Völlig in Gedanken versunken nahm sie das Stampfen der Hufe auf dem kalten, sandigen Boden wahr, spürte den Hauch des Schnaubens in ihrem Nacken und wie die Härchen der Nüstern am Hals kitzelten. Mit einer Vertrautheit, als wäre es das Normalste der Welt, küsste sie das samtweiche Fell der jungen, verunsicherten Stute.
"Ganz ruhig", flüsterte sie, während sie vorsichtig den Strick vom Halfter löste. Sobald die Gescheckte Freiheit witterte, stob sie davon und begann, sich übermütig auszutoben.
Voll und ganz zufrieden, wie der Morgen verlaufen war, sah Samantha dem jungen Pferd dabei zu, wie es sich wälzte und schließlich genüsslich zu grasen begann. Mit einem leichten Schmunzeln kehrte sie zu den Stallungen zurück und zog ihr Smartphone aus der Jackentasche, drückte auf den grünen Hörer, um die letzten Telefonate einzusehen. Dann wählte sie Laurys Nummer und wartete auf das Freizeichen.
"Hm?", grummelte es auf der anderen Leitung.
"Aufstehen."
"Bin schon wach", nuschelte Laury in den Hörer.
"Mag ja sein. Und wie lang steht Madam schon mit ihren Füßen auf dem Boden?"
Abwartend zog Sam die Augenbrauen hoch, während sie sich lässig gegen die Stallmauer lehnte und den Anblick des Morgennebels genoss.
"Hmm ... schon ...", rappelte sich die andere verschlafen auf, "ganze zwei Sekunden."
"Leg dich ja nicht wieder hin."
"Ja, schon klar", verdrehte Laury die Augen, wobei sie sich ziemlich sicher war, dass Sam genau wusste, dass sie es tat, "Wenns recht ist, dann geht die Madam jetzt unter die Dusche und besorgt uns dann was zum Frühstücken."
Eine knappe halbe Stunde später betrat Laury das Stallbüro, wo die andere gerade dabei war, den Wochenplan zu überarbeiten.
"Hier", reichte die Freundin ihr einen vollen Papierkaffeebecher und stellte sich hinter sie.
Gestützt auf die Stuhllehne, lugte sie neugierig in die Übersicht und tippte schließlich auf die Spalte Dienstag.
"Da kann ich nicht. Wir haben doch ausgemacht, dass ich mich Dienstagvormittag um die Datenpflege vom letzten Verkauf kümmere."
"Hast recht", entsann sich Sam und nippte an dem heißen Getränk, "Dann übernehme ich das mit der Ablage. Hast du mal wieder Glück. Man könnte fast meinen, du drückst dich mit Absicht davor."
Vielsagend grinste die Jüngere der beiden, bevor sie das Büro verließ und ihrer Freundin noch über die Schulter ein "Kommst du?" zurief.
Hungrig folgte sie ihr zu den kleinen Graskoppeln, an deren Wegrand ein Holzpavillon stand. Hier saßen sie oft gemeinsam, konnten sich ungestört unterhalten. Es war ihr Ort.
"Was hast du letzte Nacht noch so lang gemacht? Als ich auf die Uhr gesehen habe, war die halbe Nacht schon vorbei und da warst du immer noch voll auf den Laptopbildschirm fixiert."
Neugierig war Laury seit eh und je.
"Ich wollte noch ein wenig über unseren neuen Baron erfahren. Sein zweiter Name ist Felix", informierte Sam.
"Aha. Und das war alles?"
"Also gut, pass auf. Er hat noch drei weitere Gestüte. Zwei davon hat er von seinen Schuldnern übernommen, da die nicht liquide genug waren und ihm horrende Summen schuldeten. Er hat noch einen Bruder und eine Schwester. Sein Bruder lebt in Schottland. Und seine Schwester hat einen 'Bürgerlichen' geheiratet. Davon war er nicht begeistert. Jedoch ist er wohl heiß und innig in seinen Neffen, also ihren Sohn, vernarrt."
"Okay", speicherte Laury die Informationen systematisch in ihrem Gedächtnis, "Und weiter?"
"Tja. Ich habe ja noch echt lange gesucht, aber wie nicht anders zu erwarten ..."
"Keine Auffälligkeiten seinerseits", schlussfolgerte Laury richtig, "Ich hätte ja wetten können, dass der Gute keine saubere Weste hat."
Einige Momente hing jede ihren Gedanken nach, ehe sie sich erhoben und sich an die Arbeit für heute machten.
"Ach, bevor ich es vergesse ...", fiel es Laury in letzter Sekunde ein und Sam drehte sich nochmals um, bevor sie wieder im Büro verschwand, "Bobbie hat uns für heute Abend eingeladen. Er meinte, er wolle für uns kochen."
"Kochen? Dein Bruder Bobbie? Was ist das? Na gut. Dann esse ich vorher schon mal was. Wenn er die Kochkünste seiner Schwester besitzt, dann bin ich gerne bereit, zu verzichten."
"Der hat gesessen. Das wirst du büßen."
"Ja, ich freue mich schon darauf", grinste Sam keck und streckte dabei die Zunge raus.
Laury machte sich auf den Weg zu den Stallungen. Routiniert ging ihr Kopf den heutigen Ablauf durch. Während sie kurze Zeit später mit Mistgabel und Schubkarre begann, die Pferdeäpfel und das dreckige Stroh aus den Boxen zu schaffen, saß Sam im Büro über einem Stapel Unterlagen.
Papierkram war lästig, musste jedoch auch erledigt werden. Sie wusste genau, welche Qual Büroarbeit für ihre Freundin bedeutete. Laury war ein kleiner Wirbelwind. Eine, die immer draußen sein musste und irgendetwas tun wollte. Auch Sam liebte die Natur und die Arbeit mit den Pferden. Doch irgendjemand musste nun mal Ordnung im Büro halten.
Unerwartet schoss ihr das erste Aufeinandertreffen mit ihr durch den Kopf. Es war im Kindergarten gewesen. Die vor einigen Tagen erst neu zugezogene Laury hatte die Erzieherinnen so lange in die Verzweiflung getrieben, bis sie in die Strafecke gesetzt wurde. Wo schon Sam saß und schmollte.
