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Was ist eigentlich eine Kurzgeschichte?

Was unterscheidet sie von einem Roman?

Kurzgeschichten sind im Gegensatz zum Roman kurz. Daraus resultiert, dass sie direkt in das Geschehen einsteigen und der Handlungszeitraum begrenzt ist. Auf eine ausführliche Beschreibung von Orten und Figuren wird verzichtet. Die Handlung dreht sich um eine besondere Begebenheit und ist auf wenige Charaktere fokussiert. Nicht ungewöhnlich bei Kurzgeschichten ist es, wenn sie einen offenen Schluss haben oder mit einer Wendung enden.

Weshalb sind Kurzgeschichten so?

Indem die LeserInnen zwischen den Zeilen lesen müssen und nicht unbedingt ein „Ergebnis“ geliefert bekommen, sollen sie zum Nachdenken angeregt werden, damit sie sich ein eigenes Urteil bilden.

 

Und nun wünsche ich viel Spaß bei diesem Snack!

Herzliche Grüße

Lola Victoria Abco

Ein gewagtes Spiel

„Niemals! Niemals mehr!“

„Eine einzige Chance“, hatte er sie angefleht. Zur Antwort hatte sie nur höhnisch gelacht. Wieder und wieder und wieder. Sie sollte nicht lachen, nicht über ihn, nicht über ihre gemeinsamen Jahre. Sie sollte endlich aufhören zu lachen!

Ihr Hals war so zart, ganz anders als seine Hände, die waren grob und stark. Endlich schwieg sie. Ihre Stirn lehnte sich gegen seine Schulter, ihr Körper sank zu Boden. Er hielt sie fest und wiegte sie wimmernd in seinen Armen. Sie war wie eine Puppe, genauso wehrlos. Er schaute in ihre Augen. Sie waren wie Puppenaugen, genauso leblos.

Ein Schatten huschte vorbei. Er hielt sie umschlungen und sah sich suchend um, konnte nicht sehen, woher der Schatten gekommen war. Vorsichtig setzte er seine Frau auf den Beifahrersitz.

Nach der Beerdigung ihres Vaters hatte sie gesagt, sie wünsche sich eine Seebestattung. Er wusste, es war nicht dasselbe. Der Wagenheber und das Seil passten nicht in das Bild. Doch genauso wollte er es sich vorstellen, eine Seebestattung. Nachdem er sie in den Fluten hatte untergehen sehen, war er zunächst ziellos umhergeirrt. Als er später durch ihren wunderschönen Garten ging und ihr gemeinsames Haus betrat, wusste er, er würde das alles nicht aufgeben. Nicht den Garten, nicht das Haus, nicht die schönen Erinnerungen. Er würde sie verzweifelt suchen lassen. Niemals würde sie gefunden werden. Und er würde ihr trauernder Witwer sein.

 

                                       *

 

Die Serviererin kommt an meinen Tisch und fragt, ob ich noch etwas wünsche. Ich antworte nicht, deute nur mit dem Zeigefinger auf die leere Tasse, lasse die Frau dabei nicht aus den Augen. War da ein Zucken in ihrem Gesicht zu sehen? Vielleicht. Wenn ja, weshalb?

Der Mann am Nachbartisch, hat er ein Gewissen? Ein gutes oder ein schlechtes? Was ist es ihm wert? Wenn er mir erzählen würde von dem schlechten Gewissen, würde ihm seine Last leichter werden? Würde ich fortan schwerer tragen?

Die Serviererin stellt eine frische Tasse Kaffee vor mir auf den Tisch, greift nach der leeren. Ich schaue ihr fest in die Augen, treibe ein Spiel. Den Bruchteil einer Sekunde gehört ihr Blick mir. Ein unsicheres Lächeln huscht über ihr Gesicht, es erlischt sofort. Ihre Augen starren auf den Tisch. Ich fixiere sie weiter, lasse dieses Augenpaar nicht mehr los. Hastig wendet sie sich ab. Zu schnell, die Tasse fällt zu Boden. Ohne mich anzusehen hebt die Serviererin sie auf. Ist sie nervös? Wegen mir? Ich habe sie nur angesehen. Hat sie ein schlechtes Gewissen und kann mir deshalb nicht in die Augen schauen? Würde sie mir etwas dafür geben, wenn ich ihr zuhören würde? Wohl kaum, wir sind uns fremd. Vielleicht doch, gerade weil wir uns nicht kennen. Soll ich sie ansprechen? Nein, wozu? Es ist nur ein Spiel, ein Gedankenspiel.

„Jutta“ stand auf dem Namensschild an ihrer Bluse. Wie würde sich Jutta fühlen, wenn ich sie besser kennen würde? Erleichtert oder verängstigt? Ein schlechtes Gewissen hat einen Grund. Wenn ich den Grund erfahre, wird Jutta wissen, wie schwer ihr Gewissen wiegt, selbst wenn sie keine Einheit dafür benennen könnte. Auch einen Preis würde sie nennen können, nicht für ihr Gewissen, nicht dafür, dass ich zuhöre, sondern dafür, dass ich schweige. Mein Lohn hinge von der Schwere des Grundes ab.

Weshalb denke ich nicht über das gute Gewissen nach? Weil man mit ihm dem anderen in die Augen schaut, seinen Blick nicht ziellos abwendet? Was weiß ich überhaupt? Was ist mit meinem Gewissen? Ich schaue anderen Menschen in die Augen, also ist es gut? Oder ist es so schlecht, dass es keine Rolle mehr spielt?

Ich schiebe die Tasse beiseite. Der Mann am Nachbartisch starrt immer noch vor sich hin. Welche Bilder füllen die Leere vor ihm? Langsam richte ich mich auf meinem Stuhl auf. Unmerklich wandert mein Fuß über den Teppich. Ich lasse den Mann nicht aus den Augen. Genauso wie sein Blick ist auch sein Körper bewegungslos. Leicht vorgebeugt sitzt er mir schräg gegenüber. Mein Fuß ist nun am Ziel angelangt. Mit einem leichten Ruck stößt er gegen das Bein des Nachbartisches. Der Mann zuckt zusammen, sein Kopf schnellt hoch. Unsere Blicke treffen sich, verharren kurz, dann geht seiner suchend weiter. Ich lasse ihn nicht los. Abermals schaut er mich an. Ich kann seinen Ausdruck nicht deuten. Zu schnell blickt er wieder in die Leere. Kaum merklich sackt der Fremde in sich zusammen.

Ich schaue mich um. Wir sind die einzigen Gäste. Jutta ist nirgendwo zu sehen. Ich lege ihr Geld auf den Tisch und verlasse das Café. Auf dem Platz davor trippeln die Tauben nach Futter suchend über das Pflaster. Ich gehe direkt auf sie zu. Träge weichen sie mir aus.

Hat mich der Mann im Café wahrgenommen? Unsere Blicke haben sich getroffen, aber hat er mich überhaupt gesehen? Was geht in ihm vor? Weshalb sitzt man selbstvergessen mit leerem Blick in einem Café? Warum sitzt man in einem Café und macht sich Gedanken über die Serviererin und den einzigen Gast? Weil es nur ein Spiel ist.

Ich bleibe stehen. Vorsichtig kommen die Tauben auf mich zu. Ist das Spiel nun zu Ende? Ich drehe mich um. Das Café hat hohe, meterlange Fenster. Es sieht wie ein riesiges Aquarium aus. Der Mann sitzt immer noch alleine am Tisch. Nein, das Spiel ist noch nicht zu Ende. Ich gehe zurück. Mein Geld liegt nicht mehr dort. Diesmal setze ich mich an den Tisch zu seiner Rechten. Er sieht nicht auf. Jutta ist für diesen Tisch nicht zuständig. Ich bestelle einen Cappuccino bei einer anderen Serviererin, tippe schweigend auf die Zeile auf der Karte. Die Sonnenstrahlen reflektieren sich in ihrer Brille. Ich kann ihre Augen kaum erkennen. Ich wende meinen Blick dem Fremden zu und fixiere ihn minutenlang. Bewegungslos wie zuvor starrt er in das Nichts. Juttas Kollegin stellt meinen Cappuccino vor mich hin und nimmt die Zuckerdose von seinem Tisch auf. Gedankenverloren folgen seine Augen ihrer Hand und bleiben dann an der Zuckerdose neben meiner Tasse haften. Langsam blickt er auf. Meine Augen erwarten ihn bereits. Heftig wendet er sich ab, hält inne, schaut zum Tisch auf seiner anderen Seite. Mit beiden Händen greift er nach seinem Glas und schaut hinein. Was sieht er dort auf dem leeren Boden? Sein Gewissen? Ist es gut oder schlecht? Nicht gut. Mit einem guten Gewissen sitzt man nicht einsam an einem Tisch in einem Café und stiert vor sich hin. Da geht man lächelnd im Sonnenschein spazieren und nickt anderen Leuten freundlich zu! Es ist trübe und ein kalter Wind bläst. Vielleicht hat ihn jemand versetzt. Ich nippe an meinem Cappuccino, wische den Schaum mit der rechten Hand von meinen Lippen. Jetzt stellt er das Glas ab, auf seiner Stirn bilden sich Falten. Er dreht mir seinen Kopf leicht zu. Soll ich ihn jetzt ansprechen? Was soll ich sagen? Ich kenne ihn ja nicht. Nein, so geht mein Spiel nicht. Ich schweige und schaue, das ist meine Spielregel. Der Fremde erhebt sich abrupt und geht zu der Theke, reicht Juttas Kollegin einen Schein und geht hinaus. Ich schaue ihm nach. Ist mein Spiel jetzt zu Ende oder nur die erste Runde? Wieder lege ich Geld auf den Tisch. Ohne einen Gruß verlasse ich das Café.

Ich lasse ihn nicht aus den Augen. Immer wieder drängen sich andere Menschen zwischen uns. Eilig verringere ich dann den Abstand. Er geht zügig, aber nicht schnell. Ich kann ihm problemlos folgen. Gelegentlich dreht er sich um und sucht die Menge ab. Jedes Mal bleibt er zunächst stehen, erst dann wendet er sich um. Zeit genug für mich seinem Blick auszuweichen. Wenn er in ein Auto steigen und fortfahren würde, wäre mein Spiel aus, so aber folge ich ihm durch die Stadt.

Der Mann dreht sich kaum noch um. Er geht die Treppe einer U-Bahn-Station hinab und wartet ungeduldig auf dem Bahnsteig. Lässt sein Gewicht von einem Fuß zum anderem wechseln. Klopft mit der linken Hand im gleichen Rhythmus gegen seine Seite. Hastig geht er der einfahrenden U-Bahn entgegen. Ich steige in das Nachbarabteil ein und bleibe an der Tür stehen, passe bei jedem Halt auf, dass er mir nicht entwischt. Durch das kleine Fenster in der Zwischentür kann ich in sein Abteil sehen. Vorsichtig schaue ich hinein, bereit mich schnell hinter einem Rücken zu verstecken. Der Mann sitzt zusammengesunken auf einer Bank. Sein Blick ist wieder in die Leere gerichtet.

Was mache ich? Ich fahre U-Bahn. Nein, ich verfolge einen Fremden. Warum? Ich spiele. Ich bin neugierig. Vielleicht finde ich heraus, weshalb der Mann ein schlechtes Gewissen hat. Hat er das wirklich? Er benimmt sich auffällig, dreht sich misstrauisch um. Glaubt, er würde verfolgt. Er wird verfolgt, von mir! Warum? Es ist nur ein Spiel.

Wieder hält die U-Bahn. Prüfend beobachte ich die aussteigenden Fahrgäste. Er ist nicht darunter. Ich sehe ihn auf seiner Bank sitzen. Durch die Lautsprecher wird die nächste Station angekündigt, es ist die Endstation. Ich lasse die anderen Leute vor mir hinausgehen. In ihrem Schutz folge ich ihm. Wieder zügig, aber nicht schnell, steigt er die Treppe empor und geht zu einer Bushaltestelle, stellt sich zu den anderen Leuten in das kleine Wartehäuschen. Ich bleibe daneben stehen. Eine Reklametafel verdeckt mich. Wenn ich mich leicht vorbeuge, kann ich ihn durch den Rand des Glases, den die Tafel nicht bedeckt, sehen. Eine ältere Frau geht auf ihn zu und grüßt ihn, die beiden unterhalten sich. Der Bus kommt. Der Fremde nickt ihr zu und steigt vorne in den Bus ein. Ich folge der Dame in den Fond. Mein Spiel ist noch nicht zu Ende. Bevor es in die nächste Runde geht, mache ich eine Pause. Das ist nicht gegen die Regel.

