Die goldene, sanfte Oktobersonne blinzelte durch die lichter gewordenen Baumkronen hindurch, deren farbenfrohes Kleid nach und nach immer mehr gen Boden sank, um dort eine raschelnde Schicht aus Blättern zu hinterlassen.
Eine Schicht, die irgendwann neuen Nährboden für Pflanzen bot – wenn genug Zeit dafür ins Land gezogen war.
Müde, ausgelaugte Augen glitten, von langsamen Schritten begleitet, über die gesamte Szenerie und funkelten unter einem dennoch trüben Schleier auf - in einer Mischung aus Enttäuschung, Sarkasmus und Sehnsucht.
War Zeit nicht immer das, worum es ging?
Seine Lippen kräuselten sich zu einer Grimasse, die sich zwischen einem Grinsen und einem verbitterten Ausdruck nicht entscheiden mochte.
Nein, es ging nicht stets um die Zeit.
Für die Meisten – das wohl, denn niemand schien für die Dinge Zeit zu haben, niemand nahm sich Zeit und alles versank in einem Rausch der Geschwindigkeit, der stets an ihm vorbei raste und den er nur mit viel Bedauern und einer gewissen Faszination von außen betrachten konnte.
Für ihn... nein, für ihn besaß Zeit keine Bedeutung.
Denn nach so langem Warten, nach einer solch langen Weile des Bangens, des Harrens und der unbeantworteten Hoffnung, da verlor sich die Zeit zu einem Schatten ihrer selbst.
Irgendwann, hatte man nur lange genug gewartet, zog sich das Feingefühl für Sekunden, Minuten und Stunden und das Interesse am Zeitfluss unter Bedauern zurück, um in ein Vakuum zu verschwinden, das unendlich schien – nur um zu verhindern, dass man den Verstand dabei verlor, wenn man jede Minute zu zählen pflegte.
Und dieses Vakuum verschluckte alles.
Die Zeit, die Gefühle – selbst den Grund dafür, dass man wartete.
Man vergaß es irgendwann.
Das einzige, was blieb, war ein dumpfes Gefühl davon etwas Wichtiges vergessen zu haben – aber nicht mehr.
Wieder schlich sich ein bitteres Lächeln auf seine Lippen.
Es war ein Zustand, den er getrost mit einem Herbst vergleichen konnte.
Der Frühling war längst vergessen und auch der Sommer zeigte sich nicht mehr, da nur noch die Vorbereitung auf den kalten, langen Winter herrschte, in dem alles, was sich einst in strahlender Blüte gezeigt hatte, unter einer dicken Schicht aus Schnee und Eis begraben liegen würde.
Jede Erinnerung fiel langsam herab, wie das Blattwerk, das dem mangelnden Licht seinen Tribut zollte und als Laub am Boden darauf wartete zersetzt zu werden in einem langwierigen Prozess für einen ewigen Kreislauf, den das einzelne Blatt nicht kümmerte.
Ja, er wusste auch nicht mehr so genau, worauf er eigentlich wartete – lediglich eine dumpfe, weit entfernte Ahnung kroch durch sein Unterbewusstsein.
Nicht viel mehr als eine Idee und doch so viel weniger.
Eigentlich nur das irrationale Wissen, dass er wartete.
Seufzend strich er sich die Haare zurück und legte den Kopf in den Nacken, um die letzten wärmenden Sonnenstrahlen zu genießen, die ihn daran erinnerten, dass er auf etwas wartete, das er mit dem Wohlbefinden von Frühling und Sommer in Verbindung brachte und selbst nicht sicher war, wieso er das tat.
Doch nun...
Nun legte es sich bereit, um bald unter einer schier undurchdringlichen Schicht aus Kälte einen Schlaf anzutreten... oder zu sterben.
Unter einem bitteren Kichern schüttelte er den Kopf.
Manche mochten ihn für verrückt halten – vielleicht war er das auch, denn er verweilte bereits in diesem Herbst, so lange er sich zurückerinnern konnte.
Er wartete nicht auf seine Eltern, die schon lange fort waren und niemals zurückkehren würden.
