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Pechsträhne - passiert das jedem Menschen?

„Mom! Hast du irgendwo meine Füllfeder gesehen?“ Ich düse ins Wohnzimmer in dem meine Mutter gerade den Frühstückstisch abräumt.
„Nein, mein Schatz. Aber du musst in zehn Minuten in der Schule sein, oder willst du gleich am ersten Schultag zu spät kommen?“, antwortet sie mir mit einem Blick auf die Uhr.
„Scheiße!“ Heute geht ja alles schief; erst habe ich verschlafen, dann habe ich mir eine Tasse heiße Schokolade über das neue -weiße- T-Shirt geschüttet, und jetzt finde ich meinen Füller nicht! Und außerdem, fällt mir ein, bin ich sehr, sehr eifersüchtig auf meine Geschwister, deren Schule erst morgen beginnt. Grrr ...
„Lorina, so spricht man nicht!“ Ach ja, nicht zu vergessen: meine Mutter hat heute ihren Tadeltag!
Ich beschließe meine Füllfeder Füllfeder sein zu lassen und einfach hoffen, dass meine beste Freundin Stella eine für mich hat. Schnell drücke ich Mom ein Küsschen auf die Wange und renne in die Garage um mein Fahrrad zu hohlen.
Zehn Minuten später schließe ich es im Fahrradkeller der Schule ab. Schnaufend komme ich in meiner Klasse an, in der gerade Herr Prof. Satter einen seiner einschläfernden Vorträge hält. Leise husche ich auf meinen Platz neben Stella und hoffe, dass mein Lehrer mein Zuspätkommen nicht bemerkt hat. Aber -natürlich- heute sagt Herr Prof. Satter: „Lorina, wegen Zuspätkommen muss ich dir leider ein Mitarbeitsminus eintragen. Gleich am ersten Schultag! Tststs, das fängt nicht gut an! Aber hör' jetzt wenigstens zu, ich muss euch etwas sagen!“ Mit bedeutungsschwangerer Miene schaut er in die Klasse, „Meine Kollegin, Frau Prof. Lapisku, ist nach Salzburg versetzt worden. Ihr werdet ab jetzt meinen Kollegen Herrn...“
Mehr höre ich nicht mehr. Frau Lapisku! Meine Lieblingslehrerin! Versetzt worden! Frau Lapisku unterrichtet Musik. Sie ist eine fast immer gut aufgelegte Lehrerin und Gerechtigkeit ist ihr zweiter Name. Bei ihr nehme ich Gesangsunterricht. Singen bedeutete mir fast genauso viel wie reiten. Und das soll etwas heißen.

Als ich nach der Schule mein Fahrrad aus dem Keller hole, stoße ich mit Melissa zusammen. Ausgerechnet. Melissa geht in meine Parallelklasse und ist die Oberzicke der Unterstufe. Sie hat aschblondes langes Haar und dunkelgraue Augen. Ihre Figur gleicht der einer jungen Gazelle, fein und wendig, dass muss ich eingestehen. Außerdem hat sie stinkreiche Eltern und wird jeden Tag von einem Chauffeur in die Schule geführt. Melissa ist das komplette Gegenteil von mir. Und darüber bin ich froh.
Ich habe nämlich lange dunkelbraune Haare die lockig über meinen Rücken fallen. Meine Mom sagt, ich habe überirdische Augen. Ich finde einfach, dass sie hellblau mit einem dunkelblauen Kreis drumherum sind und denen eines Huskeys gleichen. Die gazellenhafte Figur ist so ziemlich das Einzige, dass Melissa und ich miteinander gemeinsam haben. Meine Familie die aus meinen vier Geschwistern und meinen Eltern besteht und ich haben am Stadtrand ein Haus. Es ist ein hübsches Einfamilienhaus das mit Efeu umrankt ist. Jeder aus meiner Familie konnte sich etwas beim Haus wünschen. Meine Mom wünschte sich sofort einen großen Garten in dem sie die Blumen quälen und einen Raum in dem sie töpfern und nähen kann. Dad sagte, er sei total damit zufrieden, dass wir überhaupt ein Haus haben. Meine Geschwister entschieden sich für ein Wohnzimmer mit Kamin, die Hausfarbe Türkisblau, einen Stall mit drei Ziegen und einen Proberaum für Noahs Band.
Ich wünschte mir ein Tier. Ich wollte, dass ich das nächste Tier dass ich sah bekam. Sei es ein ausgerissenes Schaf von dem Hirten, der in der Gegend herumstreift, oder eine kleine Katze die keine Mutter mehr hatte. Und ratet mal, was ich sah! Gerade als ich eine Umzugskiste ins Haus schleppte, fuhr eine Pferdekutsche vorbei. Vorne trabte eine junge Isländerstute in deren Fell sich die Sonne spiegelte, so sehr glänzte es. Die Stute hatte eine weiße kreisförmige Blesse auf der Stirn.
Damals war ich so geschockt von der Schönheit dieses Pferdes, dass ich den Karton der meinen halben Kasten beinhaltete fallen ließ und auf die Straße rannte, um die Kutsche zu stoppen.
Ich bekam das Pferd. Und ich nannte es Soleila. Weil „Soleil“ auf Französisch Sonne heißt, und an dem Tag an dem ich Soleila das erste Mal sah, die Sonne auf die schöne Stute schien. Und wegen ihrer Blesse, die ich nach längerem Betrachten ebenfalls als Sonne identifizierte.
Soleila und ich sind die Jugendmeister des Landes in der Disziplin Springen. Klasse A. Wir lieben uns.
Auf jeden Fall stieß ich eben mit Melissa zusammen. Sie macht gleich ein Riesentrara daraus und lässt ihre Tasche fallen. Zimtzicke.
„Kannst du nicht aufpassen!?“, faucht sie mich an.
„Nur wenn ich mich bemühe, aber bei dir zahlt sich das nicht aus!“ Ich schieße einen bösen Blick auf sie ab und mache mich aus dem Staub.
Gerade als ich auf mein Rad steigen will, berührt jemand sanft an der Schulter. „Was ist denn jetzt schon wieder los?“ Genervt drehe ich mich um. Stella lächelt mich an.
„Oh. Sorry, Stella! Aber Melissa hat mich gerade wieder aufgeregt.“
„Nichts passiert!“, sagt meine immer fröhliche Freundin, die ihre langen roten Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden hat. Ihre moosgrünen Augen funkeln miteinander um die Wette. „Ich wollte dich nur fragen, ob du heute so um vier in den Reitstall kommst? Frau Mexlerah hat gesagt, dass in nächster Zeit die Landesmeisterschaften stattfinden werden, und sie will heute entscheiden, wer mitfahren darf.“ Frau Mexlerah ist unsere freundliche und nette, aber auch sehr strenge Reitlehrerin.
„Natürlich. Um vier im Stall? Okay, um drei hab ich Zahnarzttermin, aber nur Kontrolle. Müsste sich ausgehen!“, stimme ich zu.
„Super!“ Stella strahlt ihr schönstes Lächeln. „Und nicht vergessen, du Schusseltante!“
Stella und ich kennen uns. Sie weiß, dass ich so vergesslich bin, dass ich manchmal sogar vergesse die Schuhe anzuziehen, bevor ich aus dem Haus gehe. Und ich wiederum weiß von ihr, dass sie es nicht ausstehen kann, wenn man neben ihr schlecht über andere Menschen redet. Selbst wenn sie denjenigen um den es sich handelt nicht mag.
Schnell verabschiede ich mich noch von Stella und schwinge mich auf mein Rad. Ab nach Hause!
Dort angekommen stolpere ich erstmal über Lamias Schuhe und falle genau auf die Nase. Autsch! Während ich mich aufrapple rutsche ich auf der Zeitung aus. Doppel-Autsch! Wie es aussieht ist meine kleine Schwester Lamia mit der Zeitung nach Hause gekommen und hat gleich alles stehen und liegen gelassen. Mir die Stirn reibend stolpere ich in die aufgeräumte Küche. Na super! Niemand hat gekocht, geschweige denn aufgedeckt. Also hole ich aus dem Drehkreuz einen großen Topf und fülle ihn mit Wasser. Während das Wasser auf dem Herd brodelt schneide ich Karotten, Zucchini und Tomaten klein und erwärme das ganze in Schlagobers. Dann können auch schon die Nudeln in das Wasser. Ich laufe in den ersten Stock zum Arbeitszimmer meiner Mutter, um sie zum Essen zu holen. Gerade als ich die Türklinke herunterdrücken will, höre ich aufgeregtes Stimmengemurmel. Ein paar Stimmen kann ich erkennen: Moms, Lamias und Dads. Und da ist noch eine Stimme die mir bekannt vorkommt, aber zu der mir kein Name einfällt. Sehr seltsam!
„Aber Lorry bringt uns um, wenn wir Soleila und sie vom Turnier abmelden!“ Lorry ist mein Spitzname und das ist eindeutig Dads Stimme! Aber von welchem Turnier will er mich abmelden? Doch nicht etwa von den Landesmeisterschaften wegen denen ich extra jeden Tag das Extratraining gehe! Um mehr zu erfahren, lausche ich weiter.
„Aber bitte! Sie wird es wohl aushalten können, einmal nicht bei den Landesmeisterschaften zu sein!“, sagte die Stimme, die mir bekannt vorkommt. Also doch!
„Du kennst sie nicht bei diesen Sachen ist sie sehr-“
„Lorina! Was machst du denn hier!?“ Mein großer Bruder Noah steht in seiner Zimmertür, die sich gegenüber von Moms Arbeitszimmer befindet. Jetzt geht auch diese Tür auf. Verdammt! Was soll ich jetzt sagen??
„Hähäm“, räuspere ich mich. „Tja. Ich wollte dich zum essen holen, Mom.“ Verlegen sehe ich vom Boden auf in die Gesichter von meinen Eltern, Noah, Lamia und einem älteren Mann. Er war es, dessen Stimme mir so bekannt vorkam, aber zu der ich keinen Namen wusste. Der Mann hat kurzes, volles grauweißes Haar das sich an den Enden leicht kräuselt. Er hat die selben wasserblauen Augen wie meine 9-jährige Schwester Lamia und trägt eine durchgewaschene Jeans und ein dunkelgrünes Wollgilet. Freundlich lächelt er mich an. „Du musst Lorina sein!“, stellt er fest. Ich nicke beklommen, irgendetwas kommt mir nicht richtig vor. „Ich bin Leopold Reckner. Dein Großvater. Du hast mich das Letzte mal gesehen, als du so zirka vier Jahre alt warst.“ Wieder lächelt er, während in mir vage Erinnerungen hochkommen. Daher war mir die Stimme so bekannt. „Ich war, während der vielen Jahre die seitdem vergangen sind, Alaska. Mit deiner Großmutter Rosaly. Wir wollten euch einen Überraschungsbesuch abstatten, aber wir waren davor noch in Kroatien und haben dort eine Fährenfahrt gemacht. Rosaly ist von der Reling gestürzt.“ Plötzlich ist es, als wäre ein Schatten über das Gesicht des alten Mannes gefallen, seine Augen werden trüb und seine Wangen fallen ein. Es scheint mir, als wäre er innerhalb von Sekunden um Jahre gealtert. „Oh“ Ich schaue betroffen drein. Ich habe keinerlei Erinnerungen an meine Großmutter.
„Aber lasst uns jetzt essen gehen, es riecht irgendwie schon angekokelt.“ Mein Großvater hat Recht, denn als wir in die Küche kommen ist die gute Schlagobers-Gemüsesoße verbrannt. Pechtag. Mom zaubert jedoch in sekundenschnelle ein frisches Mittagessen auf den Tisch, aber als ich das nächste Mal aber auf die Uhr schaue ist es schon fünf vor vier. Schnell rechne ich: eine viertel Stunde brauche ich zum Reitstall und vorher muss ich noch aufsatteln, allerdings ist schon in fünf Minuten das Training. Mist.

