Lena muss eine riesige fest verklebte Papierrolle von innen bemalen.
Aufwachen!
Es ist erst sechs; sie war gegen zwei ins Bett gegangen. Wenn Katz sich neben sie legt, denkt sie, wird sie vielleicht wieder einschlafen können. Katz? Kaaaatz-Katz-Katz! Er kommt nie, wenn man ruft. Sie rutscht vom Bett und schleppt sich in die Küche. Ein Sonnenfleck auf dem Boden. Katz passt genau rein, ein lichtumschmiegtes goldfuchsiges Knäuel: Jede Pfote schimmert, die Nasenspitze, die Schwanzspitze; der Rest der Küche ist im Schatten. Er lässt sich streicheln. Er miaut den frischgefüllten Futternapf an, wartet aber, bis sie das Futter zu ihm schiebt. Sie bleibt in höflicher Entfernung stehen, kratzt sich mit dem rechten Fuß die linke Wade. Streckt die Hand nach einer Tafel Schokolade, mustert gähnend die Packung. Quadratisch, praktisch, edelbitter, 535 Kalorien. Vier Stück am Tag und Vitamintabletten – davon könnte man doch leben. Katz leckt den Napf aus. Sie beugt sich zu ihm, nimmt ihn in die Arme: „Wir beide gehen jetzt schlafen, ja?“. Er lässt sich ins Bett tragen und aufs Kissen legen, doch sobald sie sich neben ihm zusammenrollt, gähnt er und gleitet hinunter. Er fließt zu Boden, denkt sie. Fleece, Vlies, Flausch, Flaum. Fließen können, fliegen können, schlafen können…
Lena bleibt wach. Was hatte sie eben noch gedacht? Mekch, pukch? Sie flüstert die Wörter: Wenn Frischgedachtes ausgesprochen wird, hört sie einen Nachhall. Diesmal nicht. Die Enge in der Kehle, die Zunge in Gaumennähe fühlen sich fremd an. Es war doch etwas Weiches… Mekh auf Deutsch? Fell? Ja, das ist näher dran. Ihre Zunge entdeckt etwas Süßes zwischen den Zähnen. Die Ritter Edelbitter! Sie hatte in der Küche an den Slogan gedacht, und dann blieb ihr Kopf beim Deutschen, so war das. Sie sollte aufhören, von sich selbst in der dritten Person zu denken, denkt sie – denkt sie.
Sie würde so gerne noch ein bisschen schlafen. An Katz gekuschelt schafft sie es vielleicht. Da ist er, wieder auf dem Boden und in der Sonne, nur diesmal liegt er bequemer. Wer hatte bloß diesen schönen weichen Teppich auf den Sperrmüll geworfen? Sie legt sich daneben, Kater rotgolden, Teppich grün, sie viel zu blass. Wenn es in der Decke eine Kamera gäbe… Sie sollte nicht immer ans Fotografieren denken. Sie hat sich doch schon dem Malen verschrieben. Studium fast zu Ende. Erste eigene Ausstellung in drei Monaten. Aber es fällt ihr kein Motiv ein.
Katz steht auf und geht.
Lena folgt ihm. Er macht seinen Wohnungsrundgang – jetzt bleibt nur noch das Bad. Vor der Badewanne bleibt er stehen und miaut einmal kurz und nachdenklich. Es klingt so artig artikuliert (nicht „määh“, nicht „njaah“ – ein richtiges „miau“): Genauso gut hätte er „hallo“ sagen können, scheint es. Oder eher „lass mich in Ruhe“. Er wirft ihr einen neckischen Blick zu und springt in einem eleganten Bogen in die Wanne. Sie klettert hinein. Der Boden ist kalt, aber trocken, ein Ritz schneidet sich gewohnt in ihr linkes Schulterblatt. „Extravagante Künstlerin schläft im Bad mit Katze“. Schon wieder Schlagzeilen im Kopf. Künstlerin. Sie hat doch seit Wochen nichts gemacht. Und kaum geschlafen. Aber jetzt vielleicht … Der Katzenschwanz fliegt ihr ins Gesicht. Er ist weg, und mit ihm der Schlaf. Sie wartet. Sie klettert heraus. Er springt aufs Bügelbrett. Sie gibt auf.