Er wartete auch nicht auf seine Großmutter, der er aus freien Stücken den Rücken gekehrt hatte.
Er wartete auf keinen bestimmten Ort, denn er hatte derer viele bereist.
Er wartete auf keine bestimmte Zeit, denn er harrte bereits, seit er seinen ersten Atemzug getan hatte.
Er wartete nicht auf Gesellschaft, denn auch damit hatte er sich in seinem spärlichen Rahmen genügend umgeben gehabt und tat es noch immer.
Er wartete nicht auf ein Ereignis der Weltgeschichte, denn tief in ihm wusste er, dass sie sich ohnehin nur unter leicht veränderten Bedingungen stets wiederholte.
Er wartete auch nicht auf ein Wunder, denn im Grunde hatte er alles, was er brauchte und war zufrieden mit seinem Leben.
Er... wartete bloß.
So sehr, dass es durchaus schmerzte und er doch nicht sagen konnte, auf was.
Das Einzige, was ihn stets begleitete, war das ewige Gefühl den Frühling und den Sommer sehr wohl zu kennen, auch wenn er sein gesamtes Leben in diesem Herbst verbracht hatte und sich müde dem nahenden Winter zuwenden wollte.
Ja.
Er wollte so langsam nicht mehr wissen was sein Herz mit so viel Sehnsucht umspülte, sondern einfach vergessen.
Es einfach endgültig vergessen...
Er hatte Freunde, ein Heim, einen Job, Hobbys, gelegentlich einen Liebhaber.
Es war kein reibungsloses Leben, aber ein erfülltes.
Was interessierte es ihn da, dass er ständig nur einen dumpfen Herzschlag unter seiner Brust spürte, bloß weil das undefinierbare Gefühl auf etwas Bedeutendes zu warten stets dort verweilte und sich darum legte, wie Watte um einen sehr zerbrechlichen Gegenstand?
Was denn nur konnte und sollte er noch erwarten...?
Und wie lange sollte er noch warten... wenn er doch nicht einmal mehr wusste worauf...?
Es vielleicht nie gewusst hat...
Und das etwas war, das vielleicht nicht einmal existierte...?
Wer wusste es denn schon?
Vielleicht wartete er doch auf das Wunder, dass er sich wirklich aufrichtig glücklich fühlte?
So sehr er Dinge besaß, die ein erfüllendes Leben ausmachten, umso mehr drückte diese weiche Schicht aus dumpfer Leere sich mehr um sein Herz, die ihn jeden Tag daran erinnerte, dass er trotz all dem nicht glücklich war.
Und auch davon umgarnte eine Idee sein Bewusstsein, ohne dieses zu berühren und ohne zu einem klaren Gedanken, einem klaren Bild oder einem klaren Gefühl heranzuwachsen.
Er wartete und er war nicht glücklich.
Mehr nicht...
Eine sanfte Brise ließ die Blätter in den Baumkronen leise rascheln und strich fast zärtlich durch sein rotes Haar, so wie sie federleicht über seine freien Unterarme tänzelte und nichts zurückließ, außer einer seichten Gänsehaut.
Etwas verwirrt blinzelte Cedric, als er spürte, wie diese leichte Brise schon beinahe ruckartig ihre Richtung änderte und ihm nicht mehr erfrischend kühl entgegenwehte, sondern ihn regelrecht weiter vorantreiben zu wollen schien – tiefer in den Wald hinein.
Für einen Augenblick blieb er stehen, um den endlos scheinenden Weg vor sich zu betrachten, der sich irgendwo zwischen all den Bäumen in einer durchaus beachtlichen Dunkelheit verlor.
Der für einen Mischwald typische, frische und doch auch nadelige Geruch stieg ihm ihn die Nase, von der Oktobersonne zu seinen feinsten Aromen veredelt, während die letzten Pollen des Jahres durch das Geflecht aus Licht und Schatten tanzten.
Die Vögel sangen, als wüssten sie noch nichts über die bereits kürzer gewordenen Tage und die bevorstehende dunkle Jahreszeit, die sich mit dem abendlich wiederkehrenden Frost ankündigte.
Die letzten Bienen flogen tänzelnd und unbeschwert ihre Runden, labten sich an den letzten farbenprächtigen Blumen, die ihnen noch Nahrung spendeten.
In den letzten Atemzügen sprach dieses Bild eines goldenen Oktobers davon, wie der Wille schwand sich noch länger gegen den heraufziehenden Spätherbst zu wehren, der spätestens im November mit einem tiefen Grau einher kam.
Geradezu trügerisch schlummerten Glück und Zufriedenheit in diesem Augenblick, der ihn liebevoll umarmte...
Nein...
Sein eigener Herbst war längst weitergezogen, hatte die Schwelle zu einem düsteren, verhangenen Bild tiefer, dunkler Wolken überschritten und wartete in der schweren, feucht-kalten Novemberluft nur voller Sehnsucht auf die ersten Schneeflocken, die ihm ein Ende bereiteten, um alles Lebendige in einen tiefen Schlaf zu legen, der für manches Ding ein ewiger Schlaf werden mochte.
Das hier... dieser Wald... dieser goldene Moment...
Es war ein Bild der Zärtlichkeit, der Hoffnung und des Friedens, das er schon seit geraumer Zeit nicht mehr in sich spürte.
Doch je länger er dort verweilte, um bloß seinen Blick und seine Gedanken schweifen zu lassen, umso schneller schlug sein Herz und umso nachdrücklicher schien die Brise immer mehr zu einer richtigen Böe aufzufrischen, die mit sich ein dezentes Nachklingen dieser Idee von Frühling und Sommer in sein Bewusstsein dirigierte.
Jedes Geräusch verstummte in Ehrfurcht vor diesem wispernden, lockenden Wind, der die trockenen Blätter an ihm vorbei den Weg hinab wehte und dessen Stimme immer lauter nach ihm zu fragen schien.
Leicht schüttelte er den Kopf.
Was nur war es, das ihn so dezent und doch so deutlich in diese Dunkelheit bat, die sich vor ihm zwischen all den Bäumen verbarg?
Was nur war es, das ihn dieses Nachklingen mit so viel Sehnsucht lauschen ließ?
Was nur war es, worauf er sein Leben lang stets gewartet hatte?
Nie hatte er all diese Ideen von Glück und Geborgenheit, von Frieden und unendlicher Fürsorge in seinem Leben kennenlernen dürfen – und doch stieg dieses Nachklingen darüber immer stärker in ihm auf.
Beinahe so, als wolle es ihm sagen, dass nun, nach all den Jahren, endlich die Zeit gekommen war, um sich zu erinnern.
Sich daran zu erinnern, worauf er wartete.
Sich daran zu erinnern, woher er diese Ideen von Glück und Seligkeit hatte.
Sich daran zu erinnern, woher er wirklich kam.
Und sich mit den Erinnerungen zu offenbaren, wohin er wirklich gehörte.
Wie einem Versprechen auf Antworten, begann er dem Wind zu folgen, der ihn noch immer sanft, aber bestimmt, tiefer in den Wald hinein führte – einen Schritt nach dem anderen setzend.
Mit jedem Schritt verstummte der Protest in ihm – die Frage nach dem „Warum“.
Denn mit jedem dieser Schritte schlug sein Herz stärker unter der Wattierung, als wolle es sich endlich von der Hülle befreien und zwar aus einem tiefen, längst vergessenen und vergangenen Wissen heraus – ein Wissen, das dieses eine, seinige Leben um so viel überschritt, dass es ihm beinahe den Atem raubte, um seinen Weg fortsetzen zu können.
Mit jedem dieser Schritte, bei denen ihn der Wind liebevoll umspielte und nur immer weiter den Weg hinab schob, wurde das Nachklingen in ihm lauter, deutlicher, klarer, in einer schieren Melodie ertönend.
Mit jedem Schritt wusste er, dass das Warten ein Ende hatte.
Es war ihm einerlei, ob er seinen Verstand bloß verlor oder ob diese Sehnsucht ihn wirklich an einen Ort der Antworten führte – so oder so fand diese Reise an diesem Tag ein Ende.