Schnaufend komme ich im Hof des Guts „The lucky horses in the rain“ an. Der Name passt perfekt, denn die Pferde dürfen am ganzen Grund der Lenners -das sind die Gutbesitzer- frei herumlaufen, allerdings hört jedes Pferd auf einen Ruf wie zum Beispiel Soleila auf „Chiickaa“ und rennt sobald man es ruft zu demjenigen hin. Deshalb glaube ich, dass die Pferde sehr glücklich sind. „In the rain“ ist auch sehr passend, da ich in der Nähe von London, in einem Gebiet, wo es sehr oft regnet, wohne und die Pferde sind sogar bei Regen im Freien. Aber man muss auch dazu sagen, dass alle Pferde Islandpferde sind, deshalb sind sie auch so robust und wetterfest. Allerdings gibt es auch ein paar Boxen in denen die Pferde stehen, die krank sind, oder vom Hufschmied neu beschlagen werden müssen.
Ich lehne mein Rad an die Wand der Stallungen in dem sich ein paar Boxen, die Sattelkammer und ein großer Gemeinschaftsraum in dem man sich Kakao, Tee, Kaffee oder Spaghetti machen kann, befindet. Um den Hof ist ein U-förmiger Bau herumgebaut, rechts die Stallungen, geradeaus das Büro und die kleinen Spinds, die jeder der ein Pferd eingestellt hat besitzt, und links ist das Wohnhaus der Lenners. In der Mitte des Hofes ist eine kleine Wiese die zirka drei mal drei Meter groß ist und auf der zu fast jeder Jahreszeit Blumen wachsen. Zu Weihnachten steht ein großer Weihnachtsbaum an dem Pferdeleckerlis, Äpfel und Möhren hängen auf der Wiese. Aber da die Pferde auch dort hin dürfen, sind diese nur maximal zwei Tage lang am Baum.
Gerade will ich ganz laut „Chiickaa“ rufen, damit Soleila zu mir kommt und ich sie aufsatteln kann, als Stella um die Ecke biegt.
„Na, Fräulein Ich-komm-immer-zu-spät, wie war der Zahnarzt?“, ruft sie mir zu. Der Zahnarzt, fällt es mir brühend heiß wieder ein. Oder besser gesagt, der Zahnarzttermin vor einer Stunde!
„Stella ...“ Auf einmal werde ich weinerlich. Mom, die sich mit Vorliebe für Astrologie interessiert, hätte gesagt, dass der Tag für meine sensible Krebs-Seele viel zu anstrengend gewesen ist. In meinen jetzigen Zustand hätte ich ihr wahrscheinlich sogar zugestimmt.
Meine beste Freundin stellt das Extratraining das schon vor einigen Minuten begonnen hat hinten an und nimmt mich in den Arm.
„Süße“, flüstert sie mir ins Haar. „Alles wird wieder gut.“
Nachdem ich mich wieder einigermaßen gefasst habe, rufe ich Soleila und Stella sattelt sie auf, während ich mir die Reithose und die Reitstiefel anziehe. Schließlich kommen wir zwanzig Minuten zu spät am Reitplatz an. Unsere eigentlich sehr strenge Lehrerin, Frau Mexlerah schmilzt sofort dahin, als sie die Spuren die die Tränen hinterlassen haben sieht, und lässt die Moralpredigt über das Zuspätkommen ausnahmsweise aus.
„Heute üben wir die dreifache Kombination. Stella, bitte beginne!“, ruft sie als wir Aufstellung genommen haben. Anscheinend haben wir nur das Aufwärmen verpasst.
Stella reitet erst eine Volte, dann steuert sie auf das erste Hindernis zu. Man merkt, dass Stella und Luxa May ein eingespieltes Team sind. Luxa May ist eine hübsche Fuchsstute und das Pflegepferd von Stella. Und demnächst vielleicht schon ihr eigenes? Meine beste Freundin gibt Luxa May die Hilfen zum Sprung und die beiden segeln elegant über das erste Hindernis. Ich bemerke, dass Stella rote Wangen, und die noch relativ junge Stute die Ohren gespitzt hat. Das Einzige was im Leben der zwei zählt, ist das Springreiten. Und bei Stella vielleicht noch die Freundschaft mit mir.
Nachdem Stella die dreifache Kombination fehlerfrei absolviert hat, ruft Frau Mexlerah mich auf. Mir klopft das Herz wie wild, da heute ja entschieden wird, wer von unserer Gruppe an den Landesmeisterschaften teilnehmen darf. Nervös reite ich erst eine Volte und steuere dann auf den ersten Sprung an. Soleila schlägt plötzlich mit dem Kopf und bleibt abrupt stehen. Wieder schüttelt sie mit dem Kopf, aber ich bin mir sicher, dass sie keine Fliege verscheuchen will, sondern eher mir sagen, dass sie mich nicht über die Hindernisse tragen will, wenn ich nervös bin. Seufzend sage ich zu meiner Reitlehrerin: „Ich reite noch einmal an. Wahrscheinlich war ich Soleila etwa zu nervös, um mich über den Sprung zu bringen.“ Ich lächle schief. Frau Mexlerah sieht mich stirnrunzelnd an.
Als ich das zweite Mal auf das Hindernis zureite, bin ich schon etwas weniger nervös, aber anscheinend noch immer zu sehr, denn nach dem ersten Sprung macht Soleila einen kleinen Buckler und ich lande sehr unelegant auf dem staubigen Boden. Soleila stupst mich sanft mit der weichen Pferdeschnauze an. Ich muss lächeln. Wenigstens entschuldigt sie sich, denke ich obwohl ich weiß, dass es allein meine Schuld war.
Nachdem ich Soleila abgesattelt habe kommt Frau Mexlerah zu mir. Sie sieht sehr ernst aus.
„Lorina, nach diesem Missgeschick weiß ich nicht mehr genau, ob ich dich zu den Landesmeisterschaften gehen lassen kann. Aber eigentlich bist du im Springen ja die Beste der Gruppe also-“ Sie wird von der Hofhündin Lina unterbrochen die einer kleinen Katze -ich glaube es ist Mary- hinterherjagd. Meine Reitlehrerin ruft Lina zu sich und erst als diese brav neben ihr sitzt, fährt sie fort. „Also wie gesagt, du bist eigentlich die Beste der Gruppe und deshalb habe ich mich entschlossen, dir noch eine Chance zu geben. Komm bitte morgen noch vor der Schule zu mir! In der Früh ist man meist noch etwas konzentrierter. Und außerdem kommt es mir so vor, als hättest du heute eine Pechsträne.“ Frau Mexlerah lächelt mich kurz an, dann dreht sie sich um und verschwindet mit Lina im Schlepptau Richtung Sattelkammer. Ich bekomme gerade mal den Mund auf um ihr schwach „Danke, Frau Mexlerah!“ hinterher zu rufen.
Ich putze Soleila noch schnell über das wie immer glänzende Fell, dann gebe ich ihr einen zarten Klaps auf die Kruppe und sie galoppiert mit federnden Sprüngen zu Luxa May die in der Nähe der alten Linden steht. Allerdings nicht, bevor sie mir eine Möhre abgebettelt hat.
Nachdem ich wieder in meine Jeans geschlüpft bin und Stella „Tschüs“ gesagt habe, steige ich auf mein Rad und fahre vom Hof. Gerade als ich das große Eisentor passieren will, trabt ein junges Fohlen auf mich zu. Das kleine ist gerade mal zwei Monate alt, aber für dieses junge Alter schon sehr robust gebaut. Es erinnert mich stark an den großen Deckhengst der gleich, wie das Kleine, ein Paint-Horse ist. Und das kleine Abzeichen hat es wahrscheinlich von der erfolgreichen Springstute Molinari. Langsam fällt mir wieder ein, dass das kleine Fohlen sehr lange mit seiner Mutter die Box Nummer drei, die einen kleinen Auslauf im Anschluss hat, belegte.
„Süß, nicht?“ Erschrocken drehe ich mich um. Zirka zwei Meter entfernt von mir steht eine junge Frau. „Hallo, ich bin Leslie, die neue Dressurlehrerin. Du hast mich wahrscheinlich noch nicht kennen gelernt.“ Sie lächelt mich freundlich an. Ihr langes Blondhaar ist zu einem Pferdeschwanz gebunden der auf dem dunkelblauen Polo-Shirt wie flüssiges Gold hinunterfließt. Ihre grünblauen Augen passen verdammt gut in ihr zart geschnittenes Gesicht in dem auch die fein geschwungenen Lippen auffallend sind.
„Total. Ich habe es noch nie heraußen gesehen. Immer nur in Box Nummer drei.“, sage ich.
„Ja, es ist prächtig.“, sagt Leslie. „Aus ihm wird einmal etwas Großes werden. Aber auch nur, wenn es der Richtige ausbildet.“ Sie runzelt die Stirn.
„Tja. Ich muss dann mal los.“ Ich öffne das Tor, schiebe das Rad hindurch und schließe es wieder hinter mir.
„Wir werden uns sicher wieder mal sehen. Nimmst du Dressurstunden?“, fragt Leslie mich. Ich verneine und radle dann heimwärts. Komischerweise habe ich nach dem Gespräch mit ihr das Selbe Gefühl, als hätte ich mit Stella gequatscht. Seltsam.


Frau Professor Lapisku - ist sie allwissend?

Ich liege auf meinem Bett und weine. Es ist angenehm, die Tränen die sich im Laufe des Tages gestaut haben loszulassen. Mein knallrotes Kissen ist auf einer Stelle schon bis zur Unterseite durchnässt. Ich tupfe meine Augen mit einem Taschentuch das intensiv nach Vanille riecht. Von diesem Geruch muss ich niesen. Was mir abermals die Tränen in die Augen treibt. Ich schniefe und ermahne mich in Gedanken nicht so heulerisch drauf zu sein. Es klappt nicht ganz, aber ich habe wenigstens die Kraft mich aufzusetzen und Stella eine SMS zu schreiben, in der steht, dass sie mir bitte die Matheaufgabe auf ein Blatt schreiben soll. Stella ist zwar keine richtige Leuchte in Mathe -die bin eher ich- aber sie macht ihre Aufgaben im Gegensatz zu mir immer ordentlich und hat höchstens sieben Fehler pro Seite. Zum Glück ähneln sich Stellas und meine Schrift ziemlich, denn sonst hätte ich in schon mehreren Fächern einen Fünfer gehabt, weil ich nicht mehr zu den Hausaufgaben gekommen bin.
Prompt ruft ruft Stella an.
"Tut mir leid, Stella", murmle ich und drücke auf "Ablehnen"
Dann lege ich mich wieder auf das Bett und denke nach. Auf einen Pechtag müsste eigentlich ein Glückstag folgen, überlege ich. Das heißt, morgen bei Frau Mexlerahs "Chance" müsste ich eigentlich total gut abschneiden. Hoffentlich wird es so sein!
Jemand klopft sacht an die Zimmertür. Panisch schnäuze ich mich und versuche halbwegs normal auszusehen, als ich "Herrein!" rufe. Leopold tritt ein. Wieder lächelt er das selbe Lächeln wie am Nachmittag, und mir wird seltsam zumute.
"Guten Abend, Lorina.", sagt er mit einer rauen, aber vertrauten Stimme. "Ich würde gerne ein bisschen mit dir reden. Du bist sicher nicht bei meiner hastigen Erklärung zu Mittag mitgekommen, oder?" bevor er fortfährt lächelt er mich wieder an. Ich mache mich auf eine lange, langweilige Lebensgeschichte gefasst.

