Sie sitzt auf ihrem Balkon und schaut in die Ferne. Wunderschön diese Gegend, denkt sie. Sie ist in diesem verträumten kleinen Städtchen aufgewachsen und würde es um nichts auf der Welt verlassen. Sie atmet tief die süße Sommerluft ein. Sie liebt den Sommer. Alles blüht und gedeiht, die Luft ist voll von blumigen Düften. Sie riecht frisch gemähtes Gras, Narzissen, rote Rosen und all diese wunderbaren Blumen und Pflanzen. Und die Sonne scheint kraftvoll den ganzen Tag.
Sie kann sich noch genau erinnern, wie sie damals vor vierzig Jahren mit ihrem frisch vermählten Gatten, Gott hab ihn selig, in diese Wohnung im ersten Stock eingezogen ist. Die Wohnung war total heruntergekommen und roch modrig. Sie hatten damals nicht viel, waren jedoch stets glücklich gewesen - waren immer stolz auf das gewesen, was sie hatten. Und wie stolz er erst war, als sie ihm drei Jahre später ein gesundes, hübsches Mädchen schenkte. Katharina war glücklicherweise nicht blind wie ihre Mutter. Der Arzt hatte nicht ausgeschlossen, dass das Kind auch blind sein könnte. Um so glücklicher waren sie dann auch im Nachhinein, als das Kind mit gesunden Augen auf die Welt kam. Katharina war ein sehr aufgewecktes, braves Kind. Sie lernte sehr bald ihrer Mutter im Haushalt zur Hand zu gehen.
Als Katharina älter war, fragte sie ihre Mutter eines Tages, was sie sehe. Sie wußte erst nicht so recht, was ihre Tochter wissen wollte und fragte, wie sie das meinte. Katharina antwortete: „Du bist doch blind. Ich möchte wissen, was du siehst. Siehst du nur schwarz?“ Da antwortete sie ihr mit einer Frage: „Was siehst du denn, wenn du aus dem Fenster siehst?“ Katharina war zunächst verwirrt und antwortete dann aus dem Fenster sehend: „ Was soll ich schon sehen. Genau das langweilige Bild, das ich jeden Tag sehe, wenn ich aus dem Fenster sehe. Ein paar Häuser und eine Wiese.“ „ Kannst du mir denn auch sagen, welche Blumen auf der Wiese blühen?“ „ Nein“ entgegnete Katharina „ aber das ist doch auch ganz egal. Ich wollte von dir wissen, was du siehst.“ „ Wenn du wissen willst, was ich sehe, dann schließe deine Augen und atme tief ein.“ Katharina tat, was ihr die Mutter gesagt hatte und holte tief Luft, doch als die Mutter fragte, was sie sehe, sagte sie, dass es nur eine einzige Farbe sei – schwarz. Da sagte ihre Mutter: „ Weißt du, was ich sehe? Ich sehe eine saftige grüne Wiese, prächtige rote Rosen, kleine Kinder, die in der Wiese Verstecken spielen, das alte von Efeu verwachsene Haus und noch vieles, vieles mehr.“ Katharina war sehr verwundert darüber, dass ihre Mutter wußte, dass die Rosen vor dem Haus rot und nicht gelb sind und dass die Kinder vor dem Haus ausgerechnet Verstecken spielen. All diese Kleinigkeiten und noch viele mehr, waren ihr bis jetzt noch nie aufgefallen.
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Tag der Veröffentlichung: 16.05.2009
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Widmung:
„Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.",
Der kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupéry