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Was ist eigentlich eine Kurzgeschichte?

 Was unterscheidet sie von einem Roman?

Kurzgeschichten sind im Gegensatz zum Roman kurz.  Daher steigen sie direkt in das Geschehen ein und der Handlungszeitraum ist begrenzt. Auf eine ausführliche Beschreibung von Orten und Figuren wird verzichtet. Die Handlung dreht sich um eine besondere Begebenheit und ist auf wenige Charaktere fokussiert. Nicht ungewöhnlich bei Kurzgeschichten ist es, wenn sie einen offenen Schluss haben oder mit einer Wendung enden.

Weshalb sind Kurzgeschichten so?

Indem die LeserInnen zwischen den Zeilen lesen müssen und nicht unbedingt ein „Ergebnis“ geliefert bekommen, sollen sie zum Nachdenken angeregt werden, damit sie sich ein eigenes Urteil bilden.

 

Und nun wünsche ich viel Spaß bei diesem Snack!

Herzliche Grüße

Lola Victoria Abco

Ihre Schwester für meinen Mann

Anlässlich seines 25-jährigen Todestages fand am 29.4.2005 in der Kunsthalle in Hamburg eine Alfred-Hitchcock-Retrospektive statt. Mit „Zwei Fremde im Zug“ sollte die Filmnacht eröffnet werden.

Wie ein Fels in der Brandung stand Museumsdirektor Dr. Reichmann stoisch im Foyer und trennte die hineinströmende Flut der Besucher in zwei Teile. Ängstlich hatte sich seine Frau bei ihm untergehakt. Nur wenn ihr Mann seine Hand ausstreckte, um einen ausgewählten Gast zu begrüßen, löste sie ihren Griff.

„Georg“, raunte sie ihm leise zu, „das hier ist keine Kunst, das ist eine Massenveranstaltung!“

„Du bist eine der Wenigen, die Hitchcock nicht für einen Künstler halten, Heda.“

„Einen Regisseur von Mord und …“

„Eins, zwei, drei die Polizei.“ Mit einem angedeuteten Bückling streckte Herr Reichmann einer sportlichen Frau um die vierzig die Hand entgegen. „Wie schön Sie begrüßen zu dürfen, Frau Hauptkommissarin Mansur!“ Angestrengt lächelnd schüttelte auch seine Frau der Polizistin die Hand.

„Georg! Musst du denn herausbrüllen, dass du jemanden von der Polizei kennst?“, fragte Frau Reichmann mit unverhohlenem Missmut, nachdem sich die Hauptkommissarin von ihnen entfernt hatte.

„Wieso denn nicht? Immerhin hat sie uns geholfen den Picasso wiederzubekommen.“

„Ach so, Raubdezernat“, sagte seine Frau erleichtert.

„Nicht mehr, Heda, nicht mehr.“

„Was dann?“

„Rate selbst. Warum habe ich Frau Mansur wohl zu einem Hitchcockabend eingeladen?“

„Du meinst doch wohl nicht …“

„Achtung, da kommt die Scheidungskönigin der Stadt!“

Zielstrebig kam eine Frau in einem auffallenden, roten Abendkleid auf den Museumsdirektor zu.

„Dr. Reichmann, Dr. Reichmann! Welch eine absolut wunderbare Idee“, rief Frau von Plizewitz-Ebentreu durch das Foyer, während sie mit weit offenen Armen auf ihn zuging. „Alfred Hitchcock! Ich liebe ihn. Pablo, Caspar David und Hitch. Wunderbar genial!“ Ohne sich um seine ausgestreckte Hand zu kümmern, hauchte Frau von Plizewitz–Ebentreu ihm zwei Küsse auf die Wangen und streckte seiner Frau ihre Hände entgegen. „Und das muss die entzückende Madame Richman sein!“

Irritiert löste sich Frau Reichmann von ihrem Mann und trat hastig einen Schritt zurück. Erschrocken bemerkte sie, dass sie einer Frau, die hinter ihr stand, auf den Fuß getreten war.

„Oh, entschuldigen Sie bitte, ich …“

„Ach, Sie müssen sich doch nicht entschuldigen“, wiegelte Frau von Plizewitz-Ebentreu ab. „Meine kleine Schwester ist es gewohnt, übersehen zu werden.“

Ohne ihren Affront zurückzunehmen, machte sie das indignierte Ehepaar mit ihrer Schwester Frau Eisner bekannt. Währenddessen blieb ein Paar um die fünfzig wartend in Hörnähe stehen. Die Frau beobachtete das ungleiche Geschwisterpaar interessiert, als es sich abwandte und zusammen in den Zuschauersaal ging. Für einen kurzen Moment hielt die jüngere der Beiden inne und warf ihnen über die Schulter einen Blick zu.

„Heda, darf ich dir vorstellen, Herr Bebensee, unser Abteilungsleiter für …“

„Georg, selbstverständlich weiß ich, was Herr Bebensee macht!“ Lächelnd reichte sie dem Mitarbeiter ihres Mannes die Hand.

„Guten Abend, Frau Reichmann. Ich bin sehr erfreut, Sie kennen zu lernen“, sagte Herr Bebensee steif, aber nicht ohne Wärme. Stumm und ohne ihre distanzierte Miene für einen Augenblick zu ändern, schüttelte Frau Bebensee die ihr entgegen gestreckten Hände.

„Wie schön auch Sie kennen zu lernen“, meinte Dr. Reichmann lächelnd. Gleichgültig drehte sich Frau Bebensee von ihnen ab und ging weiter. Nach einem entschuldigenden Blick auf seinen Vorgesetzten eilte ihr Mann ihr nach.

 

Eilig stellte Karen Meyer die letzten Gläser auf dem Tisch vor sich zurecht. Nach dem Ende von „Zwei Fremde im Zug“ sollten die Zuschauer Getränke im Foyer kaufen können bis eine halbe Stunde später der Film „Psycho“ anlaufen würde. Zufrieden schaute sich die junge Frau um. Alles stand bereit, ihr blieb genug Zeit bis sie sich bereithalten musste, um die Kaltgetränke zu verkaufen. Sie liebte Alfred Hitchcock und Patricia Highsmith gleichermaßen, im Filmsaal wurde ihr beides geboten. Leise öffnete sie dessen Tür und schlüpfte in den dunklen Raum. Gebannt schaute sie auf die Leinwand.

 

„Wissen Sie was? Ich bringe ihre Frau um und Sie meinen Alten. Kein Mensch weiß, dass wir uns kennen – perfektes Alibi, klar? Kein Motiv. Kein Verdachtsmoment. Jeder wartet, bis der andere nicht zu Hause ist – und dann ...“

 

Während sich Herr Bebensee in die Schlange vor dem provisorischen Tresen einreihte, ging seine Frau in das Foyer und blieb zwischen den anderen Besuchern stehen. Unmittelbar neben ihr plauderte Hauptkommissarin Mansur mit drei Frauen. Ohne ihre Unterhaltung zu unterbrechen, traten sie zur Seite, als sich zwei Männer zu Frau Bebensee gesellten.

„Darf ich vorstellen“, sagte einer der Männer, nachdem er sie begrüßt hatte, „Manfred Markheuer – Hendriks Frau.“

„Hendriks Frau?“, fragte Manfred Markheuer.

„Genau. Schlichtweg nur Hendriks Frau“, antwortete Frau Bebensee schnippisch. „Die Frau Hendriks, das bin ich!“ Mit einem vernichtenden Blick auf ihren Bekannten wandte sie sich um und drängte Frau Mansur unwirsch zur Seite. Stirnrunzelnd schaute ihr die Hauptkommissarin hinterher wie sie sich einen Weg durch die Menge in Richtung der Toiletten bahnte.

Ungeduldig sah Frau Eisner, dass fünf Frauen vor ihr bei den Toiletten warteten. Unangenehm berührt stellte sie fest, dass ausgerechnet die Frau, die den peinlichen Auftritt ihrer Schwester beobachtet hatte, direkt vor ihr stand. Plötzlich drehte sich die Frau zu ihr um und flüsterte: „Kommen Sie, ich weiß, wo es noch eine gibt.“

Ohne zu zögern folgte ihr Frau Eisner durch einen langen, verschlungenen Flur. An dessen Ende lag eine weitere Damentoilette.

„Oh, toll, keine Warterei“, sagte Frau Eisner erleichtert und schloss eine Kabinentür hinter sich. Als sie wieder hinaustrat, stand Frau Bebensee vor einem der beiden Waschbecken.

„Sie haben den Film auch gesehen?“

In Gedanken versunken nickte Frau Bebensee. Schweigend kämmte sie ihre Haare. Frau Eisner warf einen kurzen prüfenden Blick in den Spiegel. Während sie ihren Lippenstift aus der Tasche holte, fragte sie lachend: „Und, wen soll ich für Sie umbringen?“

Mit einem Schlage wandte ihr Frau Bebensee ihre volle Aufmerksamkeit zu.

„Wir beide kennen uns auch nicht! Genau wie im Film eben“, sprach Frau Eisner arglos weiter. „Also, wen soll ich für Sie umbringen?“

„Meinen Mann“, antwortete Frau Bebensee prompt.

„Ihren Mann? Abgemacht, er ist schon so gut wie tot!“ Zwinkernd fügte Frau Eisner hinzu: „Dafür müssen Sie meine Schwester umbringen!“

„Ihre Schwester?“

„Ja. Sie ist Ihnen bestimmt aufgefallen, Martina muss immer auffallen. Lange, blonde Haare. Ihr Luxuskörper steckt heute Abend in einem roten Abendkleid von Versace. So geht sie zu einer Filmvorführung. Na ja, Martina eben.“

Ohne etwas zu sagen, nickte Frau Bebensee. Fragend sah Frau Eisner sie lächelnd an: „Abgemacht, Frau?“

„Abgemacht“, antwortete Frau Bebensee. „Ihre Schwester für meinen Mann!“ Ohne zu zögern schlug sie in Frau Eisners ausgestreckte Hand ein. „Ich heiße Hendriks, Frau Hendriks.“

„Mein Name ist Alexandra Eisner.“ Aufgedreht redete sie weiter. „Wie wird der letzte Auftritt meiner Schwester enden? Haben Sie schon eine Idee?“

„Ja, hiermit!“ Frau Bebensee hielt Frau Eisner ihre geöffnete Handtasche entgegen.

„Oh, lala! Ein Pistölchen! Was haben Sie für Sachen in Ihrer Tasche, Frau Hendriks?“

„Nur zur Selbstverteidigung, man weiß ja nie.“

Frau Eisner trocknete sich die Hände und zog unscheinbare, schwarze Samtschuhe an. „Ein Geschenk meiner Schwester. Am liebsten wäre ihr, ich würde einen großen Ring dazu tragen. Darüber natürlich, wie ein Popstar, Hauptsache man fällt auf.“

Nebeneinander gingen sie den langen Flur zurück. Kurz bevor sie beim Foyer ankamen, stieß Frau Eisner gegen den Arm der anderen.

„Entschuldigen Sie!“

„Ja sicher, nichts passiert.“ Ohne hinzusehen, schob Frau Bebensee den Taschenriemen wieder auf ihre Schulter. „Also die Uhr läuft, es bleibt nicht mehr viel Zeit.“

„Genau, wir haben eine Vereinbarung“, meinte Frau Eisner verschwörerisch. Gutgelaunt sah sie der sich entfernenden Frau Bebensee hinterher. Dann sah sie sich suchend im Foyer nach ihrer Schwester um. Mit einem Schulterzucken ging sie in den fast vollen Filmsaal zurück und ließ sich schmunzelnd in den Sessel zurücksinken. Einmal musste sie aufstehen, um Hauptkommissarin Mansur vorbeizulassen. Kurz darauf begann der nächste Film. Der Platz ihrer Schwester blieb leer.

Plötzlich war ein langanhaltender Schrei zu hören. Unbeirrt schaute das Publikum weiter gebannt auf die Leinwand, nur Frau Mansur wandte sich für einen Augenblick ab. Außer den Filmgeräuschen konnte sie jedoch nichts hören und drehte sich wieder um.

Heftig wurde die Tür des Filmsaals aufgerissen. Karen Meyer stand kreischend in dem Türrahmen. Hastig sprang die Hauptkommissarin auf und bahnte sich einen Weg durch die Zuschauerreihe. Hysterisch schreiend hielt ihr die junge Frau ihre blutigen Hände entgegen.

„Blut! Blut! Die Garderobe! Blut!“

 

Ein Blick auf die Frau in dem auffallenden roten Abendkleid sagte der Hauptkommissarin, dass sie tot war. Nur noch ein kleiner Teil des Gesichtes war zu erkennen. Sofort beorderte Frau Mansur ihre Kollegen zur Hamburger Kunsthalle, die innerhalb weniger Minuten abgeriegelt und durchsucht wurde. Die Besucher der Alfred-Hitchcock-Retrospektive, leidlich durch ein paar Worte des ebenfalls geschockten Herrn Reichmann beruhigt, mussten im Filmsaal warten bis ihre Personalien aufgenommen, sie selbst durchsucht und nach brauchbaren Informationen befragt worden waren. Erst in der späten Nacht durften sie die Kunsthalle durch einen Nebenausgang verlassen. Trotz der sofort ergriffenen Maßnahmen konnte weder ein Tatverdächtiger gestellt, noch die Tatwaffe gefunden werden. Einzig die Identität der Toten wurde sofort geklärt. Als sich die Hauptkommissarin über die Leiche gebeugt hatte, war Frau Eisner hinter ihr aufgetaucht. Fassungslos hatte sie geschrien: „Martina, nein! Es war doch nur ein Scherz, Martina!“

Noch in derselben Nacht wurde Hauptkommissarin Mansur offiziell mit der Klärung des Mordfalls beauftragt und ein Ermittlungsteam zusammengestellt.

Vierundzwanzig Stunden nach dem Mord stand fest, dass der Täter die Zeitspanne von siebzehn Minuten zwischen den tödlichen Schüssen und der Abriegelung der Kunsthalle genutzt hatte, um sich der Tatwaffe zu entledigen. Sowohl das Gebäude als auch das angrenzende Gelände waren erfolglos abgesucht worden. Hauptkommissarin Mansur vermutete zudem, dass der Täter umgehend geflüchtet war. Ausschließen wollte sie jedoch auch nicht, dass er in die Kunsthalle zurückgekehrt war, darauf hoffend niemandem sei seine Abwesenheit aufgefallen und er somit ein Alibi geliefert bekam.

Keiner der Anwesenden in der Kunsthalle konnte einen nützlichen Hinweis geben. Aufgrund ihres auffälligen Kleides und ihrem exaltierten Gebaren war Frau von Plizewitz-Ebentreu fast jedem aufgefallen. Bis auf ihre Schwester und dem Sitznachbarn rechter Hand hatte jedoch niemand bemerkt, dass sie nach der Pause nicht an ihren Platz zurückgekehrt war.

Fünf Zuschauer hatten während des Films den Saal verlassen, jeweils mindestens zwei Personen konnten bestätigen, sie seien vor den Schüssen wieder an ihren Platz zurückgekehrt. Mehrere Personen waren gar nicht zur zweiten Vorführung erschienen.

„Ich weiß, Frau Eisner war bereits an ihrem Platz, als ich in den Saal ging. Sie hatte den ersten Sitz in meiner Reihe. Ob sie dort allerdings die ganze Zeit geblieben ist, kann ich nicht sagen“, meinte die Hauptkommissarin zu ihrem Kollegen Markus Harks, „zu dumm.“

„Ein Motiv hat sie. Sie ist die einzige lebende Verwandte. Die kleine Schwester mit dem Sekretärinnengehalt und dem miserablen Händchen fürs Geld wird die Millionen der großen Schwester erben.“

„Die Ernte aus zwei lukrativen Scheidungen und einer nicht minder erfolgreichen Witwenschaft“, ergänzte Hauptkommissarin Mansur. „Das alleine kann uns nicht als Motiv reichen, aber offenbar hatten die beiden Schwestern ein ziemlich gespanntes Verhältnis. Eine echte Hassliebe.“

„Im Moment war kein neuer Ehemann in Sicht. Da taugte die kleine Schwester als Begleiterin und durfte ein wenig Luft in der Hamburger Gesellschaft schnuppern. Im Gegenzug sprang die große Schwester für ein paar Rechnungen ein, wie edel.“

„Aber erinnere dich, Markus, was Frau Reichmann über Frau von Plizewitz-Ebentreus Auftritt im Foyer erzählte. Sie hat ihre Schwester spüren lassen, dass sie ein Nichts ist.“

Am nächsten Tag verhärteten sich die Verdachtsmomente gegen Frau Eisner. Sie stand vor dem finanziellen Ruin und hätte einen Offenbarungseid leisten müssen, wenn ihre ältere Schwester ihr nicht unter die Arme gegriffen hätte. Die Nachforschungen im persönlichen Umfeld der Frauen ergaben, dass deren Verhältnis seit Kindesbeinen an belastet war. Mehrere Bekannte der Familie erinnerten sich, dass Frau Eisner ihre Aversion gegen ihre Schwester nur mit Mühe im Zaum halten konnte. Einmal hätte sie im Zorn deren nagelneuen Porsche mit einer Glasscherbe zerkratzt. Daraufhin hätte sie ihre Anstellung als Sekretärin ihres ersten Schwagers Heinrich von Plizewitz verloren. Erst nach siebenmonatiger Arbeitssuche wurde sie vom Juniorchef des Kaufhauses Falkenstein engagiert. Nach knapp zwei Jahren wurde ihr Chef ihr Schwager Nummer zwei. Auf dem Umtrunk mit seinen engsten Mitarbeitern anlässlich seiner Hochzeit bezeichnete Frau Eisner ihre Schwester als Bordsteinschwalbe in Chanel und wurde erneut arbeitslos. Ihr dritter Schwager, der Reeder Anton Ebentreu, hegte nach Angaben von Zeugen mehr als nur brüderliche Gefühle für seine junge Schwägerin. Frau von Plizewitz-Ebentreu brach ohne zu zögern den Kontakt zu ihr ab. Erst nach dem Tod des Reeders sah man die Schwestern wieder zusammen.

Hauptkommissarin Mansur bestellte Frau Eisner in das Präsidium und konfrontierte sie mit den Ermittlungsergebnissen. Frau Eisner bestritt alle Vorwürfe. Während Inspektor Harks das Verhör beharrlich weiterführte, fragte Hauptkommissarin Mansur plötzlich unvermittelt: „Als Sie ihre tote Schwester sahen, haben Sie gerufen ‚Es war doch nur ein Scherz, Martina!’ Warum, Frau Eisner?“

„Ich, ich, ich weiß nicht!“

„Sie sehen ihre Schwester im eigenen Blut liegen und sprechen von einem Scherz. Was haben Sie damit gemeint?“

Überrascht zuckte Inspektor Harks zusammen, als Frau Eisner von ihrem Stuhl aufsprang und schrie: „Weil es nur ein Scherz war, ein Scherz! Ich habe doch nur mit Frau Hendriks rumgealbert.“ Nach diesem Ausbruch setzte sie sich wieder hin und verbarg ihr Gesicht hinter ihren Händen. „Sie hat mich missverstanden!“, schluchzte sie. „Sie muss verrückt sein. Suchen Sie Frau Hendriks! Sie hat Martina erschossen.“

Nach dem Verhör ließ Hauptkommissarin Mansur die Schwester der Ermordeten auf freiem Fuß, ordnete jedoch an, dass sie rund um die Uhr beschattet werden sollte.

„Da hat aber jemand nicht viel Phantasie“, stellte Inspektor Harks fest. „Tischt uns die gleiche Geschichte wie im Film auf.“

„Hm, vielleicht, aber können wir sicher sein, dass es nicht stimmt?“

„Mensch, glaubst du das Ammenmärchen etwa?“

„Wenn es stimmen würde, hieße es, dass Frau Eisner in absehbarer Zeit einen gewissen Herrn Hendriks ermorden wird.“

„Aber leider oder Gottseidank gibt es unter den Gästen weder einen Herrn noch eine Frau Hendriks“, warf Inspektor Harks ein. „Mal abgesehen davon, welchen Grund hätte Frau Eisner ihren Teil der Abmachung einzuhalten? Sie hat bekommen, was sie wollte!“

Die Hauptkommissarin nickte zustimmend. „Also, wo stehen wir, Markus? Erstens, wie immer in ihrem Leben beachtet niemand Frau Eisner. Sie schleicht sich unbemerkt aus dem Saal. Wie sie vermutet, ist ihre Schwester in der Garderobe und macht sich für ihren Auftritt zurecht. Wenn sie zu spät in die Vorstellung kommt, würden sich alle Augen auf sie richten. Frau Eisner erschießt ihre Schwester und läuft unbemerkt von den Angestellten, die mit dem Abräumen der Tische beschäftigt sind, aus der Kunsthalle und lässt die Waffe verschwinden. Sie rennt zurück und taucht als erste hinter mir in der Garderobe auf. Später tischt sie uns dein sogenanntes Ammenmärchen auf. Zweitens, eine andere Möglichkeit: Frau Hendriks existiert wirklich. Und verdammt noch mal, mir spukt der Name im Kopf herum! Okay, Frau Hendriks setzt also ihren Teil der Abmachung sofort in die Tat um. Was bleibt, ist die Frage, wer und wo ist Frau Hendriks und wie geht es ihrem Mann?“

„Um ihn habe ich keine Angst“, meinte der Inspektor. „Wie gesagt, Frau Eisner hat was sie will. Warum sollte sie ihn ermorden?“

„Ja, warum?“, fragte die Hauptkommissarin nachdenklich. „Haben wir ein Drittens übersehen?“

 

„Weshalb sollte ich das tun?“, schrie Frau Eisner in den Hörer.

„Ihre Schwester für meinen Mann!“, sagte die Stimme am anderen Ende sachlich.

„Sie sind verrückt.“ Hämisch lachte Frau Eisner auf. „Warum sollte ich das für Sie tun?“

„Weil unsere Abmachung …“

Abrupt wurde die Verbindung unterbrochen. Unmittelbar darauf läutete Frau Eisners Telefon erneut.

„Lassen Sie mich zufrieden!“

„Niemals, Frau Eisner, niemals!“

Ohne ein weiteres Wort beendete Frau Eisner das Telefonat und rannte aus ihrer Wohnung. Ziellos lief sie durch die Hamburger Innenstadt. Als sie wieder in ihrer Wohnung war, klingelte ihr Telefon.

„Ihre zügellose Wut hat sie schon oft in die Bredouille gebracht, nicht wahr? Hören Sie mir gut zu, Frau Eisner, wenn Sie nicht für den Rest ihres Lebens im Gefängnis sitzen wollen. Unsere Abmachung hieß ihre Schwester für meinen Mann! Ihre Schwester ist tot, nun müssen sie meinen Mann beseitigen.“

„Ich habe, was ich will. Meine Schwester ist tot und ich bin ihre Erbin“, sagte Frau Eisner nicht ohne Genugtuung. „Warum sollte ich wohl ihren Mann umbringen?“

„Weil Sie dumm sind! Ich weiß alles über Sie, aber Sie wissen nichts über mich.“

„Warum muss ich etwas über Sie wissen, Frau Hendriks, es reicht doch …“

„Weil Sie mir einen Mord in die Schuhe schieben wollen! Sie haben mich im Flur bewusst angerempelt, um meine Pistole aus der Handtasche zu nehmen. Ich habe es erst zu Hause bemerkt, das ist Ihnen wirklich gelungen.“

„Ihre Pistole wird Sie …“

„Ihre Zeit läuft ab, hören Sie mir lieber zu! Sie dachten, wenn alle Stricke reißen, können Sie der Polizei von mir erzählen und ich bin mir auch sicher, irgendwo werden Sie die Pistole mit meinen Fingerabdrücken verwahrt haben.“

„Sehen Sie …“

„Unterbrechen Sie mich nicht“, flüsterte Frau Bebensee eisig. „Malheur eins, es gibt keine Frau Hendriks, nach der die Polizei fahnden könnte. Ich habe Ihnen einen falschen Namen genannt. Malheur zwei, ich habe ein Alibi. Nachdem wir uns getrennt haben, habe ich die Kunsthalle verlassen. Natürlich ist mir mein Mann wie immer treu gefolgt. Gemeinsam sind wir mit dem Taxi nach Hause gefahren. Die Quittung habe ich noch. Malheur drei, der Einschusskanal! Ist ihnen nicht aufgefallen, dass ich Linkshänderin bin?“

Eine Minute lang sagte keine der beiden Frauen etwas.

„Verstehen Sie nun, mir kann man keinen Mord vorwerfen, im Gegensatz zu ihnen. Ich nehme an, die Polizei hat im Moment nicht ausreichend Beweise gegen Sie, aber wie stehen Sie da, wenn plötzlich Frau Hendriks auftaucht und ein wasserdichtes Alibi präsentiert?“ Wieder schwieg Frau Bebensee bevor sie weitersprach. „Halten Sie unseren Deal nicht ein, werde ich in genau fünf Stunden Hauptkommissarin Mansur anrufen. Wollen Sie dieses Risiko wirklich eingehen, Frau Eisner?“

 

Unbemerkt von ihr, beobachtete Inspektor Müller wie Frau Eisner die Kunsthalle betrat. Plötzlich griff sie nach ihrem Handy. Nach einem Augenblick steckte sie es in ihre Jackentasche zurück. Zielstrebig ging sie in den zweiten Stock und betrat die dortige Damentoilette. Unbeirrt folgte ihr der Inspektor hinein und sah wie sie ein Paket öffnete. Mit einer gemurmelten Entschuldigung trat er wieder aus dem Damenwaschraum, während sich Frau Eisner in einer Kabine einschloss. Mit zitternden Fingern hielt sie ein Foto eines Mannes in der Hand, dann nahm sie eine Spritze aus dem Paket. Wieder klingelte ihr Telefon. Kurz darauf fuhr Frau Eisner mit dem einzigen Lift in den fünften Stock. Keuchend eilte Inspektor Müller die Treppe hoch.

