Weiße Wände
Weiße Wände, weiße Betten mit weißer Bettwäsche, Frauen und Männer in weißen Kitteln. Ja, so sieht es eben aus in einem Krankenhaus. Irgendwie sehr steril und unpersönlich, aber andererseits auch sehr sauber.
Sie sollte eigentlich nicht verwundert sein über dieses weiße Unwohlsein, sie ist schließlich nicht zum ersten mal in einem Krankenhaus. Das war jetzt ihr zweiter Herzinfarkt in diesem Monat. Sie ist sehr müde, das Leben hat sie müde gemacht. Sie hat schon sehr viel schönes und auch weniger schönes in ihrem Leben erfahren. Hat zwei wundervolle Kinder großgezogen, die jetzt sehr erfolgreich sind.
Ihr Mann ist leider schon sehr früh gestorben. Das war schon sehr hart plötzlich allein da zu stehen mit zwei Kindern, aber sie hat nie aufgeben, stets nach vorne geschaut.
Nach dem Tot ihres geliebten Mannes hatte sie jedoch nicht lange Zeit zur Trauer, denn irgend jemand musste dafür sorgen, dass Geld ins Haus kommt, damit sie und ihre Kinder etwas zu essen haben. Also ging sie abends, wenn die Kinder schliefen in eine Fabrik und tagsüber nähte und flickte sie Kleider für andere.
Als die Kinder dann größer wurden ging sie tagsüber in ein Büro, wo sie jedoch nicht ausreichend Geld verdiente um ihren Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen, also nähte und flickte sie in ihrer verbleibenden Zeit.
Und wie stolz sie war, als ihre Kinder zur Universität gingen. Wenigstens sie würden bald ein angenehmes Leben haben. Nachdem ihre Kinder ihr Studium beendet hatten, zog sie zu ihrer Tochter, da diese ein Kind bekommen hatte und umsorgte dieses bis sie hier im Krankenhaus landete.
Die Türe ihres Zimmer öffnet sich und reißt sie aus ihren Gedanken. Es ist ihre achtjährige Enkeltochter Katja. Sie läuft auf ihr Bett zu und begrüßt sie umarmend. „Hallo Oma!“ „Wo hast du denn deine Mutter gelassen?“ fragt sie. „Die kommt auch gleich noch. Du Oma, kann ich dich mal was Fragen?“ entgegnet Katja. Ihre Oma nickt. „Musst du sterben?“ „Ja, das muss ich, mein Kind.“ „Aber wieso denn? Wieso kannst du denn nicht bei mir bleiben? Ich habe dich doch so gern.“ „Komm, setz dich erst einmal hier aufs Bett.“ Katja setzt sich zu ihrer Oma aufs Bett und schaut sie erwartungsvoll an.
„Schau, das ist nun einmal so. Geboren werden und sterben gehören einfach zusammen. Das ist wie mit den Jahreszeiten. Auf den Sommer folgen immer der Herbst und der Winter. Es kann schließlich nicht immer Sommer sein. Wir werden geboren und erleben sehr viele schöne und weniger schöne Dinge. Man geht zur Schule, später einmal geht man arbeiten, dann hat man vielleicht Kinder. Man erlebt jeden Tag seines Lebens etwas. Man hat stets etwas zu tun und wenn man zu viel getan hat, muss man sich ausruhen, das machst du doch auch in deinen Ferien. Wenn man aber schon so viel erlebt hat wie ich, reicht es nicht, wenn man sich ein paar Wochen ausruht. Da muss man sich für sehr lange ausruhen. Deswegen sterben die Menschen um sich auszuruhen von den Anstrengungen des Lebens.“ Katja hat während ihre Oma gesprochen hat ganz still da gesessen und keinen Mux gemacht. Nun lächelt sie und fällt sie ihr um den Hals und sagt: „Ich wünsche dir schöne Ferien Oma und schick uns mal ein Lächeln wenn du da oben bist, damit wir wissen, dass es dir gut geht“.
Tag der Veröffentlichung: 16.05.2009
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Widmung:
"Und im Herbst, wenn ihr die Trauben eurer Weinberge für die Kelter lest, sagt in eurem Herzen:
"Auch ich bin ein Weinberg, und meine Frucht wird für die Kelter gelesen werden.
Und wie neuer Wein werde ich in ewigen Gefäßen bewahrt werden."
Khalil Gibran, Der Prophet