Sie findet die Hose von gestern im Bett, zieht ihr Lieblings-T-Shirt an: ein selbstbemaltes Kleid in Kindergröße. Geht in die Küche. Die Sonne ist verschwunden, aber Milch und Kaffeepulver sind noch da. Sie setzt Wasser auf, leckt sich die trockenen Lippen. Schade, dass Katz kein Weibchen ist. Es wäre schön, wenn er kleine blinde Kätzchen ableckte. Katzenzunge…Mutterzunge…Muttersprache... „Cat got your tongue?“ Die Katzenzunge, den weichen, rundlichen Pinsel, hat sie ganz lange nicht mehr benutzt. Ihre Bilder sind dafür zu zackig. Schade eigentlich.
Katzenzungen sind doch auch eine Art Schokolade? Sie schaut sich nach der Ritter Sport um. Nein, sie wird erst ein Stück essen, wenn sie zumindest eine Skizze fertig hat. Das Wasser blubbert, sie macht sich eine Tasse Instantkoffein, gießt kaltes Weiß ins heiße Schwarz. Milchtentakel tasten sich vor. Ein weißer Krake kämpft mit einem schwarzen. Oder vielleicht haben sie Sex. Ja, und dieses Umbrabraun ist die Farbe ihrer Nachfahren. Umbra-braun. Umbrabra, umbrara, umbrara, um!
Sie schnipselt mit den Fingern, macht eine Tanzbewegung. Im umbra-umbra-Rhytmus legt sie eine Scheibe Toastbrot auf die Tasse, eine Scheibe Käse auf den Toast, eine Scheibe Gurke auf den Käse, nimmt Tasse, Toast und Schokolade mit ins Zimmer, stellt den Kaffe auf den Tisch, nimmt den Toast ab, legt ihn daneben, setzt sich hin, holt Papier und Stifte aus der Schublade… Sie zeichnet eine Linie, zerknüllt das Papier, nimmt ein neues Blatt. Es starrt sie an. Sie hätte Kellnerin statt Künstlerin werden sollen. So schön effizient. Hin und her mit Toast und Kaffee, alle wären zufrieden. Soll sie eine Kellnerin zeichnen? Sie zeichnet ein Tablett, einen beblusten Busen, zwei Beine, zerknüllt die Zeichnung. Ein Illustrationsauftrag wäre so schön. Dann wüsste sie, was sie zeichnen muss. Kann sie sich nicht selbst einen erteilen? Sie schaltet das Laptop ein, ignoriert das Postfach, klickt sich durch: Eigene Dateien –> Audio –> Hörbücher. Ein Akkord ertönt, eine feierliche Männerstimme verkündet: „Fjodor Dostojewskij. Der Idiot.“ Sie kichert.
Sie hört zu und zeichnet mit. Myschkin als Dorftrottel mit zerzaustem Haar. Nein, sein Lächeln wirkt ironisch statt kindisch. Auf ihrem Gesicht spiegelt sich immer der Ausdruck, den sie auf dem Papier haben will, sonst werden ihre Bilder nie echt; aber es ist so schwer, mit einer dümmlich-idealistischen Visage anständig zu zeichnen… Sie zerknüllt den Myschkin. Koschki-Myschki: Katz-und-Maus. Katz ist nach zehn Minuten Dostojewski auf dem Bügelbrett eingeschlafen. Sie spürt eine Art dumpfes Summen im Hinterkopf, zeichnet immer langsamer und wirrer. Das Telefon klingelt. Ihre Mutter ist dran. „Ich habe gestern Abend an dich gedacht, – hört sich Lena sagen, – da wollte ich, dass du anrufst, aber ich hatte keine Lust, mich selbst zu melden, und ich bin irgendwie fast böse auf dich, obwohl du ja nicht etwa versprochen hattest, mich anzurufen, aber trotzdem. Und jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich so grundlos sauer war, aber gerade deswegen bin ich noch mehr sauer.“ „Was ist denn in dich gefahren?“, – fragt die Mutter. Oder eigentlich „welche Fliege hat dich denn gestochen?“, sie reden ja Russisch. „Ich habe heute einen Dostojewski-Tag“. „Du armes Kind.“ Sie fragt, wie es Katz geht, was Lena gestern und heute gegessen hat, ob sie sich endlich anständige Schuhe gekauft hat und warum sie gerade zu Hause sitzt. Nach den Zeichnungen fragt sie nicht. Ein halbe Stunde später legt Lena auf, kratzt sich am telefongewärmten Ohr.