Am nächsten Morgen läutet mein Wecker schon um halb sechs. Gähnend will ich ihn ausschalten und mich noch einmal auf die andere Seite drehen, als mir einfällt, dass ich heute vor der Schule zum Reitstall kommen soll. Ich mache noch schnell eine Dehnübung auf meiner weichen Matratze ich rolle mich aus dem Bett, so dass ich auf allen vieren am roten Teppich davor lande. Der leichte Aufprall rüttelt mich ein bisschen wach, und endlich ist mein Kopf nicht mehr mit weißen Schlafwolken, sondern mit vernünftigen Gedanken gefüllt. Mein Blick fällt auf das große Tablett auf dem eine leere Packung Kekse, zwei Tassen und eine Kanne Tee stehen. Langsam kehren die Erinnerungen an gestern Abend zu mir zurück.
Leopold -ich kann zu ihm einfach nicht Grandpa sagen- und ich sind auf meinem Sofa gesessen und er hat mir erzählt, dass er noch vor Moms Geburt nach Alaska zum Fischen gefahren ist. Dort hat er meine Großmutter Rosaly kennen gelernt und mit ihr meine Mom und ihren jüngeren Bruder Jack bekommen. Während Mom und ihr Bruder noch Kinder waren, hatte die Familie in London, woher mein Großvater ist gelebt. Als ihre Kinder acht und neun waren, lag Rosalies Großvater in Alaska im Sterbebett. Rosaly nahm das erste Flugzeug nach ihrem richtigen Zuhause und blieb dort. Leopold wartete noch, bis Mom und Jack selbstständig waren, und flog dann zu Rosaly nach Alaska. Jack lebt heute in Sydney und besucht uns jährlich zu Weihnachten. Leopold ist uns nur einmal, und zwar als ich vier Jahre alt war besuchen kommen. Vor zwei Wochen haben Rosaly und Leopold beschlossen, einen Besuch abzustatten, und vorher eine Woche Urlaub in Kroatien und Frankreich zu machen. Als sie dann von Frankreich nach England mit der Fähre gefahren sind, ist Rosaly von der Reling gestürzt. Sie ist sofort untergegangen, und man konnte ihr nicht mehr helfen. Ihre Leiche suchen sie noch immer. Leopold hat mir von Rosaly erzählt, dass sie mir unheimlich ähnlich gesehen hatte. Er hatte mir gesagt, Rosaly hätte die Zeit in London damals nur deshalb ausgehalten, weil sie in der Nähe eines großen Gestüts gelebt hatten. Rosaly hatte das Reiten geliebt. Am liebsten, sagte Leopold, das Springreiten. Sie ist sehr oft auf Tuniere gegangen. In Alaska gäbe es eine ganze Vitrine die mit Pokalen und Schleifen gefüllt wäre. Ich musste lächeln. Rosaly musste eine ganz schön nette Person gewesen sein.
Ich komme am Hof an, und schon rennt mir Soleila entgegen. Lächelnd tätschle ich ihr den Hals und stelle mein Rad ab. In windeseile habe ich meine schöne Stute geputzt und gesattelt. Ich führe sie auf den Reitplatz, auf dem noch immer die dreifache Kombination steht.
"Guten Morgen, Lorina!" Frau Mexlerah kommt auf den Platz. "Legen wir gleich los. Sattelgurt ist nachgezogen? Dann steige auf!" Heute bin ich überhaupt nicht mehr aufgeregt. Ich weiß ja, dass ich gute Gene habe. Ich wärme Soleila auf, und sie geht auch sofort so, wie ich will. Nun wage ich mich an das erste Hindernis. Ich spüre, wie der Blick meiner Reitlehrerin auf mir ruht. Aber anstatt dadurch gestresst zu sein, denke ich, wie toll es ist, dass sie mir so viel Aufmerksamkeit schenkt. Ich stelle mir vor, Rosaly säße an meiner hier auf Soleilas schönem Springsattel, in dem der Schreiftzug "Lucky horse" eingraviert ist. Nur mehr ein Galoppsprung trennt Soleila und mich von dem Sprung. Soleila hat die Ohren gespitzt. Auch ich bin aufmerksam. Und dann springen wir. Nein, wir fliegen!
In der Schule bin ich bestens aufgelegt, mache Scherze und weiß (fast) alle Antworten. Stella nimmt mich in der Pause beiseite und sagt: "Du bist genommen worden, oder?" Sie strahlt wie immer über das ganze Gesicht, aber diesmal ist es nicht dieses Strahlen, das sie immer hat, nicht dieses, das sie sogar bei einem Gespräch mit unserem Klassenlehrer aufsetzt, nein, mir widmet Stella immer ein besonders strahlendes Lächeln. Es gleicht dem, eines besonders funkelnden Sternes, einer frisch polierten Mamorplatte, eines Gebiss bei der Zahnpastawerbung, einer ... Mit einem Wort: dieses Lächeln ist wunderschön, und jedesmal, wenn sie mich so anlächelt, fühle ich mich geehrt, es sehen zu dürfen.
"Ja.", sage ich. "Ja! Jajajajajaaa!!" Erst jetzt wird es mir bewusst, dass ich bei den LANDESMEISTERSCHAFTEN mitreiten darf. In der Auswahl unseres Reithofes sind Stella, ein anderer Junge aus meiner Reitgruppe und ich genommen worden. Juchuu! Das Leben ist so schön. Wiedereinmal sehe ich, dass es sich nicht lohnt aufzugeben, wenn man nicht weiß, was morgen kommt. Ich umarme Stella stürmisch, so dass wir beide zu torkeln anfangen und gegen den bis zum Rand gefüllten Plastikeimer stoßen, der sofort umfällt. Meine Freundin und ich schauen uns an und fangen gleichzeitig an, laut zu lachen. Wir setzen uns auf die Treppen, die in den dritten Stock führen, um den Schwindel ausschwindeln zu lassen. Als wir wieder gerade stehen können, sammeln wir den Müll wieder ein, noch immer kichern wie die Kichertanten. Melissa kommt mit ihrem Hühnergefolge, dass sie hoch verehrt vorbeispaziert. Laut sagt sie: "Manche Leute sind wirklich peinlich! Seht euch zum Beispiel die da an!" Während sie weitergeht, schaut sie noch immer in Richtung Stella und mir, und rennt geradewegs in die strenge Deutschprofessorin Pluck hinein. Diese sagt mit falschem Lächeln: "Könntest du den Satz wiederholen, Melissa? Den Direktor interessiert er sicher auch!" Dann macht sich Frau Professor Pluck mit Melissa, die vor Wut ganz rot im Gesicht ist im Schlepptau auf den Weg in Richtung Direktorzimmer. Das ist genug für Stella und mich, um laut weiter zu kichern.
In der Geographiestunde klopft es plötzlich an der Tür. Unser Lehrer, der gerade erklärt welche Rohstoffe es gibt, und was der Unterschied zwischen ihnen ist, ruft "Herein" und die Tür öffnet sich langsam. Alle Schüler haben den Blick gespannt auf die Tür gerichtet. Wer wagt es sich, während der Stunde anzuklopfen? Eine junge Frau die sehr hübsch aussieht, betritt die Klasse. Sie hat, da heute ein warmer Herbsttag ist, ein langes türkisblaues Kleid mit kurzen Ärmeln an. Ihr langes schwarzes Haar lässt sie mystisch aussehen. Ich erkenne die Dame sofort. Und es gibt mir einen Stich in mein Herz, sie nach so langer Zeit in der Schule wiederzusehen.
Es ist Frau Prof. Lapisku. Genau sie. Ihr langes, schönes Haar. Ihre mystischen grünen Augen. Ihre große schlanke Figur. Ihre schöne Stimme die ich schon vermisst habe. Es ist ihr Körper, inklusive ihrer Stimme und ihren Bewegungen. Nicht ganz ihr Körper, denn ihr Bauch ist etwas gewachsen und wölbt sich leicht unter dem schönem Stoff ihres Kleides. Trotzdem sieht sie so hübsch wie immer aus.
Frau Prof. Lapisku lächelt freundlich. "Schönen Tag, euch allen! Ich dachte mal, ich komme euch besuchen! Ihr wart ja meine liebste Klasse." Sie seufzt. Anscheinend ist ihr wirklich viel an uns gelegen. Die ganze Klasse hat sie geliebt. Sogar die Jungs waren leise wenn sie gesprochen hat. Genauso wie jetzt. Seit meine ehemalige Lehrerin die Klasse betreten hat, hat niemand außer ihr ein Wort gesagt. Nicht mal der Herr Läuser unser Geographielehrer. Alle hängen wie gebannt an ihren Lippen. Ich reiße kurz den Blick von ihrem Gesicht fort und mustere die große Tasche die sie bei sich trägt. Nun regt sich auch Herr Läuser. Er sagt: "Guten Tag, liebe Kollegin! Schön Sie wiedermal hier zu sehen!" Ja das finde ich auch, füge ich in Gedanken hinzu. "Darf ich mir die Frage gestatten, was Sie in ihrer großen Tasche haben? Sie wollen ja keinen Unterricht geben, oder?" Herr Läuser sieht sie mit gerunzelter Stirn an. Wieder lächelt Frau Prof. Lapisku ihr Lächeln, das dem einer Elfe gleicht. "Nein, natürlich nicht. Ich habe meinen lieben Schülern nur ein Dankeschön an die vielen Jahre mitgenommen." Sie lässt den Blick der smaragdgrünen Augen über die Bänke streifen, an denen stille Schüler sitzen. Ihr Blick bleibt bei mir hängen. "Ich fange bei den Mädchen dem Alphabet nach an." Ich heiße im Vornamen Seller, also werde ich erst weit hinten kommen. Stella heißt Yarker, sie muss noch länger warten. Meine Musiklehrerin fängt an: "Daser Betty" ist die Erste. Betty steht auf und geht zu Frau Prof. Lapisku die ihr ein kleines zusammengerolltes Zettelchen und ein "Merci", Geschmack Marzipan gibt. "In dem Röllchen ist ein Zitat von irgendeinem Musiker drinnen, es ist auf dich bezogen.", erklärt sie Betty. So geht das weiter und weiter. Schließlich bin ich an der Reihe. "Seller Lorina" ruft sie. Als ich vorne bei ihr stehe gibt sie mir, nicht wie den anderen ein Röllchen aus Buntpapier, sondern eines aus verblichenem Pergament. Sie hat sich also erinnert, dass ich alte Sachen liebe. Sei es eine Schallplatte aus dem Jahr 1923 oder ein altes Notenbuch. Sie schaut mir tief in die Augen. Dann lächelt sie und murmelt so leise, dass es nur ich hören kann: "Du bist zum Glück noch immer die Gleiche." Die junge Frau greift in ein Stoffsäckchen und zieht ein Merci mit Geschmack Haselnuss heraus. Runzelt aber die Stirn und wirft es wieder zurück. Wahrscheinlich hat sie sich an meine Kotzattacke in der fünften Klasse nach einem Haselnussmerci erinnert.
Als ich auf meinem Platz mit einem Kaffeemerci im Mund das alte Pergament aufrolle und den Satz lese, bleibt mir fast die gute Schokolade im Hals stecken. Verwundert lese ich die Wörter immer wieder und wieder. Aber ich kenne alle berühmten Zitate von Musikern, und dieses kenne ich nicht.

Kümmere dich nicht zu viel um die anderen Menschen. Sie sind nur die Nebenrollen. Es ist unwichtig, wie sie über dich und andere denken, denn du bist die Hauptrolle. Verliere
dich nicht. Und denke daran: es ist leicht Theater zu spielen.

Anstatt eines Namen oder "Anonym" steht ein Fragezeichen und ein Smiley. Ich bin verwirrt. Wer hat dieses Zitat von sich gegeben? Und was sollte der letzte Satz bedeuten?
Stella setzt sich neben mir auf ihren Platz und rollt ihr rotes Papier auf. "Was steht bei dir?", frage ich sie neugierig. Sie zeigt es mir.

Zeige deine Gefühle und gehe nicht mit einem aufgesetztem Lächeln durchs Leben! Auch weinen ist wichtig!

lese ich leise. Es ist das neue Motto des berühmten Popstars Kay Blay. Dieser Satz passt perfekt zu Stella. Manchmal stelle ich mir vor, wie meine beste Freundin abends vor dem Spiegel steht und Lächeln übt. Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, das sie immerzu gut aufgelegt ist. Ich schaue zu Stella auf. Sie hat Tränen in den Augen. Echte Tränen. Nicht diese, die sie im Theaterkurs geweint hat. Nein, es sind Tränen, die ich bei ihr noch nie gesehen habe. Andere Leute hätten Krokodilstränen gesagt, so groß sind sie, als sie meiner tapferen Freundin die Wangen hinunter rinnen. Ich hebe mein Hand und wische ihr einen dieser Riesentropfen weg. Ihre zarte Haut fühlt sich wie Babypopo an. Mir wird bewusst, wie oft ich mich schon bei Stella ausgeheult habe und sie mich getröstet hat. Sie hat mir ein Taschentuch gereicht und mich aufgemuntert, sie hat meinen ganzen Kummer, sowie auch meine Tränen verjagt. Ich nehme Stella in den Arm.
"Schon gut. Alles ist okay, meine Kleine. Stella.....", murmle ich während ich zart den Rücken der in einem knallgelben Kaschmirpulli steckt auf dem "Don't worry, be happy" aufgedruckt ist streichle. Ich spüre, wie die Tränen Stellas mein T-Shirt langsam aber sicher durchnässen. Meine Ohren nehmen war, dass die ganze Klasse mucksmäuschenstill geworden ist. Vorsichtig sehe ich auf. Alle schauen meine beste Freundin und mich an. Inklusiv der beiden Lehrer. Stellas Schniefen und Schluchzen hört abrupt auf. Auch sie hebt den Kopf. Peinliche Stille beherrscht das große Klassenzimmer.

"Oh Gott, war das peinlich!" Stella hat inzwischen nicht mehr ganz so verquollene Augen, aber etwas mitgenommen schaut sie noch immer aus. Es ist nun endlich Pause, und wir können ungestört reden.
Nach einer halben Ewigkeit in der Stella und ich mich schon in Grund und Boden geschämt hatten, scheuchte uns Frau Prof. Lapisku ins Mädchenklo. Während dem Rest der Stunde war ich damit beschäftigt, Stella halbwegs auf Vordermann zu bringen.
"Warum hast du eigentlich geheult?", frage ich sie die Frage die den Rest der Stunde zwischen uns geschwebt ist, und ich nicht im WC, wo die ganze Zeit irgendjemand sein Geschäft verrichtet hatte, fragen wollte. Stella wird noch etwas röter als sie schon war und sagt in einem sehr stotternten Ton: "Also ... ähm ... weißt du, Lorina, als ich dieses Zitat gelesen habe, sind bei mir alle Dämme gebrochen. Vorher habe ich immer daran geglaubt, dass man glücklich ist, wenn man so tut als wäre man glücklich, aber ... das hat irgendwie nicht geholfen. Meine Probleme sind dadurch nicht kleiner geworden.", schließt Stella und wischt sich noch einmal kurz über die Augen.
"Aber warum hast du mir nichts davon erzählt? Dafür sind Freundinnen doch da!", frage ich meine beste Freundin.
"Ich wollte dich nicht damit nerven. Du hast dich doch die ganze Zeit darüber gesorgt, das du in die Landesmeisterschaftenauswahl kommst. Oder das Soleila nichts passiert. Ich ... ich ... ich war einfach zu schüchtern. Ich wusste zwar, dass du mich ernst nehmen würdest, aber ich hatte nicht den Mut, dir irgendetwas zu sagen. Obwohl ich mir immer sicher war, dass unsere Freundschaft nicht mal durch meine Sorgen zerstörbar ist." Wieder schnieft Stella.
"Ach Stella ... Das tut mir so Leid! Ich unsensibles, dummes Ding! Merke nicht mal, wenn meine beste Freundin Probleme hat! Stella, es tut mir so Leid, wirklich! Wie kann ich das wieder gut machen?"
"Das ist doch nicht deine Schuld, wenn ich meine Gefühle hinter der Fröhlichkeitsmaske verstecke! Ganz allein mich trifft die Schuld!", sagt Stella verlegen.
Ich zerre sie in den letzten Winkel der zurzeit unbelebten Fußballwiese, wo uns sicher niemand hören wird. Die Schulglocke läutet schon zur nächsten Stunde, aber ich beachte das nervige Glockenspiel nicht, jetzt gibt es wichtigere Dinge zu erledigen!
"Erzähl, Stella! Was sind deine Probleme, wie kann ich dir helfen?" Das klingt so doof, das wir beide uns erstmal vor Kichern im feuchten Gras wälzen.

Ich trete kräftig in die Pedale und schaffe es gerade noch bei grün über die Ampel. Nach einem kurzen Waldstück biege links ab und fahre mit höchster Kontzentration auf dem rumpeligen Schotterweg die Auffahrt zum Gestüt hoch. Hier habe ich mit Stella verabredet. Und heute habe ich es sogar pünktlich geschafft. Vorsichtig lehne ich mein Rad an die Stallwand, dann stürme ich in in das Gebäude - geradewegs in Leslie die gerade Merislai führt hinein.
"Wah!", schreckt sie sich und der junge aber schon begabte Hengst an der Führleine macht einen erschrockenen Sprung nach hinten. Das wiederum reißt Leslie von den Füßen. Ich helfe der neuen Dressurlehrerin wieder auf und entschuldige mich mehrmals. Diese jedoch schüttelt lachend den Kopf.
"Ist schon okay, Lorina. Nichts passiert." Wow. Sie hat sich meinen Namen gemerkt. Ich stelle verwundert fest, dass sie Stella verblüffend ähnlich sieht und auch von der Art her meiner Freundin sehr gleicht Stella hat sich auch schon nach ihrem ersten Tag in der Grundschule -sie ist erst in der zweiten Klasse zu uns gestoßen- die ganzen Namen der Schüler und Lehrer gemerkt.
"Das liegt wahrscheinlich daran, dass wir Cousinen sind." Leslie lächelt mich freundlich an. Und ich versinke fast vor Scham im Fußboden. Anscheinend habe ich mal wieder laut gedacht. Mist. Dabei wollte ich mir das doch abgewöhnen. Nichts desto trotz lächle ich etwas steif. "Wirklich? Das wusste ich gar nicht! Warum ist Stella dann keine Dressurreiterin?", frage ich verblüfft.
"Das kannst du sie gleich selbst fragen." Leslie deutet auf Stella die hinter ihr aufgetaucht ist.
"Oh - hi Stellilein!" Ich umarme meine Freundin stürmisch.
"Haben wir das nicht schon mal gehabt? Du sollst mich nicht Stellilein nennen!", schimpft Stella spielerisch.
"Haha! Ich weiß ja, dass du es lustig findest!" Arm in Arm gehen wir an Leslie vorbei -ich nicht ohne mich nochmals zu entschuldigen- zur Sattelkammer. Wir schnappen uns das Putzzeug und rufen wieder draußen angekommen unsere Pferde. Luxa May kommt sofort daher galoppiert, aber Soleila lässt etwas auf sich warten. Schließlich taucht sie hinter einer großen Fichte mit dem Maul voll frisches Gras auf.


Das Gedicht - ein nächtliches Zeichen, oder bloß die übliche Muse?

Die Wochen verfließen ohne dass irgendetwas Aufregendes passiert - Frau Mexlerah nimmt uns sehr hart ran, aber es ist verständlich, da die Landesmeisterschaften schon bald stattfinden werden; zu Hause sind alle Zimmer belegt - Leopold will länger bleiben; Stella und ich erzählen uns alles und verstehen uns wie eh und je wunderbar und in der Schule ist sowieso alles wie immer.
Nun sind nur mehr zwei Tage zu den Landesmeisterschaften hin und es wird alles Mögliche eingekauft. Angefangen von neuen Jacketts bis zu Tonnen von Pferdeleckerlis. Die Landesmeisterschaften werden in Oxford stattfinden, das heißt, dass Stella und ich am Vortag schon nach Oxford fahren werden und dort im Pferdeanhänger übernachten werden. Wir beide sind schon unheimlich aufgeregt, aber wir freuen uns auch gleichzeitig.
Am Nachmittag nach dem Training nimmt mich Stella zur Seite und sagt: "Ich habe gestern in einem Buch von Mom gelesen, dass es ein Kraut gibt, dass Tiere und Menschen ganz ruhig werden und Superleistungen erbringen lässt. Es steht, dass man dieses Kraut in den Wäldern unserer Gegend findet. Was hältst du davon, wenn wir heute in der Nacht uns aus dem Haus schleichen und es suchen gehen? Es soll angeblich leider nur wirken, wenn man es genau um dreiundzwanzig Uhr findet. Das heißt, wir müssten sehr pünktlich sein." Stella schaut mich fragend an. Ich stimme freudig zu. Meine einzige Sorge ist es nämlich, im Pacours so aufgeregt zu sein, dass Soleila auch nervös wird und wir zwei disqualifiziert werden.
Also verabreden Stella und ich uns für halb zehn Uhr abends vor dem kleinen Wäldchen das sich ganz in der Nähe von meinem Haus befindet.

Es ist schon zwölf Uhr abends als ich mich in mein Zimmer schleiche. Ich will das Licht anknipsen, bemerke dann aber, dass der Mond so voll ist, dass man in seinem Licht ein Buch lesen hätte können. Also schnappe ich mir nur einen Block und Bleistift und beschließe, die Kunstaufgabe zu machen. Während ich in der Früh eine kalte Dusche und ein paar Dehnungsübungen brauche um die Treppenstufen erkennen zu können brauche, bin ich in der Nacht immer so aktiv, dass ich oft stundenlang mein Zimmer aufräume Musik höre oder lese. In meiner Familie sind alle so wie ich. Mom schickt mich und meine Geschwister abends erst so halb elf ins Bett, da sie weiß, wie es ist nicht einschlafen zu können. Heute jedoch liegt meine ganze Familie schon seit ein paar Stunden im Bett. Auch Mom und Dad, denn morgen werden wir schon in der Früh Stella abholen und nach Oxford fahren und Mom hat uns alle gezwungen schon um halb neun ins Bett zu gehen. Um zirka zehn Uhr bin ich aus dem Fenster gestiegen und die Feuerwehrleiter (meine Eltern sind ziemliche Sicherheitsfanatiker) hinunter in den Garten geklettert um von dort aus zu dem kleinen Wald zu gehen.
Ich ziehe die Gardinen meiner riesigen Fenster zur Seite und schmeiße mich auf die bequeme Couch auf die ein heller Mondstrahl fällt. Aber anstatt mich meiner Kunstaufgabe zu widmen (Ich soll eine Kaffeetasse in 3D zeichnen!) bewundere ich den Garten in dem noch ein paar späte Sonnenblumen blühen. Jetzt haben sie ihre Köpfe noch gesenkt, aber kaum wird die Sonne am Himmel stehen, werden sich ihre anmutigen Blütenköpfe zum Himmel wenden, dass weiß ich. Ich denke daran, als Stella und ich noch vor einer halben Stunde durch das kleine Wäldchen geirrt sind. Eine Bache hat uns zu halb Tode erschreckt, als sie aufgeregt grunzend mit ihren beiden Frischlingen über den Weg gelaufen ist. Mir fällt Stellas spitzer Schrei der mit einem Sprung in den Matsch kombiniert war ein. Unwillkürlich beginne ich zu kichern. Der Gedanke an meine hysterische Freundin ist einfach zu witzig. Plötzlich überfällt mich die Schreiblust. Kaum weiß ich richtig, was ich tue, steht schon ein langes Gedicht auf dem linierten Block.

Du bist einer von uns

Alle sind gleich
Niemand ist anders
Niemand
Auch nicht du
Du, Mond
Bist auch nur ein Etwas
Auch wenn du die Menschen verrückt machst
Auch wenn wegen dir alle am Rad drehen
Nach unbekannten Kräutern suchen und sie nicht finden
Einfach anders sind als sonst
Bist du auch einer von uns
Und bilde dir nichts ein
Du bist gleich
Nicht besser, nicht schlechter
Gleich
Wie alle anderen
Merk dir das



Ich verstehe mich selbst nicht mehr. Naja. Wahrscheinlich hat sich wiedermal mein Unterbewusstsein hochgeschlagen. Das passiert oft. Aber was das bedeutet, weiß ich trotzdem nicht. Seltsam. Warum ermahnt mein Unterbewusstsein den Mond? Ist ja egal. Ich werde es schon herausfinden.
Ich lege Block und Stift auf meinen Schreibtisch und verschiebe die Kunstaufgabe auf morgen. Plötzlich fühle ich mich müde und schlapp. Am besten, ich gehe jetzt in das Bett, sonst falle ich morgen beim Training noch vom Pferd, denke ich, während ich die Decke hochziehe und in einen sanften Schlaf gleite.
Mitten in der Nacht wache ich auf. Von meinem Traum. Das Kraut. Ich muss es schnell hoch holen, denn morgen in der Früh werde ich mit Sicherheit nicht mehr daran denken. Leise schleiche ich mich in das Erdgeschoss, wo sich die Garderobe befindet. Ordentlich wie ich bin, habe ich meine Jacke in der das Kraut ist nämlich aufgehängt. Gerade ziehe ich den Klettverschluss meiner Innentasche auseinander, als die Tür des Gästezimmers -ich bin mir sicher dass es das Gästezimmer ist, weil das die einzige Tür ist dessen Knarzen meistens das ganze Haus aufweckt- so laut quietscht, dass unsere beiden Katzen Minze und Maya die ihren Schlafkorb im Vorraum haben empört maunzen. Ich verharre erschrocken. Bitte komm nicht auf die Idee, mitten in der Nacht in die Garderobe zu gehen, bete ich zu Leopold. Nachdem jeder im Haus das Rauschen der Klospülung gehört hat, schließt sich die Gästezimmertür zum Glück wieder. Ich hole schnell das Kraut -es ähnelt Ahorn, verfärbt sich aber wenn man es anhaucht pink- aus der Innentasche meines Anoraks. Dann husche ich so schnell wie ich kann die Treppen hoch in mein Zimmer. Dort lege ich das Kraut ganz oben auf die Reisetasche, damit es mir morgen in der Früh auch sicher auffallen wird.

"Lorry! Wach sofort auf! Verdammt, Mädchen, wo hast du deine Ohren?" Nein, es ist nicht sehr angenehm von Schimpftiraden aufgeweckt zu werden! Ich drehe mich grunzend auf die andere Seite und starre mit halb geöffneten Augen auf die tannengrün gestrichene Wand. "Lorry! Wenn du nicht sofort aufstehst, fahren wir ohne dich!" Der Ton meiner Mutter wird schärfer. Obwohl ich weiß, dass meine Familie sicher nicht ohne mich nach Oxford fahren wird beeile ich mich mit dem Öffnen meiner Augen. Mit ein paar schnellen Schritten ist Mom bei meinem Bett und rüttelt unsanft an meiner Schulter. "In fünf Minuten sitzt du am Frühstückstisch!", ermahnt sie mich, bevor sie die knarrenden Treppen hinunter läuft. Ich beschließe, Mom nicht weiter zu nerven und hieve mich aus dem Bett. Schlaftrunken torkle ich zu meinem Kleiderschrank und ziehe Unterwäsche, Socken, meine Lieblingsjeans, ein Sweatshirt und meine neue Stallweste heraus. Dann wasche ich mich schnell im Badezimmer das sich gegenüber von meinem befindet. In meinem Zimmer lasse ich mich zum Anziehen auf meinen Schreibtischstuhl plumpsen, mein Blick fällt auf den Block mit dem Gedicht. Es ist seltsam. Mir kommt es so vor, als wäre es wichtig für mich. Schnell schlüpfe ich in meine Klamotten, reiße das Blatt mit dem Gedicht aus dem Block und stecke es in die Hosentasche. Ich schnappe mir, nun schon etwas munterer, meine Reisetasche und hüpfe die Stufen hinunter. Plötzlich fällt mir etwas ein. Ich öffne die Tasche - und atme erleichtert aus. Das Kraut liegt noch wie am Vorabend ganz obenauf. Im Vorraum stelle ich die Reisetasche neben meine Stiefel, dann laufe ich schnell in die Küche, wo Maya und Minze schon nach ihrem Frühstück maunzen.
"Ich habe Molly schon angerufen, sie hat gesagt, dass sie die Katzen gerne füttern wird. Sie holt sich den Haustürschlüssel nach dem Frühstück ab.", berichtet Dad. Molly ist unsere nette Nachbarin. Sie ist schon über siebzig Jahre alt, aber noch immer fit wie ein Gummischuh (Wobei mir einfällt, dass ich diese noch einpacken muss!). Besonders erfreut ist sie, wenn man sie fragt, ob sie unsere Tiere füttert. Und wir fragen sie auch gerne. Erstens, weil es schön ist, zu sehen, wie viel Spaß es ihr macht, und zweitens, weil es für uns kein Aufwand ist, weil wir ihr nur den Haustürschlüssel geben müssen.
Ich füttere meine zwei süßen Miezen und schaue ihnen noch kurz beim Fressen zu, aber dann ermahnt Mom mich nicht gerade freundlich, dass ich vor der Abfahrt noch etwas essen sollte. Also stopfe ich in meinen aufgeregten Magen ein Joghurt, was ich später aber schon wieder bereue: mein Magen grummelt vor sich hin, und ich habe die ganze Zeit das Gefühl, mich übergeben zu müssen.
Eine halbe Stunde später sind meine ganze Familie und ich in unserem Kleinbus mit dem Pferdeanhänger hinten dran auf dem Weg zu Stella. Im Inneren des Wagens surrt es wie in einem Bienenstock - alle reden durcheinander. Nur ich nicht. Ich bin in Gedanken schon längst bei Soleila. Ich sehe uns beide vor mir ... wie wir über die Hindernisse segeln ... den Pokal entgegen nehmen ... für das Siegerfoto posen ...
Abrupt werde ich aus den Gedanken gerissen, als meine große Schwester Ninya mich anstupst. "Hey du Träumerin! So darfst du dich im Parcours aber nicht aufführen, sonst bist du gleich disqualifiziert! Und übrigens: wir sind gerade bei Stella angekommen." Meine Schwester deutet nach draußen. Sie hat dunkle Ringe unter den Augen. Anscheinend war ich nicht die Einzige die sich aus dem Haus geschlichen hat. In dem Moment springt Stella ganz aufgekratzt in den Wagen.
"Guten Morgen, ihr Lieben!" Das Einzige was Stella von unserer Familie unterscheidet, war dass sie in der Früh schon wie ein Gummiball herumhüpfen konnte. Ansonsten würde man keinen Unterschied erkennen. Stella lässt sich neben mir in den weichen Sitz plumpsen. "Gut geschlafen?", fragt sie mich. Ihr Atem riecht nach Pfefferminzzahnpasta und ihre Augen funkeln schelmisch. "Danke, sehr gut. Und du? Bist du auch schon so früh schlafen gegangen?" Wir grinsen uns an.
Die Fahrt wird lustig werden.
Aber bevor es nach Oxford losgeht, müssen wir natürlich Luxa May und Soleila beim Reiterhof abholen. Stella und ich laden unsere Pferde ein und legen Putz- und Sattelzeug, Pferdeleckerlis und Abschwitzdecken in die kleine Kammer des Pferdetransporters. Wir verabreden uns mit Frau Mexlerah -sie wird erst später nach Oxford fahren- für morgen in der Früh bei den Landesmeisterschaften, dann sind wir startbereit.
"Und dann sagte Mandy-"
"Dad!", unterbrachreche ich meinen Vater in seiner Erzählung. "Soleila quietscht. Fahr mal an den Straßenrand!"
Widerspruchslos fährt Dad auf den Pannenstreifen und Stella und ich springen aus dem Wagen. Ich betrete durch die Seitentür den großen Transporter. Soleila wiehert panisch und schlägt aus. Meine Stute steckt Luxa May mit ihrer Nervosität an, und nun wiehert auch diese ängstlich. Stella streicht ihr sanft über die Kruppe und summt leise das Lieblingslied der beiden. Plötzlich flitzt etwas auf dem Transporterboden von der einen Seite zur anderen. Ein schriller Ton erfüllt den Anhänger. Soleila macht einen erschrockenen Satz zur Seite. Luxa May weicht ihrer Pferdefreundin aus und steigt Stella unabsichtlich auf den Fuß. Nun schreit auch meine Freundin. Man kann den Ton den Stella und Soleila erzeugen nicht wirklich harmonisch nennen - eher beängstigend. Erst weiß ich nicht, was ich tun soll und was überhaupt passiert ist. Doch dann fällt es mir ein. Der Mann der uns Soleila verkauft hat, hat uns ausdrücklich davor gewarnt, Soleila in die Nähe Mäusen zu bringen. Und das am Fußboden war definitiv eine Maus. Komischer Weiße weiß ich genau was zu tun ist, und für einen Außenstehenden hätte es sicher den Eindruck gemacht, Stella und ich hätten eine telepathische Verbindung zueinander.
"Ich hätte nicht gedacht, dass sich die beiden neben der Schnellstraße herausführen lassen!", bewundert uns Mom. Stella und ich grinsen uns an. Meine beste Freundin hat die beiden Stuten aus dem Hänger rausgeführt und ich habe die Maus hinaus gescheucht. Dann haben wir Soleila und Luxa May wieder hineingeführt. Als hat perfekt geklappt. Wir sind eben ein super Team und mit Stellas Zeh ist es auch nichts ernstes.
"Hey, seht mal! Da vorne taucht schon der Platz auf!" Meine kleiner Bruder Samuel starrt angestrengt nach draußen. Tatsächlich tauchen am Horizont schon große Plakatwände die die Landesmeisterschaften ankündigen auf. Ich recke den Kopf und kann tausende Pferdeanhänger erblicken. Auf den großen Dressur- und Springplätzen ist der Boden ganz glatt gewalzt. In meinem Bauch tanzen tausend Schmetterling den Aufregungstanz. Stella und ich sehen uns gleichzeitig an. Wir denken das Selbe.
Was für eine Ehre, hier reiten zu dürfen.


Das Kraut - eine tödliche Gefahr?

"Stella, ich hol uns mal das Mittagessen!", rufe ich in die Richtung meiner Freundin. Heute morgen hat uns eine herrliche Oktobersonne geweckt, und natürlich sind wir sofort aufgestanden. Wir haben uns mit ein paar Leuten hier bekannt gemacht und unsere Pferde umsorgt. Meine Familie wird erst am Nachmittag zu uns kommen, jetzt am Vormittag bummeln sie in der Stadt herum.
Ich drängle mich durch die belebte Stallgasse. Soleila und Luxa May sind in zwei Boxen die sich gleich neben der Futterkammer befindet -sehr praktischer Ort- und im hinteren Teil des großen, nein, riesigen Stallkomplexes befindet. Jetzt ist es gerade ein Uhr Mittags und als ich ins Freie trete, trifft mich der Sonnenschlag. Geblendet kneife ich die Augen zusammen. Die letzte Stunde habe ich damit verbracht, Soleilas lange Mähne in ihrer düsteren Box einzuflechten, deshalb ist es umso seltsamer ganz plötzlich in der warmen Mittagssonne zu stehen. Ich nehme durch meine noch immer zusammen gekniffenen Augen wahr, dass alle Leute die wie Ameisen herumwuseln kurzärmelig angezogen und gut gelaunt sind. Das verstehe ich.
Ich reihe mich am Essensstand ein und mache mich auf eine lange Warterei gefasst.
"Kannst du nicht stillstehen?" Erst zucke ich zusammen, da ich mit meinen wippenden Füßen ziemliche Schuldgefühle bekommen habe, aber dann bemerke ich, dass das kleine, schlanke Mädchen mit den dunkelbraunen Haaren und der hohen Stimme die sich vor mir angestellt hat, gar nicht mich meint. Ein ebenso kleines Mädchen -wahrscheinlich knappe acht Jahre alt- senkt ihren Blick ertappt zu Boden. Anscheinend ist sie die Übeltäterin. Sie tut mir wirklich Leid. Anscheinend ist sie die kleine die Schwester des Biests mit der hohen Stimme.
Ich beschließe mit der kleinen ein Gespräch zu beginnen. Erstens ist mir nämlich fad, und zweitens schaut die Kleine so aus, als würde sie gerne mal reden, anstatt herumkomandiert zu werden.
"Trittst du hier an?", frage ich also. Erschrocken dreht sich die Kleine zu mir. Mit großen, grauen Augen blickt sie mich an.
Schließlich kommt die stotternde Antwort: "Ich ... also ... ich helf-helfe nnur m-meiner Schwester." Wieder schielt das Mädchen auf den Fußboden. Die Kleine ist nicht bodenständig sondern bodenblickend.
Ich mustere nun das Größere der beiden Mädchen. Auch seine Augen sind so grau, dass es grauer nicht geht.
"Oh hi.", begrüße ich sie dann. "Wie heißt ihr?" Ich weiß, dass das lahm klingt, aber es interessiert mich, wie die Kleine und das Biest heißen.
Die Große zögert kurz, dann sagt sie widerstrebend: "Mein Name ist Mary und das ist meine Schwester Mel. Im Nachnamen heißen wir Moon. Falls du auf der Anmeldeliste nachsehen willst, ich starte in Klasse M in Springen." Sie lächelt mich mit der Marke Ich-bin-besser-als-du an. Doch auch ich habe einen Trumpf.
"So ein Zufall! Ich auch. Auch in Springen!" Wir lächeln uns falsch an.
Mel wird neben uns wohl wieder unwohl, sie zappelt von einem Bein auf dem anderen herum.
Wieder fährt ihre Mary sie wütend an: "Nun steh doch endlich still, du Nervensäge!" Sie starrt Mel mit einem intensiven Blick an, unter dem diese fast zu Asche zerfiel.
In dem Moment ruft die Immbissverkäuferin ungeduldig: "Wer ist der Nächste?" Schnell bestellte ich eine doppelte Portion Pommes Frites und zwei Flaschen Himbeersaft.

Ich zermahle das Kraut in dem von Stella extra mitgebrachten Mörser.
"Und jetzt streu das Bröselzeug über den Apfel.", weist Stella mich an. Brav schneide ich den roten und sehr lecker aussehenden Apfel in zwei Hälften und streue das Pulver über die Innenseite der einen Hälfte. Ich halte den halben Apfel Soleila auffordernd hin. Diese schaut mich jedoch so an, als wäre ich verrückt geworden. Was gar nicht mal so abwegig ist. Wer zum Teufel, streut den sonst noch seinem Pferd (und sich selbst auch noch!) irgendein seltsames Krautpulver über den Apfel?
Da Soleila keine Anstalten macht, den Apfel anzurühren, beschließe ich ihn selbst zu verschlingen. In dem seltsamen Kräuterbuch von Stellas Mutter steht ja, dass das Kraut auch bei Menschen Höchstleistungen hervorruft.
Das Pulver macht meinen Hals trocken und rau. Plötzlich schmerzt es in meinem Kopf, wie es noch nie geschmerzt hat. Mir wird übel. Abwechselnd heiß und kalt. Ich weiß nicht was mit mir geschieht. Vor meinen Augen flimmert es. Ich nehme hinter einem Schleier wahr, dass Stella das Buch fallen lässt und zu mir läuft. Soleila steckt den Kopf aus der Box stupst mich sanft in die Seite. Doch nicht wie sonst, kann ich nach dem Stoß wieder klar denken, nein, mir wird noch elender.
"Lorina!" Plötzlich ist da Ninya. Und Dad. Auch Mom steht da. Noah, Samuel und Lamia betreten gerade den Stall. Ich spüre plötzlich einen brennenden Schmerz, der jeden anderen übertrifft auf der rechten Wange. Ninya hat mir eine Ohrfeige gegeben. So schnell wie mir komisch wurde, fühle ich mich wieder in Ordnung. Vor meinen Augen flimmert es nicht mehr, ich sehe wieder alles ganz klar. Was ist mit mir passiert?
Aber bevor ich darüber nachdenken kann, fällt mir ein, wie froh ich sein kann, dass Soleila den Apfel mit dem Kraut nicht essen wollte. Wer weiß, was mit ihr passiert wäre?
Als würde sie mir zustimmen, schnaubt Soleila in meine Richtung.
"Was ist passiert?", fragt Mom, während sie mich in den Arm nimmt.
Stella und ich wechseln einen Blick. Ich überlege. Wenn wir erzählen würden, was passiert ist, würden uns Mom und Dad tadeln, dass ich einfach ein Kraut gegessen habe, von dem das Einzige war, was wir wussten, dass es Höchstleistungen bei Menschen und Tieren erzielt, aber wir uns nicht darüber informiert haben, welche Nebenwirkungen es beinhaltet. Wenn wir sagen würden, mir wäre nur kurz komisch geworden, würde Mom mit einen Tee besorgen und mich bemuttern. Da fällt die Entscheidung nicht schwer ...
Ich tausche eien schnellen Blick mit Stella, dann antworte ich: "Mir ist ganz plötzlich übel und schwindlig geworden. Wahrscheinlich die Aufregung."
Mom mustert mich noch einmal, dann scheint sie beschließen mir zu glauben.
"Mach dich fertig, Lorry, es wird Zeit! In einer halben Stunde musst du auf dem Abreitplatz sein!", treibt Dad mich. Ich werfe einen Blick auf die große Uhr die über dem Eingang der Sattelkammer hängt. Tatsächlich. Die Zeit ist so schnell vergangen. Mich packt plötzlich der Ehrgeiz. Ich weiß auch nicht richtig, was in mich gefahren ist, aber ich habe das Bedürfnis, so bald wie möglich auf dem Abreitplatz zu sein. Ich dränge Ninya -nicht gerade sanft- zur Seite und öffne die hölzerne Boxentür von Soleila.
"So, meine Süße! Auf geht's!", rufe ich energiegeladen. Soleila jedoch blinzelt mich nur schläfrig an, als wolle sie sagen: "Könntest du, erstens, aufhören verrückt zu sein, und zweitens, meine Nickerchenzeiten berücksichtigen?" Ich streiche meiner Stute sanft über die Kruppe und seufze. Ich weiß auch nicht warum, aber mir ist einfach danach.

"Startnummer dreizehn, Lorina Seller auf Soleila!"
Ich atme tief durch und rede mir ein, dass ich das schaffen werde. Auch wenn die Nummer dreizehn meine persönliche Hasszahl ist.
Nervös fahre ich mit der Hand durch den meinen dunkelbraunen Pferdeschwanz. Meine Augen sind starr auf die ersten Hindernisse gerichtet und ich warte darauf, dass das Startsignal ertönt. Jetzt. Jetzt beginnt meine Zukunft. Jetzt betrete ich den Weg meiner Karriere. Jetzt bekomme ich die Chance, dass jeder der auch nur im entferntesten etwas mit Pferden zu tun hat, meinen Namen kennt. Jetzt. Jetzt kann ich mich glücklich machen.
Ich gebe Soleila das Zeichen zum Galopp. Willig galoppiert sie auf das erste Hindernis zu. Ein Oxer.
Meine Hände in den weißen Handschuhen sind schweißnass.
Soleila und ich nähern uns dem Oxer.
"Das schaffen wir, meine Hübsche!", wispere ich. Allerdings hauptsächlich, um mich zu beruhigen. Wenn ich rede bin ich nämlich immer (meistens) so ruhig wie meine Mutter, wenn sie Yoga macht.
Wir segeln über das Hindernis. Genauso wie über die Folgenden. Meine Stute und ich sind jetzt kurz vor dem Wassergraben. Soleila zögert. Es ist der vorletzte Sprung, und mich packt der Ehrgeiz, wie es noch nie war. Plötzlich lautet der einzige Gedanke der in meinem Kopf hämmert: Wir müssen siegen! Wir müssen siegen! Wir müssen siegen!
Also drücke ich noch einmal die Schenkel an den warmen Pferdekörper. Der Körper, der mich seit Jahren immer getröstet hat, wenn ich traurig war, der, der mit mir jede Reitstunde die ich in meinem Leben jemals hatte, fleißig absolviert hat. Der, der immer für mich da war.
Komisch, dass ich plötzlich solche melancholischen Gedanken habe. Das ist sonst überhaupt nicht meine Art.
Auf jeden Fall treibe ich Soleila an. Mir ist, als würde mich Soleila in Gedanken fragen, ob ich wirklich über dieses beeindruckende und mit Wasser gefüllte Hindernis springen wolle. Ich schicke die Nachricht "Natürlich will ich siegen!" in Richtung Pferdekopf.
Und meine Stute springt. In ihrem Sprung ist Widerwillen versteckt, ebenso wie die Treuheit zu mir. Plötzlich tut es mir Leid, dass ich Soleila gedrängt habe, zu springen. Das mache ich doch sonst nie. Ich hätte Soleila doch genauso gut verweigern lassen, es wäre nichts wirklich Schlimmes passiert.
Dann geht alles ganz schnell. Und ich bekomme so gut wie gar nichts mit. Soleila landet. Sie strauchelt. Sie stürzt. Fällt auf meinen Unterschenkel. Wiehert ... und alles um mich herum wird schwarz.


Tot - was ist mit mir? Lass mich nicht allein!

Piep. Piep. Piep. Piep.
"Wann werdet ihr es ihr sagen?"
Piep. Piep. Piep.
"Wir müssen wohl ziemlich gleich machen, nachdem sie wieder bei Bewusstsein ist." Ein Seufzen übertönt für kurze Zeit das nervige "Piep. Piep"
Ich beschließe schön langsam meine Augen zu öffnen und meinen knurrenden Magen zu befriedigen.
"Sieh mal, Lorry bewegt sich!" Das ist definitiv die Stimme von Lamia, die sich nun, dem Kaugummi-Atem nach zu urteilen über mich beugt.
"Gudn Mongen, Lami. Wie lang hab ich geschlfn?", nuschle ich, während ich langsam meine verklebten Augen öffne.
"Oh Lorry! Wir haben uns ja solche Sorgen um dich gemacht! Mom, ruf schnell Dad an, er wollte sobald Lorry wieder mit offenen Augen lebst, zu ihr kommen! Willst du etwas trinken, Schwesterherz? Oder doch lieber etwas zum Essen?" Erwartungsvoll sieht Lamia mich mit ihren wasserblauen Augen an. Ich muss lachen. So viel reden auf einmal, kann nur meine kleine Schwester.
"Bitte Essen und Trinken, ich bin so hungrig wie Minze nach der Jagd!" Wir kichern beide. Unsere graue Katze Minze hat im Gegenteil zu ihrer Schwester Maya so gut wie nie Jagderfolg. Wenn sie dann nach Hause kommt, isst sie ganz frustriert eine doppelte Portion von diesem stinkigen Katzenfutter.
"Ist ein belegtes Brot und Himbeersaft in Ordnung?" Mom steht schon in der Tür, bereit sofort loszusprinten. Fragend sieht sie mich an.
"Äähm ... ja bitte!"
Kaum ist Mom aus der Tür, frage ich Lamia: "Was ist passiert?"
Lamia schaut etwas gequält drein, aber dann seufzt sie und beginnt ergeben zu erzählen. "Du bist ja im Parcours mit Soleila gestürzt." Bei dem Namen meines Pferdes zuckt meine kleine Schwester kurz zusammen. "Erinnerst du dich?" Ich bejahe und sie fährt fort: "Sofort ist der Sanitäterwagen gekommen und sie haben dich ins Krankenhaus geführt. Hier bist du seit einem Tag ohne Bewusstsein gewesen. Du hast dir den rechten Unterschenkel und zwei Rippen gebrochen. Außerdem hast du eine leichte Gehirnerschütterung."
"Und was ist mit Soleila?", frage ich die einzige Frage die mich wirklich interressiert.
Lamia sieht mich lange an, dann sagt sie mit so leiser Stimme, dass ich sie nur schwer verstehen kann: "Sie ... Soleila ... dein Pferdchen ... Soleila hat sich den Fuß gebrochen. Der ... der Arzt weiß nicht, ob sie es überleben wird."
Piep. Piep. Piep.
Es ist leise im Krankenzimmer. Nur das Piepen ist zu hören. Doch dann vermischt es sich mit meinem Schluchzen und Lamias tröstender Stimme.

Es tut weh. Furchtbar weh, sein Ein und Alles hilflos liegen zu sehen. Nein, weh tun war gar kein Ausdruck! Das es mir das Herz zerreißt mir fast das Herz, trifft es eher.
Ich schnappe nach Luft und greife mir mit der Hand dorthin, wo ich das Herz am festesten klopfen spüre, um mir sicher zu sein, dass es noch funktioniert.
Soleila ist eingebettet in Stroh. Sie sieht erbärmlich aus. Ihre schlauen und eigentlich lebenslustig glänzenden Augen schimmern trüb. Ich betrete die Box und sinke neben meiner Stute in das Stroh. Doch ich bemerke gar nicht, dass meine neuen Jeans von spitzen Strohhalmen durchbohrt wird. Mein Blick ist einzig und allein auf die leidende Stute geheftet.
"Süßes." Zart streiche ich Soleila über die samtigen Nüstern. "Mein Kleines. Ich werde dich immer lieben. Du bist mein Schatz. Stütchen du Süße. Bleib bei mir. Ach, bleib bei mir. Bleib bei mir ... bei mir ..." Die letzten Worte gehen in ein tränenreiches Gemurmel über. Ich sitze gekrümt neben Soleila, deren Fell nur mehr matt glänzt und lasse mich von schmerzenden Schluchzern schütteln. Es ist mir egal, dass mir der Bauch weh tut, die Lunge protestiert. Mir ist es egal, dass mein Hals sich wie nach drei Stunden durchgehend reden anfühlt. Alles ist mir egal. Nur eines nicht. Soleila.
Aber dann passiert es. Dann passiert das, was ich am meisten gefürchtet habe. Ich habe gewusst, dass dieser Moment kommen wird. Aber das es so bald sein muss ...
Soleila hebt den Kopf und blickt mich noch einmal durchdringend mit ihren dunklen Augen an. Dann lässt sie den Kopf langsam wieder in meinen Schoß sinken.
Poch. Poch.
Der nächste Herzschlag meiner Stute bleibt aus.
Soleila hat ihre letzten Minuten mit ihrer besten Freundin verbracht. Mir.


Wieder unter den Lebenden - oder trügt der Schein?