Lauter noch als seine Schritte, die sich eher federleicht, wie beflügelt und beinahe geräuschlos über den unebenen Boden arbeiteten, schlug sein Herz.
So klar, so bestimmt und so aufgeregt wie nie zuvor.
Ein schieres Trommelfeuer purer Aufregung, die mit jedem Schritt weniger zu zügeln war und die wiederum jeden Schritt schneller werden ließ.
Seine Füße trugen ihn von dem Weg herunter, der nach vielen Jahren der stetigen Benutzung Vieler entstanden war, um den Rothaarigen ins dichte, raue und schier undurchdringliche Geäst zu tragen – in die wilde, unentdeckte und unberührte Vielfalt des Waldes.
Als ob sie ihn in Sicherheit wüsste, schob die Sonne sich langsam hinter den Horizont, um die lauernden, stillen und dunkler werdenden Momente der einbrechenden Dunkelheit nun über ihn wachen zu lassen, während er – von Ästen gepeitscht und Gebüsch bedrängt – immer schneller durch die sich in Kühle tauchende Wildnis lief.
Schneller und immer schneller.
Längst nicht mehr auf seine Umgebung achtend, sondern nur noch diesem Klingen in sich folgend, dem Wind, dem stillen Rufen, die alles bedeuteten.
Und von einem Gefühl beflügelt, das ihm so fremd und doch so vertraut vorkam.
Ein Gefühl, das ihn die Kälte des aufkommenden Abends vergessen ließ.
Ein Gefühl, süßer noch als der Frühling und so viel wärmer als der Sommer.
Ein Gefühl, das älter zu sein schien, als das Warten.
Ein Gefühl, das den trüben, dumpfen Schleier des Herbstes von seinem Herzen riss.
Von seinem gesamten Dasein.
Ein Gefühl, das ihm endlich das Ende der Gefangenschaft des Wartens verhieß.
Wie von schweren Ketten erlöst, lief er noch schneller – immer weiter geradeaus und ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden je wieder den Blick zurück zu richten auf die von Anderen beschrittenen, niedergetrampelten Wege.
Und wie von schweren Ketten erlöst, schlug sein Herz wild, frei und glücklich, sich der zeitlosen Schönheit, die er dadurch in diesem Augenblick verkörperte, nicht ansatzweise bewusst.
Er war endlich frei - und das war das Einzige, was für ihn in diesem Moment von Bedeutung war.
Wie ein Blitz durchbrach mit einem Mal ein gleißendes Licht die Dunkelheit, die ihn umfing und auch den schieren Flug, in dem er sich befand.
Blendete ihn.
Und ließ ihn ins Leere treten...
*~*
Es war dunkel.
Doch auch wenn er nichts erkennen konnte, so war ihm der Ort, an dem er sich befand, absolut vertraut und von tiefer Innigkeit erfüllt.
Er kannte die unendliche Weite, die sich hinter der schier undurchdringlichen Schwärze versteckte und deren Schemen in seiner unmittelbaren Umgebung auch dem Auge eine Idee dessen vermittelten, was in weiter Ferne noch verborgen lag.
Er kannte die selige Wärme, die ihn trotz der Finsternis umschloss.
Er kannte das Gefühl, dem dieser Ort ein Zuhause war und das er nach all der Zeit des Wartens unter dem Schleier des Vergessens gebettet hatte.
Aus seiner Brust heraus glimmte ein Licht auf – leicht, schüchtern geradezu und doch wohltuend und erstrahlend, das tiefe Schwarz liebevoll zur Seite schiebend und seiner Umgebung Farbe schenkend.
Zwei Schritt in jede Richtung färbte sich der Grund unter ihm, um eine Fläche aus leicht in Bewegung geratenem Wasser freizugeben, dessen Tiefe nicht zu erkennen war.
Doch auch sie war ihm bekannt.
Die Tiefe dieses Wassers reichte so weit, wie sich die unendliche Weite hinter der Dunkelheit in alle Himmelsrichtungen erstreckte.
Er war schon einmal hier gewesen – vor langer, langer Zeit.
Lange, bevor er dieses Leben auf der Erde angetreten hatte – und auch vor dem Leben davor und dem davor und dem davor...