Es dauerte nicht lange, bis die beiden sich auf kindliche Art angefreundet hatten. Von da an war kaum noch jemand vor ihren Streichen sicher gewesen. Trotz des Altersunterschiedes von zweieinhalb Jahren gingen sie seit jener Begegnung durch dick und dünn.
Unter anderem verband die beiden ihre Leidenschaft für Pferde, die sich auch so lange gehalten hatte, dass beide nun die Ausbildung zur Pferdewirtin abgeschlossen hatten und auf dem gleichen Gestüt arbeiteten. Vor einiger Zeit hatten sie sogar schlussendlich entschieden, eine WG zu gründen.
Konzentriert wandte sich Sam dem nächsten Blatt Papier zu. Doch statt eines formellen Stücks hielt sie nur einen kleinen Fetzen mit einer markanten Schrift in der Hand. Es war Laurys Notiz, die sie anscheinend gestern unter die Verträge und Rechnungen gemischt hatte: MORGEN, 2:00 p.m. – BARON, HMPF
"Hmpf?"
Sam konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Das war so typisch Laury. Eigentlich konnten sie froh sein, dass Gary Jordan, der ehemalige Gutsbesitzer - welcher nicht nur verschuldet, sondern offensichtlich auch in korrupte Machenschaften verwickelt gewesen zu sein schien - nun nicht mehr hier war. Doch Laury stand der adeligen Abstammung des neuen Gutsbesitzers misstrauisch gegenüber.
Und wenn diese erst einmal gegen etwas war, gestaltete es sich mitunter sehr schwierig, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Sam zuckte die Schultern. Noch wenige Stunden, dann würden sie den Baron ja kennenlernen und dann konnten sie sich ein unvoreingenommenes Bild von ihm machen.
Sam ordnete ihre leicht wirren Haare und verzog das Gesicht beim eigenen Anblick im Spiegel. Laury stand hinter ihr und grinste.
"Schön machen für den Herrn Baron?"
Sam verdrehte die Augen.
Als die beiden Freundinnen ins Freie traten, stand bereits ein klischeehaft schwarzer, teurer Wagen dort, dem gerade zwei Männer entstiegen.
"Chauffeur hat er also auch", knurrte Laury leise, wofür sie einen missbilligenden Blick erntete.
Der Baron war ein älterer Herr mit ergrautem Haar und einer schmalen, randlosen Brille auf der Nase. Freundlich blickte er die zwei jungen Frauen an. Aus der Fahrerseite stieg ein junger, dunkelhaariger Mann. Er trat neben den Baron, den er doch um einige Zentimeter überragte. Für den Bruchteil einer Sekunde betrachteten sich alle gegenseitig.
Sam, auf die der Baron recht sympathisch wirkte, sah zu dessen Begleiter und für einen Moment hielt sie die Luft an. Sie blickte in unergründliche, grüngraue Augen, die keinen noch so kleinen Ansatz von Vermutung preisgaben, was dahinter vor sich ging. Beinahe vermeinte sie jedoch, so etwas wie Wehmut darin zu erkennen.
Der Blickkontakt dauerte wohl nur kaum eine Sekunde. Ein leichter, unauffälliger Stoß in die Seite riss Sam aus ihrer Faszination. Erschrocken über sich selbst, fixierte sie den Boden und schloss sich Laury an, die bereits auf die beiden Herren zuging, um sie zu begrüßen.
Der Baron stellte den Mann neben sich als seinen Neffen Jonathan Cartwright vor, der wohl künftig bei den organisatorischen Tätigkeiten die Verantwortung übernehmen würde. Sams Mundwinkel zuckte – vielleicht lohnte sich der Papierkram ja doch – und reichte dem Baron freundlich die Hand.
Und dann umschlossen auch schon sanfte, warme Finger die ihren und sie sah wieder in diese tiefgründigen Augen. Der Händedruck bescherte Sam gerötete Wangen. Sich im Klaren darüber, riss sie sich möglichst unauffällig los und folgte erneut Laury, die schon vorausgegangen war.
Um Jons Lippen legte sich ein leichtes Lächeln. Die Offenheit der jungen Miss Evans erinnerte ihn an ...
Er holte tief Luft.
Vergangenheit.
Das war Vergangenheit. Jetzt herrschte Gegenwart.
Und diese Frau, diese Miss Evans, sie sollte ihn lieber nicht faszinieren. Er schüttelte leicht den Kopf.
"Jon? Alles in Ordnung?"
Ein besorgter Blick seines Onkels traf ihn. Er nickte schnell.
"Alles bestens Onkel."
Desselben späten Nachmittags saß Samantha in ihrem Zimmer und betrachtete nachdenklich die weiße Wand - mit den Gedanken weit entfernt - als es leise klopfte und Laury ins Zimmer trat.
"Hey du ... Oh, eine Wand."
Im nächsten Moment hatte sie ein Kissen im Gesicht. Unbeeindruckt lachte sie und warf es zurück, ehe sie sich auf die Bettkante setzte.
"Jonathan Cartwright also?"
Sam seufzte tief.
"Sag nichts. Einfach nichts. Bitte."
"Okay. Nichts."
"Du bist so ungemein witzig", grummelte Sam und vergrub ihr Gesicht im Kissen.
"So schlimm?", fragte Laury besorgt.
"Nein. Ich bin nur ... verwirrt. Hast du seinen Gesichtsausdruck gesehen?"
Abwartend betrachtete sie ihre Freundin, realisierte aber schon bald, dass vonseiten dieser kein anständiges Gespräch zu erwarten war.
"Ich muss noch kurz einkaufen", wandte sich Laury auch schon wieder zum Gehen, "Kommst du mit oder starrst du in der Zeit lieber die Wand an?"
Wieder traf sie ein Kissen.
"Ich bleibe hier. Muss noch duschen."
"Okay, bis gleich dann."
Okay, bis gleich dann.
Diese Worte hallten immer noch in Sams Ohren, als sie fertig geduscht und angezogen war sowie zum gefühlt hundertsten Mal auf die Uhr gesehen hatte. Dass Laury sich nicht unbedingt was aus Pünktlichkeit machte, wusste sie. Aber eine ganze Stunde später als geplant?
Ans Smartphone ging sie auch nicht und Bobbie wusste ebenfalls nichts. Langsam bekam Sam ein ungutes Gefühl.
Als es nach weiteren zehn Minuten an der Tür klingelte, sprang sie sofort auf. Endlich! Jetzt würde sie aber was zu hören ...