"Schätzchen. Kommst du zum Essen? Ich habe Gemüselasagne gemacht." Moms Stimme ist sanft und bittend, fast schon drängend.
Gemüselasagne löst bei mir automatisch Heißhunger aus, aber diesmal bemerke ich es nicht mal richtig. Die menschlichen Bedürfnisse, also Schlaf, Hunger und so weiter sind bei mir hinten angestellt. Zur Zeit gibt es für mich nur Tränen, Trauer, Kummer, Schmerz und - sie.
Seit Tagen habe ich nicht mehr ihren Namen gedacht. Habe alles, was mich an sie erinnert hat aus meinem Zimmer verbannt. Erst später bin ich darauf gekommen, dass nun meine Wände kahl und meine Komoden in denen ich meine Klamotten aufbewahre, leer sind.
Meine Familie geht mit mir um, als wäre ich eine dieser leicht zerbrechlichen Christbaumkugeln die sie vorsichtig von Hand zu Hand weiterreichen.
Stella hat bis jetzt jeden Tag angerufen. Lamia und sie haben sich immer kurz und leise am Telefon unterhalten. Meinen Namen habe ich so gut wie in jedem Satz fallen hören. Lamia hat manchmal etwas von "launisch, depremiert und unberechenbar" gefaselt, aber ich habe nicht weiter zugehört.
Alles in einem: Ich weiß nicht, ob ich mein Leben noch lange aushalte.
"Nein.", flüstere ich die Antwort auf Moms Frage mit heiserer Stimme. "Keinen Hunger."
Anscheinend habe ich Moms Geduld zu weit strapaziert, denn jetzt explodiert sie. "Keinen Hunger?" Ihre Stimme ist schrill und überschlägt sich. "Lorina! Du hast seit" Sie wirft einen Blick auf die Uhr, die zur Zeit in meinem Zimmer die einzige Wanddekoration darstellt. "genau zweiunddreißig Stunden weder einen Bissen gegessen, noch ein kleines Schlückchen getrunken!" Meine Mutter atmet schnell, ihr Brustkorb hebt und senkt sich, als wäre sie einen Marathon gelaufen und ihre dunkelbraunen kurzen Locken wippen aufgeregt.
Wie schön wäre es, sich jetzt an sie zu schmiegen ... den Kummer ausheulen ... sich von ihr einen leckeren Himbeersaft und die Gemüselasagne servieren lassen ...
Alles sind so schöne Varianten. Und sie wären so leicht auszuführen.
Aber nein. Ich bin traurig, ermahne ich mich.
Also sage ich bloß: "Tut mir Leid, Mom. Vielleicht später." Ich senke meinen Blick. Auf dem niedrigen Couchtisch liegt der zerknitterte Zettel mit dem Gedicht. Ich habe es seit fünf Tagen nicht mehr gelesen. Allerdings kommt es mir wie fünf Jahre vor. Kein einziger Satz, von dem was ich damals geschrieben habe, ist in meinem Gehirn hängen geblieben.
Ich höre Mom konzentriert ausatmen, und sofort tut mir Leid, was ich gesagt habe.
"Nein.", sagt sie schließlich. "Nein. Lorina, du kommst mit hinunter. Ich werde es nicht zulassen, dass du hier verhungerst."
Ich mache keine Anstalten zu gehen. Warum sollte ich? Sie wird jetzt auch nichts mehr essen, und es wäre noch besser wenn ich verhungern und dann bei ihr sein würde.
"Okay." Moms Ton ist völlig gleichgültig. "Die Telefonnummer vom Psychiater werde ich sicher leicht finden." Meine Mutter macht auf dem Absatz kert, und ich starre ihr mit offenem Mund hinterher. Psychiater? Was fällt dieser Frau ein? Mit einem Satz bin ich auf den Beinen und renne Mom nach.
"Warte! Mom, ich komme ja schon!" Diese jedoch geht weiter, als hätte sie Kartoffeln auf den Ohren. "Mom! So warte doch!" Endlich dreht sich meine Mutter um.
"So viel hast du ja seit Tagen nicht mehr geredet! Schatz, willst du etwas essen? Komm her, Liebling." Mom breitet die Arme aus und mich packt das heftige verlangen, mich von ihr drücken und knuddeln lassen. Diesmal siegt mein Verlangen gegen meinen Traurigkeitsverstand. Ich renne meiner Mutter entgegen springe von der letzten Stufe weg in ihre Arme.
"Nicht so übermütig, mein Kleines." Mom lacht leise über mich. Es ist das Lachen, das ich seit Tagen nicht mehr gehört habe. Das Lachen, das ich so vermisst habe. Gierig atme ich den lieblichen Geruch von Moms Parfüm ein, und beschließe sie nie wieder loszulassen. Doch Maya macht mir einen Strich durch die Rechnung. Ihr feuchtes Schnäuzchen stupst in meine Kniekehle, genau dorthin, wo ich am meisten kitzlig bin.
"Stop, meine Hübsche! Halt ... Maya, aus!" Kichernd befreie ich mich aus Moms Umarmung und beuge mich zu Maya. "Du Freche!" Die Katze blickt mich tief aus ihren gelben Augen an. So einen Blick haben nur Tiere. Auch sie hatte so einen Blick. Zwar war die Augenfarbe eine viel, viel dunklere, aber der Blick, der Blick der aus dem Herzen kommt, war der Gleiche. Augenblicklich kommen mir Tränen. Heiße, salzige Tränen. Tränen, die mir die Wangen hinunter rinnen und mit einem leisen "Plop" auf den polierten Holzboden platschen.
"Lorina! Was ist passiert?" Mom klingt bestürzt, aber das kann ich ihr ehrlich gesagt verstehen. Wer würde sich nicht schrecken, wenn man jemanden endlich aus seinem Schneckenhaus gelockt hat, und dann alles so gut wie einbricht?
"Augen!", stoße ich zwischen zwei Schluchzern hervor.
Ich bin mir sicher, dass Mom nichts verstanden hat, aber trotzdem sagt sie: "Ach Lorry, alles wird gut. Setzen wir uns erstmal." Sie führt mich ins Wohnzimmer und zieht mich auf unser bequemes Sofa. Mir ist, wie wenn Lamia kurz ihren Kopf hereinstecken würde, aber Mom scheucht sie wieder in die Küche.
Meine Mutter sagt zwar vermehrt, ich solle erzählen, was los sei, aber die kurzen Pausen zwischen den Schluchzern reichen nicht für lange Erzählungen.
Irgendwann wecken mich warme Sonnenstrahlen in meinem Gesicht, ich muss wohl eingenickt sein.
Aus der Küche dringt leises, aber erregtes Gemurmel. Die Stimmen ordne ich Mom und Leopold zu. Ich habe mitbekommen, dass Mom nicht will, dass Leopold bei uns das Gästezimmer blockiert, aber dieser weiß nicht, wo er sonst hingehen soll. Aber bevor ich darüber noch länger darüber nachdenken kann, knurrt mein Magen. Vom Hunger gequält öffne ich die Augen, die warme Nachmittagssonne blendet mich.
In diesem Moment betritt Ninya das Wohnzimmer. Sie wirft einen Blick in meine Richtung, und ihre Haltung lockert sich. Anscheinend wollte sie auf Zehenspitzen zum hohen Bücherregal schleichen.
"Morgen Nin." Ich strecke mich, und bemerke, dass sich schlafen so herrlich anfühlt, im Gegenteil von aufrecht sitzen ...
Meine Schwester kichert leise in sich hinein. "Lorry, es ist halb fünf Uhr. Bald gibt es Abendessen!" Sie lässt sich neben mich auf die Couch fallen.
"Oh. Tatsächlich? Na dann werde ich mal etwas essen gehen." Ninya lächelt amüsiert.
"Gute Idee! Mom flippt schon fast aus, weil du seit Tagen nichts mehr gegessen hast."
Ich will mit den Füßen auf die Beine schwingen, schaffe es, taumle aber wie eine Betrunke durch das Zimmer. Mein Gleichgewichtssinn muss wohl erst erwachen. Wieder lacht meine große Schwester. Dann steht sie auf und stützt mich.
"Geht's wieder?", fragt sie, nachdem ich ganze drei Schritte ohne umzufallen gestolpert bin.
"Danke. Jetzt kann ich wieder gehen." In der Küche sitzt Mom am Küchentisch, den Kopf auf die Hände gestützt. Sie sieht k. o. aus.
"Mom?"
"Was ist, Darling?"
"Kann ich etwas essen?"
Eigentlich wäre meine Mutter sofort auf die Beine gesprungen und hätte mich wie ein Keller im Fünfsternerestaurant behandelt. Jetzt aber sagt sie nur: "Warte kurz, Liebling. Ich muss mich erstmal sammeln."
Ich quetsche mich neben Mom auf die bequeme Küchenbank und lege ihr einen Arm um die Schulter.
"Was ist, Mom? Was hat Leopold gesagt? Oder hast du Kopfweh?"
"Er ... er ... hat nur ... Er hat etwas Seltsames gesagt." Moms Stimme ist brüchig, es muss also etwas wirklich Merkwürdiges passiert sein.
"Und was?" Ich muss ihr jedes Wort aus der Nase ziehen, aber Ungeduld lasse ich mir keine anmerken.
"Ist nicht so wichtig." Jetzt klingt meine Mutter wieder gefasster. "Was willst du essen?"
Eigentlich würde ich gerne wissen, was er gesagt hat, doch Mom will ich nicht schon wieder so ... so ... so verunsichern. "Ähm ... Noch etwas vom Mittagessen, wenn es geht. Aber ich kann es mir auch selber richten, bleib nur sitzen!"
Mom schüttelt den Kopf und drängt mich aus der Bank. Sie wärmt die Gemüselasagne schnell auf, und ich kann endlich etwas essen.
Schweigend stopfe ich das Essen in mich hinein, ich will so schnell es geht aus der Küche verschwinden, denn hier herrscht keine gute Energie.
Kaum habe ich den letzten Bissen hinuntergeschluckt, trage ich meinen Teller zur Spüle und will gerade durch die Küchentür verschwinden, als Mom sagt: "Bleib mal kurz da, Lorry. Wir müssen reden." Erschrocken verharre ich mitten in der Bewegung. Was ist jetzt los?
"Setz dich, mein Schatz." Ich atme tief durch und drehe mich in Zeitlupe wieder zu Mom.
"Ähm ... können wir in das Wohnzimmer gehen?" Bittend sehe ich meine Mutter an.
"Natürlich." Anscheinend hat auch sie bemerkt, dass die Luft hier zum zerreißen gespannt ist.
Wir setzen uns gegenüber hin, Mom auf der Couch, ich auf dem weichen Lehnstuhl. Ninya ist wohl schon wieder in ihr Zimmer abgehaut.
"Ich wollte dir nur sagen, ... dass ... dass Frau Mexlerah angerufen hat. Sie fragte, wann du wieder in die Reitstunde kommst. Du ... du kannst gerne ein Schulpferd reiten, sagte sie." Zögernd wandert Moms Blick von ihren perfekt lackierten Fingernägeln zu meinem Gesicht.
Ich sitze wie versteinert da. Warum sollte ich reiten? Was würde das für einen Sinn ergeben, wenn Soleila nicht mehr da ist? Es schmerzt, ihren Namen zu denken. Es schmerzt in der Brust. Es schmerzt dort, wo eigentlich das Herz schlagen sollte. Dort, wo jetzt nichts ist. Sie ist gegangen und hat mein Herz mitgenommen.
"Danke nein" Meine Stimme ist kälter als Eis. "Ich habe nicht das Bedürfnis, mich an sie zu erinnern."
Wie können Mütter bloß so unsensibel sein?
"Ich ... ich dachte nur, weil ... Dass das vielleicht eine Aufmunterung für dich wäre ... oder ... so in der Art eben." Mom starrt wieder betreten auf ihre Fingernägel, so interessiert, als wäre dort ein Marsmensch gelandet.
"Da hast du wohl falsch gedacht!", schleudere ich Mom mit einer Stimme, die jede Schlange in den Schatten gestellt hätte entgegen. Ich springe auf und renne die knarzende Treppe hinauf in mein Zimmer. Völlig aufgelöst krame ich mein Tagebuch aus der untersten Lade meines Kleiderkastens - ich habe seit Ewigkeiten nicht mehr darin geschrieben.

3.11.2009



Wie kann man nur so unsensibel sein? Gerade dachte ich, die Welt wäre bis auf IHREN Tod halbwegs in Ordnung, da kommt diese Dussel mit den Pferden daher. Mein Herz muss zerstochen sein. Zerstochen von den Erinnerungen an SIE.
Ich weiß nicht, ob ich die Kraft habe, weiterzuleben.
Wenn ich mich umbringen würde, könnte Leopold mein Zimmer beziehen. Mom müsste sich dann nicht mehr ärgern, dass das Gästezimmer belegt ist, und Leopold sich keine Wohnung suchen. Mein Tod hätte eigentlich nur Vorteile ...
Maya und Minze könnte ich Lamia und Ninya vererben, die passen sicher gut auf die beiden auf.
Im Himmel würde ich vielleicht SIE wiedertreffen. Wie gesagt: Nur Vorteile!
Aber ... vorher muss ich noch mein Testament schreiben. Kann man dazu eigentlich auch Buntpapier und Kugelschreiber nehmen, oder muss es eine Füllfeder und ein weißes Blatt Papier sein? Ich könnte mich ja schnell im Internet erkundigen.
Okay, dort steht, dass das Testament mit vollem Namen unterschrieben werden muss. Ich schätze mal, mann muss es mit der Hand, und nicht mit dem Computer schreiben. Naja, ich habe zum Glück eine schöne Handschrift, leserlich wird es also sein. Mit Buntpapier wird es sicher gehen! Und wenn nicht ... wollte das Schicksal es eben so!



Ich sperre das Tagebuch wieder sorgfältig ab und verstaue es in meinem Geheimverteck.
Hmm ... eigentlich könnte ich den Schlüssel vor meinem Tod mit dem Tagebuch daneben auf den Tisch legen, wenn ich nicht mehr lebe, kann es mir eigentlich egal sein, dass alle Leute meine Geheimnisse wissen werden. Und als erstes wird es sowieso meine Familie lesen, die können dann entscheiden, ob sie es verbrennen, oder als Andenken an mich aufbewahren und alle Leute darin lesen können.
Meine Familie. Zum ersten Mal nach meinem Beschluss, dass ich mich töten werde, fallen mir die Menschen ein, die am betroffentsten sein werden. Die Menschen, die mir am vertrautesten sind. Die Menschen, die ich mit Sicherheit vermissen werde!


Musik - ist es das, was dich aus dem Kokon hervorholt?