Erneut klingelte Frau Eisners Handy. „Zimmer 518. Treten Sie zügig ein und gehen Sie gleich dicht an ihn heran. Zögern Sie nicht!“

„Van-Gogh-Ausstellung, in zwei … kann ich Ihnen helfen?“, fragte Herr Bebensee die Frau, die in sein Zimmer gehastet kam. „Zu wem wollen Sie?“

Überrascht drehte er seinen Bürosessel zu der jungen Frau um. Mit einer zügigen Bewegung riss Frau Eisner ihren rechten Arm hoch und ließ ihn hinuntersausen. Herr Bebensee spürte wie sich etwas in seinen Hals bohrte, dann verlor er die Besinnung.

Plötzlich wurde die Bürotür aufgerissen. Inspektor Müller sah, dass Frau Eisner eine Spritze in der Hand hielt. Mit einem Satz stürmte er in das Zimmer und schlug sie ihr aus der Hand.

Erschüttert sah der Inspektor wie Herr Bebensee mit aufgerissenen Augen leblos von seinem Sessel rutschte und sein Körper mit einem dumpfen Poltern auf den Boden schlug.

 

Hauptkommissarin Mansur unterrichtete Frau Bebensee vom Tod ihres Mannes. Mit undurchdringlicher Miene nahm sie die Nachricht auf. Nach einer Weile meinte die Polizistin: „Ich erinnere mich, Sie waren auch bei der Alfred-Hitchcock-Retrospektive. Haben Sie dort mit einer Frau Eisner gesprochen?“

„Ja, wir haben uns in der Pause unterhalten.“

Ohne Umschweife gab die Witwe zu, mit einer ihr unbekannten Frau nach der Filmvorführung in einem launischen Gespräch die gegenseitige Ermordung der Schwester beziehungsweise des Ehemanns vereinbart zu haben.

„Wir hatten gerade den Thriller gesehen, in dem es genauso abläuft, dann spricht mich diese Person an und fragt, wen sie für mich umbringen soll. Ich habe spontan mitgemacht und ihr sogar wie eine Gaunerin einen falschen Namen genannt. Für mich war das nichts anderes als ein Scherz.“ Frau Bebensee sah die Kommissarin ernst an. „Und jetzt bin ich Witwe.“

Die Anrufe, mit denen Frau Eisner durch die Kunsthalle gelotst worden war, kamen von einer Prepaid-Karte. Es war unmöglich den Anrufer zu ermitteln. So vehement Frau Eisner auch behauptete von Frau Bebensee zum Mord an deren Mann angestiftet worden zu sein, sprach nicht ein einziges Indiz gegen dessen Witwe. Auch der Versuch Frau Bebensee als Mörderin ihrer Schwester darzustellen, scheiterte. Das Gericht folgte der Argumentation des Staatsanwaltes, Frau Eisner hätte ihre Schwester aus Habgier ermordet. Sieben Monate nach der Alfred-Hitchcock-Retrospektive wurde Frau Eisner der Morde an ihrer Schwester und Herrn Bebensee für schuldig gesprochen und zu lebenslanger Haft verurteilt.

 

 

 

Zitat aus: „Zwei Fremde im Zug“ von Patricia Highsmith, Diogenes Verlag, o. J.

 

 

Nachwort

LiebeR LeserIn

Ich hoffe, diese Snack-time-story hat Ihnen gefallen. Sie habe ich Ihnen kostenlos zur Verfügung gestellt. Es würde mich freuen, wenn Sie dies honorieren, z.B. indem Sie meine Homepage www.Lola-Victoria-Abco.de besuchen, andere auf meine Texte und mich aufmerksam machen oder … seien Sie kreativ, vielen Dank.

 

Herzliche Grüße

Ihre Lola Victoria Abco

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Impressum

Texte: Lola Victoria Abco
Bildmaterialien: Lola Victoria Abco
Cover: Lola Victoria Abco
Satz: Lola Victoria Abco
Tag der Veröffentlichung: 09.05.2021

Alle Rechte vorbehalten

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