Moment. Warum sollte Laury klingeln? Sie hatte doch einen Schlüssel ...
Kurz holte Sam tief Luft und hoffte, dass alles eine logische Erklärung haben würde. Eine angenehme, logische Erklärung.
Eine erklärende Laury, die irgendetwas von Katzenbabys am Straßenrand sagte. Irgendetwas. Hauptsache, es ging ihr gut und sie stand vor dieser Tür.
Langsam drückte Sam die Klinke herunter.
Sie sah in zwei unbekannte Gesichter, die zu uniformierten Männern gehörten.
"Miss Samantha Evans?"
"Ja?", brachte sie heraus, ihre Kehle wie zugeschnürt.
"Wohnt hier Miss Laury McLean?"
Diesmal konnte sie nur noch nicken. Eine schreckliche Ahnung beschlich sie.
"Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Miss McLean in einen Unfall verwickelt war."
Nein. Nein. Nein ...
Zögernd hob Samantha die Hand gegen die hölzerne Tür. Sollte sie klopfen? Oder sollte sie Laury einfach ihre Ruhe lassen? Langsam ließ sie die Hand wieder sinken. Gestern Abend hatte Laury noch gesagt, dass sie heute definitiv wieder mit zur Arbeit kommen wollte. Doch war sie dafür schon bereit?
Seufzend lehnte Sam sich gegen den Türrahmen und schloss für einen Moment die Augen, als die Tür auch schon schwungvoll aufging.
"Hey", grüßte Laury ihre Freundin leise.
"Hi. Du bist dir wirklich sicher, dass du heute mitkommen willst?"
Laury nickte.
"Mir gehts gut. So einigermaßen ..."
So einigermaßen. Den Umständen entsprechend. Im Großen und Ganzen. Das waren die Floskeln, die Laury wohl zurzeit am häufigsten verwendete. Früher, da war alles entweder ganz oder gar nicht gewesen. Jetzt machte sie selten genaue Angaben.
Wie selbstverständlich ging Sam auf ihr Auto zu, mit dem sie eigentlich jeden Morgen zum Hof fuhr. Doch Laury blieb stehen und starrte den Wagen mit zusammengekniffenen Augen an.
"Laury? Alles okay?"
"Können wir ... können wir bitte laufen?"
"Natürlich."
Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, beide gedankenverloren. Hohe Linden säumten den geschotterten Weg inmitten der schönen Surrey Hills im Süden Englands. Unweit verlief parallel die geteerte Straße.
Es waren jetzt zwei Wochen vergangen.
Zwei Wochen seit dem Unfall, der Laurys Leben und damit auch das ihrer engsten Freundin so sehr verändert hatte. Von einer Sekunde auf die andere war nichts mehr wie vorher gewesen. In einer uneinsichtigen Kurve im Wald hatte Laury einen jungen Mann mit dem Auto erfasst. Er war wie aus dem Nichts aufgetaucht und, wie sich herausgestellt hatte, die Böschung hinuntergerutscht. Zu jenem Zeitpunkt war er alkoholisiert und musste das Gleichgewicht verloren haben.
Obwohl sie aufgrund der Wetterverhältnisse langsam gefahren war, konnte sie nicht rechtzeitig bremsen.
Er war sofort tot.
Laury hatte bei dem Unfall keine körperlichen Verletzungen erlitten, die seelischen waren dafür umso gravierender. Schon seitdem sie im Hospital wieder aufgewacht war, litt sie an einer Amnesie. Erst war ihre gesamte Erinnerung verschwunden, doch als ihre Eltern, Bobbie und Samantha aufgetaucht waren, kamen die Erinnerungen nach und nach zurück. Jedoch nur bis zu dem Zeitpunkt, als sie ins Auto gestiegen war. Danach war da nichts mehr.
Schwärze, ein großes Nichts.
Dabei war es keine sonderliche Hilfe, dass die Polizei anfangs häufig angerufen hatte, um sich nach Fortschritten zu erkundigen, da sie ihre Aussage aufnehmen wollten. Dieser Druck, der auf Laurys Schultern und ihrem Gedächtnis lastete, trug nicht gerade zur Besserung bei.
Laury und Sam schüttelten gleichzeitig den Kopf. Verdutzt sahen sie einander an. Sam lachte leise auf und Laury brachte zumindest ein Schmunzeln zustande.
"Wie geht es dir?", fragte Sam sie vorsichtig.
"Ich habe nur gerade ... daran gedacht."
"Das heißt, du ...“
Laury schüttelte wieder den Kopf.
"Nein, ich erinnere mich nicht. Ich denke nur an das, was man mir erzählt hat."
Ihr Gesicht nahm einen gequälten Ausdruck an. Sie fixierte den Boden.
"Laury ...", setzte Sam an und zögerte.
"Was?"
"Du machst dir Vorwürfe.“
Es war keine Frage.
Sanft legte sie ihren Arm um die andere. Diese versteifte sich für einen Moment, entspannte sich dann wieder.
"Tapfere Lauryley."
Zufrieden beobachtete Sam, wie ihre Freundin angesichts des alten Spitznamens lächelte.
"Dich trifft keine Schuld. Es hätte jedem anderen passieren können. Du bist vorsichtig gefahren. Du hättest nichts tun können, um es zu verhindern!"
"Ich weiß. Ich weiß, aber ..."
"Ich weiß aiuch", flüsterte Sam und zog sie in eine Umarmung.
Der Tag verging quälend langsam. Immer wieder konnte Sam Laury dabei beobachten, wie sie abwesend irgendwo herumsaß und in die Luft starrte. Sie versuchte, stark zu sein, das war offensichtlich. Doch nur zu gut konnte Sam das tiefe, schwarze Loch sehen, auf das sich Laury gerade zubewegte.
„Hey?“, stupste Sam sie nun zum dritten Mal an, „Laury?“
„Hm?“, wandte sich diese um und blickte anfangs durch Sam hindurch, ehe sie sie wirklich fokussierte.
„Du solltest nach Hause gehen. Du siehst nicht gut aus“, versuchte Sam, die Sorgenfalten auf ihrer Stirn zu vermeiden, was ihr nur halb gelang, „Du hast seit zwei Wochen kaum geschlafen.“
„Nein“, erwiderte Laury nur stur, „Ich hab noch zu viel zu erledigen. Mach dir keine Sorgen.“
Und damit ließ sie ihre beste Freundin einfach zurück.
Hilflos ließ Sam ihre Schultern hängen und wollte gerade zurück ins Büro gehen, als sie hinter sich jemand ihren Namen aussprechen hörte. Sie drehte sich um und vor ihr stand Mr. Cartwright.
„Guten Tag, Miss Evans.“
„Hallo Mr. Cartwright. Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?“
Sie sah ihn nur ganz kurz an. Er sollte ihre Verwirrung und Hilflosigkeit nicht bemerken. Langsam bewegten sie sich in Richtung Büro.
„Ja, bitte. Ich habe gerade in den Unterlagen nach den Kontoauszügen der letzten Wochen gesucht. Leider habe ich sie nicht gefunden“, folgte er ihr und wartete dann auf eine Reaktion.
„Okay.“
In Sams Kopf wütete ein Orkan und sie musste scharf überlegen, was er gerade zu ihr gesagt hatte.
„Die Kontoauszüge, richtig?“
„Ja“, bestätigte der Mann und versuchte zu ergründen, was gerade in der jungen Frau vorging. Sie wirkte völlig überfordert.
„Geht es Ihnen nicht gut, Miss Evans?“
„Ich? Doch, doch ...“, fasste sie sich kurz an die Stirn, auf der sich Schweißperlen zu bilden begannen, „Ich werde sie Ihnen umgehend zukommen lassen, wenn ich sie gefunden habe. Wäre das in Ordnung für Sie, Mr. Cartwright?“
„Selbstverständlich“, nickte Jon noch einen Gruß und verzog sich dann möglichst diskret.
Irgendetwas stimmte nicht mit ihr.
Heilfroh, endlich allein zu sein, ließ sich Samantha in den Bürostuhl plumpsen und stützte ihren Kopf in die Hände. Sie zählte bis zehn und atmete dabei immer und immer wieder tief durch.
„Wir kriegen das hin, wir kriegen das hin“, redete sie sich immer wieder ein und hoffte, damit Erfolg zu haben.
Nach einigen Minuten hatte sie sich tatsächlich wieder gefangen und konnte wenigstens zwei Stunden durchgehend ihrer Büroarbeit nachgehen. Gerade als sie fertig war und den Laptop herunterfahren ließ, klingelte das Smartphone. Es war Bobbie, Laurys Bruder.
„Bob, schön, dass du anrufst.“
„Wie geht es meiner Schwester?“
„Ich habe kein gutes Gefühl. Sie ist heute mit in die Arbeit gekommen“, berichtete Sam besorgt, „Sie sieht nicht gut aus, Bob. Ich weiß nicht, was ich tun soll.“
„Wir müssen sie jetzt einfach gut beobachten. Eventuell wird sie ihre Erinnerung an den Unfall plötzlich zurückerlangen und dann ist sie voll und ganz auf uns angewiesen“, äußerte er seine Sorgen, „Du bist stark, Sam, du wirst das schaffen. Und du bist nicht allein, hörst du?“
„Ja, ich weiß“, und dennoch fühlte sie sich in diesem Moment hundeelend und einsam.
In der darauffolgenden Nacht hatte auch Sam einen sehr unruhigen Schlaf. Immer wieder hörte sie, wie sich Laury in ihrem Bett hin und her wälzte. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und tapste leise zu ihrem Zimmer hinüber. Ganz vorsichtig öffnete sie die Türe und versuchte durch das Licht des Mondes zu erkennen, ob sie schlief oder nicht.
Abrupt zuckte Laury zweimal und drehte sich dann schnell wieder um. Sam vermutete, dass sie gerade schlecht träumte und es tat ihr im Herzen weh, dass sie das alles durchmachen musste. Behutsam setzte sie sich auf den Bettrand und strich ihr über das Haar, das verklebt an den Wangen hing. Dann legte sie sich langsam zu ihr und umarmte sie von hinten. Nur kurz bewegte sich Laury.
Als sie wach wurden, schien die Sonne durch die dünnen Chiffonvorhänge.
Eine weitere Woche verging und lastete schwer auf den beiden jungen Frauen. Von Tag zu Tag war deutlicher erkennbar, wie Laury immer mehr in sich kehrte. Sie aß kaum etwas und - was am schlimmsten zu ertragen war - sie redete fast nicht mehr. Meist, wenn Sam sie ansprach, bekam sie nur ein Achselzucken oder ein „Mir egal“.
Bobbie hatte sich noch einmal mit einem Spezialisten für Traumapatienten unterhalten sowie einen Traumatologen ausfindig gemacht, der - so hoffte er - mehr positiven Einfluss auf seine Schwester nehmen konnte.
„Laury, Bobbie ist am Telefon“, hielt Sam ihr zögernd das Gerät entgegen.
Diese starrte das Teil nur gleichgültig an und nahm es dann entgegen.
„Hallo?", meldete sie sich.
Für einen Moment war es still, ehe sie etwas erwiderte.
„Lass mal, Bobs, ich schaffe das schon allein."
Sie hielt von der Idee des neuen Psychologen wohl nichts.
Und dann legte sie einfach auf.
„Laury, er will dir doch nur helfen“, wandte Sam ein.
Schon zu lange stauten sich die Gefühle in Sam auf. Und als sie in die glanzlosen Augen der jungen Frau sich gegenüber blickte, konnte sie nicht mehr an sich halten und all ihre Emotionen – Angst, Trauer, Sorge, Unsicherheit – bahnten sich ihren Weg nach draußen.
Bitterlich begann sie zu weinen.
„Warum?“, fuhr sie aus der Haut, „Wir wollen dir doch nur helfen. Wenn du es für dich schon nicht tust, dann tu es doch wenigstens uns zuliebe!“
Und damit verließ sie das Haus und rannte, so schnell sie ihre Beine trugen, den Waldweg in Richtung Gestüt entlang. Völlig außer Atem ließ sie sich neben dem Pavillon der Koppeln zu Boden sinken. Ihr ganzer Körper zitterte wie Espenlaub.
Es dauerte lange, bis sie alles aus sich heraus geweint hatte. Kopf- und Halsschmerzen brachten sie fast dazu, wieder loszuheulen, weil es so wehtat. Die Augen brannten und waren völlig verquollen. Doch der angestaute Schmerz unter der Brust hatte endlich etwas nachgelassen.
Allmählich kroch die Kälte in ihre Glieder. Es war schon Herbst und sowohl Laub als auch Gras waren nass. Doch benommen starrte sie einfach weiter zitternd den Boden an.
„Miss Evans?“
Sie zuckte zusammen, ehe sie die Stimme neben sich Mr. Cartwright zuordnen konnte. Zuerst reagierte sie nicht und hoffte, er würde einfach wieder gehen.
„Miss Evans, Sie sollten aufstehen. Der Boden ist kalt“, trat er einige Schritte näher.
Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, doch er war sich sicher, dass sie geweint hatte.
Plötzlich spürte sie eine warme, sanfte Hand auf ihrer Schulter ruhen. Diese Berührung bedeutete ihr in diesem Moment so viel, dass abermals Tränen die Überhand gewannen. Instinktiv legte sie ihre Hand auf seine, aus Angst, er könne sie wieder zurückziehen.
Gleichzeitig spürte er, wie ihr ganzer Körper bebte und ahnte, dass sie ihre Schluchzer nur mühsam zurückhielt. Langsam ging er neben ihr in die Hocke und suchte ihren Blick.
„Miss Evans.“
Schließlich fand sie die Kraft und den Mut, aufzusehen.
Seine Augen strahlten eine solche Wärme aus. Genau ebendiese Wärme, die ihr zurzeit so abhanden ging. Und sie war nicht imstande, sich von seinem Blick zu lösen.
„Kommen Sie mit mir“, flüsterte er beinahe nur und zog sie vorsichtig auf die Beine.
Einen Moment lang taumelte sie und so hielt er sie an beiden Armen fest, bis sie wieder das Gleichgewicht erlangt hatte.
„Kommen Sie.“
Rasch zog er seine Jacke aus und legte sie ihr über die Schultern, bevor er seine Hand schützend um sie legte und das Haupthaus ansteuerte. Sie ließ es einfach geschehen.
Im Haus brannte irgendwo ein Feuer im Kamin. Sie kannte diese wohlige Art von Wärme; und der Geruch des brennenden, trockenen Holzes sorgte dafür, dass sie sich sofort geborgen fühlte. Zielstrebig betrat er den Raum rechter Hand des Foyers. Es war ein Wohnraum.
Der Mann ließ sie kurz allein stehen, um einen Sessel neben den offenen Kamin zu schieben.
„Ich bin gleich wieder da“, legte er noch einmal seine Hand auf ihre Schulter und wartete auf Bestätigung.
Sie nickte nur und betrachtete schweigend das Feuer, das vor ihren Augen loderte.
Wenige Minuten später kam er zurück und hielt zwei Tassen Tee in den Händen. Er reichte eine davon Sam und zog sich dann einen zweiten Sessel neben den ihren. Inzwischen hatte es draußen zu stürmen begonnen und die ersten Blitze prophezeiten ein anrollendes Gewitter.
Geraume Zeit saßen sie nur da und schwiegen. Sam war sehr dankbar, dass er ihr Ruhe gönnte und sie nicht ausfragte. Sie konnte zwar wahrnehmen, dass er sie hin und wieder musterte, doch es störte sie nicht. Immerhin konnte sie ihm nicht verübeln, dass er versuchte, aus der ganzen Situation schlau zu werden.
Weitere Zeit verstrich und sie konnte beim besten Willen nicht sagen, wie viel Uhr es war, geschweige denn, wie lange sie hier schon so schweigend Zeit totschlugen. Irgendwann fühlte sie sich gedrängt, aktiv werden.
„Dürfte ich Ihr Badezimmer kurz benutzen?“
„Selbstverständlich“, reagierte er sofort und erhob sich, „Ich habe Ihnen schon Kleidung zum Wechseln hingelegt.“
Kurz runzelte Sam die Stirn und überlegte, was er ihr damit sagen wollte. Dann verstand sie.
„Oh, danke. Aber ich wollte eigentlich nur auf die Toilette. Ich möchte Ihnen wirklich keine Umstände bereiten.“
„Tun Sie nicht.“
Als sie im Badezimmer stand, hatte sie dann doch tatsächlich das Bedürfnis, zu duschen. Also nahm sie das Angebot an und beeilte sich, da sie Mr. Cartwright nicht warten lassen wollte. Schließlich hatte sie trotz allem das Gefühl, hier irgendwie eingedrungen zu sein. Schnell zog sie die Sachen über, die er ihr bereitgelegt hatte. Die Jeanshose saß wie angegossen. Und der weinrote, weiche Pullover hielt sie wunderbar warm.
Verlegen betrat sie wieder den Wohnraum und nahm wieder Platz auf dem Sessel. Gleich darauf wurde ihr eine weitere volle Tasse Tee in die Hand gedrückt. Wieder sah sie in das Feuer, doch spürte, dass er diesmal seinen Blick nicht von ihr losriss.
Interessiert musterte sie ihn und realisierte, dass seine Augen schimmerten und den roten Pullover fixierten, den sie trug.
„Danke übrigens für die Kleidung“, fiel es ihr wieder ein, „Ich wusste gar nicht, dass Sie verheiratet sind, Mr. Cartwright.“
„Bin ich auch nicht“, lächelte er und diesmal konnte sie unverkennbar Wehmut in seinen Augen sehen, „Nicht mehr.“
„Das tut mir leid.“
Sie überlegte, ob es taktvoll gewesen wäre, ihn zu fragen, was geschehen war, doch es schien ihr schon im Gesicht geschrieben zu stehen, denn er begann von sich aus zu erzählen.
„Emily starb vor viereinhalb Jahren.“
Immer noch fiel es ihm so schwer, über seine Frau zu sprechen, ohne dabei die Fassung zu verlieren. Und hätte er gewusst, was es in ihm auslöste, diese junge Frau in der Kleidung seiner verstorbenen Frau zu sehen, dann ...
Ja, was dann?
Hätte er sie dann hier nass stehen lassen?
Im selben Augenblick verstand auch Sam. Sie sah an sich hinunter und fühlte sich plötzlich wieder ziemlich elend. Es musste für den Mann ja eine Zumutung sein, sie darin zu sehen.
„Soll ich lieber gehen?“
„Nein, bleiben Sie. Es geht schon. Es ... ja ... es geht schon.“
Sie sah erneut in seine Augen und hatte nun endlich einmal Gelegenheit, ihn ausgiebig zu betrachten. Sein dunkles Haar war fast schwarz. Und es war gerade lang genug, dass ihm ein leicht gewellter Schopf über die Stirn fiel. Er hatte sehr freundliche Gesichtszüge. Eine gerade schmale Nase und mandelförmige Augen. Grüngraue, ernsthafte Augen. Und sie konnte ihn dabei beobachten, wie sich seine Mundwinkel leicht nach oben bewegten. Augenblicklich begann auch sie zu lächeln.
Betreten wandte sie ihren Blick ab, sich plötzlich darüber bewusst, dass sie ihn offenbar völlig unverwandt angestarrt hatte.
„Tut mir leid.“
„Was?“, fragte er überrascht.
„Das alles“, betitelte es Sam schlicht, „dass Sie mich so verheult und pitschnass auffinden mussten.“
„Das macht nichts. Mit meinem Hund hatte ich das ständig. Wenn er draußen vor der Tür saß, dann war er auch oft pitschnass und verheult.“
Sam musste auflachen.
„Wie nett, dann haben Sie also schon Übung.“
„Weitgehend ja.“
So entspannte sich die Situation nach und nach und ihre Blicke trafen sich erneut. Diesmal sah Sam darin wieder diese Wärme, die ihr das Gefühl gab, dass sie ihm vertrauen konnte. Die ihr zeigte, dass er verstand.
„Meine Freundin ...“
„Miss McLean?“
„Ja. Laury“, nickte Sam bedächtig.
Und dann begann sie zu erzählen.
Alles, was passiert war.
Alles, was ihr durch den Kopf schwirrte.
Und was sich die letzten Wochen angestaut hatte. Dass sie sich solche Mühe gab, für ihre Freundin da zu sein. Dass sie mit ihrem Latein am Ende war, sowie mit ihrer Kraft. Und sie spürte, dass ihr noch leichter ums Herz wurde, nachdem sie all diese ganzen Empfindungen in Worte gefasst hatte.
Irgendwann wusste sie nicht mehr, was sie noch sagen hätte können. Erst dann fiel ihr auf, dass sie ununterbrochen gesprochen hatte.
„Tut mir leid“, entschuldigte sie sich dafür, „Und sagen Sie jetzt nicht, dass Sie das von Ihrem Hund kennen.“
Jetzt war er derjenige, der zuerst lachen musste.
„Nein. Aber ich hatte da einmal einen Papagei ...“
Das erste Mal seit Wochen konnte sie endlich einmal wieder so richtig beherzt lachen. Und es tat unwahrscheinlich gut. Ihre Augen begannen zu leuchten.
„Danke, Mr. Cartwright.“
„Sie müssen sich nicht bedanken. Wenn Sie etwas benötigen, dann lassen Sie es mich wissen, nicht wahr?“
„Ja, das werde ich gewiss tun.“
Ihre Augen verengten sich und das verschmitzte Grinsen ließ die Ironie dahinter erkennen.
„Ich meine das ernst.“
„Ja, ich weiß. Danke."
Er wirkte beinahe verletzt und so signalisierte sie ihm durch ihren Gesichtsausdruck, dass sie wirklich dankbar für sein Angebot war.
Wieder gab es da einen Moment der einvernehmlichen Stille, ehe das Telefon sie jäh aus ihren Gedanken riss.
Hastig stand er auf und lief zur Telefonstation, wo er auf das Display sah. Dann wandte er sich nochmals kurz Sam zu.
„Tut mir leid, diesen Anruf muss ich entgegennehmen.“
„Machen Sie ruhig“, winkte Sam ab und begann ein paar Holzklötze auf das Feuer zu legen.
Diskret zog sich Jonathan mit dem Telefon in einen anderen Raum zurück. So war es völlig still im Raum und Sam konnte ungehindert ihren Gedanken nachgehen. Sie merkte nicht, wie sie langsam müde wurde und die Augen immer schwerer wurden.
Als Jonathan nach zehn Minuten den Raum wieder betrat, sah er auf eine friedlich schlafende Samantha hinunter. Eigentlich konnte er sich nicht sattsehen an diesem Bild, doch schließlich riss er sich los. Er nahm eine Decke von der Couch und legte sie ganz behutsam über sie. Dann betrachtete er sie noch einen kurzen Augenblick und verabschiedete sich mit einem leisen „Gute Nacht, Miss Evans“.
Regen prasselte gegen die Fensterscheiben. Jonathan sah auf die Uhr und musste mit Entsetzen feststellen, dass es schon spät war. Normalerweise wachte er von allein sehr früh auf. Nochmals sah er zum Fenster hinüber. Draußen war es relativ dunkel, offensichtlich die Nachwirkungen des gestrigen Gewitters.
Ziemlich rasch erinnerte er sich an den gestrigen Abend und wurde dann munter. Wie jeden Morgen ging er duschen und rasierte sich, ehe er seine Jeans und ein langes, blaues Hemd anzog.
Eiligen Schrittes trabte er die Treppe hinunter und betrat das Wohnzimmer, in der Annahme, dass Miss Evans schon längst fort war. Doch zu seiner Überraschung lag sie immer noch dort, wo er sie gestern Abend zugedeckt hatte.
Leise trat er ein paar Schritte an sie heran und blickte auf sie hinunter. Ihre Gesichtszüge wirkten entspannt. Versucht, sie zu wecken, brachte er es dann doch irgendwie nicht über sich. Sie schien den Schlaf zu brauchen, sonst wäre sie ja schon aufgewacht.
Ebenso geräuschlos, wie er an sie herangetreten war, verließ er das Zimmer wieder und ging in die Küche, um sich Frühstück zu machen. Der Duft von frisch aufgebrühten Kaffee erfüllte den Raum. Mit einer Tasse davon, etwas Marmelade, Butter und dem Rest des Frühstücks auf dem Tablett ging er zurück ins Wohnzimmer. Am anderen Ende des Raumes im Erker befand sich ein Esstisch mit drei Stühlen. Die Fenster gaben den Blick auf den Hof frei. Er begann, die Zeitung zu studieren.
Gerade als er seinen letzten Schluck Kaffee ausgetrunken hatte, rührte sie sich. Er war sich nicht sicher, ob er zu ihr gehen sollte. Intuitiv entschied er, einfach sitzenzubleiben. Andernfalls hätte er sie vielleicht in Verlegenheit gebracht.
Entspannt wachte Sam auf. Sie wollte sich umdrehen, merkte jedoch schnell, dass ihr Bett anscheinend zu einem Sessel mutiert war. Mit geschlossenen Augen befühlte sie den Bezug. Sie drehte ihren Kopf und atmete den Duft des Möbelstücks ein. Und mit etwas morgendlichem Denksport konnte sie sich erinnern, wo sie war.
Sie war nicht in ihrem Bett. Sie war nicht bei sich zu Hause. Und sie war auch nicht bei Bobbie. Sie war bei Mr. Cartwright. In seinem Wohnzimmer.
Vorsichtig öffnete sie die Augen und erblickte den Haufen Asche im Kachelofen. Der Raum war hell, was bedeutete, dass die Nacht schon vorbei war. Und sie hatte geschlafen wie ein Baby, was die letzten Wochen nicht einmal vorgekommen war. Irritiert schüttelte sie den Kopf.
Dann begann sie, sich etwas zu orientieren. Da sie gestern doch ziemlich durcheinander war und keine Gelegenheit hatte, sich den Raum eingehender anzusehen, holte sie das somit jetzt nach.
Im Umdrehen erstarrte sie jedoch.
Dort hinten in der Ecke saß er. Mit der Zeitung in der Hand. Beim Frühstück.
Warum hatte er sie nicht geweckt?
Warum betrat er den Raum, wenn eine wildfremde Frau hier schlief?
Hoffentlich hatte sie nicht geschnarcht!
Beherrsch dich, Sam. Es ist sein Haus. Da kann er machen, was er will. Schließlich bin ich hier der unerwartete Gast. Ihre Gedanken überschlugen sich.
Unbemerkt geblieben, nutzte sie ihren Vorteil, um den Mann ungestört zu beobachten. Sein wehmütiger Gesichtsausdruck ging ihr nicht ganz aus dem Kopf. Auf den ersten Moment sah er ziemlich besonnen aus. Doch sie hatte gestern ungewollt eine verwundete Stelle getroffen und das tat ihr aufrichtig leid.
Konzentriert sah er in die Zeitung, doch nahm er im Blickwinkel wahr, dass sie wach geworden war. Er versuchte bei seinem Vorhaben zu bleiben. Doch irgendwann siegte die Neugier. Ruhig aber bestimmt wandte er sich ihr zu und sah direkt in ihre Augen.
Für einen Moment blieb ihr das Herz stehen. So fühlte es sich zumindest an. Jetzt hatte er sie ertappt. Doch als sie einander so musterten, bemerkte sie, dass es nicht peinlich war, nicht einmal unangenehm. Es war eher das Gefühl, in ganz vertraute Augen zu sehen. Und als wäre das hier ein ganz alltäglicher Moment.
„Guten Morgen“, lächelte er.
„Guten Morgen.“
„Wie ich sehe, haben Sie gut geschlafen?“
„Ja. Sagen Sie, habe ich geschnarcht?“
„Hm. Also oben in meinem Zimmer hab ich nichts gehört.“
Sam konnte leicht den Schelm in seinen Augen erkennen.
„Na dann“, schmunzelte sie zufrieden und streckte sich, bevor sie endlich aufstand.
Sorgfältig legte sie die Decke zusammen. Er sah ihr dabei zu und bot ihr an, sich zu ihm an den Tisch zu setzen.
„Kaffee?“, nahm er schon die Kanne in die Hand.
„Oh ja, sehr gern. Ich bin ein totaler Kaffeefreak.“
„Dann haben wir ja etwas gemeinsam. Milch, Zucker?“
„Nein, danke.“
„Was? Eine Frau, die Kaffee schwarz ohne alles trinkt?“
„Ja, er muss doch wirken. So schwarz macht er am besten wach.“
Skeptisch schenkte sich auch Jonathan noch einen Kaffee ein und lugte in die Tasse.
„Na dann. Mal sehen, ob das was bringt.“
Gespannt achtete Sam auf seine Reaktion. Nach dem ersten Schluck verzog er das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen, woraufhin sie ein Grinsen nicht unterdrücken konnte.
„Scheußlich.“
Ihre gute Stimmung wurde unterbrochen, als Sams Smartphone einen kurzen Brummton von sich gab. Abrupt wurde ihr bewusst, dass sie Laury schon zu lange allein gelassen hatte. Schlagartig lag wieder dieser Stein in ihrem Magen und sie konnte sich gerade noch zurückhalten, sich die schlimmsten Szenarien auszumalen. Bestürzt erhob sie sich und legte eine Hand auf den Mund.
„Laury ...“
Völlig entsetzt über sich selbst, schlug sie sich die Hand auf die Stirn und schüttelte nur den Kopf.
„Ist etwas passiert?“, stand auch Jonathan auf, „Ist alles okay mit Laury?“
„Ich weiß es nicht.“
Einen kurzen Moment wurde ihr schwindelig und sie musste sich irgendwo abstützen. Sie nahm nicht wirklich wahr, dass es Jonathans Hand war, bei der sie Halt fand.
„Ich muss los“, sah sie erst ihn an und dann ihre Hand, die in seiner lag. Langsam ließ er sie los und schob sie in das Foyer.
„Ich fahre Sie nach Hause. Kommen Sie.“
Die kurze Fahrt in Jonathans Auto kam Samantha wie eine Ewigkeit vor. Von Selbstvorwürfen geplagt, malte sie sich aus, was mit Laury passiert sein könnte. Oh, wie hatte sie sie nur allein lassen können? Für eine ganze Nacht. Und ohne Vorwarnung? Und dann auch noch, nachdem sie Laury so angeschrien hatte. Verzweifelt schüttelte sie den Kopf.
Weil sie die Augen geschlossen hatte, bemerkte sie nicht, dass sie bereits angekommen waren. Erst ein sanftes, aber nachdrückliches „Miss Evans?“ riss sie aus ihrer Starre. Rasch schnallte sie sich ab, wurde jedoch aufgehalten.
„Geben Sie mir Ihr Smartphone.“
Verwirrt sah Sam den Mann an. Doch ihre Gedanken waren schon längst woanders, sodass sie seiner Bitte, ohne nachzudenken, Folge leistete. Dieser tippte schnell etwas ein, bevor er es ihr zurückgab.
„Meine Nummer. Für den Notfall.“
Sie nickte nur, bedankte sich flüchtig und entstieg zügig dem Wagen.