Lange, bevor er angefangen hatte diese Leben zu zählen und noch länger, bevor er es wieder aufgegeben hatte.
Der in Farben getauchte Lichtkegel breitete sich weiter aus und gab mehr der endlosen Wasserfläche frei, auf der er mit bloßen, nackten Füßen und ebenso bloßem, nacktem Körper stand.
Es war belanglos an diesem Ort.
Dieser Ort, an dem er so rein und pur existierte, wie er war – dieser Ort, der er war.
Dieser Ort, der einst als kleiner See begonnen und der mit jedem Leben mehr Umfang und mehr Tiefe gewonnen hatte – so dass Cedric mit jedem neuen Leben ein wenig länger brauchte, um sich dessen Ausmaßes bewusst zu werden.
Während der Lichtkegel sich immer weiter ausbreitete, legte sich ein Lächeln auf die zarten Lippen, die ihm zueigen waren.
Ein warmes, erfülltes und glückliches Lächeln.
Frei.
Beseelt.
Dies war der Ort, an dem er die Antworten und die Erinnerungen finden konnte, nach denen er so lange gesucht hatte.
Und mit jedem verstreichenden Moment wurde er sich klarer darüber, dass auch der personifizierte Grund für sein Warten sich mit dem Schleier der Finsternis bald lichtete.
Er legte den Kopf in den Nacken.
Während er Erinnerungen an das Gefühl nachhing, das ihn hierher führte, begann sich das Firmament über ihm erahnen zu lassen.
Liebe.
Tiefe Liebe hatte ihn hierher geführt und ihn die Fesseln des Wartens ertragen lassen.
Er liebte – und das schon seit so langer Zeit, dass es ihn nicht mehr kümmerte, wie viel davon vergangen war.
Und er wurde geliebt – und das so bedingungslos, dass es ihn ebenso wenig kümmerte, dass diese Liebe manchmal auch bedeutete, sich hin und wieder in die Gefangenschaft des menschlichen Vergessens begeben zu müssen.
Über ihm trat der Mond aus dem Schleier hervor, der mit fahlem Licht geradezu zärtlich auf ihn herab blickte und genau über ihm im Zenit mit ihm ausharrte.
Es war nicht das erste Mal, dass er für diese Liebe warten musste – und ihm wurde klar, dass es ebenso wenig das letzte Mal gewesen war.
Er ertrug die Leere, die Gefangenschaft und die Ketten, um jedes Mal aufs Neue aus ihnen brechen zu können, wenn die Zeit dafür gekommen war... wenn er sein filigranes, menschliches Herz endlich wieder für dieses kaum zu erfassende Maß zeitloser Ergebenheit öffnen konnte.
So mannigfaltig die Zahl der Leben war, die er hinter sich gebracht hatte, so mannigfaltig waren die Geschichten um diese Liebe, auf die er auch in diesem jetzigen, seinigen Leben gewartet hatte.
Gesteinigt.
Gehängt.
Verflogt.
Gefoltert.
Ertränkt.
Verstoßen.
Enthauptet.
Entehrt.
Erdolcht.
Erschossen.
Es gab kaum etwas, das ihm nicht widerfahren war.
Ein Wind, dem aus dem Wald gleich, kaum auf und strich zärtlich, liebkosend und lockend durch sein Haar, über seine Haut, um sich schließlich, sich darauf legenden Händen gleich, beruhigend über seine Schultern gleiten zu lassen.
In jedem Leben hatte er sich daran erinnert, was es bedeutete diese Liebe wieder in sein Herz zu lassen – und in keinem davon hatte es ihn davon abbringen können es aufs Neue zu tun.
Niemals würde er ihr zu folgen aufhören.
Niemals könnte er dem Wispern widerstehen, mit dem der Wind leise seinen Namen sprach.
Und niemals würde er dieser Liebe einen Vorwurf machen, so lange sie nur immer wieder zu ihm kam und ihn mit Glück erfüllte.
Sünde schimpften sie dieses Glück immer wieder.
Verurteilten es.
Straften es.
Doch es war ihm einerlei – denn irgendwann... