Cover

Wovon träumt die Liebe?


1

„Nein, Neeeein, Marco! Marcooo!“. Schweißgebadet wachte ich auf. Ich hatte meine Augen weit aufgerissen. Alles war wieder so klar vor mir. ER war wieder so klar vor mir. Ich konnte sein Gesicht erkennen, von Angst gezeichnet. Ich sah wieder, wie er krampfhaft versuchte, sich festzuhalten, wie er versuchte, sich am Leben zu halten. Und dann dieser Schrei. Er ging durch Mark und Bein, erschütterte mich jedes Mal von Neuem. Dieser Schrei, dessen Klang ich noch so deutlich wahrnahm in meinen Träumen. Ich sah auf die Uhr. Es war drei Uhr nachts. Langsam ebbte das Zittern, das meinen ganzen Körper beherrschte, ab. Ich schaltete die Nachtischlampe an und nahm das Foto aus dem Regal. Es war alt, zu alt, aber es gab kein Neueres von uns. Er war tot und das war das Letzte, was mich noch richtig an ihn erinnerte. Meine Eltern zogen nach seinem Tod mit mir in eine andere Stadt. Sie schmissen alles weg, was Marco je besaß. Sie konnten nicht mehr unter demselben Dach leben, weil er nicht mehr da war, sie konnten seine Sachen nicht mehr sehen, weil er nicht mehr da war. Doch das war genau das Gegenteil von dem, was ich wollte, aber mich fragte man nicht mehr. Ich wurde nicht mehr gesehen, nicht mehr gesehen als seine Schwester, sondern war nur noch die nervige Tochter. Das Einzige, was ich noch von ihm hatte, war sein Lieblingssweatshirt, sein Skateboard, sein Tagebuch und die Erinnerung an ihn, die ich tief in meinem Herzen versteckt hatte. Wir lebten in dieser Wohnung mittlerweile schon über 5 Jahre, aber hier fühlte ich mich nicht zu Hause. Unser Loft hatte 6 Zimmer. Eines davon war spärlich eingerichtet. Es gab nur einen Tisch und drei Stühle. Die Wände waren in schlichtem weiß gehalten. Auf dem Tisch war ein Foto von Marco und eine Kerze stand daneben. Ich ging in dieses Zimmer ungern, aber ich musste, weil meine Mutter es für richtig hielt, jeden Abend einmal für ihn zu beten. Ich hasste diese Zeremonie. Seit es ihn nicht mehr gab, war mein Leben in der Familie so trostlos. Ich verlor ihn, bevor ich aufs Gymnasium kam. Ich hatte meinen neuen Freunden nie von ihm erzählt. Sie hätten Fragen gestellt, auf die ich nicht antworten wollte. Ich wäre wieder zusammengebrochen innerlich. Ich hätte meine neue Maske, die ich mir mit Mühe aufgebaut hatte, verloren. Mein neues Leben war anders, ich hatte einen anderen Freundeskreis und die Menschen, die mich zuvor nicht kannten, sahen mich nicht mitleidig an. Aber ich vermisste ihn und seine Art, die mich sofort wieder aufstehen ließ, wenn ich hingefallen war. Ich liebte es, wenn er mir immer neuen Mut machte, mir Zuversicht gab, dass mein Leben weiterging. Sein lautes Lachen ging mir ab und mir fehlte, dass ich zu ihm aufsehen konnte, dass es da jemanden gab, der bisher alles richtig gemacht hat im Leben. Jetzt hatte ich das nicht mehr. Meine Eltern waren nervlich am Ende. Anfangs deckte meine Mutter für vier Leute den Tisch, obwohl wir nur noch zu dritt waren. Mein Vater stürzte sich in seine Arbeit, kam spätabends nach Hause, stieg immer weiter auf und war mittlerweile Chef einer großen Firma. Man sagt immer die Zeit heilt alle Wunden, aber ich weiß, dass es nie so sein wird. Dass er immer präsent sein wird und die Narbe, jedes Einzelnen von uns, genauso tief bleiben wird, wie sie hinein geschnitten wurde.


2

Die Nacht war kurz. Zu kurz, um all diese Dinge zu verarbeiten. Ich setzte mich auf, hatte einen Arm auf dem Bett abgelegt und griff mir mit der Hand ihn die Haare. Ich strich sie zurück und streckte einen Fuß aus dem Bett. Ich war wie gerädert. Mir war schlecht. Ich sah in den Spiegel. Mit meinem rosafarbenen Schlafanzug und meinen blond gefärbten Haaren glich ich Barbie wie ein Ei dem anderen. Meine Freunde nannten mich oft so. Barbie. Weil ich perfekt war, meinten sie. Ich war beliebt und hatte mir einen Namen in unserer neuen Stadt gemacht. Mein Vater verdiente das nötige Geld, um mir ein Leben als Großstadtzicke zu ermöglichen. Wir wohnten im teuersten Viertel in einem Loft. Das konnte sich nicht jeder leisten: Riesige Dachterrasse mit Blick über die Dächer Hamburgs, 250 m² Wohnfläche, Sauna und Whirlpool. Mit meinen neuen Freundinnen, die alle einen gleichen Status wie ich hatten, veranstalteten wir Beautyabende, bei denen wir die Sektkorken knallen ließen, Gesichtsmasken auflegten und uns eincremten bis kein Fleckchen unserer Haut mehr uneingeölt war. Wir unterhielten uns stundenlang über die angesagtesten Clubs in Hamburg, die heißesten Jungs, die neuesten Trends ins Sachen Mode und Lifestyle und lästerten über die Freaks unserer Schule. Es gab an unserer Schule genügend Leute, die meine Clique und mich abgrundtief hassten, weil wir über andere Leute herzogen und dabei kein Blatt vor den Mund nahmen und es gab die, die zu uns aufschauten und alles dafür geben würden, mit uns abhängen zu dürfen. Eigentlich war ich nie so. Ich war nie so oberflächlich, aber es gehörte zu meinem neuen Leben dazu. Es ließ mich vergessen. Ich öffnete leise die Tür und lief ins Bad. Meine nackten Füße froren ein bisschen auf dem Weg. Unsere Fußbodenheizung war vor Kurzem abgedreht worden, weil meine Mutter die Umwelt schonen und nicht mehr so verschwenderisch sein wollte. Sie war gerade auf ihrem Ökotrip. Aber es wechselte von Zeit zu Zeit immer wieder. Ich drehte den Wasserhahn auf und schüttete mir eiskaltes Wasser ins Gesicht. Sofort spürte ich, wie ich wach wurde und jede einzelne Pore meiner Haut sich mit Leben füllte. Ich zog meinen Schlafanzug aus und hängte ihn auf einen Kleiderhaken. Ich stieg in die Dusche und ließ den angenehm warmen Wasserstrahl auf mich herunter prasseln. Ich versuchte die Ereignisse dieser Nacht herunter zu waschen. Der Lavendelduft meines Glättungsshampoos brachte mich in eine bessere Stimmung. Ich öffnete die Tür meiner Dusche und griff nach meinem Handtuch, das ich neben der Dusche platziert hatte. Ich trocknete mich ab und schlang das Handtuch um meinen Körper und befestigte es. Ich nahm ein grünes Haarband mit Pailletten aus dem Spiegelschrank über dem Waschbecken und fing an, mir das Gesicht zu reinigen. Danach cremte ich mich sorgfältig ein. Ich ging zurück in mein Zimmer und stellte ein Outfit für die Schule zusammen. Ich entschied mich für ein Blumenkleid, eine schwarze Leggings, eine beige Cardigan, eine Herzkette und Ballerinas. Dazu nahm ich eine meiner vielen braunen Taschen, die ich auch gleich packte. Ich holte das Mäppchen vom Schreibtisch, meine Hefte und meine Bücher. Unser Tag heute endete schon um 13.00 Uhr, so dass ich nicht allzu viel mitnehmen musste. Ich steckte noch kurz mein Beautycase und meinen Geldbeutel in die Tasche und zog mich an. Im Bad schminkte ich mich. Ich entschied mich für einen ockerfarbenen Lidschatten und legte wie immer noch Wimperntusche und Make-up auf. Ich kämmte meine Haare und föhnte sie. Ich fixierte sie noch mit Haarspray, dann war ich fertig. Ich betrachtete mich im Spiegel. Mein Werk gefiel mir. Ich hörte, wie die Schlafzimmertür meiner Eltern aufging und meine Mutter in den Gang schlurfte.
„Morgen. Kaffe?“, fragte sie und unterdrückte ein Gähnen.
„Ja, gerne. Aber ich muss gleich los.“
Sie schleppte sich weiter Richtung Küche und ich beeilte mich, zurück in mein Zimmer zu kommen. Ich checkte noch mal, ob alles in meiner Tasche verstaut war und rannte dann mitsamt Tasche und Jacke, die ich im Laufen anzog, in die Küche. Mein Kaffee stand schon auf dem Tresen. Ich trank ihn in einem schnellen Zug leer. Ich gab meiner Mum einen Kuss auf die Backe und war schon auf dem Weg zur Tür.
„Ciao. Sag ’nen Gruß an Papi, ok? Bis heute Abend.“
Ich war schon wieder zu spät dran, wenn ich den Bus noch erwischen wollte, musste ich mich richtig beeilen. Ich sah schon von Weitem, wie alle Leute aus dem Umkreis an der Haltestelle standen. Es passte nicht zu mir, dass ich zur Haltestelle rannte, also ging ich mit schnellen großen Schritten vorwärts. Ich konnte den Bus schon hören, bevor er an mir vorbeifuhr. Ich lief immer schneller bis ich schließlich doch rannte. Ich kam gerade an, als der Letzte in den Bus einstieg. Ich zeigte meinen Ausweis und kämpfte mich durch die Massen von Schülern, die keinen Sitzplatz mehr gefunden hatten, durch zu Cassy und Maddie. Sie hatten einen Platz auf der Viererbank für mich freigehalten. Ich umarmte beide und gab ihnen einen kleinen Kuss.
„Hey. Danke. Tut mir leid, ich hab die Zeit vergessen, als ich mich geschminkt habe.“
Ein lauter, genervter Seufzer kam aus der Sitzreihe neben uns. Mika und Tobi lachten, als wir sie ansahen.
„Mann, muss das schwierig sein, so ein Leben als Mädchen“, meinte Mika.
„Komm, halt einfach mal deine Klappe. Niemand hat dich um deine Meinung gebeten“, schaltete sich Cassy ein. „Lass ihn reden, Lola. Er ist es nicht wert, sich aufzuregen.“
„Ja, du hast recht. Also, Maddie, schieß los, wie war dein Date mit Lenny gestern?“, fragte ich.
„Oh mein Gott. Lenny ist so süß. Er hat mir eine Rose mitgebracht und mich dann zu einem Eis eingeladen. Es war so romantisch. Er hat mir ständig Komplimente gemacht und hat gesagt, dass er mich unbedingt wieder sehen möchte. Diese Woche noch.“
Cassy und ich fingen an, leicht hysterisch zu kreischen. Wir wollten jetzt alles ins Detail genau wissen. Für ihr nächstes Date machten wir aus, dass wir an dem Tag zu ihr kommen würden und ihr in punkto Styling mit Rat und Tat zur Seite stehen würden. Der Bus hielt vor unserer Schule. Jetzt ging es wieder los. Wir checkten noch mal unser Outfit. Wir liefen zum Rest unserer Clique. Isa und Milena warteten schon. Wir begrüßten uns wieder mit Umarmungen und Küsschen. Wir lachten laut und der ganze Schulhof richtete seine Augen auf uns. Einige sahen, als sie bemerkten, wer die Aufmerksamkeit auf sich zog, genervt weg und wandten sich ihren eigenen Angelegenheiten zu. Andere sahen uns an, nein, sie himmelten uns an und verfolgten jeden unserer Schritte. Früher hätte ich solche Leute, wie mich und meine Clique peinlich gefunden, aber es gab kein früher mehr. Es war kurz vor acht. Es klingelte und die Schultüren öffneten sich. Hand in Hand gingen wir hinein. Von der Eingangstür aus kam man durch einen längeren Gang in die Aula. Dort begrüßten wir unsere Jungs: Phil, Tom, Chris, Nick und Max. Phil lief auf mich zu.
„Hey, Schatz. Wie geht’s dir?“, fragte er mich.
„Super, dir?“
„Ja, passt, hatte nur ’n bisschen Stress mit Mila vorhin.“
Wir küssten uns. Ich lächelte und wir gingen zurück zu den anderen. Er kam vor zwei Jahren auf unsere Schule. Ich hatte mich sofort in ihn verliebt, aber er hatte noch eine Fernbeziehung, die ein halbes Jahr danach, kurz bevor wir uns kennen gelernt haben, in die Brüche ging. Auf einer Party von einem gemeinsamen Freund hat er mir dann etwas zu trinken angeboten und wir sind ins Gespräch gekommen. Bald haben wir uns getroffen und auf dieses Date folgte das Nächste. Ich war wie vor den Kopf geschlagen, als er nach ein paar Wochen vor meiner Tür stand, meine Hand nahm und meinte, er müsste mir etwas zeigen. Kurz bevor wir in den Park gingen, band er mir ein Halstuch um die Augen. Er trug mich und setzte mich nach ein paar Minuten wieder ab. Dann nahm er mir die Binde ab und ich saß auf einer Picknickdecke. Er hatte sich richtig ins Zeug gelegt. Obst, frische Brötchen, Sekt usw. lagen darauf. Nachts erst kam ich zurück, vom schönsten Date meines Lebens und seit damals waren wir ein Paar.
„Lola? Hallo?!“. Cassy stand vor mir und winkte wild vor meinen Augen herum.
„Ähh, ja, was? Sorry, ich war in Gedanken gerade noch wo anders.“
„Wir sollten jetzt mal ins Klassenzimmer gehen, wir sind schon wieder fünf Minuten über der Zeit.“
Die Jungs verabschiedeten sich und gingen in die andere Richtung. Sie waren eine Klasse über uns und hatten ihr Klassenzimmer im Nebengebäude. Meine Mädels und ich, wir waren nicht wie die andern, die rennen würden, um noch rechtzeitig zu kommen. Während wir die Klasse betraten, merkte ich, wie uns alle anstarrten. Unsere Lehrerin, die uns nicht gerade freundlich gesinnt war, fing mal wieder an uns eine Standpauke zu halten.
„Ah, seid ihr mal wieder nicht vom Schminktisch weggekommen?“
„Doch, Doch, Frau Brenner. Tut uns sehr Leid. Übrigens sie haben heute ein wunderschönes Kleid an. Das steht ihnen perfekt“, sagte Cassy mit gespielter Höflichkeit.
„Oh, das ist nett. Dankeschön. Setzt euch. Aber, dass uns das nicht noch einmal vorkommt.“
Dieser Trick funktionierte jedes Mal. Jeder wusste, dass sie schon lange ein Auge auf ihren Kollegen Herr Kirscher, Michael Kirscher, geworfen hatte. Ihr Selbstbewusstsein war so mickrig, dass ihr jedes Kompliment half, sich besser zu fühlen. Vor allem, sich besser vor Kirscher zu fühlen. Wir ließen uns Zeit beim Hinsetzen und packten langsam unsere Sachen aus. Cassy saß neben mir. Es ging wieder mal um Stilmittel im Unterricht. Das Lieblingsthema unserer Lehrerin. Mittlerweile konnten wir Anglizismen, Neologismen, Anaphern und, was es noch alles gab, auswendig. Man sah uns die Motivation an. Ich fragte mich, für wie viele Schulaufgaben man dieses Thema brauchen konnte. War im Prinzip alles egal. Ich war gut in der Schule und brauchte mir keine allzu großen Sorgen zu machen. Nach Marcos Tod hatte ich mich auch großenteils in die Schularbeiten gestürzt. Meine Noten wurden immer besser und jetzt schrieb ich fast nur noch Einser oder Zweier. Ich sah zur Uhr. Gleich war die erste Stunde vorbei.
Wir trafen uns mit den Jungs in der Pause. Meistens saßen wir in draußen im Atrium, das rundherum mit Säulen geschmückt war. Ich lag in Phils Armen, hatte meine Ray-Ban-Sonnenbrille auf und streckte mein Gesicht der Sonne entgegen. Die Wärme durchzuckte mich kurz und Phil fragte mich:„Ist irgendwas? Soll ich loslassen?“
„Nein, nein. Die Sonne hat mich nur gerade irgendwie zusammenzucken lassen. Du verstehst schon, wenn’s mich friert und dann die Wärme kommt…“
„Ja, ich verstehe.“ Er lachte. „Willst du meine Jacke?“
„Gerne, Schatz.“
Er reichte mir seine grüne Sweatjacke und ich zog sie an. Sie war noch warm und roch so wundervoll nach ihm. Er hatte einen angenehmen, vertrauten Geruch. Er roch so ein bisschen nach Vanille, Rosen und irgendetwas Erfrischenden. Vielleicht kam mir das auch nur so vor, weil ich ihn so liebte, diesen Duft. Ich liebte nicht nur den Duft, ich liebte seinen Körper, ich liebte seine Art mich zum Lachen zu bringen, mich aufzumuntern. Ich liebte, wenn er mich küsste, wenn er mir zeigte, wie viel ich ihm bedeute und, wenn er mir das gab, was ich brauchte. Wenn ich an etwas dachte, dann dachte er an das Gleiche. Das war wie Telepathie, nur doch irgendwie anders. Ich wollte ihn nicht mehr loslassen. Er war der RICHTIGE, nach dem die ganze Menschheit immer sucht. DIE große Liebe. Mein Seelenverwandter. Aber irgendwann würde sicher die Zeit kommen, in der auch ich merken würde, dass er gehen muss. Ich kann ihn nicht für immer bei mir behalten. Aber da konnte sich das Schicksal ruhig noch ein bisschen Zeit gönnen. Jetzt wollte ich erstmal mit ihm zusammen sein. Noch ein paar weitere Jahre. Nein, tausende Jahre. Unendliche Jahre nur mit Phil, Phil, Phil. Es klingelte.

Ich stieg aus dem überhitzten Bus aus. Den kurzen Weg zu unserer Wohnung lief ich langsam. Aus meinen Kopfhörern kamen die Gitarrenklänge eines meiner Lieblingssongs. Wenn ich mich unbeobachtet fühlte, tanzte ich wie eine Verrückte in den wildesten Klamotten zu dem Song vor dem Spiegel. Nicht perfekt, weil es einmal nicht von mir verlangt wurde. Meine Mum hatte Phil, das war vor einem halben Jahr in die Wohnung gelassen, weil ich ihn nicht gehört hatte und als er ins Zimmer kam, sah er mich tanzen. Er musste eine Stunde danach noch lachen. Und ich lachte mit ihm. Er kannte mich so privat und auch so anders, dass es mir manchmal schwer fiel, vor den anderen wieder die perfekte Lola zu präsentieren. Er war einer der wenigen, neben meinen Mädels, der mich ungeschminkt kannte, nicht gestylt.
Wir gingen noch nie weiter als Petting es erlaubte, aber wir wussten beide ganz genau, dass ES mit dem jeweils anderen sein musste. Es würde mein erstes Mal werden. Er war nicht einer von den Jungs, obwohl Sex für ihn nichts Neues war, die meinten, sie seien viel reifer. Er drängte mich nicht dazu, irgendetwas zu tun, was gegen meinen Willen war. Er ließ mir die Zeit. Ich bestimmte, wann es soweit sein sollte. Das war gut so.
Ich schloss die Wohnungstür auf und stieg in den Aufzug. Ich steckte meinen Schlüssel in den Aufzug und drückte den obersten Knopf. Der Aufzug fuhr mich direkt in unsere Wohnung, deshalb der Schlüssel. Die Türen öffneten sich und ich lief in die weißgestrichene Wohnung. Ich konnte mich immer noch nicht richtig an die Designermöbel, das teure Parkett und die Größe unseres Lofts gewöhnen. Ich fühlte mich so wahnsinnig unwohl hier. Unser altes Zuhause war nicht so schön eingerichtet, aber es war gemütlicher, heimischer. Das fehlte hier. Vielleicht auch, weil Marco fehlte. Ich zog meine Schuhe aus und stellte sie in den Schuhschrank.


3

Das Telefon klingelte. Ich rannte aus dem Wohnzimmer in die Küche, wo ich es zuletzt habe liegen lassen. Ich sah auf das Display. In Großbuchstaben stand Flo darauf. Ich lächelte und drückte auf den grünen Hörer. Es knackte leise.
„Hallo, Laura“, begann er. Ich hasste meinen richtigen Namen. Er war der Einzige, der mich noch so nannte. Nicht einmal meine Eltern nannten mich noch so, wenn sie denn überhaupt einmal meinen Namen erwähnten
„Hey, Flo. Wie geht’s so am anderen Ende des Universums?“
„Ganz gut und dir?“
„Auch ganz gut. Lange nichts mehr gehört“, sagte ich.
„Du hast recht. Tut mir echt leid, dass ich nie auf deine Briefe und E-Mails geantwortet habe. Ich hatte sie alle gelesen und aufgehoben, aber ich…ich weiß auch nicht so recht, wieso ich nie geantwortet habe.“
„Ist schon ok. Ich hatte eigentlich schon aufgehört zu hoffen, dass du dich jemals wieder bei mir meldest. Flo? Ich, ich hab eine Frage. Ich weiß nur verdammt noch mal nicht, wie ich sie dir stellen soll.“
„Stell sie einfach. So schrecklich kann sie nicht sein.“
„Marcos Grab. Warst du da mal wieder?“
„Ja, ich bin jede Woche da. Euer komischer Gärtner, den ihr da beauftragt habt, leistet echt gute Arbeit. Zuletzt hat er rosa Rosen gepflanzt. Sie sind kreisförmig angerichtet. Sieht richtig gut aus.“
„Jede Woche?“ Das war das Einzige, was mich gerade interessierte.
„Ja, jede einzelne beschissene Woche. Seit fünf Jahren. Jede verdammte Woche.“ Ich hörte, wie er Schluchzer unterdrückte.
„Es tut mir so leid, Flo. Es tut mir so Leid.“
„Dir braucht das nicht Leid zu tun. Du hast deinen Bruder verloren, das ist viel schlimmer, als nur einen Freund zu verlieren.“
„Vielleicht. Aber du warst sein bester Freund. Ihr kennt euch seit ihr 2 Jahre alt seid. Glaub mir, du warst sein absoluter Mittelpunkt im Leben.“
„Er war auch mein Mittelpunkt. Laura, ich…ich muss dir etwas sagen. Ich bin ab Freitag in Hamburg. Ich habe ein Praktikum. Ich muss dich sehen, unbedingt.“
„Ja, ich muss dich auch sehen. Es gibt soviel, worüber wir reden müssen.“
„Dein Freund, wie heißt er gleich noch mal? Ach ja, Phil. Meinst du, er hat etwas dagegen, wenn ich mich mit dir treffe.“
„Ich weiß nicht. Er wird das schon irgendwie verstehen.“
„Du kannst ihm ja einfach sagen, dass ich ein Freund von deinem Bruder bin. Dann versteht er das sicher, denke ich.“
„Ja, so mache ich das…“
„Du hast es deinen Freunden nicht erzählt, oder?“
„Nein, habe ich nicht.“
„Wieso nicht? Wie kannst du deinen eigenen Bruder so verleugnen? Ich dachte, du liebst ihn.“
„Jetzt mach’ mir keine Vorwürfe! Du verstehst rein gar nichts. Das ist alles nicht so einfach, so wie du dir das vorstellst. Es ist nichts mehr so, wie es einmal war und das ist gut so. Ich hab’ ihn nicht vergessen, aber ich habe nicht mehr so viel an ihn gedacht, weil ich nicht so am Boden liegen will.“
„Sorry. Vergiss, was ich gesagt habe und lass uns weiterreden, wenn ich komme, bitte.“
„Ja. Ruf mich an, wenn du da bist, dann treffen wir uns. Ciao.“
„OK, ich melde mich. Schöne Woche noch. Bis dann.“
Es knackte, dann kamen nur noch Pieptöne. Ich schmiss das Telefon auf mein Bett und legte mich hinein. Ich starrte an die Decke. Mein Gehirn arbeitete und arbeitete, aber ich konnte nicht klar denken. Flo wollte kommen, verdammt. Ich wollte ihn sehen, aber, wenn er mich so sehen würde, er würde mich wahrscheinlich nicht mal mehr erkennen. In den fünf Jahren, in denen wir uns nicht mehr gesehen hatten, hatte sich so einiges verändert. Er würde kommen und er war mein bester Freund, fast eher ein Bruderersatz.

Die Hausaufgaben ödeten mich an. Ich hatte keine Lust mehr, irgendetwas zu lernen. Die Lehrer bekamen sowieso nie mit, wenn man sie mal nicht gemacht hatte. Vor allem nicht bei Leuten, die gute Noten schrieben. Ständig fielen mir wieder die Augen zu und ich stützte den Kopf auf dem Arm auf. Meine Mum rief aus der Küche. Das Essen war fertig. Ich schlurfte in meiner Jogginghose ins Wohnzimmer. Es roch den ganzen Gang schon nach Lasagne. Marcos Lieblingsessen. Ich öffnete die Schranktür und nahm Teller und Besteck aus dem Schrank.
„Papa kommt heute später, du brauchst nur für zwei zu decken.“
Ich stellte die überflüssigen Sachen wieder zurück. Der Tisch war braun mit einem leichten Rotstich, Kirschholz. Die Tischbeine aus Metall. Die Küche selbst war in lack-schwarz gehalten. Die Griffe ebenfalls aus Metall. Ich stellte alles auf den Tisch und richtete es gegenüber liegend an. Meine Mum kam mit dem Essen und setzte sich vor mich.
Wir schwiegen, während wir aßen.
So ging das jeden Tag. Sie redete keine zehn Sätze mit mir und unterhielt sich nur über das Allernötigste. „Räum dein Zimmer auf!“, „Jetzt räum die Spülmaschine endlich mal aus!“ höre ich jeden Tag, egal, wie sauber mein Zimmer auch ist, egal, ob die Spulmaschine nun leer war oder nicht.
„Komm jetzt! Marco braucht uns jetzt.“
Im Stillen dachte ich mir, wie wenig er UNS brauchen konnte, wenn er tot war. WIR brauchten IHN. Ich sprang vom Tisch auf und rannte hinter ihr her. Es war fünf nach Acht. Ich sah die Uhr noch kurz im vorbeigehen. Leise schloss ich die Tür hinter mir. Fast lautlos schlich ich zu einem der Stühle und setzte mich. Die Kerze stand schon brennend auf dem kleinen schwarz gestrichenen Holztisch. Auf dem Foto, da war er gerade 12 geworden, lachte er. So glücklich. Er hatte damals endlich seinen Nintendo DS bekommen, den er sich schon so lange gewünscht hatte. Jetzt war es hier so auf dem Tisch aufgestellt, völlig lieblos, völlig leblos. Meine Mutter saß, den Kopf auf die gefalteten Hände gestützt, vor mir und fing an zu weinen. Jeden Abend fing sie aufs Neue an bitterlich zu weinen. Ich fragte mich, wie lange sie das noch durchziehen würde. Wie lange sie mich noch beschuldigen würde, dass ich mit Schuld war an seinem Tod, weil ich mit ihm alleine auf der Skipiste war, als er den Abhang hinunterstürzte. Als er auf dieser Eisplatte mit seinem Board ausrutschte und einfach hinfiel, wegrutschte. Er hatte so geschrieen, sich versucht festzukrallen, doch der Schnee war zu weich. Sein Gesicht war von Angst gezeichnet. Ich hatte ihm dabei zu sehen müssen, wie er starb. Ich konnte ihn nicht mehr retten, ich konnte ihn nicht mehr retten. Nichts und niemand hätte ihn wiederholen können. Dieser Schrei hatte sich in meine Erinnerung eingebrannt, weckte mich nachts, riss mich aus dem Schlaf. Er war zu jung, um zu sterben. Viel zu jung. Und ich war zu jung für diese Erfahrung. Sie hatte mich innerlich ausgebrannt. Kaputtgemacht. Nach außen hin war ich das beliebte, schöne Mädchen, innen war ich tot. Nur bei Phil war ich ein kleines bisschen lebendig. Ein kleiner Teil meines Herzens schlug bei ihm. Ich sah in die glasigen Augen meiner Mutter. Ihr Blick durchzuckte mich. Darin spiegelte sich der blanke Hass. Hass auf das, was ich ihr angetan habe. Ich habe ihr ihren Sohn genommen. Ich bin Schuld, dass sie ohne Marco leben muss, dass sie ein Leben in Trauer führen muss.
„Ich kann dich nicht mehr sehen! Geh auf dein Zimmer! Sofort!“, schrie sie mich an.

Mein Kissen war nass. Nass von all meinen Tränen. Ich hob den Kopf ein bisschen und drehte mein Kopfkissen um. Zum wahrscheinlich Millionsten Mal hatte ich Marcos Lieblingssong angehört: Wonderwall von Oasis. Mein iPod gab langsam seine Akkulaufzeit auf. Ich legte ihn auf das Regal, das über dem Kopfteil meines Hochbetts hing. Ich hörte, wie der Aufzug in unserer Wohnung anhielt. Ich hüpfte aus meinem Bett und zog meine rosa Puschen an. Rosa mit einer goldenen Krone. Ich riss die Zimmertür auf und stand im Flur.
„Papa!“
„Meine kleine Prinzessin. Was machst du denn so spät noch wach?“ Er nahm mich auf den Arm und trug mich ins Wohnzimmer. Fast so wie früher. Er setzte sich mit mir auf die Couch.
„Ich musste nachdenken.“
„Hattest du Stress mit Phil? Das geht vorbei, glaub mir.“
„Nein, nein. Nicht mit Phil. Mit Mama.“
„Ging es um Marco?“
„Mhm“, brachte ich nur mit verstickter Stimme hervor, um nicht wieder weinen zu müssen.
„Kann sie denn nie aufhören?“, sagte er in den Raum hinein. „Sie hat schon genug angerichtet in dieser Familie mit ihren ständigen Anschuldigungen. Prinzessin, du bist nicht Schuld. Ich möchte, dass du das weißt.“
„Aber sie…“, meine Stimme brach ab. Tränen schossen aus meinen Augen.
„Ist gut. Ist gut.“ Er streichelte mir zärtlich über den Kopf.
„Ich möchte dir etwas zeigen, Prinzessin.“
Er trug mich in DAS Zimmer.
„Warte kurz. Ich bin gleich zurück.“
Ich sah mich um. Nichts außer weißer Wände. Dieser Raum war so hässlich, so abstoßend, dass mir bei dessen Anblick fast schlecht wurde.
„Deine Mutter sieht dieses Zimmer so falsch. Normalerweise sollten wir hier über alte Zeiten mit ihm reden, seine Bilder aufstellen, einfach mal mit ihm reden können.“
„Ihr habt alle seine Bilder von ihm weggeworfen.“
„Deine Mutter. Aber ich habe ein paar retten können. Ein paar Bilder, die ich dir zeigen möchte.“
„Und ich dachte, du wärst genauso wie sie. Ich habe dich jahrelang für Dinge gehasst, die du nie getan hast, Papi. Das tut mir so wahnsinnig Leid.“
„Ich hätte es nicht anders getan. Ich hätte es dir auch einfach früher sagen können.“
Er übergab mir den kleinen Stapel Fotos. Auf dem ersten Foto sah ich uns als glückliche Familie zu viert. So gelacht hatte ich seit Jahren nicht mehr. Bild für Bild sah ich mir an. Ich sog die Bilder in mir auf. Zu jedem einzelnen erzählte mein Dad eine Geschichte.
Mir fielen schon die Augen zu, als ich von meinem Dad ins Bett getragen wurde. Ich spürte seine Hand auf meiner Wange. Ich wollte ihn jetzt nicht gehen lassen. Nicht jetzt, wo ich ihn mehr denn je brauchte.
„Papi, nicht gehen.“
„Ich muss auch mal schlafen, Kleines.“
„Schlaf bei mir, bitte Papilein. Bitte. Bitte. Bitte.“
„Okay, okay. Überredet. Rutsch mal ein Stück.“
Er stieg die Treppe zu meinem Bett hoch und ließ sich neben mir ins Bett fallen. Er schlang die Arme um mich und kurz darauf hörte ich ihn ein bisschen schnarchen.


4


Bin mit Rad gefahren.
Bis heute Abend, Papilein.
Viel Spaß in der Arbeit.


Ich legte den Zettel auf den Esstisch. Dann fuhr ich mit dem Aufzug in den Keller. Dort stand mein rosafarbener Beachcruiser. Mein Vater hatte ihn mir zum fünfzehnten Geburtstag geschenkt, ihn extra aus Amerika bestellt. Ich legte meine Tasche in den Korb, der am Radlenker befestigt war und schob mein Fahrrad über die Rampe, die vom Keller nach draußen führte. Die Sonne schien so hell, dass ich für kurze Zeit nichts mehr sah. Ich kniff die Augen zusammen und schob einfach weiter.
„Au“, sagte irgendein Junge, den ich übersehen hatte und in den ich mein Rad geschoben haben musste.
„Oh, tut mir Leid. Die Sonne und…“, stotterte ich, bevor ich überhaupt sah, wem ich gegenüberstand.
„Du hast doch genügend Sonnenbrillen zu Hause, Schatz. Dann zieh sie doch einfach an.“ Es war Phil.
„Ach, du bist es. Können wir da mal so ein kleines Stück rüber gehen, ich seh’ immer noch nichts.“
Er legte den Arm um mich und ging neben mir her auf die andere Straßenseite. Endlich konnte ich ihn sehen. Sein Bmx stand jetzt neben ihm. Er trug ein gelbes T-Shirt zur grauen Jeans, hatte seine braune Cap auf.
„Was machst du hier?“
„Ich dachte, ich hol’ dich heute einfach mal ab.“
„Woher wusstest du, dass ich mit dem Rad fahre?“
„Männliche Intuition.“ Er lachte.
Ich spürte seine weichen Lippen auf meinen. Ich vergaß meine Sorgen, die ich zu Hause hatte. Ich vergaß die Welt. Die schlechte Welt. Seine Hand strich mir zärtlich über die Haare. Er schob mich leicht von sich.
„Wir müssen los. Sonst kommen wir mal wieder zu spät.“
„Ja, hast Recht.“
Wir setzten uns beide auf unsere Räder. Nebeneinander fuhren wir an dem kleinen Fluss vorbei und über die Brücke zu unserer Schule. Wir platzierten sie nebeneinander an den Fahrradständern und sperrten sie ab. Unsere gemeinsame Clique war bereits vor dem Schulgebäude versammelt und schien uns schon zu erwarten. Händchen haltend gingen wir auf sie zu.
„Unsere beiden Turteltäubchen sind auch schon da. Wie schön“, meinte Isa. Der Rest lachte.
Ich umarmte alle der Reihe nach und stellte mich zurück zu Phil. Er schlang seine Arme um mich und fing an meinen Hals abzuküssen. Ich legte den Kopf ein bisschen schief. Ich genoss seine Küsse und kuschelte mich tiefer in seine Umarmung. Er drückte ein bisschen fester zu.
„Schatz?“
„Ja?“
„Ich hab sturmfrei heute. Willst du nicht mit zu mir kommen?“
„Echt jetzt? Wie geil. Klar komm’ ich. Treffen wir uns nach der Schule bei den Rädern?“
„Ja, geht klar. Also…bis dann.“
Wir trennten uns aus der Umarmung und gingen auf das Schulgebäude zu. Er mit seinen Jungs, ich mit meinen Mädels. Ich sah, wie er bei Max einschlug. Sie lachten und ich wusste nicht, was ich so recht davon halten sollte. Ich konnte mir aber schon denken, was sie meinten. Die Freundin alleine mit ihrem Freund zu Hause. Ein Bett. Keine Klamotten. Das sagte alles. Na, prima. Und weil ich ja sonst keine Probleme hatte, hatte ich nicht nachgedacht und hatte auch noch zugestimmt. Ich konnte mir schon vorstellen, wie Max und er sich danach das Maul zerreißen würden. Ach, was redete ich da? Phil war nicht so. Wenn ich nicht wollte, würde er es auch nicht durchziehen, oder? Wir standen vor unserem Klassenzimmer. Heute kamen wir einmal nicht zu spät. Um uns herum standen all diese kleinen Grüppchen, die sich im Laufe der Jahre gebildet hatten. Da war die Clique um Mika und Tobi. Dazu gehörten auch Lisa und Maja. Sie mochten uns nicht besonders. Verständlich, so wie wir uns manchmal aufführten. Sie musterten uns von oben bis unten. Ich spürte, wie ihre Blicke mich durchbohrten. Es war kein unbeschriebenes Blatt, dass Lisa in Phil verliebt war. Und zwar schon eine ganz schön lange Zeit. Sie versuchte, bei jeder Party, auf der wir zusammen waren, bei ihm zu landen. Aber bei ihm war nichts zu machen. Irgendwie peinlich, dass sie es immer wieder versuchte und sie eigentlich wissen müsste, dass er ihr einen Korb geben würde. Kam mir gerade recht, dass Cassy sagte:
„Lola, und? Meinst du, du und Phil, ihr tut ES heute miteinander?“ Lisa wandte ihre Augen wieder zu uns.
„Ich weiß noch nicht, aber Phil hat schon eindeutige Zeichen gegeben heute. Du verstehst schon. Er hat sturmfrei und hat mich eingeladen.“
„Ja, und hast du gesehen, wie er danach mit Max eingeschlagen hat. Was trägst du denn drunter? Haha.“
„Rote Spitze.“ Ich grinste und Cassy wedelte mit der Hand und blies Luft durch die Zähne.
„Hot, Hot. Dann steht dem ja nichts im Wege heute. Mann, hast du ein Glück mit deinem Phil. So ein Freund ist goldwert, Schatz, echt.“
Unser Lehrer kam und schloss die Tür auf. Die Klasse lief ins Klassenzimmer und als schließlich Lisa und Maja an uns vorbei liefen, konnte ich noch so etwas Ähnliches hören, wie:
„…solche lächerlichen Menschen, die das auch noch in der Öffentlichkeit austragen müssen.“ Dabei warf Lisa mir noch einen viel sagenden Blick zu. Ich konnte mir das Lachen über ihre Eifersucht nur schwer verhalten und setzte mich an meinen Platz.

Ich saß auf der Bank neben den Fahrrädern. Cassy, Maddie, Isa und Milena hatten mir alle noch viel Glück gewünscht, bevor sie gegangen waren. Ich war dermaßen aufgeregt und angespannt, dass ich ständig meine Füße an die Wand unter der Bank schlug. Wir hatten eine Stunde früher aus. Unser Lehrer war krank, also musste ich auf Phil warten. Ich bereute mittlerweile, dass ich meinen iPod nicht mehr aufgeladen hatte. Ich hätte jetzt gut Musik hören können, um mir die Aufregung zu nehmen. Ich nahm meinen Spiegel aus der Tasche und checkte noch mal mein Styling. Die Frisur saß wie immer, meine Wimpern waren länger denn je und mein Make-up verdeckte auch nach diesem Schultag meine kleinen Pickelchen auf der Stirn. Fast enttäuscht, weil ich nichts mehr zurecht zupfen konnte, um mich abzulenken. Endlich hörte ich die Schulglocke klingeln. Ich sprang auf und sperrte mein Rad auf. Phil und Max kamen aus dem Schuleingang. Ich konnte hören, wie Max sagte:
„Viel Spaß, du Hengst!“
„Alter, was laberst du da? Meinst du echt, ich leg sie so krass flach?“
„Was solltest du sonst tun? Ihr zärtlich den Nacken kraulen bis sie schnurrt wie eine Katze?“
„Ne, Mann. Das nicht. Sie ist keine Nutte, Alter. Schon mal was von Liebe gehört?“
„Geh doch nicht gleich so ab, ey! Ich versteh’ schon, so mit Traumfrau und so.“
„Ja, genau das. Seine Traumfrau behandelt man eben anders.“
„Ok, Digger. Geht klar. Du rufst mich an heute Abend?“
„Jo, abgemacht.“
Traumfrau. Traumfrau. Traumfrau. Traumfrau. Dieses Wort brannte sich in meinen Kopf ein und ließ die Schmetterlinge im Bauch wieder tanzen. Ganz schnell tanzten sie, als müssten sie mir was beweisen.
Er drehte sich um und kam auf mich zu. Er hob mich hoch und drehte sich mit mir einmal im Kreis. Er setzte mich wieder ab und sperrte sein Bike auf. Hand in Hand fuhren wir an dem kleinen Fluss zurück. Im Vorbeifahren pflückte er ein paar Blumen, die am Wegrand blühten. Er übergab sie mir und ich legte sie in den Korb an meinem Rad. Ich lächelte. Ich lächelte, nein, ich lachte. Ich lachte, wie ich schon lange nicht mehr gelacht hatte. Und er lachte mit mir. Einfach so. Ich bat ihn, noch bei mir zu Hause anzuhalten. Ich wollte noch kurz Bescheid geben, wo ich hingehen wollte. Er kam kurz mit mir mit in die Wohnung. Die Türen des Aufzugs öffneten sich und wir liefen in die Wohnung.
„Warte kurz hier, Schatz. Ich schreib’ nur schnell ’nen Zettel.“
Ich rannte in die Küche und holte Zettel und Stift. Gerade als ich anfangen wollte, meinen Text zu schreiben, kam meine Mum zur Tür herein. Ich lief zurück in den Gang.
„Tag, Frau Stattler. Schön Sie mal wieder zu sehen“, sagte Phil und legte seinen ganze Charme in seine Worte.
„Hi, Mum.“
„Hallo, liebste Tochter. Na, wie war die Schule?“
„Spar dir deine beschissene Höflichkeit. Ich bin bei Phil. Ich komm’ heute Abend irgendwann wieder.“
Ich nahm Phil an der Hand und wir fuhren mit dem Aufzug runter.
„Alter, krass. Wie redest du mit deiner Mum?“
„Da ist zu viel vorgefallen.“
„Willst du reden?“
„Nein.“, schrie ich ihn fast an.
„War nur ‘n Angebot. Hey, Süße, nicht weinen. Nicht weinen.“ Er nahm mich in den Arm.
„Tut mir Leid, Phil. Tut mir Leid. Ich wollte dich nicht so anschreien“, jammerte ich. „Irgendwann verstehst du mich, aber ich brauch’ Zeit, um dir das alles irgendwann einmal zu erklären.“
„Du bekommst die Zeit. Aber wenn du soweit bist, musst du mir alles erzählen. Ich werde aus deinen Gefühlsausbrüchen nicht schlau. Ich verstehe sie nicht. Du weißt, ich bin immer für dich da. Wir stehen das zusammen durch. Egal, wie schlimm es ist.“
„Entschuldigung. Ja, das weiß ich.“ Und im Stillen fügte ich immer wieder hinzu: Ich weiß es.
Schnell verdrängte ich alles. Ich wollte mich nicht mehr an mein altes Leben zurückerinnern. Phil löste seine Umarmung und führte mich zu den Rädern.
Bei ihm angekommen schloss er die Tür des ein bisschen verblichenen weißen Hauses, auf und bat mich herein. Im Inneren waren die Treppen frisch geputzt und am Schwarzen Brett hingen alle auch nur möglichen Informationen zur Wohnung. Phil wohnte mit seiner Mutter und seiner kleinen Schwester Mila zusammen in einer Vier-Zimmer Wohnung im Erdgeschoss. Sein Vater ist abgehauen, als er hörte, dass Phils Mutter schwanger war. Phil war ein fröhlicher, gutmütiger Mensch, aber sobald er über seinen Vater sprach, kam der Hass in ihm hoch und er war nicht mehr aufzuhalten. Er hatte mir vor einem Jahr davon erzählt. Er war dabei so ausgerastet, dass er die Lampe auf seinem Tisch heruntergeschlagen hatte. Ich hatte ihn damals nicht mehr beruhigen können. Erst als seine Mum hereinkam und ihn in den Arm nahm, ja, sie hatte ihn in den Arm genommen, wurde er wieder ruhiger. Danach hatten wir nie wieder davon geredet. Damals habe ich mich gefragt, ob ich ihm von Marco erzählen sollte, aber ich verwarf den Gedanken sofort wieder.
Phil zog mich mit in seine Wohnung. Wir zogen Schuhe und Jacke aus und gingen in die Küche.
„Was zu trinken?“
„Ne, danke.“
Er nahm ein Glas aus dem Schrank und füllte es mit Wasser. Er trank es in einem Zug leer.
„Geh schon mal vor in mein Zimmer, ich bin gleich da.“
Sein Zimmer war nicht sehr groß und ziemlich spärlich eingerichtet. Aber er brauchte nicht mehr außer seinem Kleiderschrank, einem Schreibtisch und seinem Bett. Zum ersten Mal seit ich hier war, war sein Bett gemacht. Am Kopfende lag ein Kissen in Herzform, ich hatte es ihm einmal geschenkt. Auf dem Nachttisch waren…ich stockte kurz…Kondome. Mein Magen zog sich zusammen und gleichzeitig fühlte ich mich so gut, dass ich die ganze Welt umarmen hätte können. Jetzt sollte es soweit sein. Ich sollte mein erstes Mal haben. Ich setzte mich auf sein Bett, unschlüssig, was ich tun sollte. Da kam er in sein Zimmer, setzte sich direkt neben mich und fing an mich innig zu küssen. Ich griff ihm mit den Händen in die Haare und ließ mich ins Bett sinken. Er war jetzt über mir und ich zog ihm sein T-Shirt über den Kopf. Er knöpfte meine karierte Longbluse auf und zog sie mir mitsamt meiner Cardigan aus. Er küsste mich von der Stirn bis zum Bauchnabel, er riss meine Leggings förmlich von mir herunter und öffnete seine Hose. Mir wurde heiß und kalt gleichzeitig. Ich vergaß, was um mich herum geschah. Sah nur noch ihn, genoss den Moment, sog ihn in mir auf.

„Caaaassy.“
„Oh mein Gott, Lola. Wie war es?“
„Es war gigantisch. Es war so…Wow. Ich kann es nicht beschreiben. Unbeschreiblich schön. Oh, Gott. Wunderbar, wundervoll, traumhaft. Ich liebe ihn. Ich liebe ihn. Ich liebe ihn.“
„Ich freue mich so für dich, Lola. Du musst mir alles erzählen.“
Und da fing ich an, ihr von A bis Z alles zu erzählen. Von dem Punkt an, als ich in seine Wohnung gegangen bin, bis zu dem Punkt, an dem er mich vor meiner Haustür absetzte. Und Cassy hörte mir einfach zu, unterbrach mich nicht und freute sich so für mich, dass ich am liebsten zu ihr gefahren wäre und sie ganz fest gehalten hätte. Nach drei Stunden, in denen ich wahrscheinlich alles fünfhundert Mal wiederholt hatte, legten wir auf. Es war mittlerweile schon elf Uhr. Meine Mutter hatte sich kein einziges Mal sehen lassen an diesem Abend, noch nicht einmal, um mich wieder zu zwingen, dass ich in DAS Zimmer gehe, wenn sie es möchte. Gut so, dass sie nicht kam. Ich wollte sie nicht sehen. Der einzige Mensch, dem ich jetzt davon erzählen wollte, war Marco. Weil ich wusste, Marco würde sich noch mehr für mich freuen, als Cassy es tat. Er hätte mich vielleicht auch in den Arm genommen, wenn er den Streit zwischen Mum und mir mitbekommen hätte. Er wäre da gewesen. Einfach nur da gewesen. Ich erinnerte mich an seine kastanienbraunen Haare, die grünen Augen, an die Nase, die meiner so glich und die geschwungenen Lippen. Er war zwar erst zwölf, als er starb, aber er trainierte hart und hatte einen gestählten Körper. Auch, weil er meinte, damit als Boarder bei den Großen mitmischen zu können. Er hat es nie mehr schaffen können, seiner Leidenschaft nachzugehen. Ich war mir sicher, er wäre weit gekommen. Er war in seiner Altersklasse bereits Deutscher Meister gewesen. Ich wusste noch genau, wie stolz ich auf ihn war. Und dann nur zwei Wochen danach passierte es. Die Zeitungen berichteten von dem gestorbenen Deutschen Meister. Aber nie von dem gestorbenen Bruder, dem gestorbenen Sohn, dem gestorbenen Freund. Sie hatten den Fall ausgebreitet, hatten weiter auf meinen Gefühlen herumgehackt. Jeden Tag musste ich etwas Neues, Falsches aus seinem Leben lesen. Jeden beschissenen Tag hatte ich die Zeitung zerschnitten, sie in den Ofen geworfen und ihr zugesehen, wie sie verbrannt ist. Bis meine Eltern mit mir umzogen, bis ich meine Freunde aufgeben, meine Heimat aufgeben musste. Und damit musste ich auch Marco aufgeben. Ich konnte nicht einmal mehr sein Grab besuchen, obwohl ich so gern seine Nähe gespürt hätte. Aber meine Mutter konnte nicht mehr in derselben Stadt, nicht mehr im selben Haus leben und vor allem nicht mit seinen Sachen. Seine Sachen, die jeden Tag an ihn erinnern würden, die noch mehr an ihn erinnern würden, als es jetzt schon der Fall war. Wir merkten alle, wie sehr er uns fehlte. Jede Stunde, in der wir einmal nicht an ihn denken mussten, war fast schon eine gute Stunde. Ich ging rüber ins Bad und schminkte mich ab. Ich sah mich im Spiegel an. Meine kleinen Pickel kamen zum Vorschein, genauso wie meine tiefen Augenringe, die ich unter dem Make-up versteckte. Ich gefiel mir so nicht. Andere Menschen hätten mich für verrückt erklärt, dass ich mich hässlich fand, abstoßend. Aber in meinen Augen war ich das, weil ich nur bei ihm glücklich war und nur bei ihm schön. Nur bei Phil fühlte ich mich wie ein ganzer Mensch.


5

…Hey, Soul Sister. Ain’t that Mister, Mister on the Radio, Stereo, the way you move ain’t fair you know…, drang aus den Lautsprechern meines Radios im Bad. Es war 7 Uhr morgens und ich musste mich langsam ziemlich beeilen. Phil und ich wollten uns noch ein bisschen an den Fluss setzten. Es war wärmer geworden und die Sonne schien noch stärker als die Tage zuvor. Ich stand vor meinem Kleiderschrank. Ich entschied mich für ein leichtes Kleid im Ethno-Stil und zog meine Lederjacke an. Ich schnappte mir noch kurz eine schwarze Tasche, stopfte meine Schulsachen hinein und zog im Gehen meine Ballerinas an. Ich verschwand im Aufzug. Als ich mein Rad wieder die Rampe hochschob, blendete mich die Sonne nicht ganz so stark, weil es so viel früher war und sie noch viel tiefer stand. Auf der anderen Straßenseite konnte ich ihn schon erkennen. Seine honigblonden Haare leuchteten noch intensiver als sonst. Er grinste und streckte seine Hand nach meiner aus. Ich nahm sie und er zog mich ganz nah zu sich her. Verliebt sahen wir uns an. Dann griff er in seine Hosentasche und überreichte mir eine kleine Schachtel. Sie war mit einem roten Geschenkband umbunden. Fragend sah ich zu ihm hoch.
„Mach es einfach auf.“
Ich machte mich daran, seiner Anweisung zu folgen. Das Geschenkband ließ sich leicht entfernen. Ich öffnete sie und zum Vorschein kam eine kleine goldene Kette, die mit einem Herzanhänger geschmückt war. Ich holte sie hervor und beäugte sie genauer. Ich konnte auf dem Herz eine kleine Inschrift erkennen. Lola&Phil für immer und einen Tag. Ich fiel ihm um den Hals. Und knutschte ihn halb zu Tode. Er legte sie mir um, ich betrachtete sie noch einmal.
„Die ist so schön, Phily. Dankeschön. Wie hab’ ich denn so was Schönes verdient?“
„Wir sind heute genau 1 ½ Jahre zusammen, meine Schöne.“
Ich schlug mir mit der Hand an den Kopf. Ich hatte an so ein Datum gar nicht gedacht.
„Scheiße. Ich hab’s total verpeilt. Ich hab’ jetzt gar kein Geschenk. Tut mir Leid.“
„Das ist echt kein Problem. Mir reicht schon, dass du einfach nur da bist. Das ist viel mehr wert, als irgendetwas Materielles es je hätte sein können.“ Und während er das sagte, hörte er sich nicht einmal gekränkt an.
„Das ist süß, aber ich schenke dir auf jeden Fall noch etwas. Ich bin doch echt ein Idiot. “ Er lachte und nahm mich noch mal in den Arm. Seine Lippen näherten sich meinem Ohr und er flüsterte:
„Der Nachmittag war so wunderschön mit dir. So wunder-, wunderschön. Du bist das Beste, was mir je passiert ist und passieren wird. Ich liebe dich.“ Ich konnte nichts antworten. Ich war so sprachlos. So sprachlos über seine Worte. In diesem Moment überströmte mich ein Hochgefühl, das ich nie hätte beschreiben können. Ich flog in den Himmel und gleichzeitig lag ich hier in seinen Armen. Ich konnte ihn nur noch ansehen und ihn küssen und wieder ansehen. Ich habe nie an die ‚große Liebe’ geglaubt, doch jetzt wusste ich, dass sie hier so direkt vor mir stand. Das zu wissen, ließ wieder alles in mir tanzen.
Den ganzen Tag konnte ich an nichts anderes mehr denken als an Phil. Die Lehrer mussten mich teilweise viermal aufrufen bis ich endlich halbwegs Fragen beantworten konnte. Meistens war es dann die falsche Antwort oder ich redete von einem ganz anderen Thema. Sie schüttelten nur noch die Köpfe und einige meinten:„Jaja, die Liebe.“ Die ganze Klasse lachte. Mir war das egal. Cassy versuchte mich den ganzen Tag lachend auf andere Gedanken zu bringen, aber nach jedem zweiten Satz, den ich anfing, schob sich Phil wieder in meine Gedanken und in meine Konversationen. Ich hielt die Kette den ganzen Tag in der Hand, sah mir die Inschrift ungefähr 50.000-mal an und hätte jedes Mal laut loslachen können. Ich überlegte die ganze Zeit über, was ich ihm schenken könnte. Ich fragte Cassy, aber sie wusste auch nichts, genauso meine Mädels. Also zog ich Max nach der Schule, als wir alle in die Stadt gehen wollten, kurz zur Seite.
„Maxilein, ich habe ein Problem und brauche deine Hilfe.“
Er verbeugte sich vor mir und sagte:
„Stets zu Diensten, Madam. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“
„Lass das. Haha. Es geht um Phil und sein Geschenk. Ich überlege schon den ganzen Tag, was ich ihm schenken könnte. Mir fällt einfach gar nichts ein. Weißt du irgendwas, was er sich schon lange wünscht?“
„Mhm. Lass mich mal nachdenken. Also, er sagte mal was von neuen Bmx-Reifen. Aber das ist auch nicht das Richtige. Ich weiß was! Er wollte sich schon lange ein neues Plektron für seine neue Gitarre kaufen. Er wollte da eins haben auf dem ihr zwei drauf seid. Da gibt’s so ’nen Shop in der Stadt, die machen dir da Bilder und Schrift drauf.“
„Super, danke. Bist ein Schatz.“ Ich umarmte ihn kurz und wir gingen zurück zur Gruppe. Phil verfolgte jeden unserer Schritte. Er sah fast ein bisschen sauer aus. Während wir ankamen, fragte er Max, was wir denn da besprochen hätten. Max erwiderte, dass er das schon noch früh genug erfahren würde. Phil gab sich damit zufrieden, aber war immer noch ein bisschen gereizt, als er mir seine Hand gab. Wir setzten uns in eines der Kultcafés. Auf dem Weg dorthin hatte ich überall nach diesem Laden Ausschau gehalten, gefunden hatte ich ihn nicht. Leider. Mittlerweile waren wir schon Stammgäste an den Mittwochen im Café. Man kannte schon unsere Trinkgewohnheiten. Mein Latte Macchiato Schokolade kam, ohne dass ich ihn bestellen musste. Ich kuschelte mich an Phils Schulter. Wir redeten über alle auch nur möglichen Dinge: Schule, Menschen, Politik, die neuste Mode, den bevorstehenden Schulball, der dieses Jahr ganz klassisch gehalten wurde. Masken und natürlich Ballkleider und Smokings. Ein Traum jedes Mädchens. Nur musste ich gar nicht mehr nach meinem Maskenprinzen suchen, ich hatte ihn ja schon. Plötzlich stand Maddie auf und verabschiedete sich von uns.
„Maddie, wieso gehst du?“, fragte ich sie.
„Ich hab mein Date mit Lenny auf heute verschoben. Tut mir Leid.“
„Aber wir wollten dir doch helfen, dich zu stylen…“
„Ja, danke noch mal. Aber Lenny soll mich so nehmen, wie ich bin. Verstehst du?“
„Ja, klar. Dann Viel Spaß und viel mehr Glück.“
„Danke, Süße. Hab euch lieb. Isa, Milena, ich ruf euch heute danach noch an, ok? Ciao.“ Sie warf noch einen Kussmund in die Runde und verschwand. Ihre braunen Haare flogen hinter ihr her und gaben ihr das Aussehen einer Amazone. Einer Amazone mit einer Figur, die jeden Mann schwach machen musste. Sie hatte (fast) Modelmaße. Ein Gesicht, das auf jede Modezeitschrift gepasst hätte.
„Zum anderen Ufer gewechselt, oder was, Lola?“, sagte Nick.
„Hä? Wie meinst jetzt das?“
„Du hast Maddie gerade voll auf den Arsch gestarrt.“
„Idiot. Ich hab Phil, ich hab keinen Mangel.“
„Ja, dann.“
Nick, er ist Italiener, ist der beste Freund von Chris. Die beiden kennen sich seit dem Kindergarten und haben schon so jede Freundschaftskrise durchgestanden, die es gibt. Und Tom ist einfach dabei. Manchmal nahm er seinen Freund mit, aber der passte nicht so ganz zu uns. Sein Freund war ein bisschen aufdringlich und ziemlich nervig. Vor allem baggerte er jedes Mädchen an, das ihm gerade über den Weg lief. Er machte nicht einmal vor mir halt, obwohl Phil direkt neben mir stand. Phil brachte das fast zur Weißglut. Ich merkte jedes Mal, wie ihn ein Impuls durchströmte und er kurz darauf die Hände zu Fäusten ballte. Er würde nie zuschlagen, aber wenn es um mich ging, konnte er ziemlich aggressiv werden. Wenn mich jemand beispielsweise dumm anmachte, irgendwelche dummen Witze über mich machte, stellte Phil ihn sofort zur Rede. Einmal hatte ich ihn gefragt, wieso er manchmal so überreagierte. Er meinte, er wolle mich einfach nur beschützen. Ich hackte nicht weiter nach. Wir machten uns alle auf den Heimweg. Vor dem Café verabschiedeten wir uns und umarmten uns wieder reichlich.
„Phil? Hast du noch ein bisschen Zeit? Ich würde gerne noch ein bisschen mit dir reden wollen.“
Seine Augen leuchteten.
„Ja, sicher habe ich Zeit.“
Ich nahm seine Hand ganz fest und lief mit ihm ein Stückchen weiter. Ich drückte noch ein bisschen fester zu.
„Erst den unangenehmen Teil oder erst den schönen?“
„Den Unangenehmen.“
„Ok. Also…Bei mir hat sich ein alter Bekannter gemeldet. Ich hatte ein bisschen mit ihm telefoniert und er hat gesagt, dass er nach Hamburg kommt, weil er ein Praktikum macht und er will mich einmal sehen.“
„Wann?“, fragte er mich wenig begeistert.
„Am Samstag schon.“
„Ah, ok. Und was bringt mir das jetzt?“
„Ich wollte nur, dass du es weißt. Das ist alles. Weil, wenn du was dagegen hättest…“
„Meinst du echt, ich verbiete es dir dann? Ich hab ganz krass was dagegen. Woher soll ich dann wissen, was ihr zwei zusammen macht? Ganz toll, echt.“
„Bitte, Phil. Jetzt komm’ nicht auf die Tour. Er ist ein Bekannter, du bist mein Freund. Das ist ein großer Unterschied. Ich erzähle dir irgendwann, wieso es mir sehr wichtig ist, ihn zu sehen.“
„Tut mir Leid, echt.“
„Passt schon. Ich seh’ doch, dass irgendetwas nicht stimmt mit dir. Du warst nie so eifersüchtig und angespannt.“
„Ist nicht wichtig. Du erfährst es schon noch früh genug. Ich muss jetzt gehen.“ Ich sah, wie Tränen in seinen Augen aufstiegen. „Den schönen Teil verschieben wir auf morgen, ok? Tschüss.“ Er ging und ließ mich auf den Treppen sitzen. Was war nur los mit ihm? Er verhielt sich nie so. Ich würde es schon noch früh genug erfahren? Was meinte er damit? Ich sagte mir immer wieder, dass es nichts bringen würde, mir darüber den Kopf zu zerbrechen, also machte ich mich lieber daran, den schönen Teil ausfindig zu machen: Den Shop für das individuelle Plektron.
Zwei Stunden war ich in der Stadt und hatte mir die Füße wund gelaufen. Gefunden hatte ich den Shop natürlich nicht. Also beschloss ich, zu ihm nach Hause zu fahren und seine Schwester oder seine Mum zu fragen, ob sie wüssten, wo er immer einkaufte. Phil war gerade sowieso beim Fußballtraining. Also hatte ich perfekte Bedingungen. Seine Schwester öffnete mir die Tür.
„Hallo, Lolaaaaa.“ Sie fiel mir um den Hals. „Das ist jetzt aber doof. Phil ist gar nicht da.“
„Ich weiß. Ich wollte auch eher zu dir oder deiner Mum.“
Ich hörte Sabrina, Phils Mutter, rufen:
„Wer ist es denn?“
„Ist nur Lola. Sie will zu uns.“
Sabrina kam schon zur Haustür gerannt.
„Bitte sie doch rein, Mila. Also wirklich…“
Mila verdrehte genervt die Augen und verzog sich auf ihr Zimmer. Sabrina begrüßte mich herzlich und öffnete die Tür ein Stückchen weiter. Ich ging hinein und zog meine Schuhe aus.
„Willst du vielleicht bei uns mitessen? Phil müsste ja auch bald kommen.“
„Danke, das ist nett, aber ich kann nicht lange bleiben. Außerdem soll Phil nicht wissen, dass ich hier war.“
„Oh, achso. Habt ihr euch gestritten?“, fragte sie mich mütterlich.
„Nein, das nicht direkt. Nur stimmt mit ihm auch irgendetwas nicht. Weißt du vielleicht, was er hat?“
„Das wird er dir schon noch selbst sagen, denke ich. Aber du meintest, du wärst wegen etwas Anderem hier?“ Sie versuchte offensichtlich das Thema zu wechseln.
„Ja, genau. Mir ist das zwar echt peinlich, jetzt auch dir gegenüber, aber ich hab’ heute unser 1 1/2 –Jähriges vergessen gehabt. Das heißt, ich hatte kein Geschenk. Und jetzt hab ich mir etwas überlegt und müsste nur noch wissen, wo er immer sein ganzes Gitarrenzeug kauft.“
„Mein Junge muss ja ziemlich vernarrt in dich sein, wenn er dich sogar zum 1 1/2 –jährigen beschenkt. Warte mal kurz. Ich hab’ hier irgendwo die Adresse.“ Sie wühlte durch sämtliche Schubladen, bis sie sich schließlich wieder zu mir umdrehte.
„Hier hab’ ich sie.“ Sie übergab mir den Zettel.
„Soll’ ich nicht lieber die Adresse auf einen anderen Zettel…“
„Lass gut sein“, unterbrach sie mich. „Ich brauche sie sowieso nicht.“
Ich bedankte mich ausgiebig und sie begleitete mich zur Tür.
„Lola?“
„Ja?“
„Eines noch. Ich bin sehr froh, dass du für Phil da bist. Wenn du wüsstest, wie viel er über dich redet. Er ist so verliebt in dich. Bitte versuch’ nur die nächste Zeit nicht mit ihm zu streiten, ich möchte, dass er sie noch genießen kann.“ Sie lächelte noch einmal und sagte dann: „Tschüss, bis bald.“ Sie tat so als wäre nie etwas gewesen.
„Ja, bis bald.“
Ich möchte, dass er sie noch genießen kann. Was verdammt noch mal ist hier los? Du wirst es schon noch früh genug erfahren. Waren denn jetzt alle verrückt? WAS sollte ich verdammt noch mal erfahren?

Todmüde ließ ich mich in mein Bett fallen. Ich war noch mal zurück in die Stadt gefahren und hatte das Plektron anfertigen lassen. Hatte gar nicht so lange gedauert, wie ich dachte. Dann war ich zur Schule gefahren und habe mein Rad geholt, war nach Hause geradelt und jetzt lag ich hier. Hier in meinem frisch bezogenen Bett. Das Plektron lag eingepackt auf meinem Schreibtisch. Ich zog mich nicht einmal aus, da war ich schon im Land der Träume, aber das war kein guter Traum. Diese Nacht träumte ich wieder von Marcos Unfall. Aber diesmal war es nicht Marco, der starb, nein, es war Phil. Und während er den Abhang hinunterfiel, sagte seine Mutter immer und immer wieder:„Danke, dass er es noch genießen durfte.“

Ich wachte gerade auf, als es an der Haustür klingelte. Niemand öffnete und als es ein zweites Mal klingelte, sprang ich aus dem Bett und griff zu dem Hörer, der mich mit der unteren Eingangstür verband. Etwas verschlafen fragte ich:
„Hallo? Wer ist da?“
„Guten Morgen, Schöne. Lass mich mal rein.“
„Hi, ja.“
Ich betätigte den Knopf, der die untere Tür öffnete und den Aufzug für ihn zugänglich machte. Ich wartete, bis er oben war, damit ich den Aufzug für ihn öffnen konnte. Er hatte ja keinen Schlüssel. Phil war da, die Türen öffneten sich. Er stürmte fast auf mich zu und umarmte mich innig. Ich bekam einen kleinen Kuss auf die Stirn.
„Schatz, was machst du um die Uhrzeit hier? Es ist gerade mal zehn nach sechs.“
„Ich hatte Sehnsucht nach dir und ich wollte mich entschuldigen wegen gestern. War echt scheiße von mir, dass ich dich einfach hab’ sitzen lassen. Ich weiß einfach nicht, wo mir gerade der Kopf steht.“
„Kein Problem, ich war gar nicht so sauer. Das legt sich ja hoffentlich bald wieder.“
„Ja, hoffentlich…“ Er sah aus meinem Zimmerfenster und wurde plötzlich ganz ruhig. Ich hätte zu gerne gewusst, was ihn beschäftigte, woran er dachte. Ich meinte eine Träne in seinen Augen gesehen zu haben. Ich versuchte die Stimmung zu lockern.
„Phil. Geh mal zu meinem Schreibtisch und hol’ das grüne Geschenk.“ Er nahm sie und sah sie sich genauer an. Grün, seine Lieblingsfarbe. Er lächelte schwach und öffnete sie. Mit seinen grazilen Fingern riss er das Geschenkpapier an den richtigen Stellen auf und holte die Schachtel hervor. Er deckte den Deckel ab und sah das Plektron an, das in rotem Samt lag. In so einer Schachtel vermutete man wohl eher einen Ring oder dergleichen. Er nahm das Plektron heraus. Ich hatte ein Bild darauf drucken lassen, das wir vor einem Monat beim Baden geschossen hatten. Wir verbrachten mit unserer Clique oft Zeit an einem kleinen See außerhalb von Hamburg. Das waren die schönsten Zeiten im Sommer. Da trafen wir so viele andere Freunde, gingen schwimmen und hingen ein bisschen am Strand ab. Auf dem Bild hatte ich meine Pilotenbrille an und meine blonden Haare wehten im Wind. Phil trug darauf eine Wayfarer und man sah sogar einen Teil seines gestählten Sixpacks. Darauf küssten wir uns. Ich fand es war unser schönstes Pärchenbild, aber sah er das genauso? Auf die Rückseite hatte ich Ich liebe dich eingravieren lassen.
„Danke, danke, danke. Du hast sogar mein Lieblingsbild darauf gedruckt! Aber woher wusstest du, dass ich…“
„Weibliche Intuition.“
„Nein, im Ernst?“
„Ich hab Max gefragt, deswegen stand ich gestern mit ihm auch ein bisschen abseits.“
„Achso. Hätte ich mir eigentlich denken können.“
„Stimmt. Freut mich, dass es dir gefällt. Ich muss mich jetzt mal kurz fertig machen, das dauert jetzt noch ein bisschen, denk’ ich.“
„Kein Problem. Ich find’ schon ’ne Beschäftigung.“


6

Ich hatte gerade einen Anruf bekommen. Flo war gerade am Bahnhof angekommen. Langsam und fast wie in Trance nahm ich meine Jacke aus der Garderobe, zog meine Schuhe an und verließ die Wohnung. Ich lief zur Bushaltestelle. Der Himmel hatte sich bedrohlich grau gefärbt. Zur Sicherheit hatte ich zu Hause meinen durchsichtigen Regenschirm mitgenommen und ihn in meine graue Tasche gesteckt. Ich hatte eine weiße Bluse an und darüber trug ich eine hellbraune Cardigan und natürlich meine beiden Lieblingsaccessoires schwarze Leggins und Ballerinas. Meine Haare hatte ich heute hochgesteckt. Meinen Pony hatte ich an beiden Seiten geflochten verlaufend in den Zopf hineingesteckt. Der Bus kam und ich stieg ein. Ich setzte mich auf einen der Vierer-Plätze. Auf dem anderen Vierer-Platz saß Mika. Er setzte sich mir gegenüber.
„Zu Phil geht’s doch in die andere Richtung?“
„Schon, aber ich will nicht zu ihm. Wohin geht’s bei dir?“ Seit wann redete Mika so mit mir?
„Ich fahr’ zu meiner Oma nach Berlin. Du?“
„Ich hol’ einen Freund vom Bahnhof ab.“
„Ah. Dann können wir ja zusammen hinfahren, oder?“
„Klar. Aber mal ganz ehrlich, woher diese Sympathie? Du hast mich doch noch nie gemocht.“
„Naja, wie kann ich das jetzt am besten formulieren? Du faszinierst mich. Du bist einerseits dieses Dreamgirl, das jeder Junge begehrt, das alles hat und andererseits bedrückt dich etwas, von dem niemand zu wissen scheint. Ich versuche schon lange herauszufinden, was es sein könnte, aber ich komme einfach nicht darauf. Du bist zu verschwiegen.“
„Erstens: Mich bedrückt nichts. Zweitens: Ich wüsste nicht, weshalb ich so etwas gerade dir preisgeben sollte. Wir kennen uns nicht.“ Es ging ihn nichts an, was bildete er sich ein, wer er ist? Wusste er etwa schon zu viel? War meine Tarnung so schnell aufgeflogen? Ich hätte am liebsten gegen Wände geschlagen, wenn welche in der Nähe gewesen wären. Ich konnte nicht mehr klar denken.
„Tut mir Leid. Ich wollte dich nicht verärgern, aber ich weiß, dass da etwas ist.“
„Hör einfach auf mit deinen Nachforschungen. Du wirst nichts finden. Glaub mir.“
Er schwieg und sah auf das von Tropfen übersäte Fenster. Es hatte zu regnen begonnen. Kaum redete jemand von Marco, kaum kam jemand, der mit Marco zu tun hatte, schon verfärbte sich der Himmel grau und es regnete aus allen Wolken. So, als wollte mir Marco sagen: „Nein! Hör auf über mich zu reden! Leb dein Leben einfach so weiter, wie es bisher war!“ Lächerlich, dass ich an so etwas dachte. Er konnte das Wetter nicht beeinflussen. Wie auch? Ich musste endlich einsehen, dass er tot war, nicht mehr zurückkommen würde. Nie mehr. Er konnte nicht mit mir reden. Eine kleine Träne kullerte meine Wange hinunter. Hoffentlich hatte Mika nicht…Er hatte sie bemerkt.
„Ich wollte dir nicht zu nahe treten. Tut mir Leid. Brauchst du ein Taschentuch?“
„Nein, danke. Ist schon ok.“ Ich versuchte die restlichen Tränen, die sich angesammelt hatten, aufzuhalten, der ersten hinterher zu kullern. „Das geht niemanden was an, hast du mich verstanden?“ befahl ich ihm schnippisch.
„Ja, ich behalte es für mich.“
Das hatte mir gerade noch gefehlt, dass Mika mich weinend sah. Die perfekte Lola, deren Maske gerade ein Stücken bröckelte. Ein Stückchen zu viel, wie ich fand. So durfte das nicht weitergehen. Ich durfte mich nicht wegen jeder Kleinigkeit herunterziehen lassen. Das hatte die letzten Jahre so gut geklappt. Hätte sich Flo nicht bei mir gemeldet, wären die Gefühle nicht so erdrückend gewesen. Ich hatte mich so gut im Griff gehabt, bevor er mich anrief. Auch wenn es mir nicht gefiel, aber ich musste ihn nach dem heutigen Treffen loslassen, um nicht hinunterzufallen. In das tiefschwarze Loch, aus dem ich nie wirklich herausgekommen bin, aber ich wieder ein bisschen von der Welt sah. Dort unten war es so dunkel gewesen, dass ich meine Seele nicht mehr gefunden hatte. Ich hatte sie einfach verloren und sie nicht mehr gefunden. Manchmal, da sah ich sie noch einmal verzweifelt versuchen zurückzukommen, aber jedes Mal schnitt sie sich an den scharfen Kanten. Verzweifelt. Das traf es ganz gut. Ich wollte zu Marco. Nur noch zu ihm, alles vergessen. Doch dazu musste ich die schwerste Hürde der Menschheit beschreiten, die Hürde zwischen Leben und Tod, zwischen Himmel und Erde. Doch war ich fähig, sie zu überspringen, um wieder bei ihm zu sein? Wäre es dann noch wie früher, ich war schon so viel älter als er. Oder alterte er da oben auch? Unwichtig. Bei ihm zu sein, ja, das war es, was ich wollte. Koste es, was es wollte. Wenn nötig auch mein Leben.

„Laura!“ Ich nahm eine sehr vertraute Stimme wahr. Ich sah auf und blickte Flo augenblicklich in die meeresblauen Augen, die mich seit ich ihn kannte so fasziniert hatten, so in den Bann gezogen hatten.
„Flo!Flo!Flo!“ Ich konnte meine Freude nicht mehr verbergen.
„Ich freue mich so, dich zu sehen. Du hast mir so sehr gefehlt all die Jahre.“ sagte er mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen.
„Du hast mir auch gefehlt.“ Ich umarmte ihn lange. Zu lange.
„Laura, ich wollte nächste Woche mein Praktikum antreten, also bitte lass mich am Leben.“ Seine Mundwinkel zogen sich nach oben. Ich ließ ihn augenblicklich los.
„Ich wollte nicht…Ach egal. Wie war deine Reise?“
„Entspannt, stressig, freudig, nervend, deprimierend.“
„Ahja. Und morgen geh’ ich und kauf mir einen Kartoffelsack, in dem ich um die Welt segele.“
Er lachte sein lautes, kehliges Lachen, das mich früher schon immer zum Mitlachen bewegt hatte. Er hob seine Taschen vom Boden auf und fragte mich, wohin wir gehen wollten.
„Weiß nicht. Hast du ein Hotel gebucht? Oder wo pennst du?“, antwortete ich.
„Auf der Straße. Nein, Joke. Hotel Mekka. Komischer Name irgendwie. Naja, bei euch Hamburgern weiß man ja nie.“
„Sollen wir deine Sachen noch wegbringen oder sollen wir gleich zu mir nach Hause?“
„Ich fang morgen schon an mit meinem Praktikum. Das heißt, wir haben nicht viel Zeit. Also lieber gleich zu dir.“
„Ok. Kann ich dir was abnehmen?“ Dankbar gab er mir zwei kleine Taschen.
Wir fuhren zu mir nach Hause. Das Wetter hatte sich verschlechtert, es regnete jetzt in Strömen. Wir kamen völlig durchnässt und unterkühlt in der Wohnung an. Wir zogen uns beide um, mummelten uns in die wärmsten Decken im Haus ein und tranken unseren warmen Kakao. Meine Eltern waren beide nicht da und wussten nichts von seinem Besuch. Beim Betreten meines Zimmers stieß er einen hörbaren Seufzer aus.
„Ich komme mir vor wie in einem überdimensional großen Barbiehaus. Hilfe, wo haben Sie mich hier nur hingeführt?“
„Tja, Zeiten ändern sich eben. Ich bin raus aus meiner Skaterphase.“
„Zeiten ändern sich und Zeiten ändern dich. Viel Ähnlichkeit mit deinem und Marcos gemeinsamen Zimmer früher ist da nicht mehr. Überhaupt erinnert hier nichts mehr an ihn.“
„Wie auch? Meine Mum hat alles weggeworfen, was auch nur ansatzweise mit Marco zu tun hatte. Ich muss sogar sein Skateboard, seinen Hoodie und sein Tagebuch verstecken. Wenn sie es finden würde, wäre es schneller weg, als sich bis drei zählen kann.“
„Nicht dein Ernst? Hat sie das so mitgenommen?“
„Ja, was meinst du denn, weshalb wir weggezogen sind? Sie konnte nicht einmal mehr unter demselben Dach leben.“
„Oh, so war das also wirklich. Zu Hause hieß es die ganze Zeit, ihr wärt gegangen, weil dein Dad Karriere machen wollte. Und als ich mich gerade umgesehen habe und den Luxus gesehen hab’, habe ich mir einfach meinen Teil dabei gedacht.“
„Wie zu Hause?“
„Ja halt in Augsburg. Daheim eben. Alle, die euch kannten, haben das behauptet. Und ich habe es geglaubt, weil es keine andere Erklärung gab. Ich habe mich so oft gefragt, wie du Marco einfach so verlassen konntest, wie ihr ihn einfach verlassen konntet.“
„Die Zeit war nicht leicht und sie ist immer noch nicht leichter geworden. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, ich vermisse ihn nicht jeden Tag, jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde.“
„Du hast so verdammt recht in allem, was du sagst. Manchmal fühle ich mich so unglaublich verloren ohne ihn. Ich habe viele neue Freunde gefunden, aber niemandem, dem ich jemals so vertrauen würde wie ihm.“
„Bis auf Phil und Cassy gibt es wirklich niemanden, den ich so in und auswendig kenne wie den besten großen Bruder der Welt. Ich will ihn zurückhaben, Flo.“ Ich legte meinen Kopf auf seine Schulter. Dicke Tränen rollten meine Wangen hinunter. Ich schniefte hörbar. Er legte die Hand auf meinen Rücken und streichelte mich sanft.
„Ich vermisse sein Lachen, seine Lebensfreude, ich vermisse seine offene Art, ich vermisse, dass mich jemand zum Lachen bringt, so wie er es immer getan hat. Mir fehlt sogar sein Board, auch wenn es ihn letztendlich umgebracht hat, es fehlt mir. Er war darauf glücklicher als sonst irgendwo.“
„Nein, das war nicht sein glücklichster Ort. Kurz bevor ihr damals zur Deutschen Meisterschaft los seid, haben wir noch telefoniert. Er hat gesagt, dass er den Sieg für dich holen will, ganz allein für dich. Er wollte, dass du stolz auf ihn bist. Er wollte immer ein Mensch sein, zu dem du hochsehen kannst.“ Ich konnte den nächsten Tränenstrom nicht zurückhalten. Er hatte den Sieg für mich geholt. Nie hatte er mir davon erzählt und dann konnte er es nicht mehr. Nach seinem Tod hatte ich mich in mir selbst verkrochen, ich hatte getrauert und bin fast daran erstickt. Aber nur fast, weil etwas mich aufgehalten hat, zu gehen. Der Himmel hatte sich schon in ein dunkles Grau verfärbt. Ich sah auf die weiße Uhr, die auf der pinkfarbenen Wand sofort ins Auge stach. Es war fast zehn Uhr. Er bemerkte meinen Blick und stand auf. Ich hielt seine Hand und wollte ihn wieder zu mir hinunterziehen, aber er entwand sich und brachte stattdessen hervor:
„Ich muss gehen. Ist schon viel zu spät, morgen ist wichtig für mich. Ich war eigentlich nur hier, um sicherzugehen, dass es dir gut geht. Damit ich mir keine Sorgen mehr machen muss. Und ich wollte dir nur dieses eine noch sagen, dass er es nur für dich gemacht hat. Ich hatte keine Gelegenheit, es dir früher zu sagen, weil du einfach weg warst. Ich habe dich vorhin über Phil sprechen hören. Ich glaube, er ist der Richtige für dich, auch wenn es für mich schwer ist, das zuzugeben. Ich hatte immer gehofft, dass wir beide eines Tages…Ist auch egal. Ich muss jetzt gehen. Ich glaube, es ist besser, wenn das das letzte Mal ist, dass wir uns unter solchen Umständen sehen. Aber falls du Probleme hast, ich bin immer für dich da. Du hast meine Nummer. Es tut mir Leid. Du glaubst gar nicht, wie Leid.“
Geschockt starrte ich ihn an. Ich war sprachlos, völlig perplex. Ich bekam keinen einzigen Ton heraus. Jedes Mal, wenn ich den Mund öffnete, fing ich an zu husten. Meine Kehle war auf einmal so trocken. Er verließ mich. Nein, nicht er auch noch. Nicht er. Vor ein paar Stunden wollte ich ihn selbst noch verlassen, doch es war so niederschmetternd, wie ein Schlag ins Gesicht, es von jemand anderem zu hören. Endlich konnte ich wieder sprechen.
„Bitte, bleib hier. Ich kann nicht ohne dich. Bitte, ich brauche dich. Flo, das ist doch sicher nur ein schlechter Witz.“ Meine Stimme nahm einen hysterischen Tonfall an.
„Ich hatte den Beschluss schon gefasst, bevor ich dich angerufen hatte. Du brauchst mich nicht. Du hast Phil, der wird immer deine Stütze sein. Ich weiß das auch so, ohne ihn zu kennen. Du weißt, wie sehr ich dich liebe, Laura. Vergiss das nicht, bitte.“ Er drehte sich um und verschwand aus meinem Zimmer. Ich hörte, wie die Türen des Aufzugs sich hinter ihm schlossen. Er war weg. Für immer. Mir wurde schlecht. Ich rannte ins Bad und beugte mich über die Toilette. Ich musste mich übergeben. Ich wusch mir sofort danach den Mund aus, putzte mir die Zähne sorgfältig und wiederholte die Prozedur noch ein paar Mal. Ich sah in den Spiegel. Ich hatte auf einmal große schwarze Augenringe, die durch meine blasse Haut noch mehr zum Vorschein kamen. Ich war mir selbst zuwider. Ich öffnete meine zurückgesteckten Haare und sie fielen strähnig auf meine Schultern. Sie waren plötzlich so fettig, dass ich das Bedürfnis hatte, mich unter die Dusche zu stellen. Ich nahm die Handbrause und drehte das Wasser auf die kälteste Stufe. Ein kleiner Schauer durchzuckte mich, aber ich war sofort wieder hellwach. Alles in mir fühlte sich so schrecklich leer an. Ich hatte gerade einen so wichtigen Menschen verloren, einen Menschen, der eine große Rolle in meinem Leben gespielt hatte. Ich konnte mich noch genau erinnern, wie verletzt ich war, als er mir nicht auf meine ganzen E-Mails und Briefe geantwortet hatte. Im Vergleich zu dem heutigen Ereignis war das nichts gewesen. Die kalte Dusche war fast ein bisschen so wie der Schmerz. Doch hätte ich damals schon gewusst, was noch alles auf mich zukommen würde, hätte ich nie gesagt, dass ich wirklich Schmerz empfunden hatte. Es sollte noch viel schlimmer kommen.


7

Am nächsten Morgen rief mich Cassy an. Ihre Stimme klang heiser. Sie war auf einer Party gewesen, auf der wahrscheinlich die bekanntesten Leute der ganzen Stadt zusammengekommen waren. Ansonsten wäre Cassy nie hingegangen. Ein guter Freund von mir hatte sie geschmissen. Ich musste absagen, weil Flo kam. Im Nachhinein wäre ich besser hingegangen, anstatt meinen Abend heulend im Bett und im Bad zu verbringen. Außerdem hatte ich heute durch die ganze verlaufene Mascara einen riesigen Pickel auf dem Kinn. Ich konnte ihn schon spüren. Heute Abend war doch schon der Maskenball. Ich konnte froh sein, dass wir Masken trugen, damit man ihn nicht sofort zu Gesicht bekam.
„Hey, Schlafmütze. Na, wie geht’s?“
„Ganz gut und dir? Hattest wohl ’ne heiße Partynacht, so wie du dich anhörst.“
„Ja, kann man so sagen. War echt scheiße, dass du nicht dabei warst. Da ist es so krass zugegangen. Bin erst um viertel vor vier heim. Meine Mum hat natürlich wieder nichts mitbekommen, war selber auf so ’ner komischen Charity-Gala.“
„Wie viel hast getrunken? War jemand dabei, der dir gefallen hat?“
„Zu viel. Irgend so ’ne Bonze hat mich nachts heim gefahren. Zuvor hab’ ich mit Chris geknutscht, dann mit Fabs. Du weißt schon, der mit den braunen Haaren und den Kulleraugen, der mir so gut gefällt. Ich hab’ seine Nummer, Süße.“
„Wie abartig bist du denn? Chris? Der ist ja so was von widerlich. Glückwunsch, meine Liebe. Wann rufst du bei ihm an?“
„Wenn ich könnte, sofort. Aber, aber, aber, wir beide müssen shoppen gehen. Wir brauchen doch noch Kleider und Masken für heute Abend. Ich hab’ mich noch mal erkundigt wegen dem Dresscode. Es soll klassisch sein, in Hinsicht auf die Masken und die Krönung des Maskenkönigs und der Königin. Der Rest soll modern sein. Heißt, alles ist erlaubt, was wir gerne tragen.“
„Ok. Hört sich gut an. Ich brauch’ hier noch eine gute Stunde, um mich anzuziehen und fertig zu machen. Wo treffen wir uns?“
„Ich komm’ zu dir. Ich bin in einer halben Stunde da. Dann fahren wir zusammen in die Stadt.“
„Ok. Wir können uns dann bei mir umziehen und die Haare richten für heute Abend. Bis gleich. Kuss.“
„Ich liebe dich, Schatz.“ Sie legte auf. Ich stapfte aus meinem Bett und rieb mir die Augen. Im Bad murmelte ich vor mich ein kleines „Hilfe!“ hin. Ich sah aus wie eine Wasserleiche. Wenn nicht noch schlimmer. Gründlich wusch ich mein Gesicht, entfernte meine Schminke und sah schon gar nicht mehr ganz so schrecklich aus. Ich stellte mich ein weiteres Mal unter die Dusche. Diesmal ließ ich das Wasser in normaler Temperatur auf mich herunterprasseln. Mein Shampoo roch nach Erdbeeren und versetzte mich sofort in eine bessere Stimmung. Ich wollte nur für den heutigen Tag Flo vergessen. Ich wollte einen wunderschönen Tag mit meiner besten Freundin verbringen und mich nicht so leer fühlen. Außerdem mochte es Phil nicht, wenn ich schlecht gelaunt war, er war es dann nämlich sofort auch. Er musste immer mit mir leiden. Manchmal war das richtig nervig, aber andererseits auch ziemlich süß von ihm. Natürlich hatte er seine Makel. Sein größter war definitiv, dass er rauchte. In meiner Gegenwart versuchte er es meistens zu vermeiden, aber er rauchte dann eben bevor wir uns sahen oder nachdem. Sein Kuss schmeckte daher oft nach Tabak. Ich hatte mich daran gewöhnt, aber seine normalen Küsse waren so viel schöner. Und er war ein totaler Fußballfanatiker. Damit konnte ich leider überhaupt nichts anfangen. Wenn er mir zum Hundertsten Mal die Abseitsregel erklären wollte, verstand ich es nur für ein paar Sekunden und vergaß es sofort wieder. Ich sah nur zur WM ein paar Mal zu, ansonsten war ich von Fußball total gelangweilt. Er verstand das nie so richtig, aber er interessierte sich nun auch nicht unbedingt für Schminke. Aber beim Fußball gucken konnte er wenigstens ein bisschen Zeit mit seinen Jungs verbringen, denn seit ich mit ihm zusammen war, hatte er weniger Zeit für sie. Das lag nicht unbedingt an mir, sondern eher an ihm selbst. Er versuchte wirklich jede Minute mit mir zu verbringen. Ich war nicht abgeneigt, aber trotzdem brauchte ich ein bisschen Privatsphäre und meine Mädels. Doch ich würde ihn gegen niemand anderen auf dieser Welt eintauschen wollen. Wenn ich ehrlich war, war er das Beste, das mir je passiert war. Ich liebte ihn so sehr, dass ich mir oft wünschte, es gäbe ein Wort, das den Begriff ‚Liebe’ noch übertrumpfen könnte. Etwas, das ich ihm sagen könnte, um ihm zu zeigen, wie viel ich für ihn empfand. Denn das zwischen ihm und mir war mehr als Zuneigung oder Liebe. Ohne ihn fühlte ich mich so verloren. Wenn wir in den Ferien über so eine lange Zeit getrennt waren, schlug mein Herz nicht mehr richtig und ich vermisste ihn mehr denn je. Nachts schlief ich unruhig und wollte ihn am liebsten jeden Tag anrufen. Aber ich war nicht eines der Mädchen, die man als Kontrollfreaks bezeichnete. Ich ließ ihm seine Freiheiten, denn ich wünschte mir von ihm das Gleiche.
Ich stellte das Wasser ab und stieg aus der Dusche und trocknete mich ab. Ich föhnte meine Haare und stellte gerade den Föhn aus, als es an der Haustür klingelte. Ich schlang das Handtuch um mich und rannte barfuss zur Tür. Überschwänglich öffnete ich sie. Cassy lief immer die Treppen hoch, machte schlanker. Sie hatte es zwar nicht nötig, aber wenn sie meinte.
„Hi!“ Wir fielen uns um den Hals.
„Süße, komm rein. Ich zieh mir noch kurz was an, dann können wir los.“
„Geht klar. Ich hab mir schon überlegt, wohin wir gehen können. Und ’nen Laden in dem es Masken gibt, habe ich auch schon gefunden.“ Ganz meine Cassy. Bei ihr war immer alles geplant. Sie war auch mit Abstand das beste Organisationstalent, das ich kannte. Jedes noch so unspektakulärste Ereignis war bei ihr bis ins kleinste Detail ausgeklügelt. Wenn ich mit ihr nach Berlin fuhr, um noch mehr shoppen zu gehen, hatte sie den Fahrplan des Zuges vom ganzen Tag ausgedruckt, hatte zwei Stadtpläne dabei, hatte sich im Vornherein schon erkundigt, was es wo für Läden gab. Sie begab sich zu meinem Schrank und öffnete die Schiebetüren, die fast lautlos zur Seite glitten. Sie zog scheinbar wahllos Klamotten aus meinem Schrank und legte sie auf mein Sofa.
„Zieh das an! Das sieht gut aus an dir.“ Ich beäugte ihre Auswahl. Meine graue Jeans, mein weißes Top und die Cardigan mit den großen Blumen. Gefiel mir gut.
„Danke. Suchst du mir noch kurz eine Tasche und Schuhe raus, bitte. In der Zeit kann ich gleich anfangen mich zu schminken.“
„Klar, mach ich doch gerne. Ich freue mich schon so.“
„ich mich auch. Heute Abend haben wir mal wieder unseren großen Tag“, rief ich ihr aus dem Bad zu. Als ich mit perfektem Lidstrich und frisch getuschten Wimpern zurückkam, stand sie vor meiner Fotowand. Ich hatte bewusst kein Foto von Marco darauf verewigt, damit niemand danach fragen konnte. Stattdessen waren jede Menge Fotos von der Clique, ihr und natürlich Phil darauf.
„Ist das süß, das Bild. Wie verliebt Phil dich da ansieht. Ich wünschte, ich hätte auch so ein Riesenglück wie du.“
„Ach, komm. Ich dachte, du willst dich an Fabs ranmachen?“
„Aber das wird bloß wieder einer dieser Flirts. Du hast leicht reden mit deinem Traumtypen. Ich denke nämlich nicht, dass ich die nächsten zwanzig Jahre einen Freund finde, der wirklich zu mir passt. Ich bin einfach nicht dafür gemacht.“ Sie ließ die Schultern sinken. Ich kam zu ihr und nahm sie in den Arm.
„Jeder ist gemacht, um geliebt zu werden. Ich bin mir ganz ganz sicher, dass das mit Fabs klappt. Der erste Schritt ist getan. Kommt er denn heute?“
„Ich weiß nicht. Darüber haben wir gestern nun wirklich nicht gesprochen.“
„Dann ruf’ ihn an und sag ihm er soll kommen.“
„Ne, ich trau’ mich nicht.“
„Seit wann traust du dich so was nicht. Das ist doch schon Routine. Also ruf ihn an oder ich tu’s.“
Das war ausschlaggebend dafür, dass sie sich doch dazu entschied, ihr Handy in die Hand zu nehmen und seine Nummer zu wählen. Während sie telefonierte, zogen sich ihre Mundwinkel immer weiter nach oben. Zum Ende hin strahlte sie wie ein Honigkuchenpferd und verabschiedete sich mit den Worten: „Wir sehen uns dann dort. Ich freue mich, Süßer.“ Und in diesem Moment wusste ich, dass sie ihm verfallen war. Und zwar unwiderruflich verfallen. Schon wieder. So war das schon immer. Jedes Mal, wenn ein neuer Junge in ihr Leben trat, verliebte sie sich sofort in ihn. Gott sei Dank verschwanden die meisten Typen sofort wieder, denn bisher war kaum einer dabei, der auch nur im Mindesten zu ihr gepasst hätte. Ich kannte Fabs nicht gut, ich hatte mich nur ein einziges Mal mit ihm ganz kurz unterhalten. Das war vor einem Jahr auf einer Party. Er schien ganz sympathisch zu sein. Ich wünschte Cassy, dass es diesmal etwas werden würde. Sie hatte es verdient.

So lange war ich selten shoppen. Ich hatte gefühlte fünftausend Kleider anprobiert, siebentausend Schuhe und noch mehr Handtaschen bewundert. Am Ende hatte ich mein Traumkleid gefunden. Es war knielang, rot und hatte am kompletten unteren Teil rote Rosen aufgestickt. Dazu hatte ich schwarze Plateau-Peeptoes an und eine passende schwarze Clutch. Cassy hatte ein Cocktailkleid mit goldenen Pailletten erstanden. Nach Masken hatten wir nicht lange suchen müssen. Sie hatte eine goldene gefunden, die das ganze Gesicht bedeckte, meine war schwarz und versteckte nur die Augen und einen kleinen Teil der Nase. Sie wurden mit einem Gummiband befestigt. Als wir unsere Haare mit dem Lockenstab zu voluminösen Locken aufgedreht hatten, schossen wir noch ein paar Bilder. Phil und ich wir würden uns vor der Schule treffen. Das hatten wir schon ausgemacht.
Ich konnte ihn schon von weitem ausmachen. Cassy war bei mir eingehakt. Sie war so aufgeregt, Fabs wieder zu sehen, dass sie nicht mal mehr normal laufen konnte. Sie sah jetzt schon aus, als wäre sie betrunken, obwohl wir noch nicht einen Tropfen Alkohol angerührt hatten. Ich hoffte inständig sie würde noch reinkommen, denn erst drinnen wurde Alkohol für die Jugendlichen ab 16 ausgeschenkt. Wer zuvor schon getrunken hatte, kam nicht rein. Regel unseres ziemlich netten Direktors. Die meisten hielten sich daran, da wir die einzige Schule waren, der das erlaubt war. Wir alle wollten uns den Joker nicht verspielen. Phil hatte seine Maske, sie war grün, hochgeschoben. Er blieb, wo er war und an seinem Blick sah ich, wie gut ich ihm zu gefallen schien. Er musterte mich von oben bis unten und von unten bis oben. Dann wedelte er symbolisch mit seiner Hand vor seinem Gesicht herum.
„Hothot. Was kommt denn da auf mich zu?“
„Deine heiße Freundin?“
Er küsste mich und verzog sofort das Gesicht.
„Wäh, hast du viel Lippenstift auf den Lippen! Das schmeckt ja widerlich.“ Gleichzeitig lachte er.
„Danke. Das wollte ich hören. Idiot.“
„Tut mir Leid. Aber du bist sonst nicht so krass geschminkt. Du weißt doch, dass du Bombe aussiehst. Wie immer, nur heute noch besser.“
„Ok. Danke, ernst gemeint. Dein Anzug sieht richtig geil aus. Maßgeschneidert?“
„Sicher, sicher. Gehen wir rein? Cassy scheint sich ja schon gut zu amüsieren.“ Ich warf einen Blick über meine Schulter und sah wie Cassy in den Armen eines Jungen lag. Er streichelte eine Strähne aus ihrem Gesicht und küsste ihre Stirn. Es musste Fabs sein. Cassys Blick traf meinen und sie gab mir zu verstehen, dass ich schon reingehen könnte.
„Klar. Hast du die Karten schon?“
„Ne, Tom lässt uns so rein. Er verkauft die Karten an der Abendkasse. Ich geb’ ihm das Geld morgen. Er legt es aus.“
„Ich kann dir mein Geld gleich geben, wenn du willst.“
„Ich lad dich ein, Süße. Ist doch klar.“
„Danke, aber echt nicht nötig. Ich…“
„Nein, ich zahl’! Also, gehen wir rein.“
Er nahm mich an der Hand und führte mich an der langen Schlange, die an der Kasse anstand vorbei. Wütende Blicke verfolgten uns. Als Tom uns gesehen hatte, verließ er kurz seinen Posten und öffnete uns eine Nebentür. Mit einer überschwänglichen Handbewegung bat er uns herein und schloss die Tür hinter uns wieder ab. Der Gang, in dem wir jetzt standen, war nur spärlich erhellt und ziemlich eng. Phil ließ mich vor sich gehen und legte seine Hände an meine Hüften. Ein paar Mal stolperte ich über irgendwelche Geräte, die am Boden verstreut lagen, aber Phil fing mich jedes Mal auf. Ich schnappte hörbar nach Luft, als wir nach einer halben Ewigkeit endlich an einer Tür ankamen. Ich berührte den Griff und öffnete die Tür. Dahinter blendete mich ein Lichterschwall. Bunt. Gelbe, grüne, rote, blaue Lichter, von den verschiedensten Discokugeln aufgespaltet. Wir kämpften uns durch die tanzende Menschenmenge zur Bar. Zuvor setzten wir aber noch unsere Masken richtig auf.
„Was zu trinken, Süße?“ schrie er mir ins Ohr, da der Lärmpegel so dröhnend war.
„Eine Cola.“
„Kein Alk?“
„Ne, erst später.“
Er lehnte sich über die Bar zu einem der Barkeeper. Er war in der Zwölften und ein Bekannter von Phil, einer seiner Saufkumpanen. Phil versteckte es meistens vor mir, wenn er abends wegging. Er trank meistens zu viel, wie ich schon zu oft hören musste. Doch solange er bei mir nicht allzu betrunken war, war es ok. Ich selbst war auch nicht gerade diejenige, die nie oder wenig trank. Aber ich versuchte es zumindest nicht zu übertreiben. Ich hatte bisher erst einen Filmriss, aber auch nur, weil mir ein Freund anstatt Cola Wodka-Cola gegeben hatte. Das war vor einem Jahr. Seitdem verfolgten meine Blicke jeden, der mir etwas zu trinken bestellte. Auch bei Phil machte ich keine Ausnahme. In dem Punkt konnte ich ihm nicht vertrauen. Er kam zurück und stellte das Glas vor mir an der Theke ab. Ich nippte daran. Es schmeckte ganz normal. Nachdem wir beide unsere Gläser leer getrunken hatten, stand Phil auf und nahm meine Hand. Theatralisch sagte er: „Darf ich um diesen Tanz bitten, Madam?“
Ich lächelte und rutschte von meinem Barstuhl hinunter. Er legte seinen Arm um mich und führte mich auf die tobende Tanzfläche, doch gerade als wir anfingen uns zu den Beats zu bewegen, fing ein neuer Song an. Der DJ rief über die Menge hinweg: „So, jetzt ein Song für alle Verliebten und Pärchen unter uns. Snow Patrol mit Run.“ Ich sah ein klein wenig nach oben und blickte in Phils schöne Augen. Er küsste und umklammerte mich. Ich tat es ihm nach. Wir drehten uns im Takt der Musik. Leise flüsterte er mir immer wieder ins Ohr: “Ich liebe dich“. Bei seinen Worten fing ich an, still zu weinen. Gott sei Dank sah man die Tränen unter der Maske nicht. Wir tanzten noch ein paar Mal an dem Abend und tranken immer mehr. Mir war schon ziemlich schwindelig, aber ich wusste, das würde sich geben, sobald ich mich ein paar Minuten hingesetzt hatte. Auch Phil hatte schon vier Desperados und eine Flasche Tequila mit Max gebechert. Dennoch wirkte er nicht betrunken, nur ein bisschen angeheitert. Und schon wieder musste ich mir eingestehen, dass er einfach mehr vertragen konnte als ich. Inzwischen hatten wir uns schon mit vielen Bekannten aus unserer Schule und aus anderen unterhalten, den neuesten Gossip ausgetauscht und über verschiedenste Leute gesprochen. Phil plauderte gerade mit einer Freundin, die er auf einer Party kennengelernt hatte. Ich saß an der Bar einen Stuhl neben Phil, der mir den Rücken zugekehrt hatte. Sie sah gut aus. Zu gut, dachte ich im Stillen. Ihre blonden Haare fielen ihr in schönen Wellen über die Schulter. Ihre Traumfigur, geschätzte Maße 90-60-90, 1,75m groß, wahrscheinlich gerade einmal 46 Kilo, zog alle Blicke auf sich. Auch Phil schien sie zu gefallen, denn ich konnte jetzt, da er sich ein bisschen zu mir gedreht hatte, sehen, wie er ihr auf das Dekolleté starrte. Die Eifersucht stieg in mir auf und machte sich breit. Hatte er etwa schon vergessen, dass ich neben ihm saß? Anscheinend ja. Ich musste mich zurückhalten, ihn nicht von ihr wegzuziehen. Ich bestellte mir noch einen Sex on the Beach. Nach meinem vorigen Mai Tai stieg der mir ziemlich zu Kopf. Max merkte, wie sauer ich war und gesellte sich zu mir.
„Mach dir nichts draus. Du weißt ja, er liebt nur dich.“
„So was nervt aber ziemlich krass. Kann er das nicht machen, wenn er alleine unterwegs ist? Ich hab ja grundsätzlich nicht so viel dagegen, wenn er ein bisschen flirtet, aber bitte nicht vor mir. Meine Fresse.“
„Soll ich ihn mal darauf aufmerksam machen?“
„Nee, du. Danke, aber ich warte mal, wie lange er braucht, um zu kapieren, dass ich auch noch da bin.“
„Ok. Wenn du meinst.“
Er ging wieder zurück auf die Tanzfläche und tanzte ein großes, schlankes Mädchen an. Sie schmiegte sich an ihn und tanzte in seinen Armen mit ihm. Jungs, dachte ich nur. Auch ich trank mein Glas noch leer und spazierte ein bisschen umher. Ich begrüßte noch ein paar andere Freunde, die ich an dem Abend noch nicht gesehen hatte. Nach ein paar Minuten sah ich Cassy mit Fabs knutschen. Sie lag fast auf ihm. Ihre Maske war etwas nach oben geschoben, sodass der Mund frei lag. Sie blickte gerade auf und sah mich, als ich wieder gehen wollte, um sie nicht zu stören. Sie ließ von ihm ab und richtete sich auf. Sie wischte sich mit dem Handrücken den Lippenstift, der durch die vielen Küsse ein klein wenig verwischt gewesen war, ab. Ein bisschen verlegen schob sie die Maske wieder in die richtige Position und kam auf mich zu. Fabs ging an ihrer Hand mit. Sie zwinkerte mir bestimmend zu und grinste mich breit an.
„Wo hast du denn den edlen Ritter gelassen?“
„Bei seiner blonden, schlanken Freundin.“
„Ach, du scheiße. Hat er mit ’ner anderen rumgemacht?“
„Ne, aber er flirtet ziemlich krass mit ihr und starrt ihr ständig auf die Titten. Er hat echt voll vergessen, dass ich neben ihm saß. Er hat ja nicht einmal mitbekommen, dass ich weg bin.“
„Mhm. Doch, ich glaube schon. Er kommt.“
Ich drehte mich um.
„Was willst du, Phil?“
„Wieso bist’n du so plötzlich weg, Süße?“ lallte er. Er musste noch mehr getrunken haben. Genau jetzt wollte ich nicht Süße genannt werden, weil es in seinem Zustand eine andere Bedeutung hatte.
„Ich hoffe, die Blonde hat dir wenigstens gefallen und sie bleibt noch ein wenig. Wäre ja echt beschissen, wenn du jetzt den ganzen Abend alleine wärst.“
Mit diesen Worten wandte ich mich ab und lief mit schnellen Schritten zum Ausgang. Tränen kullerten mir über die Wangen. Während ich eine Weile draußen gestanden hatte, hatte sich die Tür wieder geöffnet und Phil kam raus. Er umarmte mich von Hinten, aber ich entwand mich aus seiner Umarmung und ging ein paar Schritte weiter. Er folgte mir. Er stand jetzt direkt vor mir, hielt mich an den Handgelenken fest und sah mir ganz tief in die Augen. Nicht leicht bei diesem Hundeblick, die Fassung zu bewahren und wütend zu sein. Er starrte mich so an, dass ich den Kopf abwenden musste. Er ließ einen meiner Arme los und hob mit dem Zeigefinger mein Kinn hoch. Dabei sagte er, nicht mehr lallend: „Sieh mich an! Das da drin ist nur eine Freundin. Eine Freundin von vielen. Und du bist MEINE Freundin, die ich über alles auf dieser Welt liebe! Verstehst du das? Dazwischen liegt ein riesengroßer Unterschied.“
Wie ferngesteuert antwortete ich ihm: „Ja.“
„Gut. Dann lass uns jetzt wieder reingehen und einen schönen Abend haben.“
Und schon wieder hatte er mich in seinen Bann gezogen und ich habe mich nicht gewehrt, obwohl ich mir so sehr vorgenommen hatte, dieses Mal länger als nur ein paar Minuten wütend auf ihn zu sein. Vielleicht hatte ich aber auch mal wieder nur überreagiert, aber die Vorstellung ihn nicht mehr zu haben, war so beängstigend für mich, dass ich gar nicht daran denken wollte. Und möglicherweise hätte ich auch einfach nur einmal auf Max hören sollen, als er meinte, dass Phil wirklich nur mich liebt. Er war sein bester Freund, er musste es wohl wissen.

Nach der Schulparty waren wir noch weiter gegangen zu Nick, der noch eine kleine Saufparty warf, weil seine Eltern auf einem Wellnesswochenende waren. Danach konnte niemand von uns mehr gerade stehen und als Phil mich um fünf Uhr morgens vor der Haustür absetzte, hatte ich Mühe, die Haustüre aufzusperren. Auf dem Weg dorthin waren wir ein paar Mal zusammen hingefallen. Wenn man zu Fuß von Nick zu mir wollte, brauchte man normalerweise nur eine Viertelstunde. Wir hatten eine unschlagbare Stunde dafür gebraucht. Das war mir aufgefallen, als ich daheim auf den Wecker gesehen hatte. Meine Eltern hatten nichts mitbekommen, denn ihnen war es ja auch egal, wo ich letztendlich war. In der Nacht hatte ich gut geschlafen. Ich sollte vielleicht eher an diesem Tag sagen. Denn als ich endlich aufwachte, war es bereits fünfzehn Uhr. Ich hatte mir erst einmal einen Kaffee gemacht und mich mit einer Decke vor den Fernseher in meinem Zimmer gesetzt. Das einzig Gute am Fernsehprogramm vom Sonntag waren die Simpsons. Also sah ich den gelben Figuren zu, wie sie ihren Spaß hatten, wenn bei mir schon nichts los war. Um sechs kam mein Vater kurz rein, um mir das Abendessen zu bringen. Spaghetti Bolognese. Ich aß sie einfach im Bett. Ich verkleckerte Gott sei Dank nichts. Ich hatte wirklich keine große Lust, mein Bett noch neu zu überziehen. Kurz bevor ich ins Bett ging, wusch ich mich noch. Bald darauf schlief ich tief und fest.


8

Ich lief mit Musik in den Ohren durch den Park. Ich musste nachdenken. Phil hatte sich in der Schule ungefähr eine Million Mal für sein Verhalten Samstagabend entschuldigt. Ich hatte es angenommen, aber es war mir fast schon egal. Auch wenn ich an dem Abend wieder mit rein gegangen war, ich war doch noch sauer. Er konnte von mir aus so viel flirten wie er wollte, aber nur, wenn ich nicht dabei war. Aus seinen Worten und seinem neuerdings ziemlich angespannten Verhalten wurde ich nicht schlau. Ich versuchte eine Erklärung dafür zu finden, aber es gab keine. So sehr ich mich auch bemühte, ich fand nichts, was das alles hätte begründen können. Ich setzte mich auf eine der freien Bänke und sah mir unsere gemeinsamen Bilder auf meinem iPod an. Bild für Bild schob ich weiter und lächelte den Bildschirm an. Mir wurde ein weiteres Mal bewusst, was für ein Glück ich hatte. Einen Freund, der mir von Tag zu Tag die Sterne vom Himmel holte und ja, es gab Höhen und Tiefen, aber wo gab es die nicht? Außerdem kamen die Tiefen weniger vor als die unschlagbar schönen Höhen. Ich konnte mir ein Leben ohne meinen Freund nicht mehr vorstellen. Jeden Tag wachte ich auf und wusste, da wartet jemand ganz besonderes auf mich. Jemand, der ganz genau weiß, was ich an diesem Tag brauche. Sei es jemand zum Zuhören, jemand zum Reden oder jemand zum Kuscheln. Er überblickte es ganz genau und war das für mich. Bei ihm war es wirklich so sehr so, dass ich einmal nicht an Marco dachte. Nur fehlte mir ein Mensch mit dem ich einmal über ihn hätte reden können. Nur um mir den Schmerz von der Seele zu nehmen. Aber niemand war darüber in Kenntnis gesetzt, dass ich tief in meinem Inneren verborgen ein Geheimnis hatte. Langsam aber, wollte das Geheimnis an die Oberfläche. Gefallen fand ich daran überhaupt nicht. Ich stand wieder auf. Die Bäume wurden von der Abendsonne golden angeleuchtet und auch das Gras hatte eine etwas gelblichere Farbe als sonst, was wohl eher auch daran lag, dass die Sonne es ein bisschen ausgebleicht hatte. Auch meine Haare waren viel heller als sonst, obwohl sie gefärbt waren. Es tat gut, mal wieder ganz alleine zu sein. Alleine, ohne Phil, ohne Cassy, ohne Mama ohne Papa. Nur war ich voller Gedanken und Zweifel an der Beziehung zu Phil. Denn obwohl wir uns beide liebten, es hinderten mich die Worte seiner Mum und die seinen. Nicht, dass ich die Beziehung beenden wollte, nein, ich könnte ihn nie verlassen, aber doch war es so, dass ich mich ein klein wenig von ihm abwandte, weil ich nicht wusste, was mich noch erwarten sollte. Irgendwie war ich mir ziemlich sicher, dass ich nicht mehr lange warten musste, um eine Erklärung dafür zu finden. Ich hatte da so ein Gefühl und das schlummerte tief in mir.

„Ich hab’ da was für dich, Süße.“ Ich saß auf Phils Bett, auf dem ich noch vor ein paar Tagen mit ihm mein erstes Mal gehabt hatte. Er hatte sich den Schreibtischstuhl ans Bett geholt und seine Gitarre, die eine limitierte Version in lackschwarz war, aus dem Gittarenständer genommen. Es war eine mit der Unterschrift von Billie Joe von Green Day. Sein großes Vorbild. Ihm war zu verdanken, dass Phil anfing Gitarre zu spielen, ihm war zu verdanken, dass Phil zu singen begann und ihm war auch zu verdanken, dass Phil mich auf ein Green Day Konzert eingeladen hatte. Ein richtig geiles Konzert wie, ich fand. Die Klamotten, die ich damals angehabt hatte, habe ich weggeworfen, da sie voller Schlamm waren. Das Konzert fand im Freien statt. Er konnte von Glück reden, dass ich die Musik von ihnen ebenfalls liebte. So konnten wir also stundenlang zusammen sein und Songs von der Band hören. Ich wusste nicht, was mich erwarten würde. Er stimmte seine Gitarre, dauerte nicht lange, er war das ja gewohnt. Und dann legte er los. Die sanften Gitarrenklänge von Nothing else matters drangen von seinen Fingern gespielt zu mir.
...So close, no matter how far
Couldn't be much more from the heart
Forever trusting who we are
and nothing else matters
Never opened myself this way
Life is ours, we live it our way
All these words I don't just say
and nothing else matters
Trust I seek and I find in you
Every day for us something new
Open mind for a different view
and nothing else matters
never cared for what they do
never cared for what they know ...
Und in diesem Moment fühlte ich mich so geliebt wie noch nie zuvor in meinem Leben. Er wusste ganz genau, dass ich es liebte. Auch wenn ich es nicht oft hörte, es gehörte zu mir wie er zu mir gehörte. Noch nie war ich mir in dem so sicher wie in diesem einen Augenblick. Noch nie hatte jemand so etwas zu mir gesagt. Noch nie. Doch dieses Gefühl sollte sich schon bald verflüchtigen.

Die Tage zogen an mir vorbei wie ein Film. Ein fröhlicher Film. Ein Film, der aus dem Leben gegriffen war, der ein Mädchen zeigte, dass ihr Leben mit ihren Freunden und besonders ihrem Freund zeigte, der ihr den Himmel auf Erden zu holen schien. Und doch war da etwas, das dieses doch so glücklich scheinende Mädchen von innen auffraß. Das war nicht nur der Tod ihres Bruders, das war noch etwas anderes, etwas Undefinierbares.


9

Er hatte mich angerufen. Ich sollte mich in einer halben Stunde fertig angezogen unten vor die Haustür stellen. Er hatte nicht feierlich geklungen. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, was er vorhatte. Also zog ich mir schnell eine meiner schwarzen Leggings an und ein graues Sweatshirt. Es hatte ein großes rotes Herz aufgedruckt. Das Herz war in der Mitte auseinander gebrochen. Ich band meine Haare zu einem strengen Zopf zusammen und trug nur ein wenig Mascara auf. Ich nahm noch meine roten Sneakers aus dem Schuhschrank und betrachtete mich im Spiegel. Ich sah eher aus, als würde ich mich gerade auf den Weg zum Joggen machen und nicht zu einem Treffen mit meinem Freund gehen. Langsam, fast angstvoll stieg ich die Treppen des Hauses hinunter. Irgendetwas in mir sagte mir, ich sollte nicht hinunter gehen. Lieber gar nicht kommen, doch meine Neugierde überwiegte. Obwohl Neugierde hier das falsche Wort war, wie ich später feststellen musste. Ein warmer Windhauch umblies mich, als ich vor die Tür trat. Es war warm, fast stickig. Ich wartete und wartete, aber niemand kam. Endlich, wo ich mich schon entschlossen hatte, wieder hinein zu gehen, hielt ein roter VW Passat vor unserer Wohnung. Das Auto von Phils Mutter. Phil stieg aus und kam auf mich zu. Kein Kuss, keine Umarmung, keine Begrüßung. Schweigend packte er mich am Arm und zog mich förmlich mit sich. Verwunderung machte sich in mir breit. Ich achtete nicht auf sein Auto, an dem wir gerade vorbeiliefen. Hätte ich besser tun sollen, würde ich mir später denken. Phil hatte den Blick nach unten gesenkt, doch als er ihn kurz hob, sah ich, dass er geweint haben musste. Unter seinen Augen zeigten sich tiefe schwarze Augenringe. Ansonsten waren sie rot umränderten. Wir kamen an den Park. Weiter lief ich hinter ihm her.
„Was soll das, Phil?“
Keine Antwort. Nur ein kleines Zusammenzucken, als er meine Stimme gehört hatte. So kannte ich ihn nicht. Er hätte immer ein „Mhm“ von sich gegeben. Normalerweise, aber diese Situation war nicht normal. An einer Bank blieb er stehen, setzte sich und gab mir zu verstehen, dass ich es ihm nachtun sollte. Er sah mir nicht ins Gesicht, als er anfing zu sprechen. Er sah in die Ferne, als würde er dort nach etwas suchen.
„Lola, ich muss dir was sagen. Aber ich weiß nicht wie, verstehst du?“
„Sag’s einfach! So schlimm kann es nicht sein.“
„Für dich vielleicht nicht, aber für mich. Oh Gott, ich weiß echt nicht, wie ich anfangen soll. Ich…also wir…wir ziehen weg. Zu dem neuen Freund meiner Mum.“ Ich sah, wie in ihm alles anfing sich zu verändern. Mein Gesicht jedoch verlor jegliche Spannung. Ich spürte, wie jeder einzelne Gesichtsmuskel aufhörte, in Spannung zu sein. Ich starrte ihn jetzt nur noch an.
„Ach, komm. Verarsch mich nicht! Das ist echt nicht witzig.“ Ich lachte, doch er lachte nicht mit. Er hatte es ernst gemeint.
„Ich verarsch’ dich nicht. Aber dir ist es doch sowieso egal, ob ich nun da bin oder nicht.“ Jetzt erst kam er richtig in Fahrt. „Und ganz ehrlich, du bedeutest mir nichts. Ich war eigentlich nur mit dir zusammen, weil du beliebt bist, jeder dich kennt und somit auch mich. Dein erstes Mal war nur ’ne Wette, die ich mit Max hatte. Wie schnell und ob du dich flachlegen lässt. Du bist mir so scheißegal.“ Und mit jedem weiteren Wort, liefen noch mehr Tränenbache seine Wangen hinunter. Er musste zwischendrin aufhören zu sprechen, seine Stimme brach ab. „Was hab’ ich nur getan? Ich…Ich…Scheiße. Lola, ich wollte das nicht…ich…“
„Was? Was wolltest du verdammt noch mal nicht? Und ich dachte, ich kenne dich. Ich dachte, du wärst der Mann fürs Leben. Wie konnte ich dir nur mein Herz anvertrauen? Du kommst hierher und willst mir nicht ernsthaft sagen, dass ich dir nichts bedeute? Was soll das? Wie kannst du mir das nur antun?!“ Ich schrie ihn nur noch an. Das war alles, was ich konnte. Schreien. Kreischen. Aufschreien. Um mich herum stand die Welt plötzlich Kopf. Nichts war mehr an dem richtigen Platz. Die Bäume hatten plötzlich alle eine andere Farbe. Sie hatten sich schwarz und grau verfärbt. Ich fühlte mich so verloren. Ich stand auf und ohrfeigte ihn mit meiner Handfläche.
„Arschloch!“ Er hielt mich noch fest, aber ich riss mich los und rannte weg. Er rief mir noch hinterher: „Ich liebe dich.“ Doch ich hörte es schon nicht mehr. Nein, ich wollte es nicht mehr hören. Mir wurde immer wieder schwarz vor Augen, doch ich rannte immer weiter, immer weiter. Ich war kurz vor dem Häuserblock, der sich vor mir auftat. Sabrina, Phils Mum stieg aus dem Wagen aus und stützte sich mit der Hand auf der Fahrertür ab. Völlig tränenüberströmt und kreischend rannte ich einfach an ihr vorbei und beachtete sie nicht.
„Lola, er kann nichts dafür.“
„Oh, doch. Ach ja, sag ihm doch eins noch, bitte: Ich hasse ihn!“ rief ich ihr im Rennen noch über die Schulter zu. Doch dabei wusste ich ganz genau, dass es nicht stimmte. Dass ich ihn über alles auf dieser Welt liebte. So sehr, dass ich meinte ersticken zu müssen, als er weg war. Ich sperrte die Haustür mit zittrigen Fingern auf, rannte die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, und sperrte unsere Tür auf. Ich knallte sie hinter mir zu, raste in mein Zimmer. Ich krachte mit voller Wucht an die Tür und rutschte daran herunter. Dann konnte ich nicht mehr. Nichts mehr sehen, nicht mehr reden, nicht mehr schreien, stöhnen, rufen. Nichts. In mir war alles leer, alles wie tot, ausgelöscht. Ich spürte nichts mehr außer einem stechenden Schmerz in mein Herz, der sich immer tiefer bohrte, immer weiter auslief und irgendwann meinen ganzen Körper beherrschte. Ich zuckte nur noch unter den höllischen Qualen. Mir blieb die Luft weg. Ich krallte meine spitzen, manikürten Fingernägel, die mir in diesem Moment einfach nur lächerlich vorkamen, in meinen Arm, doch es tat nicht einmal weh. Wundern konnte ich mich darüber nicht. Denn alles, woran ich denken konnte, alles, das mich jemals verletzt hat, ist Phil. Mir wurde immer mehr klar, dass er weg war und doch wollte ich es nicht wahrhaben. Ich konnte nicht mit der Vorstellung leben, dass mein zweites Ich fehlte. Einfach so weg gebrochen war. Ich wollte die Erinnerung an ihn auslöschen, doch wusste ich ganz genau, dass ich ohne ihn nicht leben konnte, ohne ihn alles sinnlos war. Ich legte den Kopf auf meine Arme und wartete darauf, keine Tränen mehr vergießen zu können. Doch dieser Zustand löste sich erst nach gefühlten zehn Stunden aus. Phil beherrschte meine Gedanken. Ich flüsterte seinen Namen immer wieder vor mich hin. Immer und immer wieder, wie in Trance, vollkommen ohne Sinn.

Ich hatte mich entschuldigen lassen für die Schule. Das wäre nicht gegangen, dort einfach hinzugehen, nicht von ihm abgeholt zu werden, ihn nicht in der Schule zu sehen, ihn nicht küssen zu können. Es war schwer genug, zu Hause ein paar Sekunden nicht an ihn zu denken. Das einzige, was ich jetzt noch wollte, war vergessen. Vergessen einer wunderbaren Zeit, die mich ein wenig über Marco hinweg getröstet hatte. Ich wollte einfach nur ihn vergessen, doch ich würde es nicht schaffen. Ständig schwirrte sein Abschiedssatz in meinem Kopf herum. Wie konnte er sagen, er liebt mich, wenn er mir zuvor sagt, dass ich nichts für ihn bin? Das passte nicht zusammen. Einfach nicht zusammen. Und auch nicht die Tränen, die er weinte, während er die verletzenden Worte aussprach. Das war alles so gegensätzlich, irgendwie widersprüchlich. Ich lief zu meiner Pinnwand. Ich riss alle Bilder, auf denen er zu sehen war, von ihr. Mein eigentlicher Plan war, sie zu verbrennen, doch ich brachte es nicht über mich. Denn als ich all diese Bilder von ihm und mir in der Hand hielt, wurde mir immer mehr bewusst, wie sehr ich ihn brauchte und wie sehr ich ihn liebte. Jetzt holte ich ein Gummiband aus meinem Beautycase und spannte es um das Bündel Bilder. Ich legte alles in einen bemalten Schuhkarton. Darin befand sich bereits Marcos Tagebuch. Ein Bild jedoch, es war das, welches ich auf das Plektron hatte drucken lassen, versteckte ich unter meinem Kopfkissen. Nur um vielleicht besser schlafen zu können. Ich überlegte lange, ob ich Marcos Tagebuch lesen sollte. Als er gestorben war, da waren die Wunden noch so tief, dass ich es nicht schaffte und später dann hatte ich vergessen, dass es das Tagebuch überhaupt noch gab. Ich entschied mich dafür. Langsam erfasste ich das purpurrote Tagebuch. Es war nicht sehr groß. In großen schwarzen Lettern stand „Marco“ darauf. Es wirkte seltsam und schaurig. Ich öffnete es. Die erste Seite war leer. Ich blätterte weiter.

20.November.2004
Training heute war super. Backflip zum ersten Mal richtig hinbekommen. Ich hoffe, ich packe den Cup im Dezember. Ich denke, ich muss noch ein bisschen mit Flo üben. Er will vielleicht mitkommen und zusehen. Oder vielleicht will er auch einfach ein bisschen bei Laura sein. In die ist er voll vernarrt. Versteh ich nicht so ganz. Sie ist gerade mal elf. Überhaupt ist sie so kindisch.

21.November.2004
Mit Laura gestritten. Sie hatte schon wieder mein Sweatshirt an. Das graue mit der Aufschrift. Sie soll echt lieber mal Puppen spielen gehen und sich nicht ständig an mich hängen. Das nervt echt total.
Heute mit Flo noch ein bisschen skaten gewesen im Skatepark. Lisa war auch da. Sie sieht echt gut aus und sie skatet wie eine Weltmeisterin. Ich muss sie fragen, ob sie mit mir gehen will.

22.November.2004
Die Schule langweilt.

Ich blätterte noch ein bisschen weiter. Er schrieb über Lisa und, dass sie sich zum ersten Mal geküsst hatten. Natürlich noch nicht mit Zunge. Sie waren zusammen. Er hatte sie zum Eis essen eingeladen. Ich lächelte, als ich las, wie er schrieb, dass er glücklich mit ihr war. Das Lächeln aber fiel mir schwer angesichts der Situation. Doch ab dem 8.Dezember änderten sich seine Einträge sichtlich.

8.Dezember.2004
Habe heute etwas gefunden, was ich lieber nicht hätte finden wollen. Vor ein paar Tagen war ich doch beim Arzt. Ich hab die Post geholt und den Brief vom Krankenhaus gesehen. Ich habe ihn geöffnet. Kaputtes Herz. Kann man nicht operieren, ist schon zu weit fortgeschritten. Sie geben mir noch ein paar Monate. Ich kann es nicht fassen. Ich verstehe es nicht. Das erklärt vielleicht, dass ich in letzter Zeit beim Training so schwer atmen konnte und so schnell fertig war. Aber es erklärte nicht, weshalb man es nie früher bemerkt hat. Das mit dem Herzfehler wusste ich ja, aber dass es so schlimm ist? Wieso hat man MIR nie was gesagt? Wieso, verdammt noch mal?
Ich will nicht, dass Laura es mitbekommt. Ich hab sie doch so lieb. Sie versteht das doch gar nicht so recht, oder? Ich will nicht streben.

9.Dezember.2004
Ich bin zu Mama und Papa gegangen. Sie haben es versucht mir schonend beizubringen, aber ich wusste es ja bereits. Den Teil, dass ich bald sterben müsste, ließen sie einfach aus. Ich hab es noch niemandem erzählt. Nicht einmal Flo. Ich weiß nicht, ob es richtig ist.
Laura wittert schon was. Ich bringe es nicht über mich, ihr das zu sagen. Bringt sie das nicht mit um? Fragen über Fragen und ich kann keine einzige beantworten. Ich hasse dieses Leben.

10.Dezember.2004
Habe es heute Flo erzählt. Er ist voll fertig. Genau das ist es, was ich Laura ersparen will. Meinem Lieblingsschwesterchen. Sie wird mir fehlen. Sehr sogar, wenn ich mal nicht mehr bin. Ich hätte nie gedacht, dass ich mir so früh Gedanken über den Tod machen muss.

11.Dezember.2004
Ich fühle mich jetzt schon innerlich tot, obwohl ich noch nicht einmal weg bin.

12.Dezember.2004
Ich finde mich langsam damit ab. Ist ein Scheißgedanke. Ich möchte die letzten Tage, die ich habe, noch genießen und ich will noch die Deutsche Meisterschaft. Nur für Laura, damit sie stolz auf mich ist und mich richtig in Erinnerung behält.

13.Dezember.2004
Mir wird ständig schwarz vor Augen. Heute in der Schule bin ich einfach so ohnmächtig geworden. Wir waren im Krankenhaus. Mir hatte man mal wieder die Softversion gegeben, aber als der Arzt mit meinen Eltern im Nebenzimmer geredet hat, hab ich alles gehört. Aus diesen Monaten wurde plötzlich keine sechs Wochen mehr. Sechs Wochen und ich bin tot.

14.Dezember.2004
Bin gerade auf dem Weg zur Meisterschaft. Laura schläft neben mir. Sie sieht so süß aus. Ich hab sie fotografiert. Ich werde jetzt auch schlafen. Wird schwierig morgen.

15.Dezember.2004
Habe die ganze Nacht gefeiert. DEUTSCHER MEISTER 2004!!! Ich kann es nicht glauben. Das ist so wahnsinnig geil. So überwältigend. Laura hatte gleich ein Geschenk für mich! Sie hat gesagt, sie wusste schon, dass ich gewinnen würde. Weil ich angeblich der Beste war. Für sie, hatte sie noch hinzugefügt. Beim Feier wurde mir schon wieder ständig, schwarz vor Augen, mir war schlecht und ich hab ziemlich schwer geatmet. Gesagt habe ich natürlich nichts.
Jetzt kann ich sterben. Jetzt ist es gut.

Danach hörte es auf. Kein weiterer Eintrag. Nichts. Ich wischte die letzten Tränen von meinem Gesicht.


10

Ich konnte in dieser Nacht nicht schlafen. Ich ging wieder nicht zur Schule. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Marco sich abgefunden hatte mit seinem frühen Tod. Irgendwie nahm es ein klein wenig von dem Schmerz. Aber dennoch verstand ich nicht, wieso er dann, obwohl er doch bald sterben musste, dort, mitten auf der Skipiste starb. Vielleicht hatte er eine Herzattacke? Ist ihm wieder schwarz vor Augen geworden und er hat die Kontrolle verloren? Wenn ich nur die Antwort wüsste…

Phil war nun schon drei Tage weg. Drei Tage, in denen ich weinte bis ich keine Tränen mehr vergießen konnte. Ich würde zu gern wissen wollen, was er gerade tat. War er schon in seinem neuen Fußballverein kicken? Trifft er sich schon mit neuen Freunden? Dachte er an mich? Doch die größte Frage, die mich beschäftigte: Hatte er schon ein anderes Mädchen im Arm? Das würde ich nicht überstehen. Das wäre mein Todesurteil, das er unterschrieb. Ich klappte mein Notebook auf. Ich schaltete es ein und gab das Passwort ein. Phil. Lächerlich, dachte ich in diesem Moment. Ich würde es sofort ändern, da war ich mir sicher. Ich klickte auf das Internet-Symbol. Meine Startseite öffnete sich und es war genau die Site, zu der ich wollte. Facebook. Ich loggte mich ein und hatte mich erst einmal durch geschätzte fünfzig Mails zu kämpfen. Doch keine einzige war von Phil dabei. Enttäuscht suchte ich Phils Profil, doch als es sich öffnete, stand in großen Buchstaben:


Seite gesperrt!
Der Nutzer hat festgelegt, dass seine Seite für dich gesperrt ist.


Ich konnte es nicht fassen. War er jetzt schon so erbärmlich, dass er seine Seite für mich sperren musste? Doch gleichzeitig war es für mich auch so verletzend. Verletzender, als ich gedacht hätte. Denn jetzt war der Kontakt ganz abgebrochen. Ich nahm mein Handy, auf dem zu viele verpasste Anrufe und zu viele Sms waren, um alle zu lesen, rief ihn zehn Mal hintereinander an, weil ich nicht glaube konnte, dass er auch noch seine Nummer geändert hatte. Wusste er eigentlich, was das in mir auslöste? Wie konnte er das nur tun? Wie konnte er nur? Das war so extrem, dass ich am liebsten das Handy gegen die Wand geschmissen hätte.
Ich bekam eine neue Nachricht von Cassy:


Cassandra Miller

27.05.2010 um 17.16 Uhr

Süße, wie geht’s dir?
Wir vermissen dich alle sehr. Wir müssen unbedingt reden. Du weißt ich bin immer für dich da und du kannst mir alles sagen. Ich muss endlich wissen, was dieses Arschloch zu dir gesagt hat.
Ich hoffe, er war nicht zu verletzend…
Hat er etwa deine Seite auch gesperrt? Idiot.
Hoffentlich sehen wir uns bald wieder.
Ich liebe dich.♥
Cassy


Lola Stattler

27.05.2010 um 17.20 Uhr

Ich kann nicht. Es war zu krass, verstehst du?
Tut mir Leid. Ich weiß auch nicht, wann ich wieder in die Schule komme.
Ja, er hat die Seite gesperrt.
Ich will nicht mehr.
Ciao. ♥
Lola


Ich loggte mich wieder aus. Ich weiß, das war nicht das, was sie hören wollte, aber es ging einfach nicht. Ich konnte ihr jetzt nicht schreiben, wie es mir ging und auch am Telefon konnte ich ihr nicht erklären, was sich in mir tat. Dass sich alles in mir umdrehte, wenn ich an ihn dachte und da ich das die ganze Zeit tat, war das ein Dauerzustand. Ich wollte den Aus-Knopf finden, doch scheinbar gab es den nicht. Ich war schon wieder müde, obwohl es erst früher Abend war. Langsam trottete ich in die Küche, um etwas zu essen, denn seit Phil weg war, hatte ich nicht viel gegessen. Pro Tag hatte ich nur einen Apfel und eine Banane gegessen. Demnach grummelte mein Bauch nun gewaltig. Ich stellte mich vor den Kühlschrank und sah mir die Einlage an. Butter, Käse, Wurst, Gemüse, Obst, was man eben sonst noch alles so darin hatte, und jede Menge Colaflaschen. Sie waren für meinen Vater bestimmt. Er brauchte das, um nicht ständig einzuschlafen, weil er so viel zu arbeiten hatte. Gestern Nacht, ich lag schon wieder stundenlang wach, hörte ich ihn um zwölf Uhr nach Hause kommen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das gesund war auf die Dauer. Ich erblickte in einer hinteren Ecke des Kühlschranks eine blaue Tupperdose. Ich holte sie hervor und sah mir den Inhalt genauer an. Es war der Rest des gestrigen Abendessens meiner Mum. Spaghetti Carbonara. Ich stellte eine Pfanne auf den Herd und schaltete ihn an. Ich gab den ganzen Inhalt, nachdem ich bereits ein klein wenig Butter hineingetan hatte, in die Pfanne. Ich erwärmte es nur ganz leicht. Ich hasste zu warmes Essen. Genauso wie Marco früher. Nur aus dem Grund, weil man so lange warten musste bis es abgekühlt war, um endlich mit dem Essen zu beginnen. Ich nahm die Pfanne vom Herd und tat alles auf einen Teller. Alleine setzte ich mich an den Tisch und aß meine Nudeln. Es war mir zu still. Ich schaltete das Radio ein. Comedy. Schlechte Radiocomedy. Ich wollte schon fast wieder ausschalten, doch dann kamen die Nachrichten. Eigentlich interessierte ich mich dafür wenig bis gar nicht, nur bei großen Ereignissen hörte auch ich genauer hin. Ich hoffte so sehr auf eine Nachricht, die vielleicht von Phil handeln könnte. Ich wünschte mir fast schon, dass er vielleicht einen Unfall hatte, aber verwarf den Gedanken sofort wieder. Ich würde mir nie verzeihen können, wenn ihm etwas zustieß. Das wäre wohl noch schlimmer, als würde mir selbst etwas passieren. Hätte Phil, mein Phil mir nicht von Anfang an sagen können, dass er mir nur das Herz brechen wollte? Dann hätte ich mich einfach darauf eingestellt und mich niemals so sehr in ihn verliebt. Mein Herz hätte ich nicht so leicht hergegeben. Nein, ich hätte es überhaupt nicht hergegeben. Er hatte es jetzt und ich hatte kein Herz mehr. Das hatte er einfach mitgenommen, er hat mich nicht einmal gefragt, ob er es mitnehmen darf. Ich stach mit der Gabel auf den Teller, doch da war nichts mehr zum Aufspießen. Ich stand behäbig auf und stellte alles in die Spülmaschine. Ich nahm ein Tuch vom Ständer, wischte den Tisch ab und legte es zurück. Ich öffnete einen der Hängeschränke, um mir einen Teebeutel zu holen. Ich zog eine Schachtel heraus. Pfefferminztee. Ich brühte ihn in dem silbrig glänzenden Wasserkocher auf. Die Tasse mit dem Tee war warm und das löste ein kleines Zucken in mir aus. Ich erinnerte mich an den Tag im Atrium, in der Schule. Als es mich genauso durchzuckt hatte. Nur war da jetzt kein Phil mehr, der mir seine Jacke anbot.

Das Schulgebäude ragte hoch vor mir auf. Zu lange war ich hier schon nicht mehr gewesen. Seit Phils Weggang war nun schon eine Woche vergangen. Eine Woche in der ich leiden musste, wie ich es noch nie getan habe. In der ich mich damit abfinden musste und in der ich nur an ihn denken konnte. Doch ich wollte nicht das traurige Mädchen sein, das in ihrem Liebeskummer versank. Auch wenn ich wusste, dass ich es tat, würde ich meinen Freunden und den anderen Leuten, die ich kannte, ein glückliches, freies Mädchen vorspielen. Das konnte ich sowieso gut. Ich tat es ja sowieso schon die ganze Zeit. Da spielte es keine Rolle mehr, ob ich noch ein paar Mal log oder nicht. Ich hatte mein Fahrrad in den Radständer gestellt. Suchend blickte ich mich um. Phils Rad war nicht da. Mein Gehirn arbeitete, wo er sein könnte, bis mir klar wurde, dass er doch gar nicht mehr hier war. Ich sperrte mein Fahrrad ab, drehte mich um und steuerte auf die Clique zu.
„Lola! Oh mein Gott! Endlich bist du wieder da.“ Langsam zog ich meine Mundwinkel nach oben. Es war schon eine Weile her, dass ich gelächelt hatte. Es war fast ein komisches Gefühl.
„Hi, Leute.“ Ich blickte verlegen in die Gruppe und winkte. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte.
„Komm! Lass dich drücken, Süße!“ kam mir Cassy ungewollt zu Hilfe und nahm mich fest in den Arm. Die anderen taten es mir nach. Bis auf Max. Der legte mir nur die Hand auf die Schulter und murmelte ein leises: „Tut mir Leid für euch.“ Danach senkte er den Kopf und stellte sich ein Stück weg von mir. War das eine Anweisung von Phil? Nick legte den Arm um mich. Ich zuckte so sehr zusammen, da ich so erschrocken war, weil ich dachte Phil wäre es, dass er sofort losließ.
„Ich wollte dich nicht erschrecken. Sorry.“
„Schon okay, Nick. Es war nur…ach egal.“
Zusammen gingen wir alle in das Schulgebäude. Es war fünf vor acht. Wir kamen einmal nicht zu spät. Im Klassenzimmer setzte ich mich still an meinen Platz. Ich war nicht lange weg gewesen, doch war mir dieser Ort fast schon ungewohnt. Jahr für Jahr ging ich hierher, doch war er weg, kam mir sogar das alles hier leer und trostlos vor.
„Lola?“ Cassy stieß mich an. Ich drehte den Kopf zu ihr.
„Lola, wie geht es dir jetzt eigentlich?“ flüsterte sie. Vor dieser Frage hatte ich mich gefürchtet.
„Gut. Wirklich gut. Mir ging es nie besser, weißt du?“ log ich und eine einzelne klitzekleine Träne tropfte auf das aufgeschlagene Heft vor mir. Cassy legte ihre Hand auf meinen Oberschenkel und streichelte ihn. Dann nahm sich mich ganz kurz in den Arm, so, dass der Lehrer es nicht mitbekam. Das tat gut, doch lieber wäre ich in seinen Armen gelegen. Wann nur würde der Schmerz gehen? Würde er überhaupt einmal weg sein? Und gab es denn verdammt noch mal kein Wundermittel, das mir zumindest nachts nicht den Schlaf raubte?