Lächelnd frage ich nach dem Platz neben ihr. Die Frau und ich beginnen über das Wetter zu plaudern. Der Busfahrer kündigt die Station „Holunderweg“ an. Der Mann steigt aus. Er geht auf dem Fußweg an der Seite des Busses auf uns zu. Die Dame flüstert einen Gruß. Er nickt verstehend. Plötzlich bleibt er stehen. Ich winke ihm zu. Der Bus fährt an. Ich schaue über meine Schulter. Immer noch steht er regungslos dort. Er hat ein schlechtes Gewissen! Ich habe ihm doch nur zugewunken, ganz harmlos. Was kann harmloser sein?

„So ein Zufall“, sagt die Dame neben mir. „Sie kennen Herrn Keller?“

„Nur flüchtig. Er wohnt doch auch hier in der Nähe, im Holunderweg, nicht wahr?“

Meine Nachbarin schüttelt den Kopf. „Aber, nein. Im Brombeerweg. Neunzehn. So wie ich.“

Fragend schaue ich sie an.

„Neunzehn. Die gleiche Hausnummer wie ich. Nur eine andere Straße.“

„Ach so. Jetzt verstehe ich. So ein Zufall.“

Bei der nächsten Haltestelle steige ich aus. Die paar hundert Meter zu der vorherigen gehe ich zu Fuß. Herr Keller ist nicht zu sehen. Im Wartehäuschen hängt ein Straßenplan. Der Brombeerweg ist gleich um die Ecke. Das Spiel geht weiter. Die nächste Runde beginnt.

Ich habe geklingelt. Abwartend schaue ich die Tür an. Sie wird geöffnet. Herr Keller steht vor mir. Ich trete einen Schritt vor und sehe ihm direkt in die Augen. Er weicht zurück, ich gehe weiter. Er will die Tür zuschlagen. Zu spät.

„Was wollen Sie?“

Ich wende meinen Blick nicht ab.

„Wer sind Sie? Was wollen Sie?“

Meine Spielregel gilt noch immer: Schauen und schweigen.

„Gehen Sie, ich kenne Sie nicht!“

Er versucht meinem Blick auszuweichen. Immer wieder schaut er mir jedoch kurz in das Gesicht.

„Oder?“

Nun sieht er mich länger als zuvor an.

„Sagen Sie doch, was Sie wollen!“

Er hält meinem Blick nicht mehr Stand.

„Kenne ich Sie überhaupt? Sagen Sie mir Ihren Namen, bitte.“

Ich kann ihm meinen Namen nicht sagen. Es ist ein Spiel. Ich darf nicht gegen die Regel verstoßen, sonst ist das Spiel zu Ende.

„Können Sie nicht sprechen? Was ist mit Ihnen?“

Wieder schaut er mich an.

„Haben Sie eine Karte? Eine Visitenkarte?“

Ich greife in meine Tasche. Eine Karte habe ich, ja. Eine echte Visitenkarte. Er nimmt sie mir aus der Hand und mustert sie eingehend. Ich gehe an ihm vorbei, weiter in das Haus hinein. An die Eingangsdiele schließt sich das Wohnzimmer an. Eine weinrote Sitzgarnitur steht gegenüber dem Fenster. Ich nehme Platz. Das Radio läuft. Überall an den Wänden hängen Fotografien, Momentaufnahmen.

„Hören Sie, ich verstehe nicht, was das soll? Das ist nicht ihre Karte. Ich verstehe nicht.“

Ich kann es ihm nicht erklären, es wäre gegen die Regel. Es ist nicht meine Karte. Hatte er meine Visitenkarte haben wollen? Er hat nach einer, irgendeiner Karte gefragt. Ich habe ihm die einzige Karte gegeben, die ich habe. Ich habe nicht geschummelt. Ich spiele fair. Das Spiel geht weiter.

„Warum haben Sie mir diese Karte gegeben? Da steht ein Männername drauf! Was soll das?“

Er kommt auf mich zu.

„Wieso sitzen Sie in meinem Wohnzimmer? Was unterstehen Sie sich, verschwinden Sie!“

Seine Stimme überschlägt sich. Ich schaue ihm weiter in die Augen.

„Verschwinden Sie, raus, raus!“

Er bleibt direkt vor mir stehen. Unsere Knie berühren sich. Er atmet tief durch und mustert mich.

„Ich kenne Sie?“

Seine Stimme klingt wieder normal. Er hat sich beruhigt. Langsam geht er zum Fenster und schaut hinaus in den Garten. Ein schöner Garten, ich habe keinen schönen Garten. Ich habe überhaupt keinen Garten. Mutter hatte einen Garten. Nicht schön, aber ein Garten. Herr Keller kommt wieder zurück und starrt mich an.

„Wo habe ich Sie schon mal gesehen? Bitte, helfen Sie mir, ich erinnere mich nicht.“

Weiß er es wirklich nicht? Ich antworte ihm nicht. Mein Spiel hat doch nur eine Regel, an die muss ich mich halten.

„Sie antworten mir nicht. Warum nur?“

Er setzt sich auf den Sessel mir gegenüber. Weicht meinem Blick nicht aus, sehr lange nicht.

„Vorgestern? War es vorgestern?“

Fragend beugt er sich vor.

„Sind wir uns da begegnet?“

Er lässt sich gegen die Rückenlehne fallen. Schaut zur Zimmerdecke.

„Oh, Gott. Sie haben mich gesehen. Oh, Gott.“

Abschätzend gleitet sein Blick über mich.

„Vorgestern also, ja. Sie haben mich wiedererkannt. So war es. Im Café. Ich habe Sie nicht wiedererkannt. Sie sehen so ... so ...“

Er springt auf. Unsere Knie berühren sich wieder.

„Was wollen Sie? Warum sagen Sie nichts?“, schreit er. „Verschwinden Sie!“

Ich richte mich auf.

„Nein, nein. Sie bleiben!“

Wieder atmet er tief durch und setzt sich dann auf den Sessel.

„Bleiben Sie, bitte.“

Er sieht mich prüfend an.

„Wenn ich nur wüsste! Habe ich Sie überhaupt gesehen?“

Seine Stimme wird leise und schneidend.

„Wissen Sie, wie Sie aussehen? Wollen Sie es wissen? Durchschnittlich und gewöhnlich. Deshalb kann ich mich nicht an Sie erinnern. Das hat man Ihnen doch schon gesagt, oder?“

„Ja“, denke ich. Mutter hat es gesagt, oft. Nicht so wie Herr Keller. „Hässlich“, hat sie gesagt. „Du bist hässlich. Das ist keine Lüge. Wenn man nicht lügt, darf man alles sagen. Auch unangenehme Dinge, dann hat man trotzdem ein gutes Gewissen.“

Seine Augen verengen sich zu kleinen Schlitzen.

„Eine Frau, die nicht in Erinnerung bleibt! Keine fünf Minuten. So durchschnittlich und gewöhnlich sind Sie. Wie kann eine Frau damit leben, nicht in Erinnerung zu bleiben?“

Ich antworte ihm nicht, es wäre gegen die Regel.

Seine Augen öffnen sich leicht. Ich fixiere sie. Herr Keller springt auf. Seine Hände schnellen vor. Es ist nur ein Spiel, ich habe keine Angst.

„Ich werde Sie ... ich werde Sie …“

Seine Augenlider flackern, dann sinken seine Hände herunter. Er beginnt im Wohnzimmer auf und ab zu gehen.

Ich schaue mich um. Auf den Fotografien ist eine Frau zu sehen. An der Wand zu meiner linken hängen viele Schwarzweißfotografien und wenige Farbbilder. Die Frau sieht jung aus. Auch Herrn Keller erkenne ich, ein junger Mann, damals. An der rechten Wand hängen Farbaufnahmen. Die Frau ist älter geworden.

Herr Keller setzt sich wieder auf den Sessel.

„Sie wollen Geld! Mit Geld lässt sich alles regeln. Wie viel wollen Sie?“

Weshalb fragt er mich? Ich antworte ihm nicht.

Herr Keller schlägt die Hände vor das Gesicht. Ich höre ihn seufzen.

„Sagen Sie mir wenigstens, ob Sie mich gleich wiedererkannt haben. Im Café meine ich, bitte. Ich würde es einfach nur gerne wissen, bitte. Haben Sie mich gleich erkannt?“

Herr Keller nimmt die Hände vom Gesicht. Er sieht verändert aus. Will er mich täuschen? Womit? Er kennt mich so wenig wie ich ihn kenne.

„Bitte, nur das. Wenn Sie sonst schon nichts sagen.“

Seine Stimme klingt fast flehentlich. Ich sehe ihm weiterhin fest in die Augen. Er hält meinem Blick stand. Ich zucke mit den Schultern. Das bedeutet nichts. Allenfalls ein „ja, vielleicht“ oder ein „nein, vielleicht“. Mein Gegenüber muss selber entscheiden, was gilt. Das eine ist die Wahrheit, das andere die Lüge. Sie heben sich gegeneinander auf. Ich muss also kein schlechtes Gewissen haben. Mutter hat gesagt, man darf niemals ein schlechtes Gewissen haben, niemals. Gefragt hat sie oft, ob ich ein gutes oder ein schlechtes Gewissen habe. Habe ich ein schlechtes Gewissen? Jetzt, hier im Wohnzimmer von Herrn Keller? Ein Gewissen habe ich bestimmt. Ob gut oder schlecht? Ich suche doch noch, aber nicht jetzt, jetzt spiele ich mein Spiel.

„Also, doch! Sie haben mich gleich erkannt.“

Herr Keller nimmt ein Sofakissen auf, schaut es unverwandt an, bevor er es auf seinen Schoß legt.

„Sie haben nichts unternommen. Warum nicht? Im Café gibt es bestimmt ein Telefon.“

Er schaut mich kurz an, greift in die Brusttasche. Er liest den Namen auf der Visitenkarte laut vor: „Dr. Klaus Ebermann.“

Wieder sieht er mich an.

„Ist das Ihr Mann? Nein. Nein, Sie antworten mir doch nicht.“

Herr Keller schaut hinüber zu den Schwarzweißfotografien. Dann fällt sein Blick wieder auf die Karte in seiner Hand.

„Dr. Klaus Ebermann. Psychiater.“

Er blickt auf.

„Ein Psychiater? Ich verstehe nicht.“

Herr Keller will gar nicht, dass ich es ihm erkläre. Er dreht sich zu den Farbfotografien um. Meine Augen folgen seinem Blick. Die Frau ist schön.

„Soll ich Ihnen erzählen, von meiner Frau, von mir?“

Er wendet sich nicht von den Bildern ab.

„Wir haben uns geliebt. Wir waren wirklich glücklich. Aber dann ... allmählich ... verstehen Sie? Mit der Zeit ...“

Nun dreht er sich wieder mir zu.

„Mit der Zeit ... nein, ich kann nicht ... Sie wissen ja sowieso ...“

Noch einmal schaut er zu den Bildern.

„Warum sind Sie hier? Weshalb haben Sie nicht gleich telefoniert“, fragt er, während er sich mir zuwendet. „Sie wollen Gerechtigkeit? Ist es das, was Sie wollen? Sagen Sie deshalb nichts? Nein, das macht keinen Sinn.“

Herr Keller betrachtet die Visitenkarte.

„Dr. Klaus Ebermann, Psychiater. Haben Sie die Karte für mich mitgebracht? Dafür ist es zu spät. Sie wissen es doch.“

Er senkt seinen Blick.

„Ihre Schuhe. Wer trägt heutzutage noch solche Schuhe?“

Seine Stimme klingt nicht provozierend, er will es wirklich wissen.

„Sind Sie von der Heilsarmee? Nein, Sie tragen keine Uniform. Nein, nein.“

Wieder schaut er mir in das Gesicht.

„Dr. Ebermann, kennen Sie ihn schon lange?“

Ich kenne den Doktor noch nicht lange, nein, aber das kann ich ihm nicht sagen, nicht solange ich spiele.

„Sie wollen etwas von mir, aber Sie wollen es nicht sagen. Sie wollen, dass ich selber darauf komme. Ich weiß es. Ich weiß es, seit Sie wieder in das Café zurückgekommen sind.“

Er lehnt sich zurück.

„Wollen Sie, dass ich es tue? Jetzt sofort. Möchten Sie das?“

Ich zucke mit den Schultern, es bedeutet ja nichts. Beim Spielen schummle ich nicht. Mutter hat Schummeleien nie geduldet. Mutter, sie ist tot, noch nicht lange. Kaum länger als ich Dr. Ebermann kenne.

„Sie haben Recht. Es ist besser so. Lieber jetzt sofort. So wird es am besten sein.“

Er beugt sich zu mir vor. Zeigt auf den Beistelltisch neben mir. Dort steht ein Telefon.

„Bitte, wählen Sie für mich.“

Herr Keller versucht meinen Blick zu deuten. Langsam streckt er seine Arme aus, zeigt mir seine Hände, sie zittern.

„Ich kann nicht wählen, bitte.“

Ich nehme den Hörer auf.

„Tippen Sie einfach 110 ... nein, nein halt! Warten Sie.“

Er greift in seine Brusttasche, zieht eine andere Karte heraus und reicht sie mir.

„Wählen Sie diese Nummer, das ist direkter.“

Ich wähle. Nach dem fünften Läuten höre ich eine Männerstimme. Ich reiche ihm das Telefon.

„Keller, ich muss Ihnen etwas sagen. Ja, wegen der Vermis… ja, wegen meiner Frau. Bitte, können Sie kommen? Ich muss es Ihnen sagen. Kommen Sie zu mir, bitte ... ja ... ja ... danke.“

Herr Keller stellt das Telefon neben sich auf das Sofa.

„Sie kommen. Die Polizei wird gleich hier sein.“

Wir schauen uns an und schweigen. Seit 17 Minuten. Es klingelt an der Haustür. Herr Keller erhebt sich und geht aus dem Zimmer.

Das Spiel ist aus.

Ich stehe auf und öffne die Terrassentür. Den wunderschönen Garten verlasse ich durch die Gartenpforte. Vor dem Haus von Herrn Keller steht ein Polizeiwagen quer auf dem Fußweg. Ich gehe den Brombeerweg hinab. An der Haltestelle „Holunderweg“ warte ich auf den Bus. Bei Dr. Ebermann werde ich pünktlich erscheinen. Vielleicht einen kleinen Tick zu früh. Das macht nichts, deshalb brauche ich kein schlechtes Gewissen zu haben. Mutter hat gesagt, man darf ein wenig zu früh kommen, aber niemals zu spät. Ich werde Dr. Ebermann erzählen, wie mein Spiel heute verlaufen ist. Und ich werde ihm sagen, dass er Unrecht hat. Wenn man die Wahrheit sagt, darf man alles sagen. Dr. Ebermann meint mein Spiel sei gefährlich. Es sei ein gewagtes Spiel.

Nachwort

LiebeR LeserIn

Ich hoffe, diese Snack-time-story hat Ihnen gefallen. Sie habe ich Ihnen kostenlos zur Verfügung gestellt. Es würde mich freuen, wenn Sie dies honorieren, z.B. indem Sie meine Homepage www.lola-victoria-abco.de besuchen, andere auf meine Texte und mich aufmerksam machen oder … seien Sie kreativ, vielen Dank.

 

Herzliche Grüße

Ihre Lola Victoria Abco

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www.Lola-Victoria-Abco.de

 

Herzlich willkommen!

Lola Victoria Abco

 

Impressum

Texte: Lola Victoria Abco
Bildmaterialien: R. Nyland
Cover: Lola Victoria Abco
Tag der Veröffentlichung: 23.01.2019

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Allen Lesern gewidmet, die Erzählungen ebenso mögen wie kleine Snacks zwischendurch.

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