Jonathans Blick folgte ihr, bis sie im Haus verschwand. Nachdenklich betrachtete er eine Weile die Straße vor sich, ehe er den Motor wieder anließ und wendete.
Mit zitternden Händen schloss Sam die Wohnungstür auf. Ohne die Schuhe auszuziehen oder die Jacke abzulegen, beförderte sie die Tür mit einem gezielten Tritt ins Schloss.
„Laury!“
Das Wohnzimmer sowie das Bad waren leer. Ohne zu klopfen, stürmte Sam in das Zimmer ihrer Freundin. Dort saß sie. Etwas verloren wirkend und mit leicht geröteten Augen. Sofort kniete sich Sam neben ihr nieder und nahm sie in den Arm.
„Es tut mir so leid“, sprudelte es aus ihr heraus, „ich hätte dich nicht so anschreien dürfen, ich hätte dich nicht allein lassen dürfen, es tut mir so leid.“
Eine Weile saßen sie nur schweigend da, bis Laury die Stille durchbrach.
„Mandy, mir tut es auch leid. Ich weiß, dass ihr mir nur helfen wollt. Aber es bringt doch alles nichts! Ich erinnere mich einfach nicht, ich kann das nicht, es hilft gar nichts ... ich weiß nicht, was ich machen soll, ich dreh noch durch. Und ihr leidet auch so sehr darunter und ich bin schuld daran ... mein doofes Hirn will sich einfach nicht erinnern.“
Noch fester drückte Sam sie jetzt an sich. Es war das erste Mal seit jenem verhängnisvollen Unglück, dass Laury sich mit so vielen Worten am Stück verständlich machte. Äußerte, was in ihr vorging. Aussprach, was sie dachte.
Verzweifelt suchte Sam nach passenden Worten. Doch da war nichts, was sie sagen konnte. Keine leeren Worte wie „Alles wird gut“ oder „Das wird schon“. Es schmerzte sie tief, dass sie nur hilflos mit ansehen konnte, wie Laury litt und sich selbst unter Druck setzte, sich Vorwürfe machte.
Andererseits - vielleicht war es nur das, was sie brauchte. Keine oberflächlich tröstenden Worte, keine Floskeln, sondern einen treuen Gefährten, der schlicht mit ihr mitlitt und einfach da war. Eine Schulter zum Anlehnen und Zuhören und vielleicht auch irgendwann zum Mitweinen.
Seit jenem Gespräch hatte Laury beschlossen, ihren Alltag wieder richtig aufzunehmen. Nachdem Sam ihr vor Augen geführt hatte, dass es nichts brachte, vor all dem Geschehenen davonzulaufen, war sie entschlossener denn je, es mit diesem inneren Krieg aufzunehmen.
Ihr wurde bewusst, dass sie nicht darauf warten durfte, dass die Erinnerungen wiederkamen. Es konnte sein, dass sie sich nie wieder daran erinnern würde. Und diese Erkenntnis traf sie zuerst wie ein Schlag, doch schlussendlich leuchtete ihr dieses Wissen ein und sie nahm die Tatsache an. Sie hatte auch Bobbies Hilfe angenommen und besuchte nun regelmäßig einen anderen Traumapsychologen, mit dem sie sich auch besser zu verstehen schien.
Einige Wochen später war dennoch jeder Tag weiterhin ein Kampf. Sie biss die Zähne zusammen, so gut es eben ging. Doch nicht immer gelang es ihr, die mühsam zurückgehaltenen Gefühle im Zaum zu halten. Da geschah es nun einmal ab und zu, dass man ziemlich einstecken musste, wenn man ihr in einem solchen Moment über den Weg lief.
So erging es auch dem werten Herrn Baron McCarthy. Er drehte mittlerweile jeden Morgen seine Runde auf dem Gut und sah nach dem Rechten. Als er den Kopf zum Stallbüro hineinstreckte, sah er Laury auf dem Bürosessel, während sie sich die Schläfen massierte.
„Miss McLean, wie geht es Ihnen heute?“
„Morgen, Mr. McCarthy. Es geht schon. Hab nur ziemliche Kopfschmerzen.“
Sie gab sich keine sonderlich große Mühe, freundlich dabei zu klingen.
„Hm, denken Sie zu viel an den Unfall?“
Perplex von so viel Direktheit stand sie auf.
„Wie kommen Sie denn auf so einen Schwachsinn? Natürlich nicht.“
„Es ist ja nicht schlimm, wenn Sie es tun. Das gehört zum Verarbeitungsprozess.“
„Was soll das jetzt heißen? Sie tun ja gerade so, als wären Sie mein Psychiater. Lassen Sie es einfach sein. Sie haben keine Ahnung, wie das ist.“
In dem Moment erschien auch Sam neben Mr. McCarthy im Türrahmen und riss schockiert den Mund auf.
„Laury, beherrsch dich! Du kannst doch Mr. McCarthy nicht so anpflaumen.“
„Jetzt fang du nicht auch noch an“, stöhnte Laury völlig gestresst, „Könnten wir das jetzt bitte lassen?! Ich habe darauf echt keine Lust mehr!“
„Laury ...“, ereiferte sich Sam abermals, doch Mr. McCarthy legte ihr beschwichtigend die Hand auf die Schulter.
„Lassen Sie es gut sein, Miss Evans. Sie wissen ja, Barone können schnell neunmalklug werden. Dabei besitzen sie ja überhaupt keinerlei Lebenserfahrung und Probleme, weil sie ja Barone sind, nicht wahr?“
Er zwinkerte Sam zu und sie verstand den Wink auf der Stelle. Seine Ironie war regelrecht begeisternd. Gewichtig blickte sie stattdessen zu Laury, die gleich mit ihren Augen ein paar Feuerpfeile auf sie abschoss, die sie geflissentlich mit einem leicht spöttischen Lächeln abwehrte.
Es fiel ihr unglaublich schwer, so hart zu ihrer Freundin zu sein. Doch da sie ebenfalls einige Gespräche mit dem Therapeuten geführt hatte, wusste sie, dass sie besonders
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: © 2022 Jil Hasley / Jennifer Ding
Cover: Bianca Wagner / www.cover-up-books.de
Lektorat: Jil Hasley
Korrektorat: Jil Hasley
Satz: Jil Hasley
Tag der Veröffentlichung: 05.09.2022
ISBN: 978-3-7554-2015-6
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