11

Maximilian Milter

05.06.2010 um 20.30 Uhr

Es tut mir echt Leid für dich, dass Phil sich so scheiße verhalten hat. Das war von ihm alles nicht so geplant gewesen. Ich hätte so gerne, dass du ihn verstehst, aber ich glaube, das geht nicht. Das was er gesagt hat, ist zu krass gewesen. Ich weiß echt nicht, wie er darauf kommt, dir so etwas zu sagen. Das passt überhaupt nicht zu ihm. Auch wenn du es nicht glauben wirst, du warst immer das einzige Mädchen, das Phil je geliebt hat und wenn du wissen würdest, wie sehr er dich immer noch liebt, würdest du vieles aus anderer Sicht sehen.
Ich habe viel mit ihm telefoniert die letzten paar Tage. Ich sollte dir eigentlich nichts von ihm erzählen, er will dich nicht verletzen, verstehst du? Aber ich finde, du hast ein Recht darauf, es zu erfahren. Er macht sich die größten Vorwürfe, dass er dir so wehgetan hat. Ihm geht es wirklich scheiße und er hat seine Seite nur aus dem Grund gesperrt, weil er zusammenbrechen würde, wenn ihr miteinander schreibt. Alles, was er jemals zu dir gesagt hat, hat er wirklich ernst gemeint. Er hat mit mir, bevor er dir die Kette geschenkt hat, stundenlang überlegt, was er eingravieren lassen könnte, damit es die richtige Aussage hat. Wenn es um dich ging, konnte er tagelang nichts mehr essen. Ich kenne keinen Menschen, der durch den Tod gegangen wäre für seine Freundin.
Ich wollte einfach nur, dass du das weißt. Wenn ich irgendetwas für dich tun kann, dann sag es ruhig. Ich bin immer für dich da, vergiss das nicht.
Max♥


Lola Stattler

05.06.2010 um 20.45 Uhr

Schön, dass er mir eigentlich nicht wehtun wollte, aber er hat es leider getan. Ich kann diese Worte einfach nicht vergessen, sie gehen nicht aus meinem Kopf heraus, deshalb fällt es mir so schwer, deinen Worten zu glauben. Ich habe ihn wirklich geliebt und ich liebe ihn immer noch, aber das was er gesagt hat, hinterlässt so tiefe Narben, das kannst du dir nicht vorstellen. Ich dachte immer, er wäre DER RICHTIGE. So lange war ich mit ihm zusammen und ich wollte noch so viele Jahre mit ihm sein. Aber das geht ja jetzt nicht mehr. Ich verstehe nicht, wie er mir so etwas sagen kann. Ich habe keine Erklärung dafür gefunden. Leider. Es ist so unnormal, dass er nicht mehr hier ist. Ich habe zu nichts mehr Lust, ich kann nicht mehr essen, nicht mehr richtig schlafen.
Ich muss darüber nachdenken. Ich kann jetzt auch nicht mehr dazu sagen, ist alles zu…zu frisch.
Wie ist es eigentlich für dich, dass er jetzt weg ist? Damit hast du eigentlich deinen besten Freund verloren.
Danke, Maxilein. Danke, dass du da bist.
Lola♥


Maximilian Milter

05.06.2010 um 21.03 Uhr

Ich verstehe dich wirklich gut. Du musst auch nicht mehr sagen, das ist schon ok.
Natürlich ist das nicht gerade eine perfekte Situation. Ich vermisse ihn auch, aber noch geht es, wir telefonieren ja jeden Tag. Ich weiß nur nicht, ob sich das nicht auseinander läuft. Er findet sicher bald neue Leute, das ist für ihn ja nicht schwer. Er hat ja, als er zu uns kam, auch sofort Anschluss gefunden. Ich weiß nicht, ob ich ersetzbar bin für ihn. Vielleicht kommt er ja irgendwann zurück…
Ich muss jetzt gehen. Ich muss noch duschen und ein bisschen lernen. Ich habe morgen einen Test in Englisch.
Gute Nacht und träum was Schönes.
Max♥


Lola Stattler

05.06.2010 um 21.06 Uhr

Lass uns wann anders weiterreden.
Viel Glück morgen, ich werde an dich denken. Du packst das schon.
Gute Nacht und schlaf gut.
Lola♥

Wenn ich Max nur glauben könnte…


12

Ich schob das Fahrrad die Rampe hoch. Mir schien, als seien Jahre vergangen seit ich das das Letzte mal getan hatte. Es war elf Uhr. Ich stieg auf es und trat in die Pedale. Nicht so fest, ich wollte nicht schnell fahren. Ich fuhr Richtung Fluss. Ich hatte ein roséfarbenes Pliseekleid an und eine kleine Blume im Haar. Meine blonden Haare hatte ich mit dem Lockenstab leicht eingedreht. Vor mir lag im Korb meine schwarze Tasche. Der Fluss ließ alte Erinnerungen wieder aufkommen. Ich erinnerte mich an damals, als ich mit ihm noch ein wenig am Fluss saß, als er mir die Blumen gepflückt hatte. In den letzten zwei Wochen hatte ich versucht, Phil aus meinem Kopf zu verbannen. Es gelang mir gut, vor allem vor meinen Freunden. Einzig, wenn ich alleine war, kam er zurück in meine Gedanken. Aber ansonsten war ich glücklich, zumindest tat ich so. Innerlich fühlte ich mich gleich ausgebrannt wie zuvor. Wir hatten jetzt Ferien und ich fuhr erst in der letzten Woche weg. Komischerweise flog ich mit meinen Eltern mit nach Sydney. Eigentlich tat ich das schon lange nicht mehr. In den letzten Tagen hatte ich mich oft mit Max getroffen. Wir waren schwimmen gewesen, an dem kleinen See, an dem das Bild von Phils Plektron entstand. Wir waren zusammen in Berlin shoppen. Dort hatte ich mein Kleid gekauft, das ich heute trug und neue graue Pumps. Max hatte einen neuen Cardigan in grau, eine neue Jeans und eine Jacke erworben. Mit nicht ganz so vollen Tüten waren wir dann noch in einer Disco bis wir um Viertel nach zwölf in den Zug nach Hause stiegen. Max hatte bei mir geschlafen, weil seine Eltern nicht da waren. Irgendwie war es ein seltsames Gefühl gewesen neben dem besten Freund meines Ex-Freundes zu liegen. Er war mir eine große Hilfe. Er versorgte mich mit ein paar kleinen Informationen, nur solche Dinge, ob es ihm gut ging. Denn das interessierte mich am meisten. Ich würde nämlich nicht wollen, dass es ihm schlecht geht. Zum Hassen liebte ich ihn immer noch zu sehr. Max versuchte ständig, mich zum Lachen zu bringen und mir meine Sorgen zu nehmen. Ich hatte ihm viel anvertraut von meinen Ängsten, ihn sehr ins Herz geschlossen trotz der Tatsache, dass viele Leute glaubten, zwischen ihm und mir würde etwas laufen, aber ich versicherte jedem Einzelnen, dass es nicht so war. Obwohl ich mir manchmal gar nicht so sicher war, ob Max das nicht auch so sah. Ich würde mich so gerne einmal mit Cassy treffen wollen, aber sie war bei ihrer großen Schwester in Florida. Sie studierte dort und wohnte in einer WG mit zwei anderen Studentinnen, allerdings Amerikanerinnen. Cassy wollte sowieso ein bisschen besser Englisch sprechen können und das in Verbindung mit heißen Beachboys war für sie der größte Traum ihres Lebens. Das mit Fabs war in die Brüche gegangen und zwar ziemlich schnell. Schien ihr aber gar nichts auszumachen. Die letzten paar Tage ging es bei ihr nur noch um die Vorbereitung für Florida. Ich hatte ihren iPod einmal mit eingepackt, um ihr noch ein paar Urlaubssongs darauf zu spielen. Sie hatte sich riesig gefreut. Fünf Wochen würde sie weg sein. Ein bisschen neidisch war ich schon, aber ich gönnte es ihr. Das war ihr erster Urlaub seit Langem mal wieder. Wir blieben die ganze Zeit in Kontakt, schrieben uns über Facebook oder schrieben uns SMS. Ich musste natürlich ganz genau wissen, was bei ihr alles so abging. Gestern erst war sie mit einem blonden Surfer aus gewesen. Muss gut gewesen sein. Ich war gerade an unserer Schule vorbei gefahren und näherte mich langsam dem Stadtrand. Ich musste unbedingt zum Friseur, denn man sah meinen dunklen Ansatz wieder ein kleines bisschen. Doch eigentlich wollte ich eine komplett neue Haarfarbe. Parruchiere Roberto hieß sein Laden. Er war einer der besten Friseure in ganz Hamburg. Und auch nicht unbedingt der Billigste. Ich lehnte mein Rad an die Hauswand vor seinem Laden und drehte an dem Zahlenschloss, um es abzuschließen. 2811. Phils Geburtsdatum. Kopfschüttelnd setzte ich meine Sonnenbrille ab und lief die Stufen zur Tür hoch. Mit einer ausladenden Geste öffnete mir Francesca, seine Frau, die Tür und empfing mich mit zwei Küsschen links und rechts auf die Wange und einer herzlichen Umarmung.
„Roberto, c’è Lola! Veni subito!“ rief sie ihrem Mann zu. Der blickte jetzt auf von seiner Arbeit, er schnitt gerade einer braunhaarigen, hochgewachsenen und ziemlich gut gekleideten Frau die Haare. Sie hatte einen Pony, der gerade über den Augen abgeschnitten war. Roberto stürmte auf mich zu und wiederholte das Ritual seiner Frau.
„Lola, come stai? Come stai? Setz dich doch.“ Er zog einen der beigefarbenen Drehstühle zurück und zeigte mit der Hand auf die Sitzfläche. Ich kam seiner Bitte nach. Mit einem kurzen „Un momento“ verließ er mich und ging zurück zur anderen Kundin. Ich blickte nach vorne. Der Spiegel war oval und hatte außen herum goldene Verzierungen. Dieses Gesicht, das mich daraus anstarrte, hatte ich schon zu oft gesehen und irgendwie widerte es mich an. Ich musste wirklich schleunigst etwas ändern. Roberto schien fertig zu sein, denn er kam jetzt mit großen Schritten auf mich zu, während ich hörte, wie Francesca die andere Kundin verabschiedete.
„Was kann ich für dich tun, Bella?“ Er sprach richtig gutes Deutsch, obwohl er Vollblutitaliener war und erst seit zehn Jahren hier wohnte. Zehn Jahre sind schon eine lange Zeit, doch um Deutsch so akzentfrei sprechen zu können, war respektabel. Ich erklärte Roberto genau, wie ich meine Haare nun geschnitten und gefärbt haben wollte. Roberto legte eine Farbpalette mit Kunsthaaren vor mir auf die kleine Ablage. Ich blätterte es kurz durch und hatte schnell meine Farbe gefunden. Hellgoldblond stand darunter. Roberto war hellauf begeistert, wie immer. Ob ich jetzt meine Haare grün oder blond oder wie auch immer färben würde, er fände es grandios. Ich wusste auch nicht so genau, weshalb er mich so mochte, aber unangenehm war es ja nicht. Zwei Stunden verbrachte ich beim Friseur und war begeistert von meiner neuen Frisur. Sie waren genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich hatte den Pony jetzt auch über den Augen abgeschnitten, doch war meiner viel voller als der, der Frau. Mein Haar war vorne abgestuft und fiel so leicht über meine Schultern. Es war total anders, als zuvor und ziemlich ungewohnt, aber ich gefiel mir so besser. Fast musste ich lachen, als ich daran dachte, dass man sagte, dass Frauen ihre Frisur änderten, wenn ihr Mann ging und ich es jetzt genauso tat, obwohl ich immer meinte, dass ich mich wegen einem Typen nie verändern würde.

Ich saß an dem kleinen Fluss ziemlich genau in der Mitte zwischen Schule und meinem Haus auf einem Stein. Mein Rad stand oben am Weg, ich war ein kleines bisschen näher an den Fluss herangegangen. Meine Tasche stand neben mir und ich hatte die Beine übereinander geschlagen von mir gestreckt. Ein kühler Windhauch erfasste meine neue Frisur und verwuschelte sie ein klein wenig. Ich fahndete in meiner Tasche nach meinem iPod. Ich schaltete ihn an und suchte in den Wiedergabelisten einen passenden Titel. Ich blieb bei einem Song hängen, dessen Text mich begeisterte. Phil hatte es mir einmal gezeigt. Eminem - When I’m gone.
Gerade als ich drohte, einzuschlafen, legte jemand seine Hand auf meine Schulter. Ich erschrak und zuckte zusammen. Ich drehte den Kopf nur leicht und konnte schon in Max’ Gesicht blicken. Er massierte meine Schultern leicht und gesellte sich dann neben mich. Ich rutschte, damit er Platz hatte.
„Wahnsinnsfrisur, Schöne. Steht dir richtig gut.“, behauptete er mir. Er strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Was hast’n da gerade gehört?“
„Eminem“, gab ich ihm wieder. Irgendwie war es mir heute unangenehm, dass er da war. Ich wäre lieber noch ein bisschen alleine gewesen, aber anstatt ihn wegzuschicken, erkundigte ich mich: „Na, was hast du heute so gemacht, Mäxchen?“
„Ich war arbeiten. Du weißt schon, in der Buchhandlung meiner Tante. Ich helfe da immer aus, wenn mal jemand krank ist und in den Ferien verdien’ ich mir eben was dazu, dann kann mein Dad wenigstens nicht mehr sagen ich sei faul“, gab er bereitwillig zur Antwort und grinste mich breit an, sodass seine schneeweißen Zähne zum Vorschein kamen. Er sah richtig gut aus mit seinem grauen Cardigan mit den braunen, großen Knöpfen und der dunkelblauen Jeans. Nur seine Segelschuhe waren nicht ganz mein Geschmack. Max sah richtig gut aus, aber er hatte mich nie so sehr interessiert. Ich kannte ihn schon fast 5 Jahre, aber eine Beziehung könnte ich mir mit ihm nicht vorstellen. Dennoch mochte ich ihn sehr gern. Mittlerweile war er so etwas wie mein bester Freund. Ich konnte einfach über alles mit ihm sprechen, ihm alles anvertrauen. Genauso konnte er auch immer zu mir kommen, wenn er Probleme hat.
„Lola, also, ich…ich muss dir etwas sagen.“ Er kratzte sich am Kopf. Er starrte auf einen Grasbüschel, der sich von den anderen abhob. Als er wieder aufsah, konnte ich in seinem Gesicht ablesen, wie schwer es ihm fiel, sich zu überwinden, mir das zu sagen. „Phil hat mich gestern angerufen.“ Bei dem Wort ‚Phil’ wurde ich hellhörig. „Also, er…er…ach, scheiße. Er hat ’ne Freundin. Ich, also ich wollte nur, dass du das weißt. Es tut mir Leid.“ Er legte die Arme um mich, doch ich stieß sie weg. Tränen fingen ein Wettlaufen meine Backe hinunter an. Es gingen wohl so an die hundert Läufer an den Start. Ich zuckte zusammen.
„Lola, bitte! Ich will doch nur helfen!“
„Hau ab! Ich kann echt niemanden mehr sehen heute! Verpiss dich einfach!“, schrie ich ihn an. Mit jedem Moment, in dem ich weiter in sein Gesicht starrte, weil ich selbst noch so geschockt war, von dem, was ich gesagt hatte, sah ich, dass ich ihn gerade sehr verletzt hatte.
„Max! Max, es tut mir Leid. Ich wollte dich nicht anschreien. Ich bin nur so…“
„Ist schon ok. Ich muss jetzt gehen.“, sagte er vollkommen gekränkt zu mir. Ich stand also auf und ging auf ihn zu. Mir kam es so vor, als würde er ein Stück zurückweichen. Ich umarmte ihn trotzdem und sagte währenddessen: „’tschuldigung. Du weißt, dass ich das nicht wollte, aber Phil…“
„Hey, kein Stress, Liebes. Ich verstehe dich nur zu gut.“ Mit diesen Worten ging er endgültig. Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Jetzt hatte ich ihm wehgetan und eigentlich wollte ich das gar nicht, aber die Tatsache, dass Phil mich so leicht ersetzen konnte, war so niederschmetternd, dass ich gerne irgendetwas zerschmettert hätte. Wie konnte er mir das nur antun. Ich kramte Marcos altes Tagebuch aus meiner Tasche. Ich hatte es weitergeführt, als Phil weg war. Aber nicht als Tagebuch. Ich schrieb:

Liebster Marco,
Ich wünschte, du wärst jetzt hier. Ich wünschte, du würdest mir jetzt aufhelfen.
Bin ich denn so leicht ersetzbar? Sag es mir, verdammt. Weiß er überhaupt, was er mir damit antut? Jedes Mal, wenn er mir gesagt hat, dass er mich liebt, hat er gelogen. Das wird mir immer mehr klar. Er ist doch wie alle anderen Jungs, denen es Spaß macht, Mädchen das Herz zu brechen.
Ich kann kaum glauben, dass er jetzt diesem anderen Mädchen sagt, dass er sie liebt. Ich hasse sie, egal ob ich sie kenne.
Unglaublich wie man einen Menschen so sehr lieben kann, so sehr lieben, dass man sein Leben dafür geben würde, um die Liebe aufrecht zu erhalten. Und auch wenn er mich nicht mehr liebt, ich tue es immer noch und ich werde nicht damit aufhören. Er geht nicht mehr aus meinem Kopf heraus.
Ich sehne mich so sehr danach, endlich bei dir zu sein. Ob ich nun nachhelfe oder nicht. Denn, wenn der wichtigste Mensch der Welt, nachdem du tot bist, weg ist, lohnt es sich nicht mehr zu leben. Es hat keinen Sinn mehr ohne ihn…
In Liebe
Deine Lola

Ich trat in die Pedale, als versuchte ich vor etwas zu fliehen. Und ja, ich wollte weg, ganz weit weg. Irgendwohin, wo die Welt nicht Kopf stand, wo es keinen Schmerz gab. Ich hatte meine Schuhe ausgezogen und sie zusammen mit der Tasche in den Korb gelegt. Mein Magen krampfte sich so sehr zusammen, dass mir für kurze Zeit schwarz vor Augen wurde. Meine Hände zitterten unter der Anstrengung. Ich schwitzte. Wohin konnte ich jetzt gehen, um mir meine Probleme von der Seele zu reden? Max hatte ich vergrault. Cassy war in Florida. Marco war tot und zu niemandem aus der Clique konnte ich gehen, damit wir einfach mal über solche Themen redeten. Ich hasste das, wenn Leute anfingen jedem X-beliebigen von jedem kleinen Thema ihres „ach so furchtbaren“ Lebens zu erzählen. Das, was ich gerade fühlte, ging nur einen Vertrauten etwas an. Flo kam mir in den Sinn, doch irgendwie brachte ich das nicht über mich. Ich kam zu Hause an. Ich stellte mein Fahrrad schnell zurück in den Radkeller und steckte in Windeseile den Schlüssel in den Aufzug. Die Türen öffneten sich und ich trat in die Wohnung. Ich schmiss meine Schuhe in die Ecke und wollte gerade in mein Zimmer, als meine Mutter aus der Küche kam. Sie trug ein violettes Cocktailkleid, das ihrer schlanken Figur schmeichelte, und darüber eine schwarze Schürze. Sie trocknete sich gerade die Hände an einem Geschirrtuch ab.
„Eine schöne Frisur hast du da, Kind.“ Aus dem Augenwinkel, ich hatte meinen Blick auf den Boden gerichtet, konnte ich erkennen, dass sie leicht lächelte. Sie lächelte immer, wenn sie sich mit mir wieder versöhnen wollte. Sie entschuldigte sich nie, nein, sie lächelte immer nur.
„Du weinst ja. Was ist denn passiert, Liebes?“
„Was soll das? Dich hat es doch bisher nie interessiert seit Marco tot ist, was mit mir los ist. Wieso fängst du jetzt auf einmal an, dir um mich Sorgen zu machen?“. Ich schrie sie nicht an. Ich war plötzlich ganz ruhig. Dennoch verlieh ich meinen Worten Nachdruck. Ich drehte mich langsam um und verließ bedächtig den Raum. Meine Beine waren schwer und ich wollte nicht mehr stehen. Doch bevor ich in mein Bett klettern konnte, zog ich das verschwitzte Kleid aus und warf es in den Wäschekorb. Doch gerade als ich im Bett lag, öffnete meine Mutter die Tür und streckte den Kopf herein. Sie kam auf mein Bett zu und stieg die ersten paar Stufen empor. Sie sah zu mir herüber, ich hatte die Augen geschlossen.
„Kleines, das ist für uns alle schwer, dass Marco nicht mehr da ist. Ich habe immer versucht, mich um dich zu kümmern. Aber ich glaube, ich habe gedacht, dass ich meinen Schmerz und deinen verarbeiten kann. Doch ich konnte nur in meinem eigenen Schmerz versinken, verstehst du?“ Sie unterdrückte Tränen, die in ihr aufzusteigen drohten.
„Vielleicht“, murrte ich.
„Ich weiß, du kannst rein gar nichts dafür, dass er gestorben ist, doch trotzdem, konnte ich mir nicht erklären, wie du ihm nicht helfen konntest. Jedoch weiß ich es jetzt. Du warst noch zu klein und wie hättest du das anstellen sollen? Aber glaube mir bitte eines, auch wenn es schwer fällt, dass ich dich liebe und dass ich mir immer Sorgen um dich gemacht habe, wenn es auch nicht so scheint.“
„Du hast dir Sorgen um mich gemacht? Wann, sag es mir?! Ich habe seit er weg ist, kein einziges nettes Wort mehr von dir gehört. Dir war es egal, ob ich nachts nach Hause komme oder nicht. Ich hätte genauso gut tot sein können, du hättest es nicht einmal gemerkt“, fing ich an zu reden.
„Das stimmt doch überhaupt nicht! Natürlich hatte es mich interessiert, wo du dich herumtreibst, nur habe ich mir immer gedacht, dass du deinen Spaß haben sollst, bevor du ihn nicht mehr ausleben kannst. Bevor du mir vielleicht auch noch genommen wirst.“ Und mit einem Mal wurde es ganz still in unserer Wohnung. Nur ein paar Fenster klapperten verdächtig und dann fing es auch schon an, in Strömen zu regnen. Meine Mutter sprang auf und rannte mit den Worten: „Ich muss die Fenster schließen, bin gleich wieder da!“ heraus. Nach ein paar Sekunden kam sie wieder.
„Na, komm. Gehen wir in die Küche, dann machen wir uns eine heiße Schokolade. So wie früher und dann erzählst du mir, weswegen du weinst, ok?“ Einen kurzen Moment überlegte ich, ob ich dieses Angebot annehmen sollte, doch ich willigte ein. Vielleicht war das Beginn einer neuen Annäherung.


13

Seit drei Tagen regnete es nun unermüdlich. Ich fragte mich, wie lange das noch so weitergehen würde. Ich hatte mit meiner Mum über vieles geredet, doch hauptsächlich über Phil. Sie konnte nachempfinden, wie ich mich fühlte und sie gab mir nicht diese ‚Tipps’, wie beispielsweise „Andere Mütter haben auch schöne Söhne“. Denn das brachte mir in meiner Situation rein gar nichts. Langsam näherten wir uns wieder einander an, doch das war schwer. Denn fünf Jahre, in denen man im Dauerstreit lag, können ein Verhältnis zu einem Menschen zerstören. Trotzdem versuchten wir es wenigstens. Ich saß seit einem gefühlten Jahr hier auf dem Fensterbrett, dabei waren es gerade einmal zwei Stunden. In dieser zeit hatte ich Phils Foto so oft in Händen gehalten, dass es schon ganz knittrig war. Ich griff umständlich auf meinen Schreibtisch und holte Marcos Tagebuch. Ich klappte es auf.

Liebster Marco,
Die Welt geht unter und ich bin hier, um mit ihr unterzugehen. Weißt du, es kommt mir so irreal vor hier am Fenster zu sitzen und den Regentropfen dabei zuzusehen, wie sie am Fenster hinunter rinnen. Irreal, weil ich in seinen Armen liegen will.
Ich liebe Phil so sehr, dass es fast komisch erscheint, dass er schon gar nicht mehr da ist.
In Liebe
Deine Lola

Ich warf das Buch auf mein Bett. Es krachte, weil es an die Bettkante gestoßen war. Ich schreckte kurz auf, aber weiter interessierte es mich nicht. Ich starrte noch ein bisschen weiter nach draußen. Die Straße war schon ganz dunkel vom Regen und ganze Regenbäche flossen in die Abwasserkanäle. Von Zeit zu Zeit fuhren Autos vorbei. An ihnen spritzte das Wasser hoch und beschmutzte die zumeist Chromglänzenden Autos. Hier würde so gut wie nie ein Auto vorbeikommen, das älter als Baujahr 2000 war. Außer es war ein Oldtimer. In unserer Wohngegend wohnten nur reiche Leute, die mit Geld nur so um sich schmissen. Ich machte auch bei uns keine Ausnahme. Wir versuchten ebenfalls nicht unseren Reichtum zu verbergen. Wir fuhren vier Autos: ein Porsche Cabrio, einen Lamborghini, ein Mini und einen Porsche Cayenne. Nichts, was man einfach so anschaffte. Das war das Fuhrwerk meines Vaters. Er hatte lange dafür gearbeitet, um das Geld für all diese Autos zu haben. Gerade rollte ein Junge mit tropfnassen Klamotten und Haaren, die ihm vom vielen Regen am Kopf klebten, über die Straße. Er sah kurz hoch zu meinem Fenster. Es war Nick. Ich winkte, aber er konnte mich eigentlich nicht gesehen haben. Er fuhr also einfach weiter. Meine grasgrüne Sarouelhose mit den pinkfarbenen Rosen war ein bisschen knittrig. Ich liebte diese Hose, weil sie luftig war, aber gleichzeitig nicht zu kalt. Ich trug unseren Schulpullover, auf dem in dicken schwarzen Buchstaben auf grauem Grund ‚EWG’ stand und der mir viel zu groß war. ‚EWG’ stand für Emilie von Wüstenfeld-Gymnasium. Es war eines der renommiertesten Gymnasien in der Region und war strenger als viele andere Schulen, aber wir Schüler waren alles andere als Streber. Es klopfte an der Tür. Die Klinke wurde heruntergedrückt und meine Mutter streckte ihren Kopf herein. Sie lächelte warm und herzlich.
„Kommst du? Essen ist fertig.“ Sie drehte sich um und ich stand beschwerlich auf. Vom vielen Herumsitzen tat mir jeder Knochen weh. Ich tappte in die Küche, in der der Tisch schon gedeckt war. Für drei. Mein Dad stand in Schürze vor dem Herd und rührte in einem großen Kochtopf. Meinen Vater einmal nicht in Anzug, Hemd und Krawatte zu sehen, war ungewohnt. Ein angenehmer Geruch lag in der Luft. Ich hievte mich auf den Stuhl und starrte auf den vor mir liegenden Teller. Meine Eltern kamen ebenfalls zum Tisch und stellten die Töpfe und Pfannen darauf. Es gab Spaghetti Bolognese. Meine Mutter nahm meinen Teller entgegen, den ich ihr hinhielt und griff nach der Nudelzange. Sie fing ein paar Nudeln auf und legte sie auf den Teller, dann griff sie den Schöpflöffel auf und gab ein bisschen Bolognese Soße dazu. Der Geruch der frischen Tomaten stieg mir in die Nase. Als meine Eltern ebenfalls die Teller nicht mehr leer hatten und sich hingesetzt hatten, begann ich zu essen. Ich stocherte völlig lustlos mit der Gabel im Essen herum.
„Jetzt iss doch was! Oder hast du etwa keinen Hunger?“, wurde ich in freundlichem Unterton von meiner Mutter gefragt. Es hörte sich ziemlich geschauspielert an.
„Nein, nein. Nur JETZT gerade nicht.“ Eigentlich hatte ich keinen Hunger, weil ich keine Lust auf ein Friede-Freude-Eierkuchen-Abendessen hatte. Hätten wir jetzt alle noch ein Lächeln auf den Lippen, würden wir wahrscheinlich aussehen wie eine Bilderbuchfamilie. Oder eine Familie aus diesen Werbungen, die irgendwelche Cornflakes lobpreisten. Cornflakes, von denen behauptet wurde, dass sie „für die ganze Familie“ seien, dann aber den Kindern nicht schmeckten, weil sie nur aus Haferflocken und Obst bestanden.
„Habt ihr schon gepackt?“, erkundigte sich mein Vater. Ich nahm eine große Gabel vom Essen.
„Ja, sicherlich, mein Schatz. Ich hoffe, ich habe nichts vergessen.“ Ich könnte mich übergeben bei ihrem Tonfall. Der Blick meiner Eltern fiel auf mich. Ich sah auf.
„Ähm, nein. Noch nicht.“
„Du bist dir schon im Klaren darüber, dass wir übermorgen fliegen?“ Ihre alten Sticheleien kamen wieder durch. Sie Wut machte sich immer bemerkbarer. Das musste auch meine Mum beobachtet haben. Ein warmes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Ich wollte ihr das Lächeln aus dem Gesicht schlagen, aber ich ballte nur meine Fäuste unter dem Tisch zusammen. Wieso fing sie nur immer wieder damit an?
„Sicher, weiß ich das. Deswegen fang ich gleich mal an mit Packen, dann muss ich wenigstens nicht mehr hier sitzen bleiben.“ Ich nahm den letzten Bissen und stand auf. Ich stellte sowohl Teller und Besteck, als auch mein Glas auf die Spüle und verließ den Raum.
„Aber du kannst doch jetzt nicht…“, fing meine Mutter an zu klagen.
„Ich kann mehr, als du dir vorstellen kannst.“

Unsere Koffer standen bereits vor der Haustür. Zwei große schwarze und zwei knallpinkfarbene Koffer. Das war meiner. Mein Vater fuhr mit dem Porsche Cayenne vor und stieg aus. Wortlos packte er alles in den Kofferraum und stieg nun wieder ein. Meine Mutter und ich taten es ihm nach. Die beigefarbenen Sitze waren bereits vorgeheizt, denn die Temperaturen waren ziemlich gesunken. Meine weiße Fleecedecke mit den roten Herzen lag schon zusammengefaltet auf dem Mittelsitz. Bis zum Flughafen würden wir eine halbe Stunde brauchen. Ich breitete die Decke aus und deckte mich zu. Ich kramte meinen iPod aus meiner kleinen dunkelbraunen Louis Vuitton- Tasche. Ich steckte die weißen Kopfhörer in die Ohren, tippte auf den Bildschirm und suchte nach einem Lied, das das regnerische Wetter ein klein wenig unterstrich. Die Hochhäuser zogen an mir vorbei und irgendwann kamen nur noch Felder und Wiesen, die sich neben der Autobahn befanden. Wir fuhren auf das Gelände des Flughafens.


14

Völlig erschöpft ließ ich mich in die weichen Kissen auf dem Bett fallen. Ich starrte auf die Zimmerdecke, dort oben hing ein Bild einer Skyline, ich schätzte, die von Sydney. Das Bettlaken roch nach einem penetranten Waschmittel. Irgendwo hatte ich das schon einmal gerochen. Wir bewohnten ein Appartement im vierten Stock eines Fünf-Sterne Hotels. Alles hier war stilsicher eingerichtet und der Großteil der Außenwände war fast vollständig verglast und bot so einen gigantischen Blick über ganz Sydney. Vor einer Glaswand war ein Brett angebracht, auf dem ein paar Kissen säuberlich, fast penibel angeordnet lagen. Ich stand auf und begab mich dorthin. Von der Aussicht, die ich jetzt auf mich wirken ließ, war ich überwältigt. Weiter weg konnte ich die Oper sehen und ein Stück näher den Strand. Es war 3 Uhr nachmittags und wir wollten heute Abend noch schick Essen gehen. Ich stand wieder auf und ging zu meinem Koffer, um ihn auszupacken. Zuerst jedoch öffnete ich den riesigen hölzernen Schrank und nahm ein paar Kleiderbügel heraus. Ich zog meine Kleider heraus und hängte sie auf die Bügel, eines jedoch legte ich auf das Bett. Ich würde es heute Abend tragen. Den Rest legte ich zusammengefaltet in die Regalfächer und schloss die Türen. Ich zog mich aus und warf die kompletten Klamotten über einen Stuhl. Nackt lief ich ins Bad und legte mich in die Badewanne. Marcos Tagebuch hatte ich bereits zuvor auf die Holzablage neben der Badewanne abgelegt.

Liebster Marco,
wir sind gerade angekommen, aber das hast du ja sicher bereits gesehen. Siehst du mich hier eigentlich genauso gut?
Ich hoffe, ich kann mich hier ein bisschen von ihm ablenken. Ein bisschen Spaß haben und nicht mehr so viele Schmerzen erleiden müssen.
Was meinst du wohl, wie man den Stoff nennt aus dem Träume sind? Traumit? Traumium? Traumoxid? Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass viele Menschen Träume haben, die sie sich erfüllen können oder die ihre Träume fallen lassen. Mein Traum ist es, seine Lippen wieder auf meinen spüren zu dürfen.
In Liebe
Lola

Ich hörte die Tür ins Schloss fallen. Jemand hängte eine Jacke an den Garderobenhaken. Das Geräusch von hohen Schuhen kam immer näher. Ich stieg aus der Badewanne und trocknete mich mit dem Handtuch ab. Danach wickelte ich es um mich und befestigte es. Langsam öffnete ich die Badezimmertür und streckte den Kopf erwartungsvoll heraus. Meine Mutter stöckelte gerade vorbei und drehte sich zu mir um.
„Mach dich fertig, Kind! Wir fahren in zwei Stunden.“ Sagte sie affektiert und ich war der festen Überzeugung, dass sie an der Bar mit Papa zu viele Drinks hatte. Wie jedes Mal seit wir in die „High Society“ aufgestiegen waren. Ich hatte nur noch zwei Stunden, um mich für das Großstadtleben Sydneys schick zu machen. Ich ging zurück ins Bad, steckte den Föhn in die Steckdose und föhnte meine Haare auf der obersten Stufe.

Mit meinem cremefarbenen Kleid, das bis zu den Knöcheln reichte und ab der Taille aufging, stand ich nun im Aufzug. Neben mir meine Eltern, die beide nicht weniger schick angezogen waren. Meine Mutter trug ein schwarzes langes Kleid und mein Vater einen Anzug. Beim Aussteigen hob ich das Kleid an, um mit meinen Pumps nicht darüber zu stolpern. Anmutig versuchte ich nun die breiten Treppenstufen unseres Hotels hinunterzulaufen. Und da sah ich ihn zum ersten Mal. Er musterte mich von oben bis unten, dann zerrte ihn ein groß gewachsener Mann, mittleren Alters aus dem Hotelkomplex. Ich verlos fast das Gleichgewicht, so überwältigt war ich von seinem Anblick, denn gut sah er allemal aus. Und was sprach schon gegen einen Urlaubsflirt? Draußen stiegen wir in einen Wagen, der schon für uns bereitgestellt war. Mein Vater hatte ihn für uns angefordert. Die Innenausstattung dieses Autos war dezent, aber dennoch edel. Ich starrte geradeaus durch die Frontscheibe. Mein Vater saß vorne, meine Mutter mit mir im hinteren Teil. Ich wurde langsam ungeduldig. Ich wollte bereits gar nicht mehr zu diesem Dinner, ich wollte lieber im Hotelfoyer sitzen bleiben, um auf diesen einen Jungen zu warten. Im Geiste bastelte ich mir schon mögliche Sätze auf Englisch zusammen, denn es war wohl sehr unwahrscheinlich, dass er aus Deutschland kam. Mein Englisch war noch nie sehr schlecht gewesen, aber jetzt bekam ich auf einmal Bammel, dass es nicht doch zu schlecht war. Was, wenn er Engländer, Amerikaner, Australier war? Ich würde mich in Grund und Boden schämen für mein Englisch und er würde zu guter Letzt, als Sahnehäubchen sozusagen, auch noch lachen. Der Motor verstummte und kurz danach öffnete der Fahrer die Autotür. Mein Vater stand auf dem Gehweg und hielt meiner Mutter die Hand hin. Ich trottete hinter ihnen her. Wir liefen gemeinsam durch die große Tür in das Nobelrestaurant. Ein Kellner in schwarz-weiß gekleidet geleitete uns zu unserem Tisch, auf dem eine Kerze brannte und auf jedem weißen Porzellanteller eine rote Rose prangte. Das Restaurant war italienisch angehaucht. Der Kellner schob den Stuhl für mich zurück und ich setzte mich. Ich sah mich um. Die Menschen hier waren alle perfekt gekleidet, die Männer in Anzügen, die Frauen in langen Abendkleidern. Mein Blick blieb auf einmal auf dem Hinterkopf eines Jungen hängen, der aussah, wie der des Jungen aus dem Hotel gerade eben. Ich kniff die Augen ein bisschen zusammen, um mehr erkennen zu können, als er sich umdrehte. Er lächelte mich an, zumindest glaubte ich das, und ich bekam einen hochroten Kopf. Peinlich berührt drehte ich den Kopf zur Seite, damit er es nicht mitbekam. Nach einer Minute wagte ich einen kleinen Blick in seine Richtung, er hatte sich wieder abgewendet. ‚Gott sei Dank’, dachte ich im Stillen. Mir stachen seine honigblonden Haare sofort ins Auge. Der Kellner brachte die Vorspeise. Ich meinte, Stunden würden vergehen, in denen Antipasti, Hauptgericht, Dessert und der Sorbetto zum Schluss kamen. Von allem wurde natürlich, wie es sich in gut bemittelten Kreisen gehörte, nur eine kleine Menge gebracht. Ich hatte noch Hunger. Vielleicht würden meine Eltern mir später noch etwas Anständiges kaufen, aber das war fraglich. Ich ertappte mich, wie ich bereits wieder einen Blick in die Richtung des Jungen warf, doch er saß gar nicht mehr da. Hektisch sah ich mich um. Irgendwo musste er doch sein Und dann, als ich mich schon unserem Tisch zuwendete, stand er direkt neben mir. In perfektem Englisch fragte er meine Eltern:
„Is it possible to have your beautiful daughter kidnapped just for having a little conversation outside?“ Er lächelte. Meine Knie wurden weich und ich musste wohl ziemlich blöd aus der Wäsche gesehen haben, aber er sah so unbeschreiblich gut aus. Er hielt mir nach einem Nicken meiner Eltern die Hand hin und ich legte meine hinein. Er führte mich galant durch das Tischgewirr zur Tür hinaus.
„I’m Luis.“
„Lola“, brachte ich gerade so über die Lippen, die mittlerweile ziemlich trocken waren.
„What a beautiful name. Where are you from?“
„From Germany, and you?”
„Aus Deutschland? Wie cool. Ich auch. Woher genau?” Völlig verblüfft über seine plötzliche Wandlung beim Sprechen, aber ziemlich froh, dass ich jetzt kein Englisch mehr sprechen musste, antwortete ich.
„Aus Hamburg. Du?“
„Ich komme aus Berlin. Seit wann bist du denn schon in Sydney?“
„Seit heute. Aber ich bleibe auch nur eine Woche.“
„Schade, dann weiß ich die restliche Woche ja überhaupt nicht, was ich tun soll.“
Ich lächelte ihn an. Bei genauerer Betrachtung sah er aus wie…wie Phil. Ich wich ein Stück zurück und trotzdem fühlte ich mich so von ihm angezogen, dass in mir ein Feuer, das ich erloschen glaubte, wieder zu brennen begann. Ein Feuer, dessen Glut wahrscheinlich immer da gewesen war, nur so für den Fall, dass Phil wieder kommen würde. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit gleich Null war. Jetzt stand ich hier mit Luis, der aussah wie Phil, und der mir nun immer näher kam. Das Feuer wurde immer größer, erfasste meinen ganzen Körper und ließ mich tun, was ich nicht für möglich gehalten hätte. Ich nahm seinen Kopf in die Hände und zog ihn zu mir. Meine Lippen pressten sich leicht geöffnet auf seine und meine Zunge flitzte geübt in seinen Mund. Ich wusste nicht, wie lange wir so, eng umschlungen und küssend, da standen, doch ich dachte nicht daran, dass es Luis war, den ich hier küsste, ich war der festen Überzeugung es sei Phil. Er schob mich ganz sanft von sich.
„Wow. Du gehst ja ganz schön zur Sache.“
„Tja, wer kann, der kann.“ Ich fasste wieder klare Gedanken. „Ich muss wieder rein. Meine Eltern machen sich sicher schon Sorgen. Sehen wir uns morgen, Süßer?“
„Ja, klar. Um 12.00 Uhr am Bondai Beach?“
„Ok. Bis dann.“


15

Es war Viertel nach elf, als ich hinunter zum Strand durch die breiten Straßen Sydneys lief. Ich trug über meinem schlichten schwarzen Monokini einen gestreiften Playsuit. In den Händen trug ich nichts anderes, als ein Handy, einen Kaffee und meinen iPod. Ich hörte die All American Rejects. Die machten so unglaubliche Gute-Laune-Sommer-Musik. Den Strandkorb ließ ich locker über den Unterarm hängen. Im Wind flogen meine Haare nach hinten. Die Flip Flops klapperten kaum hörbar auf der Straße und ich konnte aus dem Augenwinkel sehen, wie mich die Leute musterten, aber ich wunderte mich schon nicht mehr. Ich war das ja schon gewohnt in gewisser Art und Weise. Ich war am Strand angelangt. Zum zweiten Mal an diesem Tag, denn in den frühen Morgenstunden war ich am Strand joggen gewesen. Die Sonne war noch ziemlich tief gestanden und sie hatte sich rötlich im Wasser gespiegelt. Außerdem war es viel schöner, weil noch nicht so viele Menschen wie jetzt da gewesen waren. Ich suchte nach einem freien Platz, der ein bisschen vor der Sonne schützte. Später erst würde ich mich in die Sonne legen, ich hatte keine Lust auf einen Sonnenbrand. Musste später dann auch Luis so hinnehmen. Ich breitete das grasgrüne Handtuch auf dem Sand aus und zog meinen Playsuit aus. Ich legte mich auf das Handtuch. „Babe, I already miss you, sweatheart,I already miss you, sweateyes,I already miss you and you only just walked out the door” ,sang gerade Luke Pritchard von den Kooks. Wie wahr diese Worte nur waren. Phil ist einfach gegangen. Hat er wirklich gedacht, ich wäre so stark und könnte das alleine schaffen? War er wirklich der festen Überzeugung ich würde ihn nicht vermissen, ihn vom einen auf den anderen Tag einfach nicht mehr lieben? Wie sollte das funktionieren? Das würde an Selbstmord grenzen, weil dieser Junge mich ergänzte. Ohne ihn hätte ich wahrscheinlich gar nicht gewusst, was Liebe, die brüderliche Liebe überstieg, bedeutete. Und wichtiger war noch, dass er mich in den schwersten Stunden von Marco abgelenkt hat. Ungewollt, ja, aber er wusste von ihm sowieso nichts. Doch jetzt saß ich hier am Bondai Beach in Sydney und wartete auf einen Jungen, der aussah wie Phil und den ich eigentlich nie küssen wollte. Zwei große, etwas raue Hände wurden auf meine Augen gelegt.
„Luis?“, fragte ich und kam mir dabei ziemlich bescheuert vor. Seine Hände waren ganz anders, als die von Phil. Als keine Antwort folgte nahm ich die Hände weg und drehte mich um. Breit grinsend stand Luis nun hinter mir und er sah in seiner bunten Badehose von Billabong unverschämt gut aus.
„Lust auf ’ne Runde baden?“, stellte er mir die Frage, ging aber gleichzeitig schon in Richtung Meer, sodass er mir die Antwort schon in den Mund legte. Ein bisschen widerwillig stand ich auf und folgte ihm. Das Wasser schlug in kleinen Wellen an meine Beine. Es war angenehm warm. Ich entschied mich, weiter hineinzugehen. Zuvor jedoch band ich meine Haare zu einem hohen Dutt zusammen, damit sie nicht nass wurden. Denn wenn ich etwas hasste, dann waren es nasse Haare nach dem Baden, die sich beim Trocknen dann wellten. Nur konnte Luis das nicht wissen. Er kam auf mich zu und spritzte mich an. Die schweren Wassertropfen tropften an mir ab, verwischten meinen Kajal, der leider nicht wasserfest war.
„Geht’s noch? Was meinst du, weshalb ich meine Haare hochgebunden hab?“, schrie ich ihn verärgert an. Umstehende Leute sahen mich ein bisschen erschrocken an. Genauso wie Luis. Er hob entschuldigend die Hände und zog ein ebenso scheinheiliges Gesicht. Ich pustete Luft aus meinen Backen und versuchte das schlimmste Kajal-Debakel zu verhindern und wischte mit dem Zeigefinger um meine Augen herum.
„Sorry. Aber das konnte ich nun echt nicht wissen.“ Er hörte sich fast ein wenig genervt an und ich merkte, dass ich gerade ziemlich zickig war. Also wollte ich mich aus dieser Affäre ziehen und stieß ihn, als er zu mir kam ins Wasser. Als er wieder auftauchte, lachte er und rief:
„Pass bloß auf! So entkommst du mir nicht!“
Ich rannte weg und schrie, doch da hatte er mich bereits eingefangen und griff mit beiden Armen um meine Taille, so dass ich mich nicht mehr befreien konnte. Er ließ mit einem Arm los und ich zappelte, aber ich schaffte es nicht, sein Griff war zu fest. Mit der freien Hand spritzte er mir Wasser ins Gesicht.
„Ich ergebe mich! Ich werde dir jeden Wunsch erfüllen, wenn du mich jetzt loslässt.“ Er lachte, dann ließ er mich los.
„Also gut. Dann wünsche ich mir, dass du meine Frau wirst, mir zwei gesunde Kinder schenkst und mir jeden weiteren Wunsch von den Lippen abliest.“ Entgeistert sah ich ihn an.
„Äh. Sonst noch was?“
„Nein, das wär’s eigentlich schon.“
„Idiot!“ Ich lachte kurz. Dann küssten wir uns.


Es wurde dunkel in Sydney und die Lichter der Stadt schienen die Dunkelheit entfernen zu wollen, schienen den schwarzen Schein wie mit einem Spiegel blenden zu wollen. Doch so recht wollte es ihnen nicht gelingen. Das seidene Tuch der Nacht legte sich schwer auf meinen Schultern ab, aber vermochte mich nicht zu wärmen. Es ließ mein Herz einfrieren und zerbrechlich werden. Wie jede Nacht. Jede einzelne Nacht, in der ich wach lag, den Mond anstarrte, in der Hoffnung, er würde mir all die Antworten auf meine Fragen liefern, in der Hoffnung, er würde mir den einzigen Menschen wieder zurückbringen, den ich liebte, in den ich unwiderruflich verliebt war und für den ich mein Leben geben würde. Nein, ich musste es schon gar nicht mehr geben, er hatte es bereits. Genauso wie er mein Herz hatte, das nur noch eine Hülle in meinem blutleeren Körper war. So wie Friedrich Schiller in Piccolomini einmal sagte „Der Zug des Herzens ist des Schicksals Stimme“, so war meine Stimme des Schicksals ihn zu finden. Wie nur konnte man einen Menschen so sehr lieben? So sehr lieben, dass das Herz fast zerspringt.

Liebster Marco,
früher dachte ich, ich wüsste, was Schmerz bedeutet. Da dachte ich, das wäre wie bei einer kleinen Wunde, bei der man pusten muss, ein Pflaster darüber kleben und alles ist wieder gut. Aber ich habe gelernt, dass es anders ist. Es gibt kein Pflaster in dieser Dimension. Mein Schmerz ist seelisch verankert und frisst von innen heraus auf. Beißt sich mit den spitzen Zähnen ins Fleisch. Und ins Herz.
Ich möchte Flügel haben, mit denen ich dem Schmerz entfliehen kann. Große, weiße Schwingen, die mich in den Himmel tragen und mich auf einer Wolke ablegen, von der ich die ganze Welt sehen kann und Phil ganz nah bin. Im Grunde genommen will ich so sein wie du.
In Liebe
Lola

„Du solltest jetzt besser schlafen gehen, Prinzessin. Es ist schon zu spät.“ Mein Vater lief an mir vorbei und zog sich währenddessen die Krawatte aus. Er hatte keine Hose mehr an und nur noch das Hemd. Meine Eltern waren aus gewesen. Ich hörte, wie das Bett knarrte, als er sich hineinlegte. Kurze Zeit später schlurfte auch meine Mutter in ihrem rosafarbenen Bademantel aus dem Bad.
„Kind, jetzt geh doch endlich ins Bett! Du wolltest doch morgen mit diesem Jungen shoppen gehen. Wie hieß er denn gleich wieder? Ach ja, Luis. Ganz reizende Eltern hat er. Und so stilvoll. Viel stilvoller als dein Ex-Freund.“ Hier in Sydney war meine Mutter noch abgehobener, als sie es sowieso schon war. Früher, damals, als Marco noch am Leben war, war sie eine liebevolle Mutter gewesen. Ich konnte immer zu ihr kommen. Sie hat mich in den Arm genommen, mich getröstet und mir einfach einmal zugehört. Ohne einen klitzekleinen Vorwurf mit mir geredet. Aber jetzt war daran nicht mehr zu denken. Ich konnte nicht fassen, dass sie das gerade eben über Phil gesagt hatte. Nur, weil er nicht so wohlhabend war wie wir und seine Mutter nicht auf Charity-Galas und Bällen eingeladen war.
„Wieso tust du mir das an? Vor ein paar Jahren, da waren wir selbst noch eine Familie aus dem Mittelstand. Da hast du über das Wort „stilvoll“ noch gelacht und da hat dir Familie wenigstens noch etwas bedeutet. Hast du eigentlich jemals wieder irgendetwas empfunden für Dad oder mich seit Marco tot ist?“ Ich hatte zu Schreien begonnen. Ich konnte ihr fast nicht in die Augen sehen, doch das was ich sehen konnte, waren ihre vor Schreck geweiteten Augen, in denen es jetzt verdächtig glitzerte. Sie schwankte leicht und stützte sich beim Zurücktaumeln an einer Tischkante ab. Ihr Brustkorb hob und senkte sich schnell und schwer.
„Müsst ihr denn immer streiten?“, schaltete sich nun mein Vater ein, der mittlerweile ebenfalls im Raum stand.
„Sie kann uns doch ruhig antworten. Das wird dich sicherlich auch interessieren. Sei doch ehrlich, Marco ist dir doch viel mehr wert als ich es bin. Stimmt doch, oder?“ Ich wollte ihr das Wort Marco tausend Mal an den Kopf werfen, tausend Mal. Wahrscheinlich um mich selbst kaputt zu machen. Wahrscheinlich um in ihrem Gesicht abzulesen, dass sie ihn mehr liebt als mich.
„Es reicht jetzt! Was bildest du dir eigentlich ein? Und wehe dir, du erwähnst noch einmal seinen Namen!“ Sie stand entschlossen auf und…ohrfeigte mich. Geschockt stand ich vor ihr. Tränen schossen mir in die Augen. Ruckartig drehte ich mich um und rannte aus der Hotelsuite. Ich rannte einfach. Immer weiter die Hotelkorridore entlang, egal wohin. Einfach weg. Ganz blass schob sich ein Bild von einem kleinen neunjährigen Mädchen vor mein inneres Auge. Ein Mädchen, das die Hotelkorridore eines noblen Hotels mitten in dem Skiort St. Moritz entlang rannte. Die braunen Haare hinter sich her wehend und mit Tränen überströmten Wangen. Halb zusammenbrechend und gewillt zum Sterben. Dieses Mädchen war ich. Jetzt jedoch blieb ich urplötzlich stehen. Ich blickte nach links, dann nach rechts. Zimmer 305. Luis’ Zimmer. Seine Eltern hatten ihm ein eigenes gebucht. Wieso um alles in der Welt stand ich hier? Gerade hier? Aber ich hatte keine Wahl. Jetzt war ich schon hier, zurück konnte ich nicht mehr und wollte ich auch nicht. Ich hoffte, er war noch wach, obwohl das ziemlich unwahrscheinlich war, nachts um drei Uhr. Ich klopfte ganz zaghaft, nur für den Fall, dass er doch schlief. Niemand rührte sich. Ich klopfte nun stärker an die Tür. Es machte ein dumpfes Geräusch. Ich meinte, Schritte zu hören und offensichtlich hatte ich mich nicht getäuscht, denn kurze Zeit später wurde mir die Tür geöffnet und Luis stand vor mir. Nur mit Boxershorts bekleidet und mit abstehenden Haaren. Er rieb sich die Augen und gähnte herzhaft.
„Was suchst du denn um diese Uhrzeit hier? Ich hab gerade so gut geschlafen.“ Es klang nicht wie ein Vorwurf.
„Kann ich heute Nacht bei dir schlafen? Ich hab mich mit meinen Eltern gestritten.“ Ich versuchte meine Tränen vor ihm zu verstecken. Er machte die Tür ein bisschen weiter auf und bat mich mit einer eindeutigen Geste hinein. Nach mir schloss er die Zimmertür und lief vor mir in sein Schlafzimmer. Er hob ein paar Klamotten vom Boden auf und warf sie über einen Stuhl. Er schüttelte seine Bettdecke und das Kissen auf und legte es geordnet wieder hin. Die andere Seite des Doppelbetts war unbenutzt, nur ein klein wenig knittrig. Zuletzt griff er noch in den Schrank, der zur linken Seite des Bettes stand, und nahm ein T-Shirt heraus und zog es über. Dabei sah ich nun auch an mir herunter. Ich trug das seidene Nachthemd, das Cassy mir zu einem Geburtstag einmal geschenkt hatte. Es war durchsichtig. Die peinliche Röte stieg mir ins Gesicht und ich fasste mir verlegen in den Nacken.
„Kann ich vielleicht…ähm…auch ein T-Shirt haben, Luis?“ Er sah mich an.
„Ich finde zwar nicht, dass du das brauchst, aber wenn du unbedingt willst.“ Er kramte im Schrank herum und zog dann ein schwarzes Shirt heraus, auf dem mit großen Buchstaben „Helen, you are best!“ stand. Ich zog es über.
Er fasste mich am Arm und setzte sich mit mir auf sein Bett.
„Wer ist Helen?“, fragte ich ehrlich interessiert.
„Helen? Das ist meine Schwester“, erklärte er mir.
„Wieso ist sie nicht dabei?“, erkundigte ich mich.
„Sie ist Studentin und hatte leider keine zeit mitzukommen. Weißt du, sie studiert Jura und das nimmt sie in letzter Zeit wahnsinnig ein. Sie trifft sich kaum mehr mit uns und wenn sie mal mit mir einen Café trinken geht, ruft irgendeiner ihrer Freunde an und sie haut wieder ab. So geht das immer. Ich hab ihr das T-Shirt gemacht und als sie Geburtstag hatte, bin ich in ihre WG gefahren, wollte sie überraschen. Das einzige, was sie gesagt hat, war: Danke, aber ich muss jetzt los. Du glaubst gar nicht, wie sauer ich war. Und das, obwohl ich alles für sie tun würde. Alles. Wenn du Geschwister hast, weißt du vielleicht, wie das ist.“ Ich wusste nicht, was ich auf diese offenen Worte sagen sollte. Doch er hatte sich mir gegenüber auch nicht verschlossen.
„Ja, ich glaube, ich weiß, was du meinst. Ich…also…ich hatte mal einen Bruder.“ Mir wurde schlecht. Ich blickte zu Boden und versuchte mich zusammen zu reißen. „Er ist gestorben vor fünf Jahren, aber ich hätte auch alles für ihn getan. Wegen ihm haben wir uns auch vorhin gestritten, aber das ist eine andere Sache. Sei froh, dass du Helen noch hast.“ Und jetzt tat er das, weshalb ich nie jemandem davon erzählte. Er bemitleidete mich.
„Das tut mir Leid für dich und für deine Familie. Das muss echt schlimm sein. Ich meine, wenn Helen tot wäre, ich wüsste nicht, wie ich weiterleben sollte.“ Er wirkte etwas bedrückt. Fast ein bisschen, als wüsste er nicht, wie er sich mir gegenüber jetzt verhalten sollte. Ich könnte mich schlagen, dass ich es ihm gesagt hatte. Wieso konnte ich nicht einfach sagen, ich wäre Einzelkind? Auf mich würde die Beschreibung verwöhntes Einzelkind doch perfekt passen, jeder würde mir das abnehmen. Ich atmete flach, versuchte die Tränen zurückzuhalten, weil sich schon wieder Marcos Gesicht vor meine Gedanken schob. So klar, als stünde er wirklich hier, aber das konnte er gar nicht. Wieso realisierte ich nicht, dass es ihn nicht mehr gab? War es denn so schwer, ihn aus dem Leben zu streichen, seinen Tod nur noch als Angelegenheit auf dem Papier zu sehen? Dieser Schmerz brachte mich zum Verzweifeln, zum nur noch ein klein wenig lebendig sein. Ich legte meinen Kopf auf Luis’ Schulter. Ich wollte nicht getröstet werden, aber ich wollte jemanden um mich spüren. Am liebsten würde ich jetzt mit Cassy reden wollen. Lange reden, doch ich könnte nicht mit ihr darüber reden, weil sie nichts von Marco wusste. Sie war so weit entfernt von hier. So weit.
„Lola? Wollen wir schlafen gehen? Es ist schon vier. Wir wollten morgen shoppen gehen, du solltest vielleicht ein bisschen ausgeschlafen sein“, durchbrach er die Stille.
„Ja, du hast Recht.“ Wir standen beide gleichzeitig auf und ich stand etwas verloren im Raum. Er zeigte mit der Hand auf die andere Seite seines Bettes. Ich lief dorthin und kuschelte mich in die viel zu dünne Bettdecke, die nicht geeignet war, für Luis’ Vorstellungen von der Temperatur einer Klimaanlage. Er kam mit seinem Gesicht näher an meines und küsste mich auf die Stirn.
„Gute Nacht, Schönheit. Träum was Süßes.“
„Gute Nacht, Luis. Du auch.“


16

Ich hob den Zettel, der vor meiner Zimmertür lag, vom Boden auf. Er war mehrfach gefaltet. Als ich ihn nun in voller Größe in meinen Händen hielt, sah ich, dass jemand etwas darauf geschrieben hatte: „Komm runter ind die Haupthalle. Möchte mich noch verabschieden.“
Ich lächelte die Notiz an und kam mir dabei ziemlich lächerlich vor. Ich biss mir leicht auf die Lippe und lief zurück ins Zimmer. Ich warf eines der neuen Kleider über, das ich gestern mit Luis gekauft hatte. Es war luftig, hatte viele Volants und Rüschen. Ich trug noch ein bisschen Make-up auf und Wimperntusche, dann rannte ich die Treppen hinunter. Ich sah ihn bereits, bevor ich überhaupt die Haupttreppe hinunter stieg. Er stand mit seinem Vater an der Bar und trank einen Cocktail. Die blonden Haare perfekt sitzend und die graue Jeans glatt gebügelt. Er sah ein bisschen aus, wie der nette Junge von nebenan. Vielleicht war er das auch und gab nur vor, jemand zu sein, der cool ist. Vollkommen egal. Ich stieg die Stufen weiter hinab. Als ich nach draußen sah, konnte ich zwischen den hohen Häusern den Strand mit seinen wunderschönen Palmen erkennen und weiter hinten den Horizont. Ich war unten angekommen und ging mit entschlossenen Schritten auf ihn zu. Ich umarmte ihn von Hinten und küsste ihn auf die Backe. Er lächelte und dabei kamen seine wunderbaren Grübchen zum Vorschein.
„Na, Schöne. Freust du dich schon auf zu Hause?“, fragte er mich und trank danach einen Schluck seines Cocktails.
„Naja, Schule fängt ja bald wieder an. Ich weiß nicht, ob das Freude ist. Aber auf meine Freunde freue ich mich natürlich. Und du? Freust du dich auf zwei weitere Wochen Sydney?“
„Klar, aber ich muss mir dann vielleicht noch jemanden suchen, mit dem ich die Woche verbringen kann. Wir sehen uns wieder? Du hast ja meine Nummer.“

Ich saß am Fenster des riesigen Flugzeugs. Mein Vater saß ein Stück weiter entfernt, meine Mutter neben mir. Ich wollte noch eine Decke um mich schlingen, denn es war viel zu kalt hier, aber jedem Fluggast stand nur eine Decke zur Verfügung. Für den Flug hatte ich mich noch einmal umgezogen. Ich trug jetzt eine schwarze Leggins und blaues Sweatshirt, in dessen Tasche ich jetzt griff. Mein Handy hatte keine neuen Nachrichten für mich. Gott sei Dank, hatte ich Cassy wieder, wenn ich in Hamburg landete. Ich widmete mich dem Entertainmentangebot. Der kleine Screen, der im Vordersitz angebracht war, bat eine Vielfalt an Filmen und Spielen, die alle auf dem Level eines fünfjährigen Kindes waren. Ich suchte aus den Filmen einen aus, den ich glaubte, noch nicht gesehen zu haben und unbedingt sehen zu müssen. Die ersten Minuten waren lahm und nicht sehenswert und ich gähnte immer wieder. Schließlich schlief ich mit den Kopfhörern auf dem Kopf ein.
17

„Loooooola!“, schrie eine sehr vertraute Stimme hinter mir. So schnell ich konnte, wandte ich mich um, doch ich wurde schon abgeknutscht und gedrückt. Rötlich schimmernde Haare kitzelten meine Backe.
„Cassy, du hast ja die Haare gefärbt!“
„Du offensichtlich auch. Gefällt es dir?“
„Lass dich anschauen.“ Ich drückte sie ein bisschen weg, um sie besser beäugen zu können, jedoch hielt ich sie weiterhin an beiden Armen fest.
„Sieht echt klasse aus. Steht dir. Wie war’s in Amerika? Erzähl!“
„Oh mein Gott! Ich sage dir, die ganzen hotten Jungs von meiner Schwester. Ich war ganz aus dem Häuschen, was die mir da so gezeigt hat. Sixpack-Alarm! Einfach nur geil, die Typen. Ich war auch fast nur weg mit ihnen. Außerdem hat es mal, du wirst es nicht glauben, richtig gut getan, keinen Alk zu trinken oder auf einer Party zu sein. Aber heute, ja, heute freue ich mich richtig, die Partyserie fürs neue Schuljahr einzuläuten.“ Ich lachte laut und ließ die blonden Haare wackeln. Ja, die alljährlichen Partyserien fürs neue Schuljahr oder sollte ich eher sagen für den Abschluss grandioser Ferien? Zum ersten Mal nahm ich nun in der Disco teil. Letztes Jahr war ich ja leider noch zu jung gewesen, da waren wir nur auf Housepartys. Max und Nick waren bereits da. Max hatte von seiner Reise nach London, die er mit einer guten Freundin angetreten hatte, erzählt. Sonderlich spannend war es aber nicht gewesen. Nick, Chris, Maddie und Milena rannten jetzt auf uns zu und umarmten mich und die anderen. Wir standen nun im Kreis.
„Tada! Sekt, Wodka und Tequila für alle!“, rief Nick nun in die Runde. Vorglühen für die Disco.
Die Flaschen wurden herumgereicht und jeder trank daraus. Schon nach ein paar Minuten waren die Flaschen leer und nachdem wir sie weggeworfen hatten, kamen wir aus der kleinen Seitenstraße wieder hervor, die uns schon oft als Versteck fürs Trinken von härterem Alkohol diente. Denn hier in Hamburg fuhren die Polizisten mittlerweile vielfach Streife, durch die vielen Alkoholexzesse bei Jugendlichen. Doch das interessierte mich heute nicht. Heute wollte ich nur vergessen und nicht mehr an Phil denken. Ich lachte, um mir selbst Mut zu machen. Ich trug ein goldenes Pailettenkleid und schwarze Pumps. Dazu eine kleine schwarze Tasche, in der ich mein Handy und mein Geld verstaut hatte. Max, der offensichtlich vor dem gemeinsamen Vorglühen schon getrunken hatte, legte nun seine Arme um mich und schien, sich an mir abstützen zu wollen. Ich ließ es zu. Es war sowieso alles egal. So umschlungen liefen wir nun die letzten Meter zur Disco, in der wir so oft schon waren. Der Türsteher winkte uns vor und wir stolzierten an der wartenden Menschenmenge vorbei, die auf ihren Einlass wartete. Böse Blicke folgten uns, doch wir lachten nur. Die Disco war schon zum Bersten voll mit Leuten aus ganz Hamburg und wir hatten Mühe uns einen Weg durch die tanzende Meute zu bahnen. Dennoch schafften wir es, an der Bar anzukommen, an der Chris erst einmal einen Kleinen Feigling für jeden ausgab. Ich trank ihn in einem Schluck und musste mich danach fast unmerklich schütteln, weil es so im Hals brannte. Ich nahm nun Cassy bei der Hand und zerrte sie mit mir auf die Tanzfläche. Exzessiv tanzten wir und bald gesellten sich auch die anderen zu uns. Nach kurzer Zeit tanzte mich ein Typ, der circa achtzehn Jahre alt war, an. Er trug ein weißes Hemd zur beigefarbenen kurzen Hose und hatte die Haare an den Seiten kürzer geschnitten. Ich ging darauf ein und war Sekunden später schon mit dem Rücken an seine Vorderseite gelehnt, während ich immer wieder meinen Körper zur Musik anzüglich hoch und runter bewegte. Ich wirbelte meine Haare durch die Luft und streckte die Arme nach oben. Der Bass dröhnte aus den Anlagen und ließ den Boden beben. Doch schon nach den ersten beiden Songs merkte ich, wie der Alkohol wirkte und ich schwankte. Dieser Junge, mit dem ich tanzte, packte mich am Arm und schob mich vorsichtig von der Tanzfläche. Unter der Beobachtung von Max setzten wir uns an einen freien Platz. Er schrie mir ins Ohr.
„Wie heißt’n eigentlich, du heißes Ding?“ Für mich war eindeutig klar, Aufreißer. Durch und durch und, wie ich fand, ziemlich gerissen. Aber an diesem Abend wollte ich Party machen und mich nicht darüber aufregen.
„Lola und du?“
„Marcel.“ Er zog mich an sich heran und küsste mich. Marcel benutzte ein ziemlich penetrantes Aftershave. Wir küssten uns weder mit Liebe noch Innigkeit, sondern eher mit Energie. Meine Hände zogen ihn am Hemdkragen immer wieder zu mir. Ich kniete auf seinem Schoß und seine Hände streichelten ständig den Seitenbereich zwischen Brust und Hüfte. Ich wusste nicht, wie lange wir hier in dieser Stellung verharrten, jedoch saß ich später neben diesem Typen und war vollkommen aus der Puste. Ich atmete tief ein. Auf einmal stand Max vor mir und zog mich hoch.
„Du bith Phils Mädschn, vergiss daf nicht.“, lallte er. Ich überhörte einfach, was er gesagt hatte.
„Wie viel hast du getrunken, Max?“, fragte ich ihn und machte mir die größten Vorwürfe, dass ich hier bei Marcel gesessen hatte und Max nicht vom Trinken abhalten konnte.
„Bith du meine Mutter, oder wath?“ Er grinste mich völlig scheinheilig an und legte den Kopf leicht schief. Ich überhörte seine Bemerkung ein weiteres Mal.
„Max, vielleicht ist es besser, wir gehen mal nach draußen. Frische Luft tut dir sicher gut.“ Bevor er antworten konnte, schleifte ich ihn nach draußen. Cassy sah zu uns herüber und ich gab ihr zu verstehen, dass ich mit ihm nach draußen gehen würde. Ich stieß die Tür auf und schob ihn vor mir hindurch. Er stand zur vollen Größe vor mir, sah mich mit glasigen Augen an.
„Du bith doch Phils Mädschn“, wiederholte er. Irgendetwas in mir zog sich daraufhin schmerzlich zusammen. Ich musste den Blick abwenden und versuchte, wieder ruhig zu atmen. Als ich ihn wieder ansah, nahm ich seinen Kopf in die Hände und blickte ihm tief in die Augen, die einen stumpfen Ausdruck innehatten.
„Hör mir zu, Max. Ich bin nicht Phils Mädchen. Das war ich nie und ich werde es nie sein. Und das weißt du ganz genau. Ich kann also tun und lassen, was ich will. Ich habe keine Verpflichtungen. Außerdem weiß ich nicht, was dich das an…“ Er drückte seine Lippen auf meine, steckte mir die Zunge in den Hals. Er schmeckte nach Bier. Ich wollte ihn von mir schieben, aber er hatte mich so fest gepackt, dass es mir nicht gelang. Ich konnte nichts tun, um ihn abzuhalten.
Doch irgendwann schien es mir zu gefallen und ich gab mich ihm hin. Ich streichelte über seinen Kopf, schloss die Augen. Versuchte meinen Gefühlen eine richtige Richtung zu geben, doch sie wollten sich nicht in eine Richtung pressen lassen. Sie wollten nur ihn. Ich erschrak nicht darüber, es war so völlig normal. Ich stellte mir keinen Phil vor, ich wusste, es war Max. Ich wusste es genau und wollte nur mehr von ihm.
Wir lösten uns voneinander. Seine glasigen Augen waren verschwunden, sie waren jetzt matt. Er schüttelte den Kopf, raufte sich die Haare.
„Scheiße, Mann! Was hab ich nur getan? Er hatte recht. Einfach nur recht“, sagte er und lief dabei im Kreis wie ein wild gewordenes Tier. Er stiefelte auf mich zu, umarmte mich und ließ mich wieder los.
„Was machen wir hier eigentlich? Das ist doch überhaupt nicht richtig.“ Wieder wandte er sich von mir ab. Seine Hyperaktivität schloss ich auf den Alkohol.
„Womit hatte wer recht?“, fragte ich, weil mir nichts anderes einfiel. Er antwortete mir nicht.
Wir gingen wieder hinein.

„Cassy, Cassy? Was machst’n da, verdammte Scheiße?!“, rief ich in die Kälte der Bahnhofstoilette hinein. Ich stand vor einer der Toilettenkabinen, aus denen widerliche Geräusche zu hören waren und dann ein harter Aufprall auf den Boden. Ich rüttelte an der Tür, aber sie war verschlossen. Langsam ließ ich mich nach unten sinken, um unter der Tür hindurch zu sehen.
„Cassy? Cassy, Scheiße, jetzt sag doch endlich was!“ Ich war endlich wieder ein wenig bei Bewusstsein, aber ich torkelte noch gewaltig und ich meinte, mir würde bald der Kopf zerspringen. Ein lautes Stöhnen kam aus der Kabine.
„Was is’n?“, fragte Cassy.
„Mach die Tür auf.“ Zuerst war nichts zu vernehmen, doch dann konnte ich sie den Riegel wegschieben hören. Ich stieß die Tür auf und blickte augenblicklich in ein verstörtes, zugedröhntes Gesicht. Augen, die in eine andere Welt versunken waren, schauten zurück.
„Cassy, du hättst das Zeug nich nehmn solln. Du siehst aus wie so’ne beschissene Drag Queen.“ Ich musste augenblicklich lachen, obwohl es objektiv betrachtet, überhaupt nicht witzig gewesen war. Sie beobachtete mich weiterhin mit verklärtem Ausdruck, dann fing auch sie an, zu lachen und presste sich dabei die Hand auf den Mund. Ihre Wimperntusche war vollkommen verwischt.
„Du hasts doch auch genommn“, sagte sie vorwurfsvoll und grinste dabei aber wie ein Honigkuchenpferd. Ich wusste, dass sie recht hatte, denn ich konnte mich noch genau erinnern, wie wir die Pillen eingeworfen hatten. Eigentlich war uns gar nicht bewusst, was wir da einnahmen und ich kannte das Zeug auch jetzt nicht. Aber wir standen unter so großem Alkoholeinfluss, dass wir sie von Marcel und seinem Freund einfach angenommen hatten. Ich hob sie hoch und zerrte sie mit Mühe zum Waschbecken. Ich schüttete ihr Wasser ins Gesicht und wischte mit dem letzten Papier, das eigentlich zum Abtrocknen der Hände gedacht war, den Mund ab. Der penetrante Geruch von Erbrochenem hing in der Luft und an ihren Klamotten. Ich nahm sie mit nach draußen, wo Max und Nick auf uns warteten. Ich legte sie Nick in die Arme und kramte nach dem Schlüssel für den Spind in der kleinen Tasche. Als ich ihn fand, öffnete ich ihn und zog die beiden Sporttaschen heraus. Wir hatten unseren Eltern erzählt, wir würden beim jeweils anderen für ein paar Tage übernachten. In den Taschen waren genügend Klamotten für die nächsten Tage und unsere Schminkutensilien. Ich suchte in ihrer Tasche nach einem einfachen T-Shirt und einer Hose, aber sie hatte weder das eine noch das andere eingepackt. Ich konnte nur jede Menge Kleider finden, die alle nur Discotauglich waren. Mir blieb nichts anderes übrig, als eines von den weniger schimmernden zu nehmen, um sie von dem alten, dreckigen Kleid zu befreien. Ich bat Nick sie zu stützen, während ich ihr das alte Kleid überzog und das nächste an. Dann band ich ihr die Haare hoch und hoffte, dass sie sich nicht schon wieder erbrechen müsste. Ich stellte die Sporttaschen zurück und schloss ab.
„Wir müssn echt zu Nicks Bruder jetzt. Is schon sechs. Ich will echt auch ma penn!“, warf Max ein, der die ganze Zeit schon völlig unbekümmert an die Wand gelehnt stand und sich immer wieder Zigaretten drehte. Ich griff ihm die Zigarette aus der Hand und nahm einen tiefen Zug davon. Für einen kurzen Moment konnte ich mich entspannen. Das alles hatte irgendwie andere Züge angenommen, als wir alle gedacht hatten. Selbst die Jungs, die letztes Jahr schon mitgemischt hatten, waren das nicht gewohnt und obwohl ich wusste, dass sie viel feierten, war ich mir doch im Klarem, dass sie noch nie Drogen genommen hatten. Vielleicht war es aber auch nur ein Medikamentencocktail. Das stand in den Sternen.
„Nick, pack Cassy und trag sie. Wenn’s zu anstrengend wird, soll Max dich abwechseln. Wo wohnt dein Bruder?“. Ich versuchte diplomatisch zu wirken. Denn es war das einzige, was die Situation noch ein bisschen entschärfen konnte.
„Gleich hier um die Ecke. Müssn wir gar nich so weit laufn“. Ich konnte ihm anmerken, dass er mit der Situation genauso wenig zufrieden war, wie ich. Denn das, was als Spaß angefangen hatte, wurde gerade ziemlich gefährlich.
Die Anderen waren bereits alle in ihren Betten und schliefen friedlich ihren kleinen Rausch aus. Wären wir nur nicht so selten naiv gewesen und mit zu Marcel und diesem eigenartigen Freund gegangen, den wir nicht im Geringsten kannten. Vor allem sein auffallender Stil mit den Nieten, die ihn eindeutig als Punk identifiziert hatten, hatten mich für den ersten Moment abgeschreckt, aber dann dachte ich, dass ich nur hier war, um meinen Spaß zu haben und mir nichts passieren könnte. Ich war ja nicht allein.
Max legte den Arm um meine Taille und griff mit der Hand in meinen Hintern. Ich ließ es geschehen. Wir liefen hinter Nick her, der anscheinend keine Schwierigkeiten beim Tragen zu haben schien. Cassy redete immer wieder vor sich hin. Unverständliches Zeug, das man nur schwerlich verstehen konnte.
Nicht lange danach, öffnete uns ein mittelgroßer dunkelhaariger Junge, er war in etwa achtzehn Jahre alt, die Tür und bat uns genervt einzutreten. Die Wohnung stank nach Zigarettenqualm und Gras. Bierpullen und Leergut waren im ganzen Gang ordnungslos aufgestellt. Er wurde uns als Robin vorgestellt. Und das als Italiener. Im Wohnzimmer legte Nick Cassy auf ein altes, abgewetztes und schmutziges Sofa mit jeder Menge Löchern von Zigaretten ab. Er deckte sie zu und steckte ein Kopfkissen unter ihren Kopf. Sie schlief bereits tief und fest.
„Ok, Alter, Nick. Du hast’s versaut, wenn irgendeiner von deinen Leuten hier hinkotzt, was kaputtmacht oder abgeholt werden muss. Ist das klar, Kleiner?“, setzte Robin in scharfem Ton an.
„Ja, Mann. Is klar!“, antwortete Nick.
„Dann macht’s euch hier bequem.“
Ich sah mich in dem winzigen Zimmer um und angesichts der Möglichkeiten zum Schlafen, war mir klar, dass diese Nacht niemals bequem werden würde. Robin verließ das Zimmer, schüttelte beim Anblick Cassys nur missbilligend den Kopf und warf mir noch einen viel versprechenden Blick zu. Ich drehte den Kopf auf den Boden. Nick zog aus einer Nische über einem Schrank ein paar dünne Decken hervor und reichte sie uns. Dann legte er Kissen auf den verdreckten Parkettboden, der sicher einmal richtig schön ausgesehen hatte. Max und ich ließen uns nieder hin und deckten uns zu. Nick klappte die Couch aus und strich Cassy im Liegen eine Haarsträhne aus der Stirn. Ich sah Max an, wir lächelten. Zwischen Cassy und Nick war diese Nacht etwas gelaufen, aber bevor Cassy mir irgendetwas erzählen konnte, war sie schon nicht mehr richtig bei Sinnen gewesen. Ich machte die Augen zu und war bald darauf eingeschlafen.

Marco winkt. Ich lächle leicht, aber ich weiß, dass er es unter dem Helm nicht sieht. Ich bin so sauer auf ihn. So unendlich sauer. Muss er denn auch immer alles bekommen? Er wartet bis ich da bin, dann fährt er los. Gekonnt lässt er das Board über den Schnee gleiten, weißer aufgewühlter Schnee wird aufgewirbelt, da fällt er hin. Ich lache über ihn, ganz laut. Am liebsten würde ich es der ganzen Welt erzählen wollen, dass der große Deutsche Meister zu dumm ist, um sich auf den Beinen zu halten. Doch dann sehe ich etwas anderes. Er verzieht das Gesicht und bekommt Angst. Er krallt sich mit den Händen in den Schnee. Er findet keinen Halt. Ich will ihm helfen, aber ich bin wie gelähmt. Meine Beine bewegen sich nicht, er rutscht immer weiter auf den Abhang zu. Ich sehe nur hin. Ich kann den Kopf nicht wegdrehen. Er fängt an zu schreien und da löst sich meine Spannung, aber es ist zu spät. Ich kann gerade noch erkennen, wie er gegen einen Baum fällt und dann immer weiter hinunter. Ich lasse mich auf die Knie fallen.
„Nein! Marco! Nein! Komm zurück.“…
„Lola, wach auf!“
…„Komm zurück Marco, bitte. Komm zurück!“…
„Lola! Ich bin es. Cassy!“
…„Ich liebe dich“, flüstere ich.
„Was ist denn in dich gefahren? Lola. Jetzt wach schon auf.“
Jemand rüttelte an mir und schlug mir leicht gegen die Wange. Ich machte die Augen schlagartig auf und fasste mir an den Kopf. Er dröhnte und es fühlte sich an, als würde jemand mit einem Hammer auf ihn einschlagen. Meine Augen fielen wieder ein Stückchen zu und auch Cassys waren nur halb geöffnet.
„Was gibt’s?“, fragte ich noch völlig benommen.
„WO sind wir hier? Und wo sind die Jungs?“. Eine Gegenfrage, die ich im ersten Moment nicht verstand, aber als ich mich kurz umgesehen hatte, war das Bett neben mir frei und auch Nicks Schlafplatz. Ich knallte meinen Kopf zurück auf das Kissen und sagte nur: „Scheiße“. Cassy verzog den Mund und hob mich hoch.
„WO sind die zwei? Ich hab echt Angst!“ Die Frage musste ich nicht beantworten, da klangen schon feierliche Worte von Nick und Max durch den Raum und Nick hob theatralisch eine Tüte hoch.
„Frische Brötchen für unsere Mädels! Cassy, hey, was guckst’n so?“, fragte Nick besorgt.
„Ihr habt die beschissene Tür zugesperrt und wir sind zwei Mädchen alleine in einer fremden Wohnung. Was meinst du, hab ich da wohl gedacht? Außerdem ist Lola nicht aufgewacht. Ich wusste nicht, wo ich war und wieso es mir so scheiße geht, ok? Ihr hättet ja wenigstens einen Zettel da lassen können. Mann, echt.“ Max stürzte zu mir, fragte mich, wie es mir ginge. Ich sagte nur, gut, denn zu mehr war ich einfach nicht in der Lage. Nick war bei Cassy hielt sie im Arm und, als sie sich endlich beruhigt hatte, zog er sie mit sich in die Küche und nahm auch die Brötchen mit. Max streichelte mir sanft über die Stirn.
„Dir geht’s wirklich gut? Sieh mal, was ich dir noch mitgebracht habe.“ Er strahlte über das ganze Gesicht und zerrte aus einem Beutel eine Jeans und ein T-Shirt und ein Kleid für den Abend.
„Danke. Ist echt nett von dir.“
„Ich hab mir raus genommen, Cassy einfach was zum Anziehen von dir zu geben. Sie hatte ja nur Kleider und Röcke. Hoffe, das ist ok.“
Ich nickte als Antwort. Da kamen Cassy und Nick aus der Küche zurück. Auf dem vollen Tablett in den Händen balancierte er die Teller, die Butter, den Käse und die Wurst.

„Jetzt komm, Süße! Zieh’s dir einfach rein! Wirkt Wunder, Mann, ich schwör’s!“ Marcel hielt mir seit einer Viertelstunde blaue Pillen unter die Nase. Ich war gerade erst auf Wodka umgestiegen, der Tequila war so widerlich gewesen. Ich nahm einen Schluck Wodka-Cola und nahm eine von den Pillen. Mit der flachen Hand stopfte ich sie in den Mund und spülte sie mit dem letzten Schluck vollends hinunter. Marcel legte den einen Arm um mich und den anderen um eine braunhaarige, große Tussi, die er in der Disco kennen gelernt hatte. Ich lugte zu ihm hinüber und sein Kopf war auf einmal der eines Affen. Ich konnte mir das Lachen nicht verkneifen. Nick hatte seinen Kopf auf eine Giraffe gelegt, und um sie herum wurde es bunt. Ich spürte einen Lufthauch im Nacken, ein Einhorn blies ihn. Gefolgt von einem großen Regenbogen. Das Einhorn verwandelte sich wieder. Es war jetzt Phil. Phil mit einer großen Nickelbrille und einer Krawatte. Seine Haare waren ungewaschen und sie stanken widerlich. Aus seinem Mundwinkel tropfte eine weißliche Flüssigkeit. Er zog mich mit sich, mein Kopf wackelte hin und her. Ich grinste und blieb an einer Kante hängen, ich spürte gar keinen Schmerz. Ich war wie in Watte gehüllt. Ich schwitzte und überall roch es nach Erbrochenem.
„…ihr geben? Bist du echt so ein Arsch, hm? Was wär, wenn sie jetzt draufgegangen wär? Was würdeste dazu sagen? Idiot, echt!“ Ich glaubte, es war Cassys Stimme, aber sicher war ich mir nicht.
„Sie war so dumm und hat’s geschluckt! Sie is ja nicht tot, Mann. Also reg dich ab, Schlampe!“ Marcel.
„Nenn meine Freundin noch einmal Schlampe und ich schwör dir, du bist tot! Hast du mich verstanden?“, drohte Nick Marcel. Er wirkte eingeschüchtert. Jemand hielt meine Haare hoch. Ich musste mich ein weiteres Mal übergeben. Ich drückte meine Augen zu. Meine Beine gaben nach. Eine weitere Person hielt mich an der Taille fest.
„Lola, hörst du uns?“, fragte Cassy. Ich konnte nicht antworten. Meine Kehle war wie zugeschnürt und trocken.
„Scheiße, sie ist nicht bei Bewusstsein! Was sollen wir jetzt machen?“ Das war Max, der mich immer noch festhielt.
„Ist schon gut! Alles ok“, meldete ich mich endlich zu Wort. Ich wurde zu Boden gelassen. Mein Blick klärte sich ein bisschen. Ich konnte wieder Silhouetten erkennen, allerdings nur sehr verschwommen. Kaltes Wasser wurde mir in den Mund und ins Gesicht geschüttet. Meine Augen brannten und tränten. Ich fasste mir an den Kopf, schlug immer wieder dagegen, damit nur das Dröhnen aufhörte. Max hielt meine Hände fest.
„Fass mich nicht an!“, keifte ich. „Ich will weiterfeiern!“ Eigentlich wollte ich genau das nicht. Aber es war immer noch besser als stundenlang hier herum zu sitzen, Trübsal zu blasen und mir anhören zu müssen, ich hätte einen Fehler gemacht. Aber der ganze Scheiß war nicht mehr in meinem Körper, also was sollte das? Nur, dass Phil weg war, störte mich. Max warf mir einen bösen, tadelnden Blick zu. Ich grinste ihn dämlich an. Er schüttelte nur den Kopf und sah Cassy an. Sie tat es ihm gleich und alle wendeten sich von mir ab und verließen den Raum. Ich versuchte mich aufzurappeln, doch fiel sofort auf die Knie zurück. Ich stöhnte kurz auf.
„Scheiße!“, sagte ich. „Scheiße, Scheiße, Scheiße verdammt!“ Ich fasste mir an die Stirn und führte meine Finger in Kreisbewegungen über die Schläfen. Ich startete einen neuen Versuch und stand endlich wieder auf den Beinen, wenn auch ein bisschen wackelig. Ich lehnte mich über das Waschbecken und wusch mir den Mund gründlich mit Wasser aus. Immer und immer wieder. An den Wänden entlang hangelte ich mich zurück in das Wohnzimmer. Bekiffte Leute, von denen ich den Großteil noch nie gesehen hatte, lagen auf den abgewetzten Matratzen. Die Köpfe auf den Beinen anderer. Mit den Augen suchte ich nach Max, Nick und Cassy und entdeckte sie in einer Ecke zusammensitzend. Max gestikulierte wild und Cassy nickte zustimmend.
„Ist hier noch frei?“, fragte ich Max. Ich hatte plötzlich Gewissensbisse, weil ich so hart zu ihnen gewesen war. Er warf einen unschlüssigen Blick in die Runde, dann rutschte er zur Seite und machte Platz. Ich nickte ihm zum Dank zu. Neben Cassy war ein Fenster, vor dem ein dunkler Vorhang aus dickem Stoff hing. Eine kleine Lücke ließ mir die Aussicht auf die Sterne zu. Kleine leuchtende Punkte auf schwarzem Untergrund. Der Mond lachte hinunter auf die Erde und erhellte die Grünfläche vor der alten Wohnung. Bald würde hier wahrscheinlich auch ein riesiges Gebäude mit unzähligen Wohnungen zum Billigpreis stehen, in denen wilde Partys gefeiert wurden und die Besitzer keine anderen Beschäftigungen hatten, als zu saufen und fern zu sehen. Davon zeugten die Satellitenschüsseln, die zu Hunderten an den Balkonen angebracht waren und die Bierflaschen, die sich neben dem Flaschencontainer gesammelt hatten. Hinter der Grünfläche im nächsten Häuserblock brannten vereinzelt Lichter, die sich durch die dicken, zugezogenen Vorhänge zwangen.
In der Tasche meines Kleides vibrierte es. Ich zog es heraus. Ich kannte die Nummer nicht. Noch einmal blickte ich in die Runde. Dann ging ich ran.
„Hallo?“, flüsterte ich ins Handy. Es war schon sehr leise auf der Party, ich wollte niemanden wecken.
„Lola? Lola, bist du das? Ich bin es. Mila.“ Sie klang aufgeregt. Ich musste schlucken. Was wollte sie?
„Ja. Was ist los? Ist irgendwas passiert? Brauchst du Hilfe?“ Meine Erregung stieg.
„Lola, Lola! Du musst kommen! Bitte, jetzt sofort!“, weinte sie.
„Was ist passiert, Mila. Süße, was ?“, ich schrie sie fast an. Egal, ob irgendwer aufwachte. Es interessierte nicht.
„Phil, er…er hatte einen Unfall. Er wird gerade operiert. Komm einfach, bitte! Der nächste Zug nach Köln fährt in einer halben Stunde. Peter holt euch ab. Bitte!“, flehte sie mich an. Das Handy glitt durch meine schweißnassen Hände zu Boden und schlug hart auf. Ich zitterte. Mein Körper bebte. Max hob das Handy auf und hielt nur noch zerbrochene Stücke in der Hand. Ich wollte weinen, aber ich konnte nicht. Der Schock war zu einnehmend.
„Wir müssen gehen, Max. Sofort.“ Ich sprach wie in Trance. „Unser Zug geht in einer halben Stunde.“
„Was redest du da? Was wollte Mila denn?“, fragte er, als wäre ich eine Verrückte. Vielleicht dachte er, ich wäre immer noch stoned von den Pillen.
„Phil“, war das einzige, was ich herausbrachte. Ich packte ihn am Arm und zerrte ihn mit mir vor die Tür, raus aus dem Haus und Richtung Bahnhof. Cassy schrie mir noch nach, ich solle sie anrufen, wenn es etwas Neues gäbe oder sie nachkommen sollte.
Ein Taxi fuhr vorbei und ich hob die Hand. Langsam blieb es am Straßenrand stehen. Max richtete sich einfach nach mir und öffnete die Tür des Taxis.


18

Ein Mann mit dunklem Bart in einer grünen Regenjacke und schwarzem Hut winkte uns zu. Meine Glieder spannten sich.
„Seid ihr Lola und Max?“ Er nahm den Hut ab. Ich konnte von Nahem die verheulten Augen sehen.
„Sind Sie Peter?“, fragte ich. Ich konnte doch nicht wissen, wer er war.
„Ja. Ich bin der neue Lebensgefährte von Sabrina. Wir müssen losfahren. Kommt ihr?“ Ich nickte stumm. Ich krallte meine Finger in Max Arm. Der spannte die Muskeln an und verzog das Gesicht vor Schmerz. Ein Stück abseits des Bahnhofs stand ein nagelneuer BMW. Im beginnenden Tageslicht erkannte ich, dass er frisch poliert war. Ich setzte mich auf die Hinterbank, Max saß vorne. Die zwanzig Minuten bis zum Krankenhaus sah ich aus dem Fenster. Der Himmel verfärbte sich vom Schwarzen ins Graue. Die Sterne verblassten. Gewitterwolken türmten sich am Himmel auf, als die ersten Regentropfen gegen die verdunkelte Fensterscheibe tippten.
„Folgt mir!“, ordnete Peter an, was wir auch augenblicklich taten. Wir liefen lange graue Krankenhausflure entlang. Unsere Schritte hallten an den Wänden zurück. Mein Herz raste. Ich hatte Angst, furchtbare Angst, dass es war wie bei Marco, dass ich zu spät kommen würde. Mir hatte man im Krankenhaus damals auch gesagt, er würde gerade operiert werden, dabei war er zu diesem Zeitpunkt schon tot. Am Ende des Ganges konnte ich vage zwei Personen erkennen. Eine große und eine kleinere. Die kleinere setzte sich in Gang und stürmte auf uns zu.
„Ich bin so froh, dass du da bist.“ Milas Wimperntusche war verschmiert, die Augen glasig. Ich nahm ihre Hand und umschloss sie. Ich drückte ihr einen Kuss auf die Backe. Als Sabrina mich erblickte, kam auch sie auf mich zu.
„Wie geht es ihm?“, fragte ich und versuchte, den Kloß in meinem Hals hinunterzuschlucken.
„Er hat viel Blut verloren. Er ist nicht bei Bewusstsein.“
„Kann ich zu ihm?“ Mein Magen krampfte sich zusammen bei der Vorstellung ihn in einem Zustand zu sehen, der ihn schutzlos zeigte. Sabrina legte mir ihren Arm um die Schulter und führte mich vor ein Zimmer.
Ich starrte durch die blank polierte Glassscheibe auf das metallene Krankenbett. Darin lag sein scheinbar lebloser Körper. Blonde, fettige Strähnen klebten auf seiner Stirn, um die ein weißer Verband gewickelt war. An einer Stelle war er blutrot. Die reinlich weiße Krankenhausdecke war an den Seiten um seinen Körper geschlungen. Ich wollte die monotonen Pieptöne ausstellen, die Lichter dämmen, aber wie? In seiner linken Hand steckte eine Kanüle. Eine milchig-weiße Infusion floss von einem durchsichtigen Beutel Inhalt hinein. Ein Beatmungsgerät war über Mund und Nase gespannt. An einem Finger steckte ein graues Messgerät. Seine Augen waren geschlossen. Er bewegte sich nicht. Mit meiner flachen Hand berührte ich die Scheibe, die mich von ihm trennte. Ich drehte mich weg, mit dem Rücken zur Wand und ließ mich hinabsinken. Ich legte den Kopf auf die Arme.
Bevor sich meine Augen schlossen, sah ich noch, wie Mila sich neben mich setzte und sich an mich kuschelte.

Stunden waren vergangen, als ich eingeschlafen war. Mit Mila auf den Schultern und Phil im Zimmer hinter mir. Meine Augen tränten, waren schwer und meine Glieder waren taub. Ich zog meine Jacke aus und versuchte, unnötige Bewegungen zu vermeiden. Ich faltete sie zusammen, nahm ihren Kopf und bettete ihn auf meine Jacke. Ich betrachtete meine Umgebung. Max lag auf den gräulichen Plastikstühlen, die an der Wand befestigt waren. Sein Handy war aus seiner Tasche auf den Boden gefallen, vermutete ich. Ich erhob mich. Meine Beine knackten leise, fast unhörbar. Zwei Schwestern liefen an uns vorbei, den abschätzigen Blick auf mich gerichtet. Doch dann drehte sich eine von ihnen um und fragte, ob ich etwas bräuchte. Ich schüttelte nur vehement den Kopf. Von Weitem schon konnte ich Sabrina ausmachen. Mit schnellen Schritten kam sie auf mich zu, zu schnell, um mit den Gedanken mitzukommen.
„Wie fühlst du dich?“, begann sie.
Ich zuckte mit den Schultern. Was wusste ich schon?
„Ich hoffe, du bist so weit…Ich denke, das hier ist für dich.“ Sie streckte mir einen Briefumschlag mit ihren Finger mit dem abgeblätterten blauen Nagellack entgegen. Fragend nahm ich ihn an. Ich faltete ihn behutsam auseinander.

Meine allerliebste Lola,
wenn du das liest, bin ich schon tot.
Ich bin tot, weil ich es so wollte. Ich habe diesen Entschluss gefasst, als ich dich verlassen habe.
Ich kann es mir nicht verzeihen, dass ich dich angelogen habe, dir gesagt habe, ich liebte dich nicht. Du hast dich vielleicht oft gefragt, weshalb. Ich kann dir keine Antwort geben.
Vielleicht interessiert es dich gar nicht, ob ich tot bin. Ich könnte es dir nicht übel nehmen, ja, ich verstehe es sogar.
Ich will nicht, dass du leiden musst. Ich will einfach, dass dein Leben weiter geht, verstehst du? Du sollst einfach so tun, als hätte es mich nie gegeben.
Das einzige, was du noch wissen sollst, ist:
Ich werde dich nie vergessen, weil du mir die schönste Zeit meines Lebens beschert hast.
Ich liebe dich so sehr, meine Kleine.
Phil

„Nein!“, wollte ich schreien, irgendetwas, aber es kam kein Ton heraus. Kein Ton, mit dem ich meine Entrüstung hätte zum Vorschein bringen können. Ich merkte nur, wie mir die Kinnlade hinunterfiel und ich wollte alles daran setzen, dass ich nicht mit den Händen gegen die Wand schlug bis sie blutig wurden und ein gerade aufgewachter Max mich davon abhielt. Die Welt um mich herum drehte sich. Ich trommelte auf Max’ Brust weiter. Er erlaubte es einfach ohne zu Murren. Ich biss mir auf die Unterlippe. ‚Er wollte sich nicht umbringen! Das kann nicht sein. Das darf nicht sein! Weiß er denn nicht, was er mir damit antut? Weiß er das denn nicht?’, schoss es mir durch den Kopf. Meine Arme wurden langsam schwer und ich spürte immer mehr warmes Blut meine Arme hinunter rinnen. Als ich mir meinen Unterarm ansah, wurde mir schlecht. Kleine dünne Bäche einer roten Flüssigkeit hatten sich linienförmig hinunter geschlängelt und mein Partykleid, das ich immer noch anhatte, beschmutzt.
„Sch sch“, flüsterte Max nach einer Weile. „Ist gut, ist gut!“ Mein Brustkorb hob und senkte sich schnell, aber ich war ganz ruhig innerlich. Ich wollte nur noch weg, aber Max’ Griff war fest. Ich wusste, dass ich jetzt eine „starke Hand“ brauchte. Jemanden, der mich wie Max einfach hielt, damit ich nicht zusammenbrach. Ich unterdrückte die Tränen, die mir hochkamen. Meine Schluchzer ebbten immer mehr ab. Sabrinas mitleidiger Blick durchstach mich und mein Herz, das sich sofort an die Blicke der Menschen erinnerte, als Marco tot war.
„Du solltest deine Eltern anrufen, Lola. Natürlich kannst du noch ein paar Tage bei uns bleiben, wenn du willst. Aber sie machen sich bestimmt Sorgen“, sagte Sabrina sanft zu mir.
„Die? Sich Sorgen machen? Das haben sie schon lange nicht mehr gemacht, also denke ich nicht, dass dieser eine Scheißtag wirklich ins Gewicht fällt.“ Der Ton war schärfer als gedacht, aber ich hoffte, dass Sabrina es mir nicht übel nahm. Sie streckte mir wortlos ihr Handy in die Hand und nickte viel sagend. Es wählte schon.

„Laura! Bist du denn verrückt? Du kannst doch nicht einfach…“ Meine Mum. Ich hätte kotzen können bei ihrem Tonfall.
„Ich kann. Siehst du doch! Hast du mir denn nicht zugehört? Phil hatte einen Unfall!“ Ich biss die Zähne zusammen, um nicht laut los zu schreien.
„Ich höre immer nur Phil, Phil, Phil! Hast du denn noch ein anderes Thema? Wieso hast du nicht Bescheid gesagt, dass du nach Köln fährst? Ich bin wirklich schwer enttäuscht von dir. Für die nächsten paar Wochen hast du Hausarrest. Morgen früh setzt du dich in den Zug und kommst zurück. Außerdem sieht dein Zimmer aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Räum hier endlich mal auf!“ Ich war wie vor den Kopf geschlagen und ich wusste, dass ich mich nicht in den Zug setzen würde und definitiv nicht zurück kommen würde. Nicht unter diesen Umständen.
„Willst du es nicht kapieren oder bist du einfach zu ignorant, Mama?“ Empörtes Schnauben vom anderen Ende der Leitung. „Bist du dir im Klaren, was ich hier durchmache? Das ist genauso wie bei Marco…“ ich senkte die Stimme, „…aber so was geht dir ja nicht in den Kopf hinein, weil es einmal Sorgen anderer sind! Du bist so eine Egoistin! Ich steige nicht in den Zug, vergiss es einfach!“ Ich musste mich zusammenreißen, nicht auf den roten Hörer zu drücken, weil ich wusste, das würde alles nur noch schlimmer machen. Ich schritt im Gang auf und ab, bedacht darauf Max und Sabrina nicht zu Nahe zu kommen. Ich musste ein paar Sekunden warten, bis sie endlich antwortete.
„Ok. Pass auf, wenn du freiwillig nicht kommst, dann lasse ich mir etwas anderes einfallen, wie ich dich bestrafen kann. Dein Vater und ich werden dich morgen abholen. Wir fahren nach Köln und du steigst dort in unser Auto. Daheim werden wir jetzt andere Seiten aufziehen. Du wirst dich schon noch wundern, Fräulein.“ Ich schüttelte nur verstört den Kopf. Konnte sie denn nicht verstehen?
„Danke, dass du mir all das weg nehmen willst, was mir etwas bedeutet. Danke, dass du selbst in schweren Zeiten für mich da bist und mir immer zur Seite stehst. Steck mich am Besten in eines dieser Bonzeninternate, dann musst du dich nicht mehr um mich kümmern, wo du dich doch sowieso so sehr um mich bemühst. Ich erwarte dich morgen mit einem voll gepackten Koffer, dann kannst du mich gleich weggeben.“ Ich hatte keine Ahnung, weshalb ich so sarkastisch war, aber es spielte keine Rolle mehr, als ich letztendlich auflegte und mich am liebsten in meinem eigenen Zimmer verkrochen hätte. Am liebsten in der hintersten, dunkelsten Ecke, in der ich nichts mehr hören konnte. Aber mein Zimmer war weit weg von hier. Ich gab Sabrina das Handy zurück und öffnete die Tür zu Phils Zimmer bedächtig. Er sah genauso aus wie am Vortag. Ein vor sich hin sterbender Körper.
Im Grunde genommen, wusste ich nicht, was ich als schlimmer empfand. Ein Teil meines Körpers wollte, dass er tot war, dass ich trauern konnte und irgendwann der Schmerz nachlassen würde, obwohl ich nicht einmal glauben konnte, dass ich es überleben würde, wenn er auch noch starb. Der andere Teil fand es schlimmer, dass er hier lag und vor sich hin vegetierte und vielleicht nie wieder aufwachte und man immer mit der Hoffnung lebte, dass er doch noch aufwachte und alles wieder wurde wie früher.
Ich zog den Stuhl ans Bett heran und setzte mich. Ich nahm seine eiskalte Hand und drückte sie, aber der Druck wurde nicht erwidert. Wie auch? Ich strich ihm mit der freien Hand die Strähne aus dem Gesicht, die sich seit gestern örtlich nicht verändert hatte. Wenn ich ihn genau betrachtete, sah ich zwei Gesichtsausdrücke auf seinem wunderschönen Gesicht. Einmal sah ich ihn, wie er lächelte, völlig versonnen. Dann sah ich ihn weinen und voller Wut. Aber ich wusste nicht, was das bedeutete. Wie er da so lag, war er nicht mehr mein Phil. Mein lebensfroher, lachender Phil. Ich hatte ihn die ganzen Monate über so schmerzlich vermisst, doch damals wusste ich noch nicht, dass jetzt der Zeitpunkt war, da ich ihn zu vermissen hatte. Ich wollte nicht hinsehen, diesen Schmerz nicht fühlen. Hätte ich doch nur gekämpft für ihn und mich. Egal, was er zu mir gesagt hatte, ich hätte nicht weglaufen dürfen. Ich hätte die letzten Sekunden mit ihm verbringen sollen, die letzten Sekunden, bevor er wegfuhr. Ich fühlte mich so schuldig. Ich hatte ihn so lange nicht gesehen und hätte ihm in diesem Moment so gerne gesagt, dass ich ihn noch liebte. Doch welche Bedeutung hätte es überhaupt, wenn er nie wieder aufwachte? Das könnte ich mir niemals verzeihen. Ich war diejenige, die ihn in den Tod getrieben hatte. Aus Liebe zu mir war er, wie Sabrina mir erzählt hatte, mitten in der Nacht in ihr Auto gestiegen und losgefahren, auf einen einsamen Waldweg und geradewegs in einen Baum. Er war mit dem Kopf gegen das Lenkrad geschleudert worden, er war nicht angeschnallt. Der Airbag öffnete sich nicht, er klemmte. Wenn nicht ein Jogger zufällig vorbeigekommen wäre, wäre das Auto mit ihm in Flammen aufgegangen. Wie viel Glück konnte er haben, um diese Zeit einen Jogger im Wald anzutreffen. Seine beiden Beine waren gebrochen. Dick eingegipst. Ich streichelte über seine Wange und konnte auf seiner Stirn Schweißperlen sehen. Komisch, wie er gleichzeitig so kalt sein und trotzdem schwitzen konnte. Ich nahm einen Haargummi aus meiner kleinen Handtasche und band die Haare aus dem Gesicht. Ich wusste noch genau, wie er mir nach unserem ersten Mal gesagt hatte, dass ich auch sogar mit zurück gebundenen Haaren ein wunderschönes Gesicht hätte und ich hatte nichts erwidert. Ich hätte irgendetwas sagen müssen. Irgendetwas, um ihm zu zeigen, wie bildhübsch er war. Aber ich hatte mich zu sehr über sein Kompliment gefreut. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich so jemanden wie ihn gar nicht verdient hatte. Er war einfach zu gut für diese Welt. Ich konnte ihm nie so sehr eine Freude bereiten, wie er mir.
Jetzt, wo ich meine Mutter gebraucht hätte, war sie härter als sonst. Wie konnte sie nur so gegen Phil sein? Wenn dieser Junge nicht Phil wäre, sondern Luis oder Max wäre sie viel weicher und würde mir zur Seite stehen. Aber Phil war nicht aus unserer gesellschaftlichen Schicht, er hatte nicht in Hamburg-Blankenese gewohnt, sondern nur am Rand dieses Stadtteils in einer kleineren Wohnung. Er war nicht einer von den Leuten wie wir es waren, die ihr Geld zum Fenster hinauswarfen und sich mit Champagner und Wellnessurlauben das Leben schön machten. Natürlich brachte es riesige Vorteile mit sich, aber wenn man einmal anders gelebt hatte, dann konnte dieses Leben auch ziemlich anwidern. Ändern konnte ich all das nicht.
Draußen hörte ich Stimmen lauter werden. Kurz hob ich den Kopf, um etwas erkennen zu können. Ein hochgewachsenes, blondes Mädchen stand vor Sabrina und löste gerade die Umarmung.
„Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte, Sabrina! Wie geht es ihm? Kann ich zu ihm?“ Ihre Stimme war weich und hell. Ihre Haare waren frisch gefärbt und glänzten sogar im grellen Neonlicht des Krankenhausflurs. Die Tür wurde geöffnet und sie schritt hinein. Als sie mich erblickte, weiteten ihre Augen sich und mir schlug grenzenloser Hass entgegen.
„Was willst DU hier?“ Ihre Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen und sie rümpfte die Nase. Ich erhob mich langsam und versuchte mein Selbstbewusstsein herauszukramen.
„Ich hau lieber ab hier.“ Das mit dem Selbstbewusstsein hatte ja kläglich versagt. Trotzdem lief ich mit hocherhobenem Kopf auf die Tür zu, aber sie stellte sich mir in den Weg, packte mich am Arm und hielt mich zurück.
„Was soll…“, begann ich meine Frage, doch sie unterbrach mich, durchschnitt meine Worte mit den ihren.
„Du bist es, wegen der Phil hier liegt? Du traust dich wirklich noch hierher?“ Ihre Stimme hallte an den kahlen Wänden zurück. Urplötzlich fühlte ich die Wut in mir aufsteigen.
„Ach, du bist also die Neue von ihm? Bevor du hier noch weiter in seiner Gegenwart herum schreist, hau ich lieber freiwillig ab. Viel Spaß noch mit ihm, Bitch!“ Das letzte Wort flüsterte ich nur noch, aber ich war mir sicher, dass sie es hören konnte. Ich schüttelte ihren Arm ab und bewegte mich bestimmt in Richtung Ausgang. Ich atmete tief ein und aus und warf einen schnellen Blick zurück auf Phil. Sabrinas geweitete Augen sagten mehr, als tausend Worte es hätten sagen können.
„Sabrina, ich werd’ jetzt zur Bank gehen, Geld abheben und mir irgendein Hotel suchen. Ich komm’ morgen noch mal vorbei. Meine Ma holt mich sowieso morgen ab.“ Ich versuchte, so höflich wie möglich zu sein, aber ich konnte es nicht. Meine Stimme war fest und voller Wut auf dieses Mädchen, das ihn mir schon wieder genommen hatte.
„Nein! Das kommt überhaupt nicht in Frage. Du kannst so lange bei uns wohnen! Ich fahr’ dich schnell. Geht das klar, Mila?“, antwortete Sabrina bestimmt. Mila, die erst vor ein paar Minuten vom Boden aufgestanden war, blickte mit ihren großen Kinderaugen zu uns hoch und in ihrem Blick mischten sich Traurigkeit und Müdigkeit. Das einzige, was sie sagte, war: „Ich will mit, Mama!“ Peter nickte Sabrina zu, was ich als Ok auffasste. Ich nahm Mila bei der Hand und zusammen verließen wir das Krankenhausgebäude. Als wir gerade die Tür zum Auto zustießen, rannte Max auf uns zu und winkte, um uns zu bedeuten, dass wir stehen bleiben sollten. Ich ließ das Fenster runter.
„Kann ich mit, Sabrina? Ich muss mich unbedingt auf’s Ohr hauen.“ Ein kleines Lächeln huschte über Sabrinas Gesicht und Max stieg hinten bei Mila ein.
Wir fuhren los.


19

Das weiß gestrichene Haus umrahmte ein großer Garten, der nur spärlich bepflanzt war und farblich zu den grünen Fensterläden passte. Es sah aus wie aus dem Bilderbuch. Das braune Gartentor quietschte leise, als Sabrina es öffnete. Der Kies auf dem Weg knirschte unter unseren Füßen, während die Sonne auf uns schien. Max hatte den Arm auf meine Schulter gelegt und sah zu Boden. Ich erspähte einen Vogel auf dem Dach und ein kleines Eichhörnchen auf dem Baum mit den blassgrünen Blättern. Sabrina schloss die Tür auf und Mila rannte die sich nach oben windende Treppe hoch. Max und ich zogen die Schuhe aus.
Sabrina kam inzwischen wieder zu uns zurück und legte uns Handtücher und Bettzeug in die Hände. Sie sah müde und geschwächt aus.
„Das Gästezimmer ist oben gleich die erste Tür rechts. Das Badezimmer gleich daneben. Ich fahre jetzt zurück ins Krankenhaus. Ihr passt auf Mila und das Haus auf?“
„Klar, Sabrina. Aber willst du dich nicht auch ein bisschen hinlegen? Du siehst echt müde aus“, fragte ich sie. Sie schüttelte den Kopf.
„Also dann. Bis heute Abend.“ Mit diesen Worten stürmte sie aus dem Haus und ein paar Sekunden später hörte ich den Motor des Autos draußen anspringen.
Wir waren alleine in dem stillen Haus.
Wir schlichen die Holztreppe so leise wie möglich hoch, um Mila nicht zu wecken, doch als wir oben ankamen, hörten wir aus einem der Zimmer ein leises Weinen. Ich fragte mich, ob ich nicht hineingehen sollte. Aber da übermannte mich der Schlaf und ich konnte gerade noch mit Max das Bett überziehen. Dann schliefen wir beide nebeneinander ein.

Ein ständig wiederholtes Klacken neben mir ließ mich aufwachen. Max hatte eine Haarklammer von mir in der Hand und öffnete und schloss sie immer und immer wieder. Seine Augen waren geschlossen. Aber sein Atem ging nicht gleichmäßig.
„Max?“, flüsterte ich. Das Klacken hörte auf und er drehte sich zu mir.
„Auch endlich wach? Du schläfst ja wie ein Stein.“ Seinen Worten fügte er ein klitzekleines Lächeln hinzu, aber darin lag keine Wärme.
„Wir sollten vielleicht langsam aufstehen. Zurück ins Krankenhaus.“ Er sagte, das völlig emotionslos.
„Ja, du hast wahrscheinlich recht.“ Die Stimmung war bedrückt und schwermütig, wie ein schweres Tuch, das sich über uns gelegt hatte. Max richtete sich auf und streckte mir die Hand hin, um mich auch hochzuziehen. Dankend nahm ich sie an und als er loslief und gerade die Türklinke nach unten drücken wollte, drehte er sich um.
„Ich hab dich angelogen, Lola. Phil und ich, wir dachten, dass du schneller über ihn hinwegkommst, wenn wir…wenn ich dir sage, er hätte eine Neue. Das Mädchen im Krankenhaus ist seine beste Freundin…“Mir blieb der Mund offen stehen. Was hatte er da gerade gesagt? Ich konnte meinen Ohren nicht trauen. Ich stand auf, lief an ihm vorbei und öffnete die Tür des gegenüberliegenden Zimmers. Darin saß Mila zusammengekauert in einer Ecke auf einem beigefarbenen Sitzsack und hielt ein Foto von Phil in den Händen. Sie hob nicht einmal den Kopf, als ich eintrat. Ich kniete mich vor sie hin.
„Mila? Soll ich dir was zu essen machen?“ Ich versuchte, so behutsam wie möglich mit ihr zureden, über etwas alltägliches, damit sie abgelenkt wurde. Aber es sollte mir nicht gelingen. Sie schüttelte nur ganz leicht den Kopf. Dann erst sah sie mich direkt an mit ihren großen Puppenaugen und fragte mich:
„Lola, meinst du, er wird wieder aufwachen?“ Ihre Stimme war zittrig, weinerlich, schwach.
„Natürlich wacht er wieder auf, Schatz! Du darfst nicht denken, dass er das nicht tut. Er wacht wieder auf, ich bin mir sicher!“ Doch ich glaubte meinen eigenen Worten nicht. Ich war doch genauso wie Mila gewesen damals Ich hatte ständig gefragt, ob er denn zurückkommt, aber er kam doch nie. Mein eigener Bruder war nie wieder zurückgekommen, um sich von mir zu verabschieden und ich konnte ihm nicht mehr sagen, wie sehr ich ihn liebte. Ich war nur so voller Hass gewesen. So voller Hass, dass er immer alles bekam, immer im Mittelpunkt stand. Ich war so dumm gewesen.
Max war hinter mich getreten. Nach ein paar Sekunden hob er Mila hoch und trug sie ins Bett. Irgendwie passte es nicht ins Bild, wie er dieses dreizehnjährige Mädchen trug. Aber sie ließ es zu.
„Mila, bleib hier liegen. Lola und ich gehen uns jetzt waschen und dann fahren wir zurück ins Krankenhaus, ok? Und auf dem Weg holen wir uns was zu Essen, einverstanden?“ Bei ihm klappte das mit dem Ablenken wohl besser. Ein minimales Strahlen huschte über das triste Gesicht und sie nickte. Ich wollte mich wegdrehen, da hielt Mila mich an der Hand fest.
„Bleib hier! Lass mich nicht alleine!“, flüsterte sie, aber darin lag ein Flehen, das mir die Tränen in die Augen trieb. Ich wusste selbst nicht, was ich fühlte, aber ich spürte wie Mila litt und ich wusste es auch. Max war schon im Bad verschwunden.
„Süße, ich weiß ganz genau, wie du dich fühlst.“
„Wie willst du das wissen? Du hast keinen Bruder!“, unterbrach sie mich bissig.
„Ich weiß es einfach, ok? Glaub mir das einfach. Ich bin mir sicher, er wacht wieder auf! Mila, er wird nicht sterben. Er ist stark. Er wacht ganz sicher wieder auf. Er muss wieder aufwachen!“ Ich wusste nicht, ob ich Mila beschwichtigen wollte oder mich selbst, denn ich wünschte mir in diesem Moment nichts mehr, als dass alles wieder war wie zuvor. Als ich noch mit ihm zusammen gewesen war, er noch in Hamburg gelebt hatte und mich noch nicht alles an Marco erinnert hatte. Mila, wusste ich, machte die Hölle durch und sie war zwei Jahre älter, als ich es damals gewesen war. Sie verstand mehr und das war das große Problem an der Sache, weil der Schmerz nach einem oder zwei Jahren stärker wurde. Ich wurde älter und mir wurde immer mehr klar, dass er nie wieder zurückkommen würde.
„Wie kannst du dir so sicher sein?“, wisperte sie.
Ich zuckte mit den Achseln und fragte sie, ob ich ins Bad gehen könnte, um mich zu waschen.
Diesmal war ich mir sicher, dass sie warten würde. Ich tappte mit meinen nackten Füßen in den Flur und sah in das nächste Zimmer. Doch darin befand sich kein Bad, es war das Schlafzimmer von Sabrina und Peter, vermutete ich. Im letzten Zimmer, das ich passierte, zuvor kam nur noch eine Treppe und eine Abstellkammer, fand ich das Bad vor. Ich klopfte zaghaft an und nach ein paar Sekunden öffnete mir Max die Tür und ließ mich mit einer galanten Handbewegung ein. Ich schüttete mir Wasser ins Gesicht und rieb die Mascara von den Augen. Als ich in den Spiegel blickte, waren unter meinem Auge lange schwarze Streifen. Ich schüttelte den Kopf und suchte dann in einer der Schubladen nach Mascaraentferner.

„Deine Mutter ist da, Lola.“ Sabrinas Stimme war rau vom Weinen.
Ich bewegte mich keinen Zentimeter von Phils Bett weg, ließ seine Hand nicht für eine Sekunde los. Starrte nur weiter sein Gesicht an. Ich biss die Zähne zusammen, wollte nur noch schreien. Aber ich hatte es satt, meine Gefühle preiszugeben. Ich spürte einen heftigen Windhauch, als meine Mutter ins das weiß gestrichene Zimmer stürmte. Doch so abrupt wie sie hineinkam, blieb sie stehen.
„Was-ist-DAS? Und lüg mich jetzt bloß nicht an!“, schrie sie gellend durch das Zimmer. Während ich langsam meinen Kopf zur Seite drehte, konnte ich schon das rote kleine Buch erkennen, das sie fest in ihrem Griff hielt. Ich erhob mich und wollte es ihr entreißen, doch sie hielt es hinter ihren Rücken.
„Du hast sein Tagebuch gestohlen? Aus den Dingen, die ich weggeworfen habe? Ich hatte dir ausdrücklich verboten, auch nur eine einzige Sache von ihm zu behalten. Dann finde ich in deinem Schrank ganz hinten in der Ecke auch noch sein Sweatshirt und das Skateboard. Ich fasse es einfach nicht! Und jetzt, jetzt fährst du einfach ohne unsere Erlaubnis nach Köln, mitten in der Nacht, siehst aus wie eine Nutte und bist schon wieder bei diesem Jungen!“ Ich schloss die Augen.
„Ja, Ich habe es nicht gestohlen! Du wolltest mein Leben wegwerfen, ich hab es gerettet! Hast du mich denn jemals gefragt, ob ich diese Dinge nicht behalten möchte! Ich will nicht davonlaufen so wie du, verstehst du? Nicht immer nur wegrennen vor dem Schmerz! Es gehört mir! Gib es her!“. Nur den letzten Satz schrie ich. Eine Krankenschwester stürzte hinein und bat uns entnervt, das Zimmer zu verlassen und im Foyer weiterzureden, jedoch um einiges leiser. Wutentbrannt stöckelte ich meiner Mutter hinterher auf den Pumps vom Partyabend und in dem Kleid, das ich immer noch trug.
„Du willst mir also jetzt sagen, ich bin Schuld an allem? Das hast du dir aber schön zuzuschreiben, junge Dame! Wer war denn zuletzt mit ihm auf der Piste?“
„Wie kannst du so etwas nur sagen? Wie? Ich bin deine Tochter!“ Ich konnte nicht genau sagen, was in diesem Moment in ihrem Gesicht vor sich ging, aber ich wusste es, als sie den Mund aufmachte.
„Meine Tochter…meine Tochter.“ Es war als wüsste wie endlich, wen sie vor sich hatte. „Ich wollte dich nicht anschreien. Nein, das wollte ich nicht. Ich will dich nur schützen vor diesem Jungen, der dich doch nur wieder das Herz bricht! Schau dich doch an, Laura! Du hast tagelang dein Essen boykottiert und jetzt isst du auch nur unregelmäßig. Du bist so dünn geworden! Dieser Junge ist nicht gut für dich!“. Ihre Fürsorglichkeit machte mir zuerst ein wenig Angst, doch dann erkannte ich, welche Chance sich mir hier auftat. Sie war endlich offen für meine Worte. Sie war zum ersten Mal nicht auf Abstand.
„Er ist da gewesen, als du immer nur dich selbst gesehen hast! Er hat mir den schmerz genommen, auch wenn er nichts von Marco wusste! Ich weiß immer noch besser, wer gut für mich ist! Du kennst mein Leben doch gar nicht!“, schrie ich sie an. „Ich geh jetzt wieder hoch. Ich kann nicht auch noch Phil verlieren! Und wenn du dann ein richtiges Internat gefunden hast, kannst du mich ja abholen!“
„Ich will dich doch gar nicht in ein Internat stecken! Nur bist du von Phil im Stich gelassen worden, ich will nicht, dass er dich wieder so verletzen kann. Bitte, es tut mir Leid, dass ich keine gute Mutter war. Natürlich kann ich es nicht rückgängig machen, aber ich will wieder ein Teil deines Lebens sein. Pass auf, wir bleiben hier bei Phil bis die Schule wieder anfängt. Einverstanden?“ Ich war über ihre Offenheit erstaunt, aber ich willigte ein. Ich war mir sicher, dass ich es nicht bereuen würde.
Ich lief mit meiner Mum im Schlepptau die Treppen hoch. Jeder Schritt tat mir in den Beinen weh. Seit Tagen kam ich nicht aus diesen Klamotten raus und ich fühlte mich so unwohl. Ich ließ mich auf die Plastikbank neben Max fallen und legte meinen Kopf auf seine Schulter. Er zuckte kurz zusammen. Ich schloss die Augen, ich war so schrecklich müde. Eine Träne kullerte meine Wange hinunter. Ich konnte meine Mutter mit Sabrina reden hören. Nur so Dinge wie, es würde ihr sehr Leid tun und, dass sie in Gedanken bei ihm sei. Auch wenn es wahrscheinlich nie so sein würde. Eine Haarsträhne hing mir fettig ins Gesicht. Ich pustete sie weg und rutschte von Max’ Schulter hinunter auf seinen Schoß. Ich legte meine Beine hoch.
Als ich nach ein paar Sekunden blinzelnd die Augen öffnete, stand meine Mutter vor mir und hielt mir ihr iPhone hin.
„Du solltest Cassy anrufen. Sie hat sich schon so oft nach dir erkundigt.“ Ich nickte nur und nahm es entgegen. Ich wusste, ich hatte nicht die Kraft dazu, sie jetzt anzurufen. Ich öffnete meine Facebook-Seite. 10 neue Nachrichten und einen Haufen anderer Benachrichtigungen ließ ich unbeachtet, ich schrieb sofort eine Mail an sie.


Lola Stattler

09.08.10 um 13.20 Uhr

Hey Cassy,
wie geht es dir? Wie läuft es mit Nick?
Tut mir Leid, dass ich mich nicht gemeldet hab, aber mein Handy ist doch kaputtgegangen. Du weißt schon bei Marcel.
Phil liegt im Koma. Ich komm nicht zu klar damit. Es ist einfach so irreal. Er wollte sich umbringen. Er hat einen ganz eindeutigen Abschiedbrief hinterlassen.
Ich mache mir solche Vorwürfe, weil er darin sagt, dass er es nicht mehr aushalten konnte, ohne mich zu sein.
Ich verstehe nicht, Cassy, wie er darauf kommt! Ich verstehe es nicht! Ich hätte das verhindern müssen, aber ich wüsste nicht einmal, wie ich Kontakt zu ihm hätte aufnehmen können. Ich komme pünktlich am Montag in die Schule, dann müssen wir reden, ja?
Sag den anderen Grüße von mir (und Max)
Ich liebe dich.

Ich klickte auf „Senden“. In der Chatleiste konnte ich erkennen, dass sie ebenfalls on war. Ich wartete kurz auf eine Antwort.


Cassandra Miller

09.08.10 um 13.25

OOOOOH MEIN GOTT!!!
Phil liegt im KOMA??? Nein, das kann nicht wahr sein, echt! Ich fass es nicht! Wie kann das sein? Er WOLLTE dich doch nicht mehr. Wieso wollte er sich dann genau deswegen umbringen? Ich glaube das nicht.
Völlig egal, was mit Nick und mir ist. Wie geht es dir Max und Mila? Meinst du Mila verkraftet das? Sie liebt ihn so.
Jetzt sitz ich hier heulend vor dem PC und muss sofort Nick anrufen, der weiß ja genauso wenig wie ich. Nein, ich muss alle anrufen!
Wenn du irgendetwas brauchst, dann sag es mir! Ich fahr, wenn nötig auch nach Köln. (Deine Ma hat mir gesagt, dass ihr da seid).
Halt mich auf dem Laufenden und ich bete für euch.
Ich liebe dich.


Lola Stattler

09.08.10 um 13.33 Uhr

Ich weiß nicht, wie es mir geht. Ich bin so schrecklich müde. Ich will einfach nicht mehr. Er fehlt so sehr.
Max redet nicht mehr. Seit drei Stunden schon nicht mehr. Und ich denke auch nicht, dass er das wieder tun wird, wenn Phil nicht wieder aufwacht.
Mila weint die ganze Zeit oder sitzt schluchzend in einer Ecke. Nicht einmal Sabrina kommt an sie heran.
Und dann ist da ja auch noch diese Bitch, die angeblich seine beste Freundin ist.
Erinnerst du dich noch an meine Sms, die ich dir geschrieben habe, als du in Florida warst??? Dass er jetzt ne Neue hat. Das war gelogen. Eine Inszenierung von Phil und Max, um es mir leichter zu machen oder was auch immer! Sie ist seine beste Freundin, behaupten sie.
Ich will hier schnellstmöglich weg, aber irgendwie auch nicht. Ich will bei Phil sein und gleichzeitig auch einfach nur mein voriges Leben leben.
Krankenhäuser machen mich so unendlich traurig.
Ich wünschte, du wärst hier, aber ich muss das alleine bewältigen. Ich vermisse dich.

Ich loggte mich aus und gab meiner Mum ihr iPhone zurück. Wieso musste ich immer diesen Schmerz bewältigen, wieso immer ich. Ich wollte so sehr schreien, aber was würde das bezwecken? Ich krallte meine Finger mit dem abgeblätterten Nagellack in Max’ Hose. Er schien das nicht einmal zu spüren.
Ich stand auf und lief zu dem gekippten Fenster links neben der Bank. Eine weiße Taube flog daran vorbei und glitt auf ein Hausdach in weiter Ferne. Sie hatte es gut. Sie konnte wegfliegen in den Horizont, weg von den Problemen in ein besseres Leben. Sie hatte wahrscheinlich keine Verpflichtungen. Sie konnte tun und lassen, was sie wollte. Gehen, ohne sagen zu müssen, wohin. Am liebsten wäre ich sie. Dann würde ich hoch in den Himmel fliegen, mich auf eine Wolke setzen und warten bis Marco mich holen kommt. Vielleicht würde ich sogar Gott fragen können, ob er Phil nicht sterben lässt.
Aber all das spielte sich nur in meiner Illusion ab, denn ich war keine Taube und ich konnte nicht fliegen und ich würde es auch nie können. Die Sonne ließ sich nicht blicken an diesem Tag und sie würde wohl auch nicht so bald wieder kommen. Meine Mutter trat neben mich und legte ihren Arm um mich. Wenn ich die Kraft gehabt hätte, hätte ich mich abgewandt, aber ich hatte sie nicht mehr. Sie fing an zu reden.
„Lass uns hier weg. Sabrina ruft uns an, wenn es etwas Neues gibt. Dann gehst du duschen und ich lass einen Kakao ins Zimmer bringen, ja? Ich hab’ dir auch frische Klamotten mitgebracht und deine Jogginghose. Und Marcos altes Sweatshirt…Morgen früh kommen wir wieder her. Ist das ok für dich?“ Ich nickte müde. Es würde sowieso nichts nützen, wenn ich mich dagegen wehrte. Ich warf einen letzten Blick in Phils Zimmer, sah wie das Gerät, das den Herzschlag überwachte, zackige Linien aufzeichnete und hörte, das Beatmungsgerät rauschen. Ich hoffte so sehr, dass ich ihn wieder sehen würde, wenn ich morgen früh in dieses Zimmer kommen würde.
Ich umarmte Mila und Sabrina zum Abschied und bekam ihre Beteuerungen, dass sie mich benachrichtigen würden. Max legte ich die Hand auf die Schulter. Er hob den Kopf und ich konnte erkennen, dass er geweint hatte.
Ich stieg in unseren Porsche Cayenne mit der edlen Innenausstattung. Eine Klatschzeitschrift lag auf dem Beifahrersitz. Auf dem Titel waren zwei miteinander turtelnde C-Promis, deren Namen man sicher einmal gehört hatte, der aber so unspektakulär war, dass man ihn sofort wieder vergessen hatte. Ich wusste in diesem Augenblick nicht, wieso ich gerade an so etwas dachte. Meine Mum fuhr unser Auto bis vor den überdachten Eingang. Wir stiegen aus, der Hotelier sah mich mit einem abschätzigen Blick an, was ich wohl auch getan hätte, wenn ich jemanden in diesem Aufzug sehen würde, und meine Mum übergab dem Hotelier den Autoschlüssel. Er würde das Auto in die Parkgarage fahren. Ich stakste auf den hohen Schuhen ins Foyer, ständig begleitet von den Blicken der Menschen, egal ob Angestellte oder Hotelgäste. Ich wollte nur noch schnellstmöglich weg von hier und schlafen.

Ich knallte meinen Kopf schon seit Minuten immer und immer wieder in mein Kopfkissen, starrte dabei die Decke an und überlegte, ob ich nun aufstehen sollte oder nicht. Mein Herz raste und klopfte ständig an meine Brust. Ich konnte das Blut durch meinen Kopf in den Ohren rauschen hören. Ein kleiner Sonnenstrahl fiel durch einen Schlitz zwischen den zugezogenen weißen Vorhängen auf das Kissen neben mir. Aus dem Badezimmer gegenüber, ich war mir zu diesem Zeitpunkt zumindest sicher, dass es sich dort befand, drangen Geräusche des aufprallenden Wasserstrahls. Neben der Badezimmertür stand ein Tisch, auf dem eine schwarze Vase dekorativ stand.
Nach ein paar Minuten, ich hatte mittlerweile aufgehört meinen Kopf auf das Kissen zu schlagen, drehte sich der Schlüssel zur Badezimmertür im Schloss und meine Mutter kam heraus. Sie hatte das weiße Handtuch mit dem Logo des Hotels umgeschlungen. Zum ersten Mal seit langem fiel mir auf, dass sie für ihr Alter eine wahnsinnig gute Figur hatte. Ihre langen Braunen Haare fielen ihr, obwohl sie noch nass waren, wellig über die Schulter. Sie zog einen hölzernen Stuhl neben meine Bettseite und holte ihren roten Nagellack aus dem Bad. Sie stütze ihren rechten Fuß auf der Bettkante auf und fing an zu lackieren.
„Guten Morgen, mein Schatz. Wie geht es dir, hm? Ist es besser?“, begann sie.
„Morgen. Nein, ist nicht besser“, entgegnete ich ihr mürrisch, ich war nicht aufgelegt für Smalltalk.
„Ich denke, da lässt sich doch was tun! Komm, lass uns ein bisschen shoppen gehen! Dann lenkt dich das ein bisschen ab, ja?“
„Wie kannst du jetzt nur an shoppen denken? Mein Freund liegt in diesem Krankenhaus im Koma, er wacht vielleicht nie wieder auf. Du kannst nicht denken, nur weil ich mit ins Hotel gekommen bin, sind die letzten fünf Jahre wie ausgelöscht! Du warst doch nie da für mich, also bitte tu nicht so, als würde ich dich jetzt interessieren. Nach fünf Jahren, in denen ich immer alleine war, kommst du auf einmal angekrochen. Aber nichts ist gut, verstehst du? Rein gar nichts.“ Ich hatte mich in Rage geredet. Die Worte waren zuletzt nur noch aus mir herausgesprudelt. Ihr Gesicht zeigte anfangs keine Regung, doch während ich redete, konnte man ihr immer mehr Niedergeschlagenheit in ihrem Gesicht ablesen.
„Aber ich…weißt du, das war nicht leicht für mich. Ich hatte nur noch meinen Schmerz im Kopf. Ich kann diese fünf Jahre nicht wieder gutmachen, ich weiß das! Aber ich will die nächste Zeit eine bessere Mutter sein.“
„Kannst du nicht einfach mal sagen, dass es dir leid tut?“ Sie sah mich an mit diesem Blick, bei dem ich nicht sagen konnte, was sie fühlte.
„Bin ich wirklich so eine schlechte Mutter? Sei ehrlich!“
„Ja, die letzten fünf Jahre warst du das. Zuvor warst du die beste Mutter, die man sich vorstellen konnte.“ Ich musste lächeln, als ich an die alte Zeit zurück dachte. Sie fehlte mir. Die Zeit und meine Mutter. Und dann geschah etwas, das meine ganze Welt von Neuem auf den Kopf stellen sollte. Sie stand auf, kam auf mich zu und nahm mich in den Arm, aber nicht als wäre es ihr egal, wen sie da im Arm hielt. Ich wusste, dass es ihre Art der Entschuldigung war. So schnell konnte ich ihr jedoch nicht verzeihen. Ich willigte also zum Shopping ein. Sie hatte recht, es würde keinen Sinn machen nur neben ihm zu sitzen, zu warten, zu hoffen.
„Mum, ich hab nichts zum Anziehen! Shit!“, rief ich ihr ins Bad zu, wohin sie sich verzogen hatte um ihre Haare trocken zu föhnen.
„Habe ich schon daran gedacht. Schau mal in den Schrank, linke Tür. Ich habe einfach mal deine Lieblingsteile mitgenommen.“ Ich fragte mich, ob sie überhaupt wusste, was meine Lieblingsklamotten waren, doch ein Blick in den Schrankteil - der so groß war wie ein normal großer zweitüriger Schrank – bestätigte ihre Aussage. Mein roséfarbenes Plisseekleid, meine schwarzen Leggings, die Ballerinas und meine zahlreichen Haarbänder. Ich wusste zwar nicht, was mein rotes Kleid vom Schulball und die schwarzen Pumps im Schrank zu suchen hatten, aber ich war mehr als zufrieden. Neben den Basics lag noch mein halber Inhalt meines eigenen Kleiderschranks darin. Wozu brauchte ich so viele Klamotten?
Ich zog einen blauen Rock, eine blaue Strumpfhose und ein rot-weiß gestreiftes T-Shirt heraus und zog es an. Ich öffnete die Haare und befreite sie vom Haargummi. In leichten Wellen umrahmten sie mein Gesicht. Ich musste gestern noch geduscht haben, bevor ich eingeschlafen war, denn sie waren nicht mehr fettig, aber ich konnte mich nicht mehr erinnern.
Ich tappte ins Bad und sah das Glätteisen auf dem Waschtisch aus Marmor liegen sehen. Ich griff danach und glättete nur meinen Pony. Ich nahm noch ein bisschen Wimperntusche und Make-up aus dem Schminktäschchen meiner Mutter und trug es auf. Den nudefarbenen Lippenstift zog ich in einem Zug über meine leicht aufgerauten Lippen, die seit dem Anfang meiner Partywoche nicht mehr gepflegt wurden. Mir gefiel dieser Look. Es war nicht so aufgesetzt, das war mehr das alte „Ich“.
Meine Mum war schon aus dem Zimmer verschwunden und als sie wieder kam, war sie perfekt gestylt und zum Aufbruch bereit. Ich lächelte zaghaft. Nach einem letzten prüfenden Blick in den Spiegel rannte ich aus dem Bad und kombinierte noch schnell Ballerinas und eine blaue Handtasche dazu, nahm meine Lederjacke vom Hacken und folgte ihr zur Tür hinaus, wo sie schon auf mich wartete.


20

Ich schleppte drei große Tüten mit mir und lief durch die Innenstadt von Köln. Meine Füße schmerzten schon und ich hatte das Gefühl meine Arme würden mir gleich ausreißen. In den Tüten lagen Unmengen an T-Shirts und Jeans, Kleidern und Röcken. Teurer Schmuck war in ein kleines Tütchen eingepackt, das seinen Platz sicher in meiner Handtasche gefunden hatte. Wir steuerten eine Boutique an. Ich liebte Läden, in denen man stöbern und Teile heraus kramen konnte, die sich zu einem wunderschönen Lieblingskleidungsstück entpuppten. Das war einer dieser Läden, doch als ich auf den Preis sah, wurde mir fast schlecht. Hier kostete sogar ein T-Shirt weit über 100 Euro, aber dann wurde ich mir wieder bewusst, dass Geld in meinem neuen Leben nun keine so große Rolle mehr spielte. Ich lief durch die zwei Räume, durchforstete jeden einzelnen Schrankständer und fand nach ein paar Minuten ein wunderschönes grünes Seidenkleid. Ich nahm es mit in die Kabine und stellte zu allererst meine Tüten ab. Ich streifte meine Klamotten hinunter bis auf meine Strumpfhose und meinen BH und begutachtete mich im Spiegel. Meine Rippen und Hüftknochen stachen hervor und mein Bauch war nur noch ein Hauch von nichts. Ich versuchte mich zu erinnern, wann ich zuletzt etwas zu Essen zu mir genommen hatte, aber ich wusste es einfach nicht mehr. Ich probierte das Kleid an, doch es war mir zu weit in Größe 32 und kleiner konnte es das nicht geben. Ich zog mich wieder an – mein Rock saß auch zu locker an der Taille – und hängte das Kleid zurück an seinen Platz.
„Mum, ich hab Hunger! Gehen wir was Essen?“, fragte ich sie, als ich vor ihr stand und in ihr hübsches faltenfreies Gesicht sah, das nicht zuletzt durch Botox so glatt war.
„Du möchtest etwas Essen gehen? Ja, natürlich. Wohin willst du? Ach, was red ich da, ich suche einfach schnell im Internet nach den besten Restaurants der Stadt. Wozu hab ich denn dieses Ding, mit dem man so leicht ins Internet kommt?“. Sie redete wie ein Wasserfall und bevor sie sich auf die Suche machte, was sich bei ihr nur um Stunden handeln konnte, denn sie verstand es noch nicht so ganz, wie man das iPhone bediente, unterbrach ich sie.
„Mum, ich hab eigentlich ziemlich Lust auf einen Döner. Natürlich nur, wenn dir das nichts ausmacht…“
„Nein, das ist nicht schlimm. Komm, lass uns gehen! Einen Döner willst du also essen. Das ist super. Natürlich. Einen Döner.“ Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus, während wir durch Köln liefen auf der Suche nach einer Imbissbude, der sich gar nicht so weit weg von der Boutique befand. Meine Mutter stellte die Taschen neben dem Tisch ab und beschloss, dass ich mich schon einmal an einen freien Tisch setzen und auf unsere Taschen und Tüten aufpassen sollte. Der Dönerladen war schön eingerichtet und nicht so schmierig wie die Stände. Als meine Mum sich mit meinem Döner und einem Wrap für sich an den Tisch setzte, biss ich herzhaft hinein. Nach dem ersten Bissen aß ich immer schneller, schlang ihn in mich hinein und hätte, als ich aufgegessen hatte, sofort einen Zweiten essen können.
Ich wollte gerade aufstehen, um eine Serviette von der Theke zu holen, da klingelte das Handy, das auf dem Tisch lag. Ich hielt den Atem an, während alles wie in Zeitlupe ablief. Ich konnte sehen wie die Hand meiner Mutter im Sekundentakt immer näher an das Handy gelangte und es schließlich wieder ganz langsam ans Ohr hielt. Sekunden vergingen, in denen ich alles daran setzte, ihr nicht das Handy wegzureißen, um selbst die Worte zu hören, die meiner Mum die Mimik entgleiten ließ. Ich ballte meine Hände zu Fäusten, meine Beine zitterten und ich konnte in diesem Moment sogar das Wasser aus dem Wasserhahn hören, der hinter der Theke war. Und plötzlich, als meine Mum aufgelegt hatte, löste sich die Zeitlupe und das Leben raste wieder an mir vorbei.
„Pack deine Sachen zusammen! Wir fahren ins Krankenhaus. Er gibt erste Anzeichen!“
Sie zog einen zehn Euroschein aus dem Geldbeutel legte ihn auf den Tisch und rannte mit mir auf ihren zwölf Zentimeter Absätzen in das Parkhaus am anderen Ende. Meine Tüten behinderten mich beim Rennen, schlugen mir immer wieder gegen die Beine und ich bekam schon nach ein paar Schritten keine Luft mehr, aber ich zwang mich durchzuhalten und weiter zu rennen.

Ich rannte gegen die Schwingtür und ignorierte den Schmerz, den das an meinen Unterarmen verursachte. Ich sah Schwestern und Ärzte in weißen Kitteln, wie Marionetten sahen sie aus in meinem Kopf, der vom vielen Denken keine klaren Bilder mehr zustande brachte. Ich atmete schwer und meine Fußsohlen brannten wie Feuer. Immer, wenn ich dachte ich wäre am Zimmer, wurde der Gang wieder länger, immer länger. Kurz vor seinem Zimmer bremste ich ab, schnappte nach Luft, während die Schritte meiner Mutter, die auf ihren hohen Hacken nicht schneller rennen konnte, sich näherten. Ich drückte die Tür auf.
Um das Bett herum standen und saßen sie. Max, Sabrina, Mila, Peter und Maria, seine beste Freundin und ein Arzt und zwei Schwestern. Mila rannte auf mich zu, zog mich bei der Hand in den Kreis, den sie gebildet hatten, direkt auf den Stuhl neben seinem Bett. Auf der anderen Seite saß Sabrina. Ich griff nach seiner Hand. Phils Augen flatterten und er zuckte immer wieder zusammen. Ich drückte fester zu. Ich konnte spüren, wie das Leben in ihm erwachte, konnte spüren, wie sich jeder Muskel anspannte. Und da drückte er ebenfalls leicht zu. Mein Herz setzte aus, bevor es anfing zu rasen. Ich sah zu Sabrina, die es ebenfalls gespürt hatte, wie sie mir in einer Geste zu verstehen gab. Ich konnte kalte Blicke in meinem Rücken spüren und wusste auch sofort, von wem sie kamen. Ich drehte mich langsam um und sah Maria in die Augen, diese wunderschönen Augen, in denen sich jemand wie Phil sicherlich schon verloren hatte. Sie waren ganz klar und in dem schönsten Blau, das ich je gesehen hatte. In diesem Moment war alles so surreal, das mir ebenfalls auffiel, dass Sabrina ein Muttermal an der rechten Seite des Halses hatte. Maria wendete sich genervt ab und begutachtete wieder Phils Gesicht. Ich tat es ihr nach und sofort verstärkte sich der Druck wieder. Phil fing an zu wimmern und wurde immer lauter bis er irgendwann zu schreien begann.
„Nein, ich will das nicht! Nein! Nein! Nein!“ Er wiederholte es immer wieder und es sah aus, als würde er gegen einen inneren Feind ankämpfen. Er wälzte sich hin und her und krallte seine Fingernägel in meine Handinnenfläche. Ich unterdrückte den Schmerz so gut es ging.
Und endlich schlug er die Augen auf, die ihm sofort darauf wieder zufielen, wieder geöffnet wurden und wieder zufielen. Seine Pupillen waren groß und er sah erschrocken aus. Er musste wach bleiben, er musste bei mir bleiben! Ich sagte seinen Namen immer wieder erst leise und bald immer lauter, aber ich wusste nicht, weshalb. Ich wusste gar nichts mehr. Es war, als würde ich nicht mehr denken, als wäre alles, was sich in meinem Kopf befand Nichts, ein luftleerer Raum, ein Vakuum. Sabrina legte mir die Hand auf die Schulter und ich begann zu weinen.
Der Arzt begann uns jetzt alle rauszuschicken. Ich wollte ihn nicht loslassen, blieb sitzen, aber Max hob mich hoch und von ihm weg. Ich boxte ihm gegen die Brust, wollte dass er ging, mich alleine ließ, aber sein Griff lockerte sich nicht. Max setzte mich auf der Stuhlreihe vor dem Zimmer ab, aber ich sprang sofort wieder auf, zurück zur Tür. Peter war schneller und packte mich an den Armen und hielt mich fest im Griff. Ich wollte schreien, aber es kam nichts mehr aus meinem Mund. Meine Lippen waren trocken und aufgerissen. Tränen trockneten auf meiner Wange.

„Sie können jetzt zu ihm, Frau Trausten. Er ist noch ein bisschen schläfrig, aber er ist ansprechbar.“ Ich hob den Kopf. Sabrina, Mila und Peter liefen durch die Tür und ich konnte durch das Zimmerfenster sehen, wie sie sich zum Bett hinunterbeugten. Sie lachten. Ich wusste schon gar nicht mehr, wann Sabrina zuletzt gelacht hatte. Ich wollte in dieses Zimmer.
Nach ein paar Minuten streckte Sabrina den Kopf aus der Tür und winkte mich lächelnd zu sich.
„Mila, Peter, wir lassen die beiden jetzt besser alleine!“ Ich stand auf und wartete bis die drei das Zimmer verlassen hatten und ging hinein. Mein Herz setzte aus und ich rannte auf ihn zu. Schlang die Arme um ihn und küsste ihn auf die Stirn. Ich streichelte ihm durch die Haare und atmete schwerer.
„Du bist da, mein Schatz. Du bist da!“, stammelte er und rutschte ein Stück zur Seite.
„Komm, leg dich neben mich!“ Ich hob die Bettdecke hoch und folgte seiner Anweisung. Ich gab ihm einen weiteren Kuss auf die Wange.
„Ich hab dich so vermisst, Phil. Wieso durfte ich dich nicht mehr sehen? Wieso?“, fragte ich ihn.
„Ist das noch so wichtig? Ich liebe dich, ok? Ich will nur, dass du hier bleibst. Für immer, mein Liebling.“ Ich kuschelte mich näher an ihn und spürte seine Wärme. Wie lange ich das nicht mehr hatte. Ich war so glücklich in diesem Moment bis Max rein kam.
„Yo, alter! Bau nie wieder so ’nen Scheiß, Junge! Was geht?“, rief Max während er mit Phil einschlug, dessen Hand eher schlaff in Max lag.
„Was willst du eigentlich? Weißt doch selbst wie es war…Mann, hast du mich vermisst, mein Süßer?“ Er lachte und all die Romantik war dahin, aber seine Stimme hallte weiter in meinem Kopf nach und ich überhörte das Gespräch zwischen Max und ihm.
Ich wollte aufstehen, aber Phil hielt mich fest. Er sah mich an und Max ging wieder nach einer halben Ewigkeit. Er sah mich an mit diesem Blick, der mich immer wieder schwach machte. Er zog meinen Kopf ganz leicht zu sich, er war zu schwach, um ihn stärker zu sich zu holen, und gab mir einen kleinen Kuss auf die Stirn. Ich wollte den Knopf finden, mit dem man die Welt anhalten konnte und so verweilen bis wir starben, aber es würde sowieso nicht funktionieren. Zaghaft klopfte jemand an die Tür. Phil sagte energielos „Herein“ und dieses wunderschöne Mädchen stolzierte hinein und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
„Phil, ich lass euch am Besten alleine. Ich sehe später vielleicht noch einmal vorbei, Schatz. Erhol dich gut.“ In dem weißen Bett sah er so zerbrechlich aus, so verwundbar, so klein.
„Nein, bleib noch ein bisschen. Bitte! Ich will dich nicht schon wieder gehen lassen“, flüsterte er flehend.
„Lass sie doch! Sie hat allen Grund zu gehen!“, mischte sich Maria ein und lächelte mich ein weiteres Mal triumphierend an.
„Das geht dich nichts an, Maria. Ich verstehe ja, dass du sauer auf sie bist, aber es war meine Entscheidung. Du kannst sie mir nicht wegnehmen. Du weißt ganz genau, wie sehr ich sie liebe. Sie kann nichts dafür, dass ich sterben wollte. Wir haben doch schon so oft darüber geredet…“ Während Phil ganz leise weiter auf sie einredete, verließ ich das Zimmer. Er bemerkte es nicht einmal, sondern redete einfach weiter. Ich lief auf meine Mutter zu, die mich tröstend in den Arm nahm und sagte ihr, dass ich nach Hause wollte. Sie folgte meiner Bitte und fuhr mich ins Hotel.

Ich lag in der Badewanne im Hotel. IM Schlafzimmer polterte es und kurz darauf kam meine Mum ins Badezimmer und fragte mich, welche Schuhe sie heute Abend zum Dinner anziehen sollte. Da es mich nicht interessierte, zeigte ich einfach auf die Linken, blaue Lackpumps, und sie verließ mich wieder. Die Wanne war fast bis ganz oben gefüllt mit warmem Wasser und ich hatte ein Badesalz dazugegeben. Ich hatte die wasserfeste Schutzhülle um meinen alten iPod gesteckt und die Kopfhörer in den Ohren. Den iPod hatte ich schon vor zwei Jahren abgelegt, deshalb waren darauf auch nur alte Lieder. Ich spielte den ersten Song ab und tauchte mit dem Kopf unter Wasser. Das heiße Wasser umrahmte mein Gesicht und ich zuckte kurz zusammen.
In meinem Kopf herrschte das völlige Chaos. Ich kam nicht klar damit, dass ich mit meiner Mum in einer Hotelsuite lebte und sie sich um mich bemühte. Das war neu für mich, genauso wie die Situation mit Phil. Ich dachte, ihn nie wieder sehen zu können und jetzt kam er vielleicht bald zurück nach Hamburg, Sabrina hatte da etwas angedeutet. Phil und ich, wir hatten uns über die Monate ziemlich verändert, ich spürte ihn so schwach und ich wusste nicht, ob es daran lag, dass wir einfach nur fertig waren mit den Nerven oder, ob das ein Dauerzustand werden würde.
Ich wusste, dass ich ihn tief in meinem Herzen noch liebte, gnadenlos liebte, aber es war eingefroren. Ich hatte meine Gefühle zu lange unterdrückt, um sie wieder aufleben zu lassen. In meinem Kopf ließ ich das Jahr Revue passieren und all die wunderbaren Erinnerungen kamen zurück. Und auch die Schlechten. Ich konnte mich wieder sehen, wie ich tagelang in meiner ausgewaschenen Jogginghose am Fenster saß, den Himmel angesehen hatte und gehofft hatte, er würde wieder kommen. Wie ich merkte, dass in meinem Herz alles zusammenfiel und wie ich wünschte, dass mein Leben einfach enden würde und ich zu dem einzigen Menschen gehen könnte, den ich ebenso liebte wie Phil. Marco war mein Anker. Er würde es nicht wollen, wenn ich versuchen würde, mich umzubringen.
Doch wusste ich nicht, dass genau das mein Plan werden würde, mich selbst langsam und qualvoll mit meinem Leben abschließen sehen.

21

Ich stellte den Koffer im Flur des Zimmers ab, wo er später von einem der Hotelangestellten abgeholt werden würde. Meine Mutter lächelte mich an und ich erwiderte es milde. Wir wollten fahren und nicht mehr wiederkommen. Ich bewegte mich nur langsam und träge, schlurfte in meinen Uggs die Hotelgänge entlang und scherte mich nicht darum, ob mich jemand schief ansah, als ich in der pinkfarbenen Jogginghose und den ungewaschenen Haaren, die ich locker und unschön hochgesteckt hatte, vorbeikam. Ich hatte Kopfschmerzen, weil ich in der Nacht nicht schlafen konnte. Kein Auge hatte ich zu gemacht und Schäfchen gezählt, aber ich konnte einfach nicht einschlafen.
Ich stieg ins Auto ein und lehnte meinen Kopf an die kalte Scheibe. Meine Mutter startete den Motor und das Auto setzte sich in Gang. Nach einer Weile, wir hatten das Straßengewirr der Stadt noch nicht verlassen, fragte ich sie: „Können wir noch ins Krankenhaus? Dauert auch nicht lange, wirklich.“ Sie nickte stumm und fügte hinzu: „Beeil dich aber, ich werde hier auf dich warten.“ Das sollte mir nur recht sein und ich rannte ins Krankenhaus, sah noch einmal die Gänge und stand wieder vor seinem Zimmer, trat ein. Maria saß ein weiteres Mal neben ihm. Ihre Augen blitzten hasserfüllt auf. Es war mir egal, ich wendete den Blick von ihr ab und heftete ihn auf Phil. Er war ruhig, zu ruhig, fand ich.
„Du hast ihn geküsst“, stellte er fest. Er wirkte distanziert. „Du hast Max geküsst.“ Ich blickte ihm unverwandt in die Augen. Mein Herz schlug schneller und mir wurde warm.
„Woher weißt du das?“, fragte ich, bedacht darauf, mir nicht anmerken zu lassen, dass ich innerlich kochte.
„Er hat es mir gerade gesagt, bevor er gefahren ist. Ich frage dich nur ein einziges Mal, liebst du ihn?“ Seine Stimme war unterkühlt.
„Nein.“
„Wieso hast du es dann getan?“ Dass er plötzlich schrie, riss mich aus meiner Starre.
„Hattest du nicht sie?“ Ich zeigte auf Maria. „Hast du mir nicht weiß machen wollen, dass sie deine neue ist? Wir waren nicht einmal mehr zusammen! Also, was willst du von mir? Ich kann tun und lassen, was ich will. Ich hatte keine Verpflichtungen und ich habe sie immer noch nicht!“ Ich brüllte ihn an und konnte mit jedem Wort sehen, wie sehr ich ihn verletzte. Ich atmetet schwerer und ballte meine Hand zu Fäusten, spannte jeden einzelnen Muskel in meinem Körper an.
„Heißt das, dass du alles hinschmeißen willst?“ Ich konnte erkennen, dass er fast weinte. Aber in diesem Moment interessierte es mich nicht.
„Genau das heißt es! Du hast mir gesagt, du hast mich nicht geliebt! Erinnerst du dich, damals als du mich verlassen hast. Ich war nur dein Spielzeug!“ Ich legte eine dieser dramatischen Pausen ein, die in Filmen ständig gezeigt wurden, um die Spannung zu steigern. „Ich liebe dich jetzt auch nicht mehr! Das war es. Mach’s gut!“ Ich drehte mich um und ging. Zurück zum Auto. Ich riss die Autotür auf und sprang auf den Beifahrersitz.
Ich knallte die Tür zu.
„Was ist los?“, fragte meine Mutter.
Ich schwieg.

Die Macht, die Härte, die ich gespürt hatte, als ich mit ihm Schluss gemacht hatte, war vollständig verflogen. Als wir nach Hause gekommen waren, hatte ich mich in mein Zimmer verkrochen und die Tür verriegelt. Ich wollte nichts mehr hören und eigentlich auch nichts sehen. Ich spürte nichts mehr. Nichts. Ein einziges Mal war ich hinausgegangen, um auf die Toilette zu gehen. Ich hatte darauf geachtet, dass ich sie nicht zu Gesicht bekommen musste. Vorhin hatte ich das Zimmer aufgeräumt, alles an seinen Platz gestellt und den Boden gefegt. Meine Bettdecke und das Kissen aufgeschüttelt und die Dekokissen drapiert. Meinen Schrank ausgeräumt und wieder ein. Ich ließ mich von irgendeiner Kraft treiben. Ich wusste nicht woher sie kam, aber ich war dieser Kraft dankbar. Auch wenn meine Härte verschwunden war, war da immer noch der Hass. Der Hass auf ihn, auf Maria und der Hass auf mich selbst, denn ich wusste am Besten, dass ich ihn liebte, egal wie schwer die Zeit war, nachdem er mir gesagt hatte, dass er mich nur benutzt hatte. Aber das würde ich mir nie wieder gefallen lassen, mich von jemandem behandeln zu lassen wie jemand, mit dem man es ja anstellen könnte. Dachte er, ich hätte keine Gefühle? Nichts, was verletzt werden könnte.
Ich stand mitten im Zimmer und sah mich um. Alles war an seinem Platz, genauso wie es sein sollte.

Liebster Marco,
du weißt nicht, wie schwer es ist einen Menschen zu verlieren. Du musstest nie mit ansehen, wie jemand aus deinem Leben gegangen ist. Ich beneide dich darum, wirklich.
Du hast nie die Leere spüren müssen, die bleibt, wenn derjenige weg ist, den du liebst. Ich bin mir nicht sicher, ob ich die richtige Entscheidung getroffen habe, aber war es richtig, mich in die Tiefe zu stürzen, indem man mir sagt, ich sei nur eine Leiter, um auf der Beliebtheitsskala höher zu klettern? Ich denke nicht.
Großer Bruder, ich bin jetzt schon 4 Jahre älter, als du es gewesen bist, als du gestorben bist. Wie du jetzt wohl aussehen würdest? Wahrscheinlich wärst du bildschön und durchtrainiert. 17 Jahre wärst du jetzt alt und in 2 Monaten wärst du 18 geworden. Wie gern ich mit dir feiern gehen würde an deinem großen Tag! Weißt du, jedes Jahr an deinem Geburtstag habe ich eine Kerze angezündet, die nur für dich gebrannt hat. Hast du das gesehen? In den Momenten dachte ich wirklich, dass du mich gehört hattest, wie ich im Kerzenschein geflüstert hatte, leise, damit Mama und Papa mich nicht erwischen konnten. Das hätte ihnen sicher nicht gefallen.
Marco, ich werde die Erinnerung an dich nie verblassen lassen! Nie im Leben! Wenn du nicht wieder kommst, dann werde ich irgendwann zu dir kommen. Versprich mir, dass du da sein wirst und mich zu dir holst. Versprich es mir…
In Liebe
Für immer Deine kleine Schwester


Der nächste Morgen brach an. Die Ferien waren zu Ende. Ich schälte mich aus der Bettdecke und hüpfte aus dem Bett. Ich betrachtete mich in meinem Spiegel. Ich sah krank aus, aber das war nicht verwunderlich. Ich tappte mit nackten Füßen rüber ins Bad und stellte mich unter die Dusche.
Ich putzte meine Zähne und föhnte meine Haare, wusch mein Gesicht. Ich setzte den Eyeliner am Wimpernkranz an und zog eine saubere schwarze Linie. Ich tuschte die Wimpern stark und trug mein Make-up auf, um die Augenringe zu verbergen, genauso wie die Unebenheiten in meinem Gesicht.
In meinem Zimmer suchte ich meine graue Jeans und ein weißes lockeres Top. Ich zog eine Sweatjacke darüber an und schlüpfte noch schnell in meine Ballerinas. Meine Tasche hatte ich am Vortag bereits gepackt.
Der Kaffee war noch heiß, als ich ihn trank. Ich verbrannte mir meine Zunge und stellte die Tasse schnell ab. In dieser Sekunde betrat meine Mutter, vollständig angezogen und geschminkt, das Zimmer. Ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass meine Zunge brannte wie Feuer. Ihre blaue Bluse und die Chino-Hose umspielten ihre Figur und gaben ihr eine perfekte Silhouette. Aber leider konnten Klamotten einen Charakter nicht verbessern.
Ich trank die abgekühlte Tasse leer und lief in den Gang, um mir meine Jacke zu holen. Ich hatte Cassy gestern noch geschrieben, dass ich mit dem Bus fahren würde. Ich drückte den Knopf für den Aufzug, als meine Mutter hinter mich trat.
„Schätzchen, ich fahr dich in die Schule! Warte schnell.“
„Sorry, Mum, aber ich bin schon mit Cassandra verabredet. Wir sehen uns dann heute Abend“, entgegnete ich kühl und stieg erleichtert in den Aufzug ein, froh, dass ich nicht mit ihr fahren musste. Ich hatte genügend Zeit, um in Ruhe zum Bus zu laufen. Ich sog die letzten Sonnenstrahlen des endenden Sommers in mir auf. Ich stellte mich zu den Leuten dazu, die ebenfalls in der Wohnsiedlung wohnten, und wartete ungeduldig auf den Bus. Ich steckte die Kopfhörer meines alten iPods in die Ohren und hörte Musik.
Ich sah Maddie und Cassy auf demselben Platz sitzen, auf dem sie immer Platz nahmen und ging zu ihnen. Jede bekam einen kleinen Kuss.
„Mann, Lola! Du hättest mich echt anrufen müssen! Was ist mit Phil los?“, fragte mich Cassy. ‚Phil’, dachte ich, ‚Phil ist jetzt nicht mehr mein Phil.’
„Ich hatte doch gesagt, dass er nen Unfall hatte.“
„Vielleicht ein bisschen mehr? So seit waren wir bereits alle. Wie ist das passiert? Kommt er wieder zurück?“, fragte sie aufgeregt und sah mich erwartungsvoll an.
„Phil und ich, wir…wir haben uns getrennt gestern. Ich will nicht mehr über ihn reden“, erwiderte ich ihr völlig aus dem Kontext gegriffen. Vier Augenpaare weiteten sich gleichzeitig und starrten mich an.
„Ihr habt was?“, schoss es synchron aus ihren Mündern. „Das ist jetzt nicht dein Ernst! Wieso?“ Ja, wieso eigentlich?
„Ich weiß es nicht. Tut mir Leid, Mädels.“ Sie sahen einander an und schüttelten den Kopf. Was für ein Einstieg ins neue Jahr.
Ich betrat wieder Schulboden und konnte von weitem die Jungs und den Rest der Mädels sehen. Mit Maddie und Cassy im Arm kamen wir auf sie zu, umarmten sie. Max senkte den Blick, als er mich sah. Ich zog ihn zur Seite, weg von den anderen.
„Schau mich an, Max! Wieso hast du es ihm gesagt? Du hast alles kaputt gemacht! Ich dachte, du wärst mein Freund! Ich dachte, wir beide würden zusammen halten. Wieso, Max, wieso?“, schrie ich ihm ins Gesicht.
„Ich wollte…es…es tut mir Leid. Ich mach’s wieder gut, versprochen!“, stammelte er schuldbewusst.
„Da gibt es nichts mehr gut zu machen, ok? Wir sind nicht mehr zusammen! Du hast alles zunichte gemacht!“
„Das tut mir wirklich Leid! Ich wollte ihm und mir doch nur nichts vormachen…“ Am Ende des Satzes wurde seine Stimme leiser, fast brüchig.
„DIR nichts vormachen? Was solltest du dir denn vormachen?“
„Ich hatte es immer wieder angedeutet, du hast es nur nie verstanden. Ich liebe dich, Lola, seit Jahren liebe ich dich! Aber du hattest ja immer nur Augen für Phil! Ich hab es einfach nicht mehr ausgehalten, irgendwie musste ich euch ja auseinander bringen!“ Diesmal war ich es, der die Kinnlade hinunter fiel. Ich ließ ihn einfach stehen und kam zurück zu Cassy.
„Was war denn das gerade?“, erkundigte sie sich.
Ich schüttelte den Kopf.

Die Schulstunden hatten sich lange hingezogen und, als ich endlich das Schulhaus verließ, war von der Sonne nichts mehr zu sehen. Graue Wolken hatten sich zur Welt hinunter gebeugt, als wollten sie mich warnen. Warnen, dass ich keine Fehler mehr machen sollte. Die anderen gingen noch ins Café, um das neue Schuljahr zu feiern, aber ich wollte nicht mit. Mir war das zu viel und außerdem erinnerte es mich zu sehr an Phil, der nicht dabei war.
Ein paar Wochen würde ich noch ohne ihn auskommen können, aber dann würde er wieder zurück kommen. Ich wollte ihn eigentlich nicht mehr sehen. Nie mehr. Das sagte allerdings auch nur der eine Teil meines Herzens. Der andere wollte ihn immer noch mehr denn je.
Ich hörte nur auf den Teil, der ihn nicht mehr wollte, denn der verursachte wenigstens keine Schmerzen. Ich stieg aus dem Bus aus und setzte mich auf die Bank im Park, auf der er mir Lebewohl gesagt hatte. Ich konnte uns noch förmlich sehen, wie wir dort saßen und ich konnte auch die Gefühlsregungen noch spüren, aber eigentlich wollte ich das gar nicht. Wieso hatte ich mir auch gerade diese Bank ausgesucht, es gab so viele andere. Ich schüttelte den Kopf, um die Gedanken abzuwerfen, und konnte jemanden erkennen, der gerade in einiger Entfernung joggte und den Weg, der zu mir führte, wählte. Sein Gang war athletisch und seine Schuhe knirschten auf dem Kiesweg. Als er an der Bank ankam, bremste er ab und grinste.
„Lola!“, rief er mir zu, während er im Stand weiter in Bewegung blieb.
„Hey, Marcel! Wie geht’s dir?“, fragte ich ihn.
„Nicht schlecht. Dir hoffentlich auch?“ Ich nickte. Ihn gingen meine Probleme nun wahrlich nichts an.
„Ich muss auch schon wieder los, darf mir meine Zeit nicht versauen. Komm doch mal vorbei, du weißt ja wo ich wohne. Man sieht sich.“ Er winkte zum Abschied und rannte weiter. Ich ertappte mich selbst dabei, wie ich ihm auf den Hintern starrte, als er davon lief. Ich wusste, dass er gut aussah, aber nicht, dass er so gut aussah.
Eigentlich dachte ich nie, dass so ein Chaos in meinem Liebesleben einmal eintreten könnte. Erst gestand mir Flo seine Liebe, dann Max und Phil, der hatte entweder gelogen, war ein guter Schauspieler oder er liebte mich wirklich. Aber Flo und Max liebte ich nicht, ich liebte nur den einen.
Ich fasste den Entschluss, dass ich zu Marcel gehen sollte. Was hatte ich schon zu verlieren.

Ich klappte mein Notebook auf und loggte mich in Facebook ein. Ich las mir die Startseite durch und klickte dann auf Maddies Seite.

Magdalena Lauster ist jetzt in einer Beziehung mit Lenny Grünwald ♥
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Alle 12 Kommentare anzeigen
Isabelle Kattner Ich wünsch euch alles Liebe♥
Lola Stattler Viel Glück und nur das Beste! ♥

Ich hatte eine neue Nachricht. Ich klickte auf das Symbol.

Maximilian Milter

14.08.10 um 15:43 Uhr

Hey,
bitte vergiss, was ich vorhin gesagt habe.
Das war komplett scheiße, was ich da getan habe. Du bist meine beste Freundin und ich hoffe, du kannst mir irgendwann verzeihen.
Es stimmt, dass du wirklich wunderschön bist und attraktiv und ich dich nicht abweisen würde, aber du gehörst zu Phil. Das weiß man einfach.
Ich schwöre dir, dass ich so etwas nie wieder tun werde und ich mach das gut.
Lass uns bitte nicht streiten. Es tut mir Leid.
Er liebt dich und du liebst ihn, bitte, lass eure Liebe nicht wegen mir fallen.



Lola Stattler

14.08.10 um 15.50 Uhr

Es ist okay, Mäxchen. Ich nehm’s dir nicht mehr übel, ja?
Aber ich liebe Phil nicht mehr und er mich ebenfalls nicht. Das passt einfach nicht mehr. Wir hätten uns wahrscheinlich auch getrennt, wenn du ihm das nicht erzählt hättest. Ich denke, da ist einfach zu viel passiert.
Versuch nicht mal, das gerade biegen zu wollen, denn es ist gut genau so wie es ist.
Es tut MIR Leid, dass ich dich so angeschrieen habe. Das wollte ich nicht, denn eigentlich sollte ich dir dankbar sein, dass du mir die Augen geöffnet hast. Phil und ich passen einfach nicht zusammen. Das weiß ich jetzt endlich.
Kuss, bester Freund. ♥
Maximilian Milter

14.08.10 um 15:57 Uhr

Lüg dich doch nicht selbst an!
Du liebst ihn doch mehr als alles andere in deinem Leben! Wieso willst du das denn auf einmal nicht mehr sehen?
Ihr beide gehört zusammen.


Lola Stattler

14.08.10 um 16.04 Uhr

Du redest nicht von diesem Phil und dieser Lola…

Ich gab in der Suchleiste noch Phils Namen ein. Ich musste wissen, ob er seine Seite wieder für mich freigegeben hatte oder ob er sie jetzt erst recht gesperrt hatte. Doch zu meiner Überraschung konnte ich seine Seite wieder vollständig sehen. Es versetzte mir einen Stich, als ich sah, dass er immer noch ein Bild mit ihm und mir als Profilbild hatte. Wieso hatte er es noch nicht geändert?
Ich betrachtete noch Cassandras Seite, als in der Chatleiste Isas Name aufleuchtete.

Isabelle Kattner Hey, Süße
Lola Stattler Hi, na wie geht’s?
Isabelle Kattner Ganz gut und dir?
Lola Stattler Mir auch.
Isabelle Kattner Ich verstehe echt nicht, weshalb du nicht mehr mit Phil zusammen bist. Ihr beide wart so ein Traumpaar.
Lola Stattler Ach, waren wir das?
Isabelle Kattner Natürlich. Das weiß doch jeder.
Lola Stattler Es hat einfach nicht mehr geklappt
Isabelle Kattner Stimmt es eigentlich, dass er sich umbringen wollte, weil du…na ja, du weißt schon.
Lola Stattler Ja. Ich muss jetzt gehen. Noch was für die Schule machen. Wir sehen uns morgen, Süße. Kuss.
Isabelle Kattner Dicker Kuss.

Ich legte den PC zur Seite und holte meine Schultasche. Eigentlich hatten wir gar keine Hausaufgaben auf. Ich setzte mich wieder auf den Schreibtischstuhl, legte das Notebook weg und breitete meine Schulsachen aus. Ich hatte noch nicht die Zeit gehabt, die Blätter in meinem Timer auszutauschen und wollte das jetzt erledigen, als ein Foto aus dem Timer fiel. Ein Bild von uns allen, von der ganzen Clique. Ich lag in Phils Armen und alle lachten so herzlich, dass es mir die Tränen in die Augen schießen ließ. Ich wusste, dass diese Zeit nicht mehr kommen würde, wenn Phil und ich nicht mehr zusammen waren. Alles brach auseinander, weil wir uns nicht mehr liebten. Ich konnte mir nicht erklären, weshalb diese Clique nur Bestand hatte, wenn alles seinen Rang und seine Ordnung hatte. Bevor Phil herzog, waren wir doch auch eine Einheit. Ich verstand es nicht. Sie redeten mit mir, sie lachten mit mir, aber es war eine gewisse Fremde eingetreten, ein schweres Tuch, das auf unserer Freundschaft lastete.
Ich hatte Angst, dass ich ohne den Halt meiner Freunde, wieder fiel, noch viel weiter fiel und, dass ich mich wieder zurückzog, abschottete. Ich hatte Zweifel, dass ich ohne Phil jemals wieder richtig frei sein konnte. Aber ich hatte das alles selbst zu verschulden, denn ich war es, die den Stein ins Rollen gebracht hatte. Ich stützte meinen Kopf auf den Armen auf und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Ich hatte schreckliche Kopfschmerzen, die mich rasend machten.
Ich zog ein Sportshirt an, eine Sporthose und die Joggingschuhe und rannte aus dem Haus, vergaß sogar meinen iPod, weil ich nur noch weg wollte, dem Leben entfliehen. Ich hetzte mich selbst durch den ganzen Park, zurück, am Fluss vorbei bis ich schließlich, mir kam es vor, als seien viele Stunden vergangen, vor Phils altem Haus stand, zu seinem Zimmer sah und sich das Bild meines ersten Mals vor meine Gedanken schob. Wie ich da gelegen hatte, in der roten Unterwäsche mit Spitze, während er mit seinen Finger zaghaft meinen Körper gestreichelt hatte und behutsam die Unterwäsche hinuntergestreift hatte. Ich spürte jede einzelne Berührung auf meiner Haut, die mich erzittern ließ. Ich wandte mich ab, den Blick starr auf den Boden gerichtet, und versuchte, wieder meine Gefühle unterdrücken zu können.
Den Weg zurück zur Wohnung ging ich langsam, ich torkelte, ich hatte einfach keine Kraft mehr. Ich ließ die Badewanne im Bad ein und zog meine Klamotten aus. Ich legte mich hinein und sofort umspielte mich wieder die Wärme.

Es war viertel vor 2, als ich aufstand. Die Ferien waren seit ein paar Monaten zu Ende und der alltägliche Schulwahnsinn hatte wieder Einzug gefunden. Ich war in allen Prüfungen bereits besser als je zuvor, ich stürzte mich vollkommen in die Schularbeiten. Das lenkte mich ab und ließ keine ungewollten Gedanken zu, aber abends, als ich mit allem fertig war, als ich alle Matheaufgaben zehnmal durchgerechnet hatte, damit ich nicht aufhörte zu arbeiten, jeden Hefteintrag auswendig gelernt und alle Maßnahmen ergriffen hatte, damit ich am nächsten Tag sogar für Nebenfächer wie Musik vorbereitet war, kamen die Erinnerungen schlimmer zurück, als ich mir vorstellen konnte und ich wälzte mich in meinem Bett hin und her, um sie zu vertreiben. Es funktionierte nie.
Einmal war ich nachts in meinem dünnen Nachthemd in das Zimmer, das eigens für Marco eingerichtet worden war, gegangen und hatte neben seinem Bild geweint, ihn angefleht, dass er mir helfen müsste, aber was konnte ein Toter schon anrichten? Ich war mir manchmal gar nicht mehr so sicher, ob ich eine Verbindung zu meinem Bruder hatte. Denn welche Verbindung kann es geben zwischen Himmel und Erde? In der nächsten Nacht war ich auf die Terrasse gegangen und hatte die Lichter der Stadt überblickt und für einen kurzen Augenblick überlegt, wie es wohl wäre, sich jetzt einfach über die Brüstung fallen zu lassen. Wie einfach es wäre, danach nichts mehr fühlen zu müssen. Ich war wieder in mein Zimmer zurückgekehrt.
Als ich mich angezogen und geschminkt hatte, einen Kaffee getrunken und ein Brötchen gegessen hatte, wusste ich plötzlich, was ich zu tun hatte, wie ich Phil endlich wieder sehen könnte.
Draußen war es schon bedeutend kühler geworden und mein schwarzes Cape hielt die Kälte nicht ab, sodass ich bald bis auf die Knochen durchgefroren war, als ich auf den Bus wartete, der mich bis zu Marcels Haustür fahren würde. Während ich die weiß gestrichenen Häuser am Bus vorbeiziehen sah und die bunt gefärbten Blätter an den Bäumen und auf dem Boden erkennen konnte, überlegte ich, was ich Marcel sagen sollte. Es war schließlich schon eine Weile her, dass ich ihn gesehen hatte.
Ich stand vor dem großen dreckig-grauen Gebäude und konnte den Gestank von Urin und Hausabfällen schon riechen, bevor ich überhaupt die Tür geöffnet hatte. Ich suchte auf dem überdimensional großen Klingelschild Marcels Namen und fand ihn schließlich, nachdem ich bereits alle Namen von Fischer bis Hassan durch hatte. Ich drückte auf die Klingel und sofort brummte der Türöffner gewaltig. Ich drückte die Tür nach innen auf und lief hoch in den 3. Stock. Der Aufzug war defekt.
Marcel stand im Bademantel in der Tür und grinste mich an, während er mich mit fachmännischem Blick von oben bis unten gemustert hatte.
„Gut siehst du aus. Komm doch rein.“ Ich lächelte und trat ein. Zigarettenqualm drang mir entgegen und ich musste mich zusammenreißen, um nicht zu husten. Aber ich roch, dass es nicht nur einfache Zigaretten waren. Joints waren auch dabei.
Ich sah mich um und musste mit Erschrecken feststellen, dass ich mich überhaupt nicht mehr erinnern konnte, wie es damals ausgesehen hatte. Die Erinnerung war völlig ausgelöscht.
Ich setzte mich auf ein abgewetztes Sofa, das an der Wand stand und ziemlich abstoßend aussah. Marcel zündete sich eine Kippe an und setzte sich mir gegenüber. Er trug eine graue Jogginghose und ein weißes Muscle-Shirt, das seine durchtrainierten Arme gut zur Geltung brachte.
„Was führt dich her? Haben uns ja wirklich schon lange nicht mehr gesehen.“ Ich wunderte mich überhaupt, dass er sich noch an mich erinnern konnte, aber das spielte nun wirklich keine Rolle.
„Ich brauch was von deinen Pillen. Von den blauen!“ Mein Ton war fordernd und unterkühlt. Ich hatte nicht vor, länger als nötig zu bleiben und, wenn er mir nicht helfen konnte, dann würde ich sie mir eben auf einem anderen Weg beschaffen.
„Hast du denn was dabei? Das Zeug ist nicht gerade billig.“ Erst jetzt merkte ich, dass ich das wichtigste vergessen hatte, das Geld.
„Du hast also nichts? Aber wir können das auch anders regeln. Jetzt sofort.“ Er zog noch einmal an seinem Zigarettenstummel und drückte ihn daraufhin langsam im Aschenbecher aus. Ich schluckte, doch ich wusste, dass ich nicht umhin kommen könnte, ich brauchte diese Pillen. Ich zog meine Jacke aus und legte meine Tasche ab.
„Ich brauche erst die Pillen. Dann schlaf ich mit dir.“ Er lachte laut auf.
„Meinst du echt, ich bin so dumm? Du wirst eine einzige Pille bekommen, bevor wir schlafen und die anderen danach. Wir wollen ja nicht, dass du wegläufst, oder?“ Ich nickte und er griff in eine Schublade in dem großen aus schwarzem Holz gefertigten Wohnschrank, der mächtig an der Wand gegenüber dem Sofa lehnte. Er reichte mir eine der Pillen und ein Glas Wasser. Ich spülte sie sofort runter, in der Hoffnung, Phil wieder zu sehen. Es dauerte eine ganze Weile bis endlich das Gefühl der völligen Freiheit einsetzte, bis sich endlich der Zustand der völligen Schmerzfreiheit einsetzte. Jemand zog mir mein T-Shirt über den Kopf und öffnete meine Jeans mit geschickten Fingern. Ich fuhr mit meinen Finger an seinem durchtrainierten Oberköper entlang und griff ihm in die Haare, während seine Finger in meiner Hose steckten. Ich brachte keine Gefühlsregung zustande, es war alles nur rein körperlich und, als ich endlich zu seinem Kopf hochsah, während er mich küsste, war Phil endlich da. In seiner völligen Schönheit. Mein Herz begann zu rasen und ich lachte laut, als Marcel mit seinem Mund meinen Oberkörper küsste. Hoch und runter.

Völlig euphorisch rannte ich nach Hause und tanzte im Wind, der mir um die Ohren blies, den ich aber überhaupt nicht spüren konnte. Ich war wie in Watte gehüllt und erst, als der Lastwagen gehupt hatte, bemerkte ich, dass ich mitten auf der Straße stand. Ich hüpfte zurück auf den Gehweg und über mir flatterten kleine Elfen, um mir den Weg zu weisen. Ich schlug mir die Hand vor den Mund, weil ich so sehr lachen musste und krümmte mich unter den Bauchschmerzen, die das Lachen verursachte. Phil hatte sich vorhin mit einem Kuss verabschiedet und war davon gelaufen. Ich hatte ihm gewunken. Ganz kurz dachte ich in diesem Moment, dass ich fliegen konnte, aber das war völlig irrsinnig.

Es war circa eine Woche später, als es zu schneien begann. Ich stieg gerade mit Cassy und Maddie aus dem Bus aus, als mir die Schneeflocken ins Gesicht schlugen. Ich zog die Kapuze meines dicken beigefarbenen Mantels weit ins Gesicht und drückte mein Gesicht fester in den Schlauchschal. Wir steuerten auf das Schulgebäude zu und, während wir die Schultüre passierten, drang uns ein Schwall an Wärme entgegen. Ich streifte die Kapuze vom Kopf und öffnete den Mantel. Von weitem konnte ich schon Max und den Rest sehen. Ich rannte auf ihn zu und sprang ihm auf den Rücken. Ich lachte.
Da sah ich ihn, wie er auf seine Krücken gestützt im Kreis der anderen stand. Cassy und Maddie umarmten ihn, doch er blickte sie nicht an. Er starrte mir ins Gesicht, seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Ich wandte den Kopf ab und stellte mich, verzweifelt auf der Suche nach einem Punkt an der Wand, der mich ablenkte, mit in den Kreis direkt neben Max. Nach einem kurzen Gespräch, mussten wir uns verabschieden, weil es zur ersten Stunde klingelte. Ich war ziemlich froh darüber, dass Cassy die meisten Kurse mit mir besuchte. Ich kannte an dieser Schule zwar genügend Leute, aber es war mir immerhin sehr wichtig, dass ich jemanden an meiner Seite hatte, mit dem ich wirklich reden konnte. Als wir ins Klassenzimmer einer neunten Klasse gingen, fragte Cassy: „Was ist denn jetzt mit dir und Phil? Hattet ihr echt keinen Kontakt mehr bis heute?“ Ich nickte und setzte mich in die zweite Reihe neben Cassy.
„Also, ich mein, du bist ja jetzt mit Marcel zusammen, aber bist du dir sicher, dass du ihn liebst und nicht Phil?“ Ich wandte meinen Kopf zur Tafel und, weil unser Lehrer uns ein bösen Blick zuwarf, nahm ich einen Zettel und schrieb darauf: Du kommst doch später sowieso zu mir, dann reden wir, ja? Sie bejahte und wir verfolgten den Unterricht mit Schweigen. Eigentlich war es mir ziemlich egal, was der Lehrer dort an die Tafel schrieb, was er wild gestikulierend erklärte. Aber ich schrieb gewissenhaft mit, hörte aufmerksam zu und meldete mich gelegentlich, um meinen Beitrag zum Unterricht zu leisten. Seit ich die Pillen nahm, hatte sich schon lange keine richtige Gefühlsregung in mir eingestellt und ich war ihnen dafür dankbar. Niemand außer Marcel wusste, dass ich mit ihm nur zusammen war und mit ihm gelegentlich schlief, weil ich die Tabletten brauchte. Marcel hatte mir nie gesagt „ich liebe dich“. Er hatte mir nie gesagt, dass er etwas für mich empfindet und ich hatte es auch nie getan, nur manchmal, wenn seine Freunde in der Nähe waren, denn dann musst eich die Dumme mimen, das naive kleine Mädchen. Für ihn war ich sein Anhängsel und sein Vorzeigeobjekt und mir bedeutete er rein gar nichts. Überhaupt nichts, aber ich spielte mit bei diesem Spiel mit dem Feuer, ich konnte es mir nicht leisten, ihn zu verlieren, denn woher sollte ich dann meinen Stoff beziehen?
Es klingelte zur nächsten Stunde und ich erhob mich, packte meine Sachen zusammen und verließ mit Cassandra den Raum, um zu Deutsch zu gehen.
Die dritte Stunde war vorüber und Cassandra und ich trafen uns an den Toiletten, um zu mir nach Hause zu fahren. Zwei unserer Kurse am Nachmittag waren ausgefallen, sodass wir früher zu mir konnten. Sie war mit einem schwarzen knielangen Mantel mit Goldknöpfen bekleidet und hatte ihre Tasche über ihren Unterarm gehängt. Ich umarmte sie und Arm in Arm gingen wir zum Bus.
Wir hatten die Treppen erklommen und ich sperrte die Tür auf.
„Ich muss nur mal schnell ins Bad, komme gleich wieder. Geh schon mal in die Küche vor und setz’ Wasser auf, ja?“, sagte ich ihr. Ich ließ meine Tasche auf den Boden sinken und rannte in mein Bad, um auf die Toilette zu gehen. Ich band meine Haare nach oben zu einem Dutt und zog meine Jogginghose an, die ich am vorigen Abend im Bad hatte liegen lassen. Als ich in die Küche kam, war weder Wasser aufgesetzt, noch konnte ich Cassandra irgendwo sehen. Ich lief in mein Zimmer und da saß sie auf meinem Schreibtischstuhl und taxierte mich mit ihrem Blick. Ich musste zweimal hinsehen, bis ich erkannte, was sie da in den Händen hielt. Ein in roten Samt eingebundenes Buch.
„Lola, was ist das? Und wer ist Marco?“ Ich musste augenblicklich schlucken.
„Woher hast du das?“, maulte ich sie an.
„Das war nicht meine Frage, aber bevor du noch mal fragst, es ist aus deiner Tasche gefallen! Also, ich warte!“ Wortlos packte ich sie am Arm und entriss ihr das Buch, zerrte sie mit mir. Ich holte einen Schlüssel aus dem Besteckkasten und sperrte damit die Tür zu Marcos Zimmer auf. Ich war mir im Klaren, dass es wohl besser war zu lügen, ihr nicht zu sagen, dass ich einen Bruder hatte, aber sie würde immer wieder danach fragen, mich immer wieder verletzen. Ich zog sie auf den Stuhl vor seinem Bild und zeigte darauf.
„Das ist Marco! Er war mein Bruder! Wieso musstest du das Buch auch lesen?“. Die letzte Frage stellte ich eher mir selbst als ihr. „Was willst du noch wissen, hm? Willst du auch noch mal in den Wunden herumbohren? So wie es alle anderen dort getan haben, wo ich gewohnt habe, bevor ich nach Hamburg kam. Willst du das?“ Sie stand auf, verließ das Zimmer, schlüpfte in ihre Boots und öffnete die Tür. Sie drehte sich noch einmal um: „Ich muss mal für’n paar Sekunden raus. Frische Luft schnappen.“ Sie knallte die Tür hinter sich zu und ich blieb ein bisschen durcheinander zurück. In der Küche machte ich mir einen Tee uns steckte mir eines der Salbeibonbons in den Mund. Ich trat ans Fenster und konnte Cassandra auf der anderen Straßenseite stehen sehen und in ihrer typischen Pose an ihren Fingernägeln zu kauen. Sie machte das oft, wenn sie etwas beschäftigte oder sie einfach nur sauer war. Ich hoffte inständig, dass es ersteres war.
Ich öffnete die Tür circa fünf Minuten später.
„Kippen vergessen!“ Doch ein paar Sekunden danach, umarmte sie mich und drückte mich an ihre Brust. „Tut mir Leid, dass ich vorhin einfach gegangen bin. Es war nur…Wieso hast du nie etwas gesagt?“ Ich lächelte sie an, dankbar, dass sie nicht sauer war.
„Willst du auch einen Tee? Oder einen Kaffee? Dann können wir ein bisschen reden, ok?“ Sie bestellte einen Tee und wir setzten uns an den Küchentisch.
„Also, wieso hast du nie etwas gesagt? Ich bin deine beste Freundin, mir hättest du das doch sagen können!“, meinte sie. Ich atmete tief ein und aus.
„Weißt du, es war einfach nicht leicht und jetzt weißt du’s ja.“ Sie nickte.
„Marco war wunderbar, wirklich. Ich glaube, einen besseren Bruder hätte ich mir nicht wünschen können. Wenn ich gewusst hätte, dass er bald nicht mehr lebt, dann hätte ich die Zeit mit ihm mehr genossen. Ich war gerade mal elf Jahre alt, als er starb. Er hatte einen Herzfehler und man hatte ihm nicht mehr lang zu leben gegeben.“
„Und daran ist er gestorben?“, warf sie ein.
„Nein, er ist bei einem Sturz beim Boarden gestürzt. Er ist zwei Wochen zuvor gerade erst Deutscher Meister geworden und ich kann mir immer noch nicht verzeihen, dass ich mich mit ihm so gestritten hatte vor dem Sturz. Er hat immer alles bekommen. Er hatte an dem Tag einen iPod bekommen und ich wollte auch unbedingt einen und hab ihn angeschrieen, dass er der schlechteste Bruder der Welt sei. Ich kann es mir wirklich nicht verzeihen.“ Ich machte eine kleine Pause, um mich kurz zu sammeln. „Er ist dann losgefahren, wollte mich wohl wieder beeindrucken, und dann ist er auf diesem Eisstück ausgerutscht und gestürzt und den Abgrund hinunter gefallen. Ich bin ihm sofort hinterher, hab ihm nach geschrieen, aber das hätte gar nichts mehr gebracht.“ Ich weinte und trank noch mal einen Schluck Tee. Cassy umklammerte ihre Tasse und hörte aufmerksam zu. Sie strich mir kurz eine Träne vom Gesicht und nahm die Hand wieder zurück. „Er war immer für mich da, ich konnte immer auf ihn zählen. Als er gestorben war, hatte ich mir geschworen, dass ich niemals über ihn in der Vergangenheit reden würde. Aber mit der Zeit ging es nicht mehr, mich selbst anzulügen. Meine Eltern hatten jeden Schnipsel von ihm weggeworfen, also das dachte ich bis vor einem halben Jahr zumindest. Aber mein Dad hatte noch wahnsinnig viele Fotos aufgehoben. Es war wirklich schön, sie mal alle anzusehen. Warte, ich hol sie schnell.“ Ich rannte in das Ankleidezimmer meines Vaters und kramte aus einer Schublade, die bis obenhin mit Socken voll war, die Fotos heraus. Ich kam zurück.
„Schau! Da waren wir gerade im Urlaub in Italien. Wir hatten damals ein riesiges Apartment gemietet. Im Nachhinein war es eigentlich gar nicht so groß, aber damals war es das für mich. Wir waren jeden Tag am Meer und hatten echt viel Spaß. Früher da waren wir eigentlich gar nicht so reich. Wir waren eben einfach eine normale, glückliche Familie. Wir hatten genügend Geld, um in einem großen Haus zu wohnen.“ Ich nahm das nächste Foto zur Hand.
„Das war an meinem Geburtstag, glaube ich. Da hatten alle meine Freunde so geile Partyhüte auf und es gab Kuchen. Erdbeerkuchen oder so was in der Art.“
Wir hatten noch länger über ihn geredet. Und wider Erwarten tat es verdammt gut, mich mit jemandem über ihn zu unterhalten, den ich gut kannte. Es war alles nicht so schlimm, wie ich gedacht hatte. Wie konnte ich nur so dumm sein, die befreienste Sache auf dieser Erde erst jetzt in die Tat umgesetzt zu haben. Sie hatte keine Fragen gestellt, die mich verletzt hätten, sie hatte nicht diesen Blick aufgesetzt, der sagen wollte: „Das tut mir so unendlich Leid.“ Sie hatte sich nicht abgewandt, war weder gegangen noch hatte sie mir gesagt, dass sie ein Problem damit hätte.

Jetzt, wo die Dunkelheit sich draußen schon seit Stunden ausgebreitet hatte, kehrte ich in mein Zimmer zurück. Zuvor saß ich, nachdem Cassy nach Hause gehen musste, in Marcos Zimmer und hatte nur weitere Stunden über den Bildern gebrütet. Ich nahm eine der in einem Tütchen eingepackten Tabletten aus dem kleinen Schmuckkästchen, das auf meinem Schreibtisch stand. Niemand hatte sie bisher entdeckt und ich war froh darüber.
Ich steckte sie in den Mund und spülte sie mit einem Schluck Wasser hinunter. Seit Wochen stellte sich bei mir nicht mehr dieses Gefühl ein, verrückte Dinge zu sehen, ich fühlte nun meine Außenwelt nur noch dumpf und war gefühlskalt. Ich legte mich aufs Bett und schloss die Augen. Ich hatte die Arme und Beine von mir gestreckt, lieferte mich der Welt schutzlos aus. Ich ließ meine Gedanken treiben, spürte irgendwann den Sand unter meiner Haut und einen kalten Windhauch an meiner Wange vorbeistreifen. Als ich die Augen öffnete, konnte ich das Meer Wellen schlagen sehen und an den grauen Felsen anschlagen hören. Ich setzte mich auf und grub meine Fußspitzen in den Sand hinein und konnte einen kleinen Krebs an mir vorbeikrabbeln sehen. Das Meeresrauschen hatte eine beruhigende Wirkung. Während ich nun am Strand entlanglief und das Wasser meine Füße umspielte, rannte Phil mit großen, athletischen Schritten auf mich zu. Er umarmte mich und küsste mein Gesicht von oben bis unten. Dann verschwamm sein Gesicht und der Wind trug seinen Körper mit sich hinfort in die Luft, in die Weiten der Welt und ich versuchte, ihm hinterher zu rennen, doch ich stieß gegen etwas und es krachte laut.
Ich öffnete die Augen und fand mich alleine in meinem Zimmer vor, mit dem Fuß direkt vor meinem Schreibtisch. An meiner großen Zehe konnte ich rotes Blut durch meine weißen Socken durchsickern sehen. Ich zog sie aus und drückte sie auf die Wunde, an der jetzt ein kleines Stück Haut fehlte. Die Blutung wurde ganz langsam gestoppt und, da ich immer noch ein bisschen betäubt war, spürte ich keinen Schmerz. Ich warf eine Schlaftablette ein, legte mich auf mein Bett und Minuten danach war ich eingeschlafen.


22

Es klingelte. Für heute war die Schule aus und ich musste mich beeilen, um Phil noch zu sehen, denn heute war der einzige Tag in der Woche, an dem die Schule für ihn zur selben Stunde endete wie bei mir. Ich schnappte meine Tasche. Stellte sie auf meinen Knien ab und räumte meine Hefte und mein Mäppchen hinein. Ich stürmte aus dem Zimmer. In der Mitte des Ganges, der zur Schultür führte, sah ich ihn und mein Herz blieb – mal wieder – stehen. Ich beschleunigte meine Schritte, bedacht darauf, ihn einzuholen. Er stützte sich auf seinen Krücken ab und kam nur langsam voran, sodass ich bald gleichauf mit ihm war. Ich senkte den Kopf und lief an ihm vorbei und murmelte – wie jedes Mal – „Hi, Phil“. Doch dieses Mal hielt er mich an der Schulter fest und ich drehte mich um.
„Hi, Lola.“ Seine Stimme. „Wie geht es dir? Alles klar bei dir?“ Er war ruhig und klang geknickt. Ich war verwundert, dass er mich ansprach, denn sonst mied er es, mich auch nur anzusehen. Aber jetzt waren wir ganz alleine.
„Ganz gut, ja, ganz gut.“ Ich hörte mich an, als müsste ich mich selbst zwingen, zu glauben, mir ginge es gut. „Und dir auch? Also mit deinen Beinen und so.“
„Es wird besser. Ich hoffe eben nur, dass ich irgendwann wieder ohne diese Dinger hier gehen kann.“ Er lachte, doch es klang nicht glücklich, sondern eher gequält. Peinlich darauf berührt, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.
„Schön, dass es dir besser geht.“ Ich sah zum Eingang und draußen stand das Auto von Marcel. Wie spät war es wohl? Er hasste es, wenn ich zu spät kam. „Also, ich muss jetzt gehen, Phil. Mein Freund wartet auf mich. Wir sehen uns“, stammelte ich und als Phil die Arme ausstreckte, um mich zu umarmen, wendete ich mich ab und ließ ihn einfach stehen.
Ich drückte Marcel einen Kuss auf den vor Wut verzogenen Mund. Er erwiderte ihn nur mit leichtem Druck.
„Wieso kommst du erst jetzt? Ich warte schon zehn Minuten und wer war dieser Junge?“ Sein Ton war scharf und schnitt durch die kalte Luft. Ich fühlte mich sofort schuldig und verfiel wieder in das Verhaltensmuster, das ich nur bei ihm an den Tag legte.
„Es tut mir Leid, Marcel. Ich hab mich nur kurz verspätet. Das kommt sicher nicht wieder vor, ja? Und der Junge ist nur ein Freund. Da läuft nichts gar nichts, wirklich, glaub mir. Es tut mir so Leid“, flehte ich ihn an.
„Ja, da läuft nichts? Du betrügst mich mit ihm! Das seh’ ich doch!“
Er schlug mir mit der flachen Hand ins Gesicht.
Erschrocken zuckte ich zurück und fasste mir an die schmerzende Wange. Draußen stand Phil und starrte in das Wageninnere hinein. Als er auf Marcels Auto stürzen wollte, gab ich ihm mit Blicken zu verstehen, dass er gehen sollte. Ich blickte Marcel unverwandt in die Augen, in Erwartung, eine Entschuldigung von ihm zu hören, doch er regte sich nicht. Wutentbrannt öffnete ich die Tür, packte alle meine Sachen und knallte sie hinter mir wieder zu. Mit schnellen Schritten bewegte ich mich zur Bushaltestelle, konnte immer noch nicht fassen, dass er mich gerade geschlagen hatte. Ich wusste, dass er ein Mistkerl war, aber ich hätte ihm nie zugetraut, dass er mich schlagen würde. Niemals. Ein Auto fuhr langsam neben mir her und das Fenster der Beifahrerseite wurde heruntergelassen. Er streckte sich zum Fenster hin.
„Tut mir Leid. Jetzt steig ein und wir fahren zu mir“, sagte er und ihm war anzumerken, dass er es überhaupt nicht ernst meinte.
„Halt’s Maul, Marcel! Du schlägst mich nicht! Scheiße, Marcel! Du hast jeden Tag ne andere Tussi! Du bist es doch, der mit anderen schläft, während ich völlig stoned im Nebenzimmer sitze! Hast du gemeint, ich bekomme das nicht mit?“, schrie ich ihn an und es war das erste Mal, dass ich die Stimme gegen ihn erhob. Wir beide blieben stehen.
„Ich hab dir doch gesagt, es tut mir Leid. Mir ist einfach die Hand ausgerutscht!“
„Tut es dir auch Leid, dass du mich betrogen hast?“. Ich war mir nicht sicher, weshalb ich hier mit ihm zu streiten begann. Er bedeutete mir doch nichts, überhaupt nichts. Vielleicht lag es daran, dass ich jemandem brauchte, damit ich überhaupt etwas fühlte, etwas spürte, aber wer wusste das schon. Ich drückte mir die Finger auf die Schläfen, um die quälenden Kopfschmerzen zu vertreiben, die seit Tagen mein Leben erschwerten.
„Komm her, Kleines. Ich bereue, dass ich das getan habe, ok? Wir fahren jetzt zu mir und tun genau das, was du willst, ja?“ Er stieg aus und kam auf mich zu, umarmte mich und drückte mir einen Kuss auf die Stirn.
Fertig, aus, Ende war der Streit. Ich stieg wieder ins Auto ein und startete den Motor, der laut aufheulte.

Mila Trausten

16.11.2010 um 22.24 Uhr

Lola,
wie geht’s dir?
Wir haben uns schon so lange nicht mehr gesehen. Ich vermisse dich voll.
Ich habe jetzt meinen ersten richtigen Freund, irgendwann muss ich dir den mal vorstellen, ok? Er ist wirklich super. Lukas heißt er und er sieht echt voll gut aus. Ich schick dir später einen Link.
Bei uns zu Hause ist es echt beschissen. Ich bin zwar echt voll froh, dass wir wieder in Hamburg wohnen und ich meine Freunde wieder habe, aber Phil geht es noch viel schlechter als in Köln. Ich hab mich gestern mit ihm unterhalten und ich glaube, er vermisst dich. An sich geht es ihm ja sowieso schon scheiße, weil er solche Schmerzen in den Beinen hat, dass er kaum gehen kann und den ganzen Tag im Bett liegt. Er isst nur noch voll wenig und nachts kann ich ihn weinen hören.
Bitte rede mit ihm! Ihr beide liebt euch doch! Das sieht jeder. Mama sieht das, Cassy sieht das, Max und ich. Jeder.
Ich will nicht, dass er sich wieder etwas antut.
Vielleicht können wir beide uns mal wieder sehen? Das würde mich wirklich freuen.



Lola Stattler

16.11.2010 um 22.30 Uhr

Oh Mann, Milamaus,
Mir geht’s ganz gut, dir auch?
Ja, ich muss deinen Freund unbedingt kennen lernen! Ich hab mir gerade seine Bilder angesehen, den würde ich an deiner Stelle auch nehmen :) Ich kann dir nur eines raten: Du solltest ihn festhalten, solange du kannst. Ich wünsche dir wirklich total viel Glück mit ihm.
Das mit Phils Beinen tut mir wirklich sehr Leid. Aber ich hoffe, dass es ihm bald besser geht.
Ich weiß nicht, woher ihr das alle wissen wollt, aber wir lieben uns nicht mehr. Zumindest liebe ich ihn nicht mehr. Dass es ihm schlecht geht, liegt wohl eher daran, dass er nicht mehr bei Maria wohnt. Er liebt sie und nicht mich.
Ich hätte nächste Woche Mittwoch Zeit. Wenn du willst, könnten wir in die Innenstadt gehen. Also, gib mir Bescheid, wenn du kannst. Ich würde mich auch total freuen. Denn nur weil ich mit Phil nicht mehr zusammen bin, muss das ja nicht automatisch heißen, dass ich mit dir nichts mehr machen möchte.
Dicker Kuss.

Mein Handy klingelte. Vor ein paar Wochen hatten wir mein neues iPhone abgeholt. Ich hob ab.
„Hallo?“
„Hey, Lola! Hier ist Nick. Ich hab ne neue Handynummer und Cassys Handy hat keinen Akku mehr. Kommst du ins Tigers? Wir haben ne Aufsicht für dich und wir pennen danach bei Cassy. Bitte, ist heute echt geil hier.“ Ich überlegte einen kurzen Moment, dachte über die wenig rosigen Aussichten für den weiteren Verlauf meines Abends nach, in dem das Fernsehprogramm von Schnulzenfilm bis Dokumentation über die „Fantastische Welt der Wanderameisen“ reichte und stimmte zu.
„Gib mir mal schnell Cassy!“ Ich hörte, wie das Rauschen lauter wurde, und dann Cassys Stimme.
„Hey, Cassy. Was hast du an? Ich hab noch keinen Plan, was ich anziehen soll.“ Sie lachte laut auf und schilderte mir kurz ihr Outfit.
„Ich bin in einer Stunde da. Kuss.“ Es knackte und die Verbindung wurde unterbrochen.
Im Badezimmer legte ich nur einen Hauch Make-up auf und zog den Eyeliner nach, neue Wimperntusche und roter Lippenstift gehörte auch dazu. Ich öffnete die Türen meines Kleiderschranks und kramte alle Sachen heraus, die auch nur einigermaßen den Anschein hatten, gut auszusehen. Ich griff nach einer Bikerjeans, einem weißen Tanktop und meiner schwarzen Lederjacke mit den goldenen Gliederketten daran. Ich schlüpfte hinein, packte die schwarze Lackclutch, zog die schwarzen Ankleboots, deren Absätze zehn Zentimeter hoch waren, an und steckte Schlüssel, Handy, Zigaretten, Feuerzeug und Geldbeutel ein. Gerade als ich den Knopf für den Aufzug drückte und ungeduldig wartete, öffnete sich die Schlafzimmertür meiner Eltern und meine Mutter betrat mit ihrem rosafarbenen Seidenmorgenmantel den Gang. Mit einem entsetzten Gesichtsausdruck sah sie mich an.
„Wohin gehst du um die Uhrzeit?“
„Es ist Freitagabend, kurz vor 11 Uhr. Normale Menschen gehen da aus. Meine ganzen Leute sind schon da.“ Der Aufzug war schon lang da und die Türen wollten sich bereits wieder schließen, aber ich stellte mich in den Rahmen.
„Du gehst um diese Uhrzeit nirgendwo mehr hin, junge Dame!“
„Du hast mir das wirklich nicht mehr vorzuschreiben. Nur weil du meinst, jetzt einen auf Mutter zu machen, heißt das nicht, dass ich darauf eingehe und mir ab jetzt vorschreiben lasse, was ich zu tun und was ich zu lassen habe. Bis morgen irgendwann. Ich schlafe bei Cassy.“ Sie stürmte auf mich zu und wollte mich davon abhalten, doch der Aufzug setzte sich schon in Gang, als sie mich erreichte. Mit einem siegessicheren Lächeln verließ ich das Haus, trat an die Straße und hielt ein Taxi an, das mich zum Tigers fahren sollte.
Draußen kurz vor der Bar zündete ich mir eine Kippe an und lief das Reststück zu Fuß. Von allen Seiten wurde ich angegafft und Männer, die offensichtlich schon betrunken waren, stierten auf meinen Hintern und meine Brüste, die durch das ausgeschnittene Top ziemlich zur Geltung kamen. Ich lachte in mich hinein. Ein hoch gewachsener, durchtrainierter Mann zog an einer Kippe, während er lässig an der Hauswand des Tigers lehnte. Sein schwarzes Jackett war perfekt zur dunklen Jeans abgestimmt und seine Lederschnürer waren frisch poliert. Er löste sich aus seiner Starre und trat auf mich zu.
„Lola?“, fragte er in forschem Ton.
„Ja, und du bist?“
„Deine Aufsicht.“ Er streckte mir die Hand entgegen, ich schüttelte sie und er gab mir zwei Küsschen auf die Wangen. „Lass uns reingehen!“
Ich konnte sie alle sehen, wie sie an dem großen Tisch mit den gemütlichen Sofas saßen und wahnsinnig vertraut aussahen. Cassy lag in Nicks Armen und Phil unterhielt sich mit Max und zwei Mädchen, die sich vom Nebentisch zu ihnen lehnten. Ich schritt auf sie zu. Ihre Blicke richteten sich auf mich und Cassy begann zu lächeln, sich aufzurichten und mich zu umarmen. Alle der Reihe nach standen sie auf, nur Phil blieb sitzen, führte das Gespräch mit den Mädels weiter. Ich gesellte mich zur Gruppe und ließ mir von meiner Aufsicht noch schnell einen Drink bringen. Der Typ verabschiedete sich und ich nippte am Glas. Plötzlich spürte ich den Vibrationsalarm meines iPhones in der Clutch und nahm es heraus. Auf dem Display leuchtete der Name meiner Mutter auf.
Ich ging nicht ran.
Es war bereits kurz nach 2 Uhr, als Max aufstand und zur Toilette lief. Phil hatte sein Gespräch schon vor Stunden beendet und jetzt, da Max weg war, saßen wir direkt nebeneinander. Es wäre unhöflich gewesen, nichts zu sagen.
„Wie geht’s dir? Was machen die Beine?“, schrie ich ihm ins Ohr und konnte dabei, seinen Geruch einnehmen, der mir schon seit Wochen gefehlt hatte.
„Schon okay. Was ist mit dir? Bist du mit deinem Freund glücklich?“ Er musste meine Haare beiseite schieben, um mir die neugierigen Worte zuzurufen. Aber das war nicht nur Neugierde, sondern schwang darin auch eine Anspielung auf den Vorfall im Auto mit.
„Ich wüsste nicht, was dich das anginge, aber um dir eine Antwort zu geben: Ja, ich bin glücklich. Sehr sogar. Vielleicht war ich noch nie glücklicher, aber weißt du, das ist auch recht einfach, wenn man weiß, wie es ist, mit jemandem wie dir zusammen zu sein. Da verlernt man nämlich ziemlich schnell, dass man etwas wert ist. Marcel liebt mich und ich liebe ihn. Punkt, aus, Ende Gelände.“ Ich musste, aus welchem Grund auch immer, lachen, bis ich bemerkte, dass Marcel sich mit ein paar seiner Kumpels, die mir von Anfang an etwas Angst gemacht hatten, vor mir aufgebaut hatte. Sein Blick war drohend, Angst einflößend und beunruhigend. Er musste getrunken und was eingenommen haben, denn nur dann bekam er diese Zuckungen in den Mundwinkeln. Ich löste mich wie in Zeitlupe von Phil.
„Was machst du denn hier?“, fragte ich Marcel, in dem ich mich nach vorne lehnte.
„Mit dem Typ läuft nichts, ja? Ich seh’ doch wie ihr zwei euch anseht! Schlampe, komm jetzt mit nach Hause, wie klären das da.“ Sein Ton war herausfordernd und drohend. Cassy hatte sich in Nicks Arme verkrochen, Max, der gerade von der Toilette wieder kam, hatte einen angstvollen Ausdruck auf dem Gesicht und traute sich nicht zurück zum Tisch und Phil verfolgte die Geschehnisse, als sähe er sich einen Actionfilm an. Fast dachte ich, er würde lachen.
„Ich bleibe hier! Tu du, was du willst! Fick dich einfach, Marcel!“ Im nächsten Moment stürzte er sich auf mich, zog mich an den Haaren und schlug mir mit der geballten Faust ins Gesicht. Ich spürte nasses, warmes Blut aus einer Wunde herunter rinnen. Schützend legte ich die Arme vor mein Gesicht, um die Schläge, die nun im Sekundentakt auf mich einfielen, abzuwehren. Doch dann wurde er weggezogen und ich sah wie Phil auf Marcel einschlug, der mittlerweile bereits auf dem Boden lag.
„Fass sie noch einmal an und du bist tot!“, schrie Phil ihm ins Gesicht, bevor er von ihm abließ und zurück zum Tisch kehrte. Die Augen aller Anwesenden waren auf den Vorfall gerichtet, erschrocken, entsetzt. Cassy kam zu mir und tupfte mit einem Taschentuch das Blut weg, redete immer wieder auf mich ein, doch ich hörte ihr nicht zu. Zu sehr war ich damit beschäftigt, den pochenden Schmerz zu unterdrücken und die Tränen zurückzuhalten. Marcel stand gedemütigt auf und wurde sogleich von der Security samt seiner Leute nach draußen befördert. Ich zitterte am ganzen Körper. Die Stelle, auf die er zuerst geschlagen hatte, war taub. Phil ließ sich neben mir aufs Sofa fallen und schrie vor Schmerz fast auf. Er rieb an seinen Beinen, verzog das Gesicht und in seinen Augen spiegelte sich das Wasser der Tränen. Doch auch er schien, seine Schmerzen in der Gewalt zu haben und fragte mich, ob er einen Arzt rufen sollte, doch genau in diesem Moment sprang ich auf, taumelte zum WC und erbrach mich in die Toilette. Ich spülte mir den Mund minutenlang aus und wusste, dass Cassy voller Sorge vor der Tür auf mich wartete. Ich betrachtete mein Antlitz noch einmal im Spiegel, richtete meine Haare in die richtige Position und stolperte hinaus, zurück in die rauchige Atmosphäre der Bar. Meine Leute standen vor mir, starrten meine blutende Lippe an und die besorgten Mienen waren mir zuwider, doch jemand fehlte.
„Cassandra, wo ist Phil?“ Ich flehte Gott still an, dass er noch da war, einfach zu schwach, um zu laufen, doch Cassy teilte mir etwas anderes mit.
„Er ist gerade gegangen, er…“ Ich ließ sie nicht ausreden, schnappte ihr meine Clutch aus den Händen und rannte – so schnell es auf den hohen Schuhen ging – zur Tür hinaus. Ich sah mich um, doch da war kein Junge mit Krücken. Mein Junge war nicht da. Ich hatte keine Angst, dass Marcel auf mich wartete, um mich wieder zu verprügeln, so groß war meine Sehnsucht nach Phil. Ich musste mich bedanken. Ich musste…
Ziellos irrte ich seit Minuten durch die Gegend rund um das Tigers. Durch dunkelste Gassen, zu abgelegenen Orten, aber ich fand ihn nicht. Weinend brach ich mitten auf der Straße zusammen. Ich war zu erschöpft, vom Rennen, von den Schlägen, von den Gedanken. Jemand hob mich vom Boden auf und trug mich davon, doch ich wollte nichts sehen. Ich ließ mich sinken in meine Gedankengänge, die nur von Phil beherrscht wurden.
Ich war eingeschlafen, nachdem Max mich in Cassys Wohnung und dort direkt aufs Sofa getragen hatte. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, quälten meine Arme mich und nach einem Blick in den Spiegel ekelte mich die aufgeplatzte Lippe an. Ich tappte im Tanktop und in Tanga in die Küche, die aus dunklem Holz gefertigt war und deren Arbeitsflächen lackschwarz waren. Am Herd stand ein blonder großer Junge, auf eine Krücke gestützt. Er schlug Eier gegen den Pfannenrand und ließ den Inhalt in die Pfanne fallen. Wenn ich noch mit ihm zusammen wäre, würde ich ihn wohl von hinten umarmen, ihm ein kurzes Liebesgeständnis ins Ohr flüstern und dann mit ihm zusammen im Bett essen. Doch ich öffnete nur den Kühlschrank, holte mir den Tetra-Pak Milch heraus und murmelte: „Morgen!“ Er sah von seiner Arbeit auf und erwiderte meinen Gruß.
„Soll ich dir auch ein Spiegelei machen? Ich bin ja sowieso schon dabei.“ Er sagte das weder freundlich, noch böse gemeint, völlig neutral.
„Ja, gerne.“ Ich nahm ein Glas aus dem Schrank und zwei Teller und Gabel und Messer. Ich platzierte alles auf dem Tisch und schüttete Milch in mein Glas. Ich trank es in einem Zug leer, während ich an die Küchenschränke gelehnt war. Er legte die Eier auf die Teller, stellte die Pfanne weg und ließ sich nieder. Ich setzte mich neben ihn. Während wir die Eier aßen, starrte er unverwandt meine Arme an und kurz danach meine Brüste. Er mied es, mir in die Augen zu sehen.
„Danke wegen gestern, Phil! Es tut mir Leid, dass du deswegen wieder mehr Schmerzen in den Beinen hast, ich wollte das wirklich nicht.“ Er sah mich immer noch nicht an, schob die Gabel in den Mund und sagte dann: „Weißt du, mir ist das eigentlich ziemlich egal, ob du das nun wolltest oder nicht. Ich hab das getan, damit du nicht im Krankenhaus landest, mehr war da nicht. Aber ganz ehrlich…Das ist Liebe? Dieser Typ soll besser sein als ich? Wenn das dein Ernst ist, dann tust du mir echt Leid.“
„Nein, DAS ist keine Liebe, ok? Ich war mit ihm nur zusammen, weil ich…Scheiße, Mann, ich musste dich vergessen, ok? Du hast mich so krass verletzt, dass ich keinen anderen Ausweg gefunden habe.“ Er sah mich zum ersten Mal an.
„Keinen anderen Ausweg? Der Typ hätte dich heute Nacht halb tot geprügelt! Checkst du’s denn nicht? Du bist doch sonst nicht so dumm und lässt dich auf Menschen wie Marcel ein! Ich weiß, dass ich dir weh getan habe und ich wünschte, dass ich die Zeit zurück drehen könnte, aber ich dachte, dass wir beide wieder eins wären, als ich damals im Krankenhaus aufgewacht bin. Die Zeit ohne dich war für mich wirklich schlimm, weil du echt alles für mich bist. Aber ich verstehe immer noch nicht, weshalb du und Max euch geküsst habt! Liebst du mich etwa wirklich nicht mehr? Stimmt das, was alle sagen? Dass du uns beide und alles, was war, schon aufgegeben hast.“ Er hatte aufgehört zu essen und ich spürte, wie er sein ganzes Herzblut in dieses Gespräch legte. Er liebte mich, er liebte mich noch. Aber hatte es denn noch eine Bedeutung, wenn ich mich so innerlich dagegen wehrte, weil ich Angst hatte, wieder verletzt zu werden.
„Ich weiß es nicht, Phil.“ Mehr konnte ich nicht sagen.
„Du weißt es nicht. Schon klar.“ Er lachte spöttisch auf. „Mir tut es echt verdammt weh, dich so zugrunde gehen zu sehen. Ich glaub es echt nicht, dass du so scheiße geworden bist. Hätte ich dich so kennen gelernt, wären wir keine Freunde geworden.“ Er humpelte zur Spüle stellte den Teller hinein und ließ mich alleine und einsam sitzen, aber ich hatte es nicht anders verdient.


23

SMS von Cassy
Süße, komm mal bitte nach der Schule
nach draußen. Ich muss mit dir reden.

Ich ließ den übel riechenden Klassenraum, dessen Gestank sich aus Schweiß und Döneratem zusammensetzte, hinter mir, in dem ich über langen Gleichungen gebrütet hatte und die Lösung, mit hunderten von Variablen, an die Tafel schreiben musste, da man heute mich ausgewählt hatte, das Klassenopfer zu spielen. Die SMS von Cassy hatte ich in meinem Mäppchen gelesen, nachdem ich mich an der Tafel total blamiert und zum Idioten gemacht hatte. Vor ein paar Tagen hatte Marcel mich zusammengeschlagen und die Prellungen an meinen Armen hatten sich braun verfärbt. Ich trug nur noch Langarmshirts und versuchte, meine aufgeplatzte Lippe und den kleinen blauen Fleck im Gesicht mit Schminke abzudecken. Die Haare trug ich die letzten Tage nur noch zusammengebunden, weil sie mir im Weg umgingen. Ich trug nur noch schlichte Klamotten, unauffällig und unscheinbar, denn alles, was ich wollte, waren Tage, an denen ich nicht mit Phil zusammenstieß oder den anderen. Natürlich war Cassandra für mich da und Max auch, aber immer hing der Vorfall im Tigers zwischen uns und schirmte mich ständig mehr ab. Sie wussten von Anfang an, dass Marcel nicht gut war für ein Mädchen wie mich, für überhaupt kein Mädchen, und sie hatten mich gewarnt, doch ich hatte sie abgewiesen und mein Ding durchgezogen. Ich hatte ihnen allen nicht geglaubt.
Ich stieß die Schultür auf und ging auf meine beste Freundin zu. Sie umarmte mich und kam gleich ohne Umschweife zur Sache.
„Süße, ich hätte schon viel eher mit dir reden müssen. Wieso weist du ihn immer wieder ab? Deinen Phil, dein ein und alles, deinen Traummann, wie du ihn immer genannt hast. Dieser Junge hat versucht, sich umzubringen, weil er ohne dich nicht leben kann und erzähl mir jetzt bitte nicht, dass du nicht auch darüber nachgedacht hast. Ich kenne dich und du hast doch genauso mit dem Gedanken gespielt, deinem Leben ein Ende zu geben. Phil hat sich, obwohl du weißt, dass seine Beine ihm wirklich schwer zu schaffen machen, für dich geprügelt! Er hat dich verteidigt, als Marcel so ausgerastet ist. Meinst du wirklich, dass du jetzt hier stehen würdest, wenn er Marcel einfach hätte weitermachen lassen? Mein Gott, siehst du das nicht? Dieser Junge liebt dich.“ Sie senkte die Stimme und lehnte mich zu mir, als Nick mit seinem Roller ein paar Meter neben uns hielt und den Motor abstellte, nach Cassy winkte. „Wenn Nick mich auch nur ein einziges Mal so ansehen würde, wie Phil es tut, wenn er dich mit seinen Blicken taxiert, wenn ihr euch lange in die Augen seht – sogar, wenn ihr nicht mehr zusammen seid –, wenn ihr euch nur ganz zufällig berührt und man in euren Gesichter lesen kann, dass ihr nicht ohne könnt, dann wäre ich wohl das glücklichste Mädchen dieser Erde.“
„Cassy, komm endlich! Ich hab nicht ewig Zeit!“, schaltete sich Nick drängend ein.
„Wieso stellst du dich nur so gegen dein Glück?“, raunte sie mir noch zu, bevor sie sich abwendete und zu Nick hinten auf den Roller stieg.

Liebster Marco,
ich hab so eine verdammte Angst, dass Marcel zurückkommt, dass er mir das noch einmal antut, dabei brauchte ich doch nur jemanden, um Phil zu ersetzen, aber das geht einfach nicht. Und als ich das gemerkt hatte, wollte ich meine Gefühle abstellen, doch der Preis dafür waren Schläge und ich hatte meine Unschuld in gewisser Weise verloren. Ich bin eine Schlampe und doch bereue ich nichts von dem, was ich getan hatte, denn es hat mir geholfen bei meinem Plan gefühlskalt zu werden.
Ich liebe ihn über alles und er ist mir nach dir das Wichtigste in dieser Welt.
In Liebe
Lola

Meine Mutter betrat mein blitzblank geputztes Zimmer, das ich vorhin penibel aufgeräumt hatte. Mit der Zeit hatte sich eine gewisse Gewohnheit entwickelt, zu putzen und aufzuräumen, wenn ich wieder einmal nicht weiter wusste.
Und ich wusste nicht weiter.
„Ich möchte noch mal mit dir über Freitagabend sprechen.“
„Mhm.“ Ich sah auf mein Heft hinab.
„So geht das nicht, dass du einfach abhaust und nicht sagst, wohin du gehst. Und was ist eigentlich mit deiner Lippe passiert?“
„Mit meiner Lippe ist nichts und ganz ehrlich, tu nicht so, als würde ich dir was bedeuten! Marco war immer dein Lieblingskind!“ Ich wollte unbedingt jemanden anschreien und sie hatte nun das los gezogen, genau in diesem Moment das Zimmer zu betreten. Sie trug ihren pinkfarbenen Jogginganzug und die weißen Pantoffeln. Ihr Haar hatte sie zu einem lockeren Dutt zusammengesteckt. Sie sah aus wie eine Klischee-Bonze im Hausanzug.
„Ich hatte mich doch so oft schon entschuldigt, dass ich in all den Jahren nie da war für dich! Es tut mir fürchterlich Leid, aber ich kann es leider nicht rückgängig machen. Aber du bist mir genauso wichtig wie er! Ich hatte nie zwischen euch beiden entschieden. Niemals. Bitte verzeih mir doch endlich!“ Sie trat auf mich zu und schlang ihre Arme um meinen Hals und küsste mir die Haare. Ich drehte
mich um und küsste sie kurzerhand auf die Wange.
Ich verzieh ihr.


Cassandra Miller

20.11.2010 um 18.04

Lola, Lust auf Kaffeetrinken morgen? Nur du und ich? Würde mich sehr freuen, Liebste. Dicker Kuss♥

Um viertel nach vier Uhr machte ich mich auf den Weg in die Innenstadt, um mich dort mit Cassandra zu treffen. Einen Nachmittag wieder nur mit ihr zu verbringen, darauf freute ich mich, denn seit sie mit Nick zusammen war, hatte sie nur noch wenig zeit für mich, aber ich konnte ihr das nicht verdenken, denn damals mit Phil war es wohl viel schlimmer. Ich hatte mich heute zum ersten Mal wieder besser angezogen, da die Flecken auf den Armen wieder etwas zurückgingen. Es schneite und ich hatte die Kapuze tief in die Stirn gezogen, um die Schneeflocken davon abzuhalten, meine Haare zu kräuseln und nass zu machen. Denn gab es schlimmeres, als in einer Großstadt wie Hamburg schlecht gekleidet zu sein? Mit schnellen Schritten und leicht gebeugtem Körper stiefelte ich auf meinen Overknees mit Absatz auf das Café zu. Ich postierte mich unter der Überdachung direkt neben der Eingangstür, denn wir hatten uns vor dem Gebäude verabredet. Ich hatte jeden im Blick, der hier vorbei kam. Ich steckte die Hände in die Jackentaschen, weil sie durch meine Lederhandschuhe schon genügend froren. Durch den Schneeschleier sah ich einen Jungen auf das Haus zukommen, der seine Mütze locker aufgesetzt hatte. Er trug eine enge Jeans und ein blauweißgestreiftes T-Shirt, das durch die offene Jacke hervorstach. Als er näher kam, erkannte ich ihn.
„Was machst du denn hier?“, schoss es uns beiden gleichzeitig aus dem Mund.
„Ich war mit Cassy verabredet“, stotterte ich.
„Ich mit Max.“ Ich sah auf die Uhr Cassy hatte sich schon zehn Minuten verspätet. Nicht ihre Art.
„Diese Idioten“, lachten wir beide. Ohne Regung standen Phil und ich uns gegenüber und blickten uns in die Augen, genau wie Cassandra es beschrieben hatte. Ich hatte jegliches Gefühl für Zeit und Raum verloren.
„Lass uns ein bisschen gehen“, schlug er vor. Ich stimmte zu und lief neben ihm her wie ihn alten Zeiten. Zaghaft streckte ich meine Hand nach seiner aus und drückte sie fest. Er erwiderte den Druck. Nach ein paar Metern blieben wir beide stehen und standen uns nun gegenüber.
„Phil?“
„Ja, Kleines?“
„Ich muss mich entschuldigen für alles, was ich dir angetan habe. Ich hätte dich nie verlassen dürfen.“ Er trat näher und seine Finger umspielten meine Haare. Er lächelte.
„Liebst du mich noch?“, flüsterte er mir ins Ohr.
„Ich habe nie aufgehört, es zu tun.“ Unter dem dichten Schnee küssten wir uns, während ich meine Arme um seinen Hals geschlungen hatte.
„Du bist alles für mich, Schatz.“ Ich küsste ihn noch einmal.


Epilog

Es ist jetzt fast genau ein halbes Jahr her, dass Phil und ich wieder zusammenkamen. Wir hatten trotz der Trennung unser zweijähriges gefeiert und vergessen, was passiert war. Fast zumindest.
Wir sind gerade alle auf dem Weg nach Italien. Cassandra, Milena, Maddie, Isa, Chris, Nick, Max, Tom, Phil und ich. Vereint, wie eh und je. Unser erster gemeinsamer Urlaub. Es soll in die Toskana gehen, in ein schönes Landhaus. Wir hatten alle zusammengelegt, um ein Haus dieser Größe bezahlen zu können. Jedoch haben wir gerade einen kleinen Zwischenstopp eingelegt, von dem ich bis vor ein paar Minuten noch nichts wusste. Man hatte mich im Auto darüber aufgeklärt, dass wir genau hier halten würden und genauso kommt es. Es ist mein alter Heimatort.
Ich steige aus dem kleinen VW Golf aus, der Max gehört und den er auch steuert, denn Phil darf seine Führerscheinprüfung nämlich noch nachholen, dies hat er allerdings noch nicht getan. Max stellt den Motor ab und steigt mit Phil ebenfalls aus. Die anderen zwei Autos, mit denen wir hier sind, bleiben ebenso stehen und der Rest stellt sich zu uns. Ich stehe erwartungsvoll vor dem Friedhof, zu dem sie mich geführt hatten. Ich erinnere mich dunkel daran, dass ich hier als kleines Mädchen stand und gefroren hatte in der Eiseskälte des Dezembers. Jetzt ist er nur halb so unheimlich wie damals und die Sonnenstrahlen tauchen den Friedhof in einen fast zauberhaften Ort. Ich entsinne mich an die geschlungenen Kieswege, deren Steine jetzt unter meinen Schuhen knirschen. Fast magisch zieht es mich zu einem Grab hin, das mit Rosen und Tulpen bedeckt ist. Hinter dem Beet steht kein einfacher Grabstein, sondern ein schmiedeeisernes Kreuz, das reich geschmückt ist an Verzierungen. Auf dem Schild, das in der Kreuzmitte angebracht ist, steht ein Name. Marco Stattler. Ich falle auf die Knie und beginne zu weinen. Doch jemand umarmt mich und hebt mein Kinn an. Phil zieht mich mit sich nach oben und hält mich fest in seinen Armen. Ich blicke auf das Grab hinunter und fühle mich auf einmal verbunden mit meinem großen Bruder. Ich entnehme das rote Tagebuch meines Bruders und halte es noch zum letzten Mal in meinen Händen. Ich lege es auf die Erde. Als ich meinen Blick kurz abwende, sehe ich einen Jungen zu uns laufen. Seine etwas weitere Jeans und sein ebenso weites T-Shirt lassen keinen Blick auf seine Figur erhaschen und, obwohl ich sein Gesicht nicht sehen kann, da er den Blick gesenkt hat, erkenne ich ihn sofort. Es ist Flo.
Ich renne auf ihn zu und küsse ihn auf die Wange. Er umarmt mich.
„Woher weißt du, dass ich komme?“ Er zeigt auf meinen Freund.
„Das frag mal besser deinen Freund. Der ist übrigens ganz okay.“ Er lacht.
„Schön hast du das gemacht, Flo. Ich bin dir wirklich dankbar, dass du das alles tust.“
„Du weißt, dass ich für ihn wirklich alles tun würde. Mich freut es, dass du noch ein bisschen bleibst.“ Ich blicke zu Phil und rufe ihm zu: „Wir bleiben noch? Davon hattest du mir ja überhaupt nichts erzählt.“
„Wäre es denn dann noch eine Überraschung gewesen?“ Ich liebe diesen Jungen.
Alle zusammen wenden wir uns ab vom Grab und ich verspreche mir selbst und Marco im Stillen, dass ich jeden Tag kommen werde bis wir in die Toskana weiterfahren.
Der Großteil meiner Clique wird in einem Hotel wohnen und morgen früh abreisen. Nur Max, Phil und ich werden bei meinen Großeltern schlafen und noch ganze drei Tage bleiben bis wir fahren.
Ich bin mir sicher, dass dieser Sommer unser bester wird und ich weiß jetzt endlich, wo ich hingehöre. Zu Phil und zu keinem anderen Menschen sonst.


Danksagung

Ich danke Corinna für die Unterstützung, die sie mir in der ganzen Zeit entgegengebracht hat und ihre Geduld, mit der sie jedes Detail über mein Buch ohne ein Murren über sich ergehen ließ. Leonie, für ihre ständigen Motivationsversuche und ihre Begeisterung, die in stundenlangen Gesprächen zum Vorschein kam. Ich danke Giulia dafür, dass ich mich mit ihr über Schreibkünste und solche Dinge austauschen durfte, Johannes, dass er immer da ist, wenn man ihn braucht und er, sogar, wenn er jetzt ziemlich weit weg ist, das Buch lesen will, meiner Familie für dieses wundervolle Leben und jeden einzelnen Tag, den ich mit ihr verbringen darf.
Zum Schluss möchte ich mich noch bei meinem Cousin entschuldigen für all meine Dummheiten, meine Vorwürfe und all den anderen Kram. Ich liebe dich.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 17.01.2011

Alle Rechte vorbehalten

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