Sie öffnet das große Fenster, gießt Wasser in die leere Kaffeetasse, stellt sie auf den Sims, setzt sich mit Papier, Farbe und Pinseln daneben. Blau, blau, blau, Laub… Eine schnelle weiche Berührung am Bein, und Katz ist neben ihr. Es macht sie nervös, aber ein paar Mal hatten sie schon so zusammengesessen, und es ging gut. Sie will das Fenster nicht schließen. Sie kann Katz nicht in der Küche einsperren, er würde es ihr nie verzeihen. Und außerdem machen sie so ein schönes Bild – Künstlerin mit Katze. „Auch wer weder Katz noch Frau, – sie sagt es laut auf, – schätzt, wird Katzen gern mit Frauen, wenn sie beide schön sind, schauen.“ Ringelkatz. Dritter Stock, wenn unten jemand vorbeikommt und hochblickt... Lena schaut nach unten. Da ist keiner. Nach oben. Ein Zitronenfalter. Sie muss über den alten Witz lächeln. Der Weinschwärmer-Schmetterling schwärmt übrigens auch nicht für Wein. Schweinwärmer wäre noch schöner! Und dann gibt es noch denn Hartheu-Spanner... Woher weiß sie das eigentlich? Wahrscheinlich Wikipedia, ein Übrigbleibsel der unzähligen Stunden halbherziger Inspirationssuche. „Schmetterling“, was für ein Wort. Die englische „Butterfliege“ ist zwar nicht viel besser, und „babotschka“ – Weiblein – passt auch wenig, aber Schmetterling ist doch am schlimmsten. Deutsche können ja anders. In Libelle ist Liebe und belle und Leichtigkeit… „Schmetterling“ klingt nach Zerschmettern.
Katz springt.
Sie schnappt nach ihm, verliert für einen Augenblick das Gleichgewicht, klammert sich mit der anderen Hand innen an den Sims fest. Sie kneift die Augen zusammen, schluckt. Sie schaut runter. Sie sieht Katz. Sie sieht kein Blut. Sie rennt hinunter. Es hämmert in ihren Ohren … Da ist er! Sie schluchzt. Er miaut. Sie kniet nieder; nimmt ihn vorsichtig, vorsichtig in die Arme. Es gibt einen Tierarzt um die Ecke, direkt hin.
Die Untersuchung dauert fünf Minuten. Katz beginnt zu schnurren, als er abgetastet wird. „Es scheint alles in Ordnung zu sein. Wenn Sie doch irgendetwas merken, kommen Sie einfach.“ Auf dem Weg nach Hause erzählt Lena Katz eine Geschichte: „Es waren einmal Auden und Brodsky, und beide mochten Katzen. Schreiben mochten sie auch. Es schreibt sich aber so schlecht mit einer Katze auf dem Schoss. Sie tauschten sich also ab: Mal ist Brodsky dran mit Katzenstreicheln, und Auden dichtet; mal muss Auden die Katzen übernehmen, und Brodsky darf an die Schreibmaschine…“ Da ist schon die Haustür.
Lena teilt mit Katz eine Packung Räucherlachs, die seit letzter Woche im Kühlschrank auf einen besonderen Anlass gewartet hatte. Computer aus, Handy aus. Sie will direkt in Acryl malen. Es sind nur noch ein paar Mini-Leinwände da, quadratisch, praktisch. Sie taucht die Katzenzunge ins Wasser.
Tag der Veröffentlichung: 20.07.2011
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