Genervt schlendere ich durch die große Einkaufshalle. Nikoläuse, die mir viel zu früh erschienen, stehen in den Auslagen der Geschäfte, baumeln von der Decke herunter, und lungern neben Krampussen, überall wo es den Menschen einfällt, herum. Um mich sind so viele Eindrücke. Ein Baby schreit, ein etwa siebenjähriger Junge zerrt seine Mutter zu einem Nikolaus mit einem langen weißen Bart und Bischhofsstab, eine Geschäftsfrau hetzt quer durch die Menschenmenge, das Handy fest ans Ohr gepresst, ein Mädchen in etwa meinem Alter geht mit genervtem Gesichtsausdruck mit ihrer kleinen Schwester von Geschäft zu Geschäft und das Lied "So sorry" von Feist dringt durch die Lautsprecher, die an der Wand befestigt sind.
Ich bin nur deshalb in dieser nerivgen Einkaufshalle, weil Mom sagte, ich bräuche mal Abwechslung und solle für sie einkaufen gehen. Als "Dankeschön" steckte sie mir einen 10-Euro Schein zu, und sagte, ich solle mir etwas "Hübsches" kaufen.
Da ich brav ihren Anweisungen folgen will, damit sie nicht wieder mit der Psychiateridee kommt, betrete ich lustlos ein Kleidergeschäft.
"We're divided by the ocean", singt Feist gerade. Bei mir und ihr gilt das Selbe, nur dass der Himmel uns trennt. Ein Kloß drückt gegen meinen Kehlkopf. So genau habe ich es noch nie realisiert. Ich habe nie richtig gedacht, dass sie tot ist. Ganz genau weiß ich auch nicht, was ich mir vorgestellt habe. Ob sie einfach auf einem anderen Kontinent ist, oder von der Queen testgeritten wird, weil diese sie kaufen will. Nein. Für mich war es einfach nie so richtig klar gewesen, dass ich das Lebewesen, dass ich in vier Jahren besser kennen gelernt habe, als jedes andere, verloren habe. Bis jetzt. Jetzt habe ich erkannt, dass uns etwas trennt. Etwas, was fast unüberwindbar ist. Etwas, was ich überwinden kann, allerdings nur, wenn ich meiner Familie und Stella wehtue. Soleila und mich trennt der Tod.
"Lorina!" Eine vertraute Stimme. Sehr vertraut. Aber wie lange habe ich sie nicht mehr gehört? Mir kommt es so vor, als wäre es eine halbe Ewigkeit gewesen.
"Hier bin ich!" Die glockenhelle Stimme kommt aus der Richtung der reduzierten Hosen. Ich seufze kaum hörbar und drehe mich um. Frau Professor Lapisku.
Sie steht lächelnd zwischen den Klamotten, wie ein ganz normaler Mensch. Aber dass sie keiner ist, spüre ich genau.
Ihre Aura ist anders, als die, der anderen Leute hier. Rein und befreit von Kummer und Sorgen. Neben ihr fühlt man sich, als würde man an einem heißen Sommertag von einer kühlen, klaren Bergquelle trinken.
"Guten Tag, Frau Professor!", grüße ich mit einem aufgesetztem Lächeln. Mit ein paar großen Schritten steht sie neben mir. Augenblicklich durchströmt mich ein Gefühl, dass ich nur bei ihr bekomme. Ein befriedigendes. Es ist, als hätte eine laue Brise all meine Sorgen weggeweht.
"Wie geht es dir?" Die Stimme meiner Musiklehrerin ist ernst, sie scheint ernsthaft besorgt um mich zu sein. Ruhig sieht sie mich an. Es ist nicht dieser fordernde "Erzähl!"-Blick, nein, es ist ein Blick der mich beruhigt.
"Mir ... mir ... mir geht es ehrlich gesagt schrecklich." Ich senke meinen Blick auf den polierten Linoleumboden. Er glänzt so, dass sich die Lichter, die grell von der Decke leuchten, darin spiegeln.
"Ach Lorina, lass dich nicht so hängen. Wenn du mehr singen würdest, würde es dir sicherlich besser gehen. Deine Stimme braucht Training."
Verwirrt sehe ich ihr in das makellos geschnittene Gesicht mit den hohen Wangenknochen, der blassen Haut, dem blutroten Mund und den überirdisch schönen Augen. Diese Augen fesseln mich jedes Mal, wenn ich in ihren Bann gerate. Dann kann ich meinen Blick fast gar nicht mehr von ihren grünen Waffen wenden.
Wahrscheinlich sind alle Schüler bei ihr nur deshalb so brav, weil sie wissen, dass sie sonst von ihren Augen gefesselt werden. Als ich mir das bildlich vorstelle, muss ich kichern. Auch meine ehemalige Lehrerin schmunzelt.
"Ich würde vorschlagen, dass wir uns in das Café gegenüber setzen, dann kannst du mir alles in Ruhe erzählen!", sagt Frau Professor Lapisku auffordernd. Was soll ich ihr erzählen?
Diesmal ist meine Antwort schneller auf dem Weg: "Aber Frau Professor! Sie wollten sich hier doch umsehen. Ich will Sie nicht von Ihren Plänen aufhalten!" Verzweifelt runzele ich die Stirn. Nicht, dass es mir etwas ausmachen würde, mit ihr einen Kaffee trinken zu gehen, ich würde es sogar sehr lustig finden, aber wenn sie mich dann für aufdringlich hält? Das würde mir sehr leid tun.
"Ach was!" Sie macht eine wegwerfende Handbewegung. "Komm jetzt endlich!"

"So, nachdem du jetzt nicht mehr meine Schülerin bist, können wir ja zueinander "du" sagen, oder?" Erst bin ich etwas verwirrt, dass das so schnell geht aber dann denke ich Ist halt ein schnellhandelnder Mensch, mir macht es nichts aus., und prostete ihr mit meinem bis zum Rand gefüllten Café Latte Glas zu, während ich meinen Namen sage.
"Lorina."
"Elin"
Ich nehme einen großen Schluck von dem warmen Milchgetränk und genieße die Wärme in meinem Hals.
"Darf ich ..." Elin -es fällt mir überhaupt nicht schwer über sie mit dem Vornamen zu denken, fast so, als hätte ich das schon immer getan- zögert kurz. "darf ich dich fragen, ob du schon einmal einen Songtext geschrieben hast?" Sie sieht mich neugierig und aufmerksam zugleich an.
Augenblicklich werde ich rot. Das Mondgedicht kommt mir in den Sinn. Zufälliger Weise habe ich es bevor ich ins Einkaufszentrum geradelt bin, in meine Jeans die ich jetzt trage, gesteckt. Wenn ich es lese, summe ich immer eine leise Melodie vor mich hin. Also ... es ist eigentlich schon so gut wie ein Songtext. "Ja.", hauche ich mit leiser Stimme. "Willst du es sehen?"
Elin nickt begeistert, ihre pechschwarzen Stirnfransen wippen. "Gerne!"
Mit zitternden Fingern ziehe ich es hervor und lege es auf die bekleckerte marmorne Tischplatte vor Elin. Diese nimmt es mit ihren langen Fingern und faltet es auseinander. Während sie liest, ist ihre Miene ohne jede Regung, ihr Mund formt die Wörter mit. Schließlich sieht sie auf. "Wunderschön." Ihre Stimme ist kaum mehr als ein Luftzug. "Wunderwunderwunderschön. Darf ich so frech sein, und es auf Englisch übersetzen?"
Ich nicke.
Elin kramt in ihrer Tasche und zieht einen Kugelschreiber und eine zerknitterte Rechnung hervor. Mit schwungvoller Schrift und engen Buchstaben quetscht sie mein Gedicht auf die Rückseite. Dann hält sie es mir triumphierend vor die Nase. "Klingt gar nicht so schlecht, oder?"

You're one of us

All are equal
No one is different
Nobody
Also you do not
You, Moon
Are you even a little
Even if you make people mad
Even when turning the wheel all because of you
Search for unknown herbs and do not find it
Are simply different than usual
Are you one of us
And imagine you of anything
You're right
Not better, not worse
Same
Like all other
Remember that


"Wow."
"Achja, ich meinte vorhin nicht, dass es auf Deutsch nicht toll klingt, nein, überhaupt nicht, aber auf Englisch hatte ich einfach das Gefühl, dass es dann viel mehr einem Songtext als einem Gedicht ähnelt."
"Ist klar." Meine Stimme kratzt in meinem Hals, es klingt fast so, als hätte sich ein bisschen Vorfreude dazugemischt. Mom hätte das als ein der wenigen Gefühlsregungen der letzten Tage identifiziert.
"Jetzt brauchen wir nur noch eine tolle Idee für die Melodie!" Aufgeregt grinst Elin mich an. "Es soll eine Melodie sein, die ewig in deinen Ohren klingt, die ganze Stadt soll dieses Lied kennen."
"Warum hast du mich eigentlich gefragt, ob ich schon mal einen Songtext geschrieben habe?", frage ich und übergehe ihre letzten Sätze. Elin sagt manchmal eben seltsame Dinge.
"Deine Deutschlehrerin hat mir erzählt, dass deine Gedichte und Geschichten immer sehr toll klingen und ... Ich habe mir vorgenommen, dich in die Charts zu bringen." Elin fängt meinen erschrockenen Blick auf und redet dann ruhig weiter. "Du hast eine wunderschöne Stimme und wärst der perfekte Newcomer. Wir werden erstmal den Text vertonen, dann wirst du das Lied singen üben und dann einem Produzenten vortragen. Ich habe alles schon durchüberlegt."
Mir bleibt der Mund offen stehen. Ich. Ein Newcomer. "Nein." Meine Stimme ist leise, aber trotzdem bestimmt.
"Wenn du nicht willst, kann ich dich nicht dazu zwingen, aber in dir würde großes Talent verloren gehen."
"Ich bin für das Reiten bestimmt, Soleila hätte es so gewollt. Ich werde bald wieder damit beginnen." Ich habe es nicht vor, aber Sängerin? Nein.
"Lorina. Bitte. Stell dich nicht so an, tief in deinem Inneren willst du es ja."
Oh nein, diese Frau wird mich jetzt ganz sicher nicht mit diesem Blick überreden. Komischer weise horchte ich doch in mich hinein. Tatsächlich höre ich ein feines Stimmchen rufen: "Lorry, du willst es doch! Du hast seit einer Ewigkeit nicht mehr gesungen und: dein EIGENER Song! Stell dir das doch mal vor!" Unwillkürlich schleicht sich ein feines Lächeln auf meine Lippen. Und ebenso ungewollt wispere ich: „Eigentlich wäre das wirklich toll.“
Elin strahlt wie ein Honigkuchenpferd. „Hast du Lust, jetzt sofort mit mir zu meinem Proberaum zu fahren und gleich eine tolle Melodie überlegen?“ Ihre grünen Augen blitzen unternehmungslustig. „Was meinst du?“
Erschrocken werfe ich einen Blick auf meine Armbanduhr. „Oh verflucht, es ist ja schon fünf Uhr!“ Mom sagte, sie hole mich um halb sechs vor dem Einkaufszentrum ab, und ich habe noch nichts eingekauft. Weder etwas von der ellenlangen Liste, die Mom mir geschrieben hatte, noch etwas „Hübsches“ für mich. Verdammt. „Elin, tust du mir einen Gefallen?“ Ich reiße die Einkaufliste zwischen „Bananen“ und „liniertes Heft“ auseinander. Die erste Hälfte findet man nämlich im Lebensmittelgeschäft, und die andere Hälfte im Schreibwarengeschäft. „Bitte besorge mir das. Das ist echt nett von dir!“, bitte ich und lege die erste Hälfte auf das Tischchen. „Das Geld gebe ich dir später, wir treffen uns in fünfzehn Minuten beim Ausgang, okay?“ Dann renne ich in Richtung Schreibwarengeschäft.

Schnaufend bleibt Elin vor mir stehen. Einige Haarsträhnen haben sich aus ihrem Zopf gelöst aber sie sieht trotzdem noch wunderhübsch aus.
„Hier … sind … deine … Einkäufe.“, keucht sie und stellt eine große Tüte auf den Boden. Sie rückt eine Haarspange zurecht und redet dann weiter: „Es hat sechzig Euro ausgemacht.“
Ich zähle ihr die Scheine in die Hand, dann verabschieden wir uns. Pünktlich um halb sechs Uhr fährt das Auto meiner Mutter vor.
„An was denkst du?“ Mom blickt in meine Richtung. Wir fahren gerade durch die Innenstadt und ich habe gerade mehrere Melodien im Kopf durchprobiert. Am besten gefällt mir eine etwas melancholische, aber trotzdem nicht richtig traurige.
„Ach … An nichts Besonderes. Ich-“ Gerade will ich mir irgendetwas einfallen lassen, denn ich habe nicht vor, meinen Eltern es zu verraten, bevor es fix ist, unterbricht Lamia, die auf der Rückbank sitzt, mich.
„Seht mal, da geht der Krampus!“, ruft meine kleine Schwester.
Das war mehr als angebracht. Meine Mutter hat meine Gedanken vergessen und regt sich nun darüber auf, dass die Leute schon einen Monat vor dem Nikolausabend als Krampusse verkleidet herumgehen. So etwas regt sie gewaltig auf.

Zuhause angekommen renne ich in Windeseile in mein Zimmer hoch und setze mich an das alte Klavier, das dort seinen Platz hat. Ich klappe den Deckel hoch und fahre bedächtig mit den Fingerkuppen über die schon etwas verstaubten Tasten. Ich begann mit fünf Jahren Klavierunterricht zu nehmen, aber mit der Zeit hatte ich keine Lust mehr, und als ich schließlich neun Jahre alt war, hörte ich ganz damit auf. Das Klavier jedoch blieb bis jetzt in meinem Zimmer stehen.
Ich erinnere mich nochmals an meine Favoriten Melodie für den Song und suche das „c“ auf der Tastatur. Es klingt etwas verstimmt, aber dennoch nicht völlig falsch.
Nach einer guten halben Stunde kommt mir die glorreiche Idee, dass ich erstmal die Noten aufschreiben könnte und dann nach ihnen zu spielen. Gesagt, getan.
Nun geht es immer besser. Die Töne werden fließender und meine Finger fliegen nur so über die Tasten. Leise beginne ich, den Text mitzusingen, und als ich schließlich meinen Blick von den Noten und der Tastatur hebe, ist es draußen schon dunkle Nacht.
Ich dehne meinen Rücken, erst denke ich das leise Grummeln würde von meiner Wirbelsäule kommen, doch dann ordne ich es dem Hungergefühl zufolge meinem Bauch zu. Mit steifen Beinen stakse ich zur Tür, leise knarrt sie als ich sie öffne. In der Küche brennt Licht. Ninya richtet sich summend ein Käsebrot und Noah lehnt an der Anrichte und erzählt ihr von den Prüfungsfragen seiner Mathe-Schularbeit.
„Hallo Ninya, hi Noah.“, begrüße ich meine beiden älteren Geschwister.
Ninya unterbricht Noahs ausführlichen Bericht: „Was hast du da am Klavier gespielt? Das hat schön geklungen!“
Verlegen streiche ich eine dunkelbraune Strähne hinters Ohr. „Ach, nur … was ich mir ausgedacht habe.“
„Und welcher Text war das?“, setzt mein Bruder den Verhör fort.
„Ist mir einfach so eingefallen“ Schnell wende ich mich an Noah: „Was glaubst du, hast du auf die Schularbeit geschrieben?“
Ninya verdreht die Augen. „Lorry. Was verheimlichst du uns?“

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Tag der Veröffentlichung: 15.02.2010

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