihr heute einen Krankenbesuch abgestattet. Sie ist quietsch vergnügt in ihrem Bett gelegen und hat mir diktiert, was ich ihr alles herbringen soll. Wenn ich nur auch so stark sein kann, wenn es mir einmal nicht mehr so gut geht.
21. April 98
Heute wird sie endlich wieder aus dem Krankenhaus entlassen. Ich habe den Weg zu unserem Schlafzimmer mit Teelichtern und roten Rosenblättern geschmückt. Zudem gibt es ein dreigängiges Menü. Der Fraß im Krankenhaus war ungenießbar und ich möchte sie durch das reichliche Essen wieder zu Kräften bringen.
7. Mai 98
Heute wurde ihr Gips entfernt. Sie ist noch ein wenig klapprig auf den Beinen, aber das wird wieder. Ich bewundere ihren unglaublich starken Willen. Ihre Freude am Leben. Ich hoffe, dass sie sich das bewahrt.
Ich bin seit einer Woche ohne Schmerzmittel ausgekommen. Ich glaube, es geht aufwärts.
18. Mai 98
Gestern war ein wunderbarer Tag. Als ich nach Hause kam hat sie mir die Augen verbunden und wir sind aufs Land gefahren. Dort haben wir im Grünen gepicknickt, sind ausgeritten und haben nackt in einem See gebadet. Ich habe jeden kleinsten Augenblick ausgekostet. Habe alles eingesogen wie ein Lebenselixier. Sie gibt mir so viel Kraft.
1. Juni 98
Lisa ist übers Wochenende zu ihrer Familie gefahren. Ich wäre auch gerne mitgekommen, doch ich muss heute noch arbeiten gehen. Ich wünschte, sie wäre nicht gefahren. Mir geht es nicht besonders gut. Ich muss mich übergeben und liege die ganze Zeit nur herum. Vielleicht muntert mich das Video von unserem Aufenthalt in den USA auf...
3. Juni 98
Lisa kommt nicht wie geplant heute Abend. Sie muss morgen noch etwas wichtiges zu Hause erledigen und kommt daher entweder morgen Abend oder übermorgen. Ich habe ihr nichts erzählt. Am besten gehe ich morgen zum Arzt. Vielleicht kann der mir etwas gegen die Übelkeit verschreiben.
Ich habe ein schlechtes Gewissen. Warum nur bin ich an diesem Wochenende nicht zu Hause geblieben. Er hätte mich gebraucht, doch er hat mir alles verschwiegen.
4. Juli 98
Mir geht es heute bedeuten besser. Der Arzt gab mir etwas gegen die Übelkeit und außerdem kommt Lisa heute wieder nach Hause.
5. Juli 98
Das Sprichwort „Wiedersehen macht Freude“ stimmt absolut. Sie hat mir zirka ein Kilo von meiner Lieblingsschokolade mitgebracht. Aber ich freue mich natürlich nicht nur über die Schokolade. Der Hauptgrund ist natürlich sie.
8. Juli 98
Bisher hat sich die Krankheit relativ ruhig verhalten, doch gestern bin ich in der Uni vor Schmerzen zusammengebrochen. Zum Glück hat es niemand mitbekommen außer Max und der hat mir versprochen niemandem etwas davon zu sagen.
9. Juli 98
Sie hat es doch herausgefunden. Wir haben uns total gestritten. Sie war mir sehr böse, weil ich es ihr verheimlicht habe und ist ausgezogen. Was soll ich denn jetzt machen. Ich kann und möchte ihr nicht die Wahrheit sagen.
Ich vermisse sie so schrecklich. Ich brauche sie...
16. Juli 98
Sie ist immer noch nicht zu mir zurückgekehrt. Mir geht es total dreckig. Ich muss sie einfach zurückgewinnen. Vielleicht schaffe ich es heute. Sie wollte kommen um ihre restlichen Sachen abzuholen.
17. Juli 98
Ich bin so erleichtert. Sie ist zu mir zurückgekommen. Ich habe ihr erklärt, dass ich Kreislaufbeschwerden hatte und der Arzt mir etwas dagegen verschrieben hat. Ich habe ihr auch gesagt, dass ich sie nicht unnötig beunruhigen wollte, da sie doch gerade mit ihrem Examen beschäftigt ist.
24. August 98
Lisa hat ihr Examen bestanden und wird ab August bei einem Radiosender arbeiten. Doch jetzt ist erst einmal Urlaub angesagt. Sie möchte nicht wegfahren, wegen dem Geld. Macht auch nichts, dann werden wir eben Ausflüge machen. Ich freue mich schon darauf.
20. Oktober 98
Lisa kommt gut bei ihrer Arbeitsstelle zurecht. Ich kann auch nicht klagen. Wenn nur nicht immer diese schrecklichen Schmerzen wären. Aber ich möchte mich nicht beklagen. Wir verbringen eine wundervoll harmonische Zeit miteinander. Gestern hat sie die Toten Hosen interviewt. Sie war total begeistert. Nur leider muss sie am Wochenende nach Berlin zu einer Pressekonferenz fliegen. Vielleicht sollte ich das Wochenende mit Max verbringen...
25. Oktober 98
Max und ich waren am Wochenende surfen. Obwohl ich das schon lange nicht mehr getan habe, habe ich mich sehr gut geschlagen. Max hat dort ein Mädchen kennengelernt. Also habe ich die beiden Abende alleine verbracht.
9. November 98
Hab von meiner Mutter ein neues Auto zum 28. Geburtstag bekommen. Lisa und ich haben es bereits eingefahren indem wir übers Wochenende zu ihren Eltern gefahren sind.
13. November 98
Ich merke nun, dass meine Kräfte allmählich schwinden. Bin gestern im Bus zusammengebrochen (habe das Auto Lisa überlassen, da sie es eilig hatte). Zum Glück bin ich nicht mit dem Auto gefahren. Ich hätte womöglich noch einen unschuldigen Menschen mit hineingezogen.
16. November 98
Wir haben dieses Wochenende im Bett verbracht. Es war total schön. Ich glaube, sie hat nichts bemerkt. Ich werde sie sehr vermissen.
19. November 98
Meine Liebeste Lisa,
es tut mir sehr leid, dass ich dir nie etwas von meiner Krankheit erzählt habe, aber ich wollte nicht, dass du deine Fröhlichkeit verlierst, die mir so viel Kraft gegeben hat. Es tut mir auch sehr leid, dass ich dich belügen musste, aber ich sah keinen anderen Weg. Ich habe niemandem etwas erzählt.
Ich weiß, dass du nun sehr traurig bist, aber ich möchte, dass du wieder glücklich wirst. Ich habe deinen unglaublichen Lebenswillen stets bewundert.
Ich werde für immer an deiner Seite sein, auch wenn ich nicht mehr auf Erden weile.
In Liebe,
Dein Tim
Diesen Brief hat er einen Tag vor seinem Tod geschrieben. Er wusste es genau. Er ist einfach eingeschlafen und nie wieder aufgewacht. Ich habe verzweifelt versucht ihn zu wecken. Hatte das Frühstück auf einem Tablett. Brötchen, zwei Eier, Marmelade, Käse und Kaffee. Er wollte einfach nicht aufwachen. Ich habe ihn geschüttelt, ihn angeschrien. Ich habe zunächst nicht bemerkt, dass er kalt war, das Bett nass war und er nicht mehr atmete.
Irgendwann, ich weiß nicht mehr wann, habe ich schließlich einen Arzt verständigt.
Ich habe mir frei genommen und habe mich ein paar Wochen lang in unserer Wohnung verkrochen. Es fiel mir sehr schwer wieder zur Arbeit zu gehen. Ich wollte niemanden sehen, wäre am liebsten auch tot gewesen. Doch das Leben ging irgendwie weiter.
Ich lege das Buch weg. Beim Aufstehen wird mir schwarz vor den Augen. Ich sollte ein bisschen an die frische Luft gehen. Nachdem ich mich geduscht habe und mir etwas übergezogen habe, gehe ich in den Park. Es ist erstaunlich warm in diesem Januar.
Ich traue meinen Augen kaum, als ich Tim am See sitzen sehe. Ich renne hastig stolpernd zu ihm herüber. „Tim!“. Er dreht sich zu mir, doch es ist nicht Tim. Der Mann sieht ihm zum Verwechseln ähnlich. Er sieht mich verwirrt an.
Ich entschuldige mich bei ihm mehrmals und erkläre ihm, dass er jemandem den ich kenne sehr ähnlich sieht. Ihm macht es nichts aus und er fragt mich, ob ich mich nicht besser setzten möchte, da ich so blass aussehen würde wie ein Vampir. Als ich auf die Bemerkung hin nicht lache entschuldigt er sich bei mir für die dumme Bemerkung. „Macht nichts ich sehe ja auch wirklich so aus. Zum Glück bin ich kein Vampir, denn ich wollte niemals für immer leben.“
Das ist zwar eine seltsame Art und Weise ein Gespräch zu beginnen, doch wir unterhielten uns mehrere Stunden lang. Wir merkten gar nicht wie die Zeit verging und wir merkten auch nicht, dass es immer kälter wurde.
Nach einer ganzen Weile, als eine Schneeflocke auf meiner Nase gelandet war half er mir hoch und wir gingen noch in eine Bar um noch eine heiße Schokolade zum Aufwärmen zu trinken. Auch da unterhielten wir uns sehr angeregt. Wir redeten über die Erfahrungen, die wir mit dem Leben gemacht haben. Ich erzählte ihm nichts von Tim, schließlich kannte ich ihn erst seit ein paar Stunden. Dennoch kam er mir sehr vertraut vor, doch das lag vermutlich daran, dass er Tim so ähnlich sah.
Zu Hause übermannten mich diese vielen Eindrücke, die ich an diesem Tag gemacht habe und ich ließ mich erschöpft mit einer Träne, die mir wie in Zeitlupe über mein Gesicht zu wandern schien auf mein Bett fallen. Das war eine von wenigen Nächten, an denen ich richtig schlafen konnte ohne mitten in der Nacht schweißgebadet aufzuschrecken. Früher habe ich immer wenn es möglich war bis mittags geschlafen, doch das kann ich mittlerweile nicht mehr. Also freue ich mich wie eine Schneekönigin, als ich erst um sieben Uhr aufwache. Es ist ein stürmischer, regnerischer Tag. Ich setzte mich auf die Fensterbank und schaue auf die Straße. Ich stelle mir vor, wie Tim regendurchnässt die Straße entlang in Richtung unsere Wohnung rennt. Doch es ist leider nur eine Vorstellung. Es heißt ja so schön, dass die Zeit alle Wunden heilt, doch ich merke leider gar nichts davon. Es ist so schmerzlich. Ich verspüre jedes mal einen Stich in meinem Herzen, wenn ich an ihn denke und ich plötzlich registriere, dass ich nie mehr die Möglichkeit haben werde ihn anzufassen, ihn zu riechen, ihn zu spüren, ein liebes Wort von ihm zu hören. Dieser Schmerz bringt mich noch um den Verstand.
Das Telefonklingeln holt mich zurück in die Realität. Es ist Mark. Der Junge, Mann, den ich gestern kennengelernt habe. Woher hat der denn meine Nummer? Ist ja jetzt auch ganz egal. Er möchte mich wiedersehen. Er schlägt einen Besuch im Kino vor. Ich bin einverstanden. Vielleicht kann er mich auf andere Gedanken bringen. Ich freue mich beinahe auf den Abend, obwohl ich nicht weiß welchen Film wir anschauen werden heute Abend.
Die Uni ging heute schnell vorbei. Ich hatte schließlich auch nur zwei Stunden. Anschließend war ich bei seinem Grab. „Hallo Schatz! Ich weiß gar nicht was ich sagen soll. Heute war kein ereignisreicher Tag... Aber gestern habe ich einen Mann kennengelernt, der dir vom Äußeren her sehr ähnelt. Ich gehe heute Abend mit ihm auch in Kino. Ich hoffe, es macht dir nichts aus. Ich liebe dich über alles.“
Danach war ich im Supermarkt um fürs Wochenende einzukaufen. Ich versuche an den Abend zu denken, wie ich mit Mark ins Kino gehe und wir uns einen Film – vermutlich eine Komödie ansehen. Doch ich kann diese immer wieder in mir aufkommende unendliche Leere nicht verdrängen. Ich möchte das nicht mehr haben, doch ich kann es nicht aufhalten und je mehr ich mich dagegen wehre, desto größer und einnehmender wird diese Leere, das Gefühl, als ob du den Boden unter den Füßen verlierst. Und dann schallt es immer wieder in meinem Kopf: „Du wirst ihn niemals wieder sehen. Er ist nicht mehr da!“ Ich möchte so gerne an etwas anderes denken. Doch nun sehe ich wieder sein lächelndes Gesicht vor mir. Ich werde ihn wohl nie vergessen. Aber vielleicht ist das auch gut so. So bleibt er auf eine gewisse Weise lebendig. Zumindest in meinen Erinnerungen. Wenn es mich nur nicht so sehr schmerzen würde.
Ich weiß nicht mehr wie ich vom Supermarkt nach Hause gekommen bin, doch ich bin jetzt hier. Gedankenverloren räume ich die Einkäufe aus. Was habe ich denn bloß eingekauft. Die Cornflakes, die er immer so gerne gegessen hat, und die ich noch nie mochte, sie jedoch ihm zuliebe immer gekauft habe. Dann habe ich noch Blutorangensaft gekauft, welchen ich auch nicht mag. Kurz gesagt habe ich fast nur Lebensmittel gekauft, die er immer so gerne hatte.
Der Kinobesuch mit Mark war wirklich nett. Anschließend gehen wir noch in eine Bar, da ich ihn nicht in meiner Wohnung haben möchte und er seine nicht aufgeräumt hat. So beenden wir den netten Abend mit einem Glas Bier. Wie bereits von mir prophezeit haben wir uns eine Komödie angeschaut und selbst ich musste ein paar Mal grinsen.
Nun sind Mark und ich mittlerweile schon über zwei Jahre lang gute Freunde und inzwischen sieht er auch Tim kaum mehr ähnlich. Zu der Zeit, als ich Mark kennenlernte sahen beinahe alle Männer in meinen Augen aus wie Tim.
Ich musste Tims und meine Wohnung aufgegeben, da ich die Miete nicht mehr aufbringen konnte. Ich hätte zwar jemanden zur Untermiete einziehen lassen können, doch zu dieser Zeit wollte ich niemanden ständig um mich herum haben. Also bin ich ins Studentenheim gezogen. Mittlerweile jedoch wohne ich in einer Wohngemeinschaft mit Mark und Alex, einer Freundin von mir.
Einen festen Freund habe ich nicht. Liebe ist für mich im Moment kein Thema. Manchmal denke ich sogar, dass ich mich gar nicht mehr verlieben möchte. Irgendwie habe ich Angst davor wieder solche Schmerzen und Kummer ertragen zu müssen. Ich habe Tim über alles geliebt und ich kann mir im Moment nicht vorstellen, dass ich jemals wieder im Stande sein werde so bedingungslos, und ohne die möglichen Konsequenzen zu bedenken, zu lieben. Ich möchte mich vor diesem Schmerz unbedingt bewahren.
Tag der Veröffentlichung: 17.05.2009
Alle Rechte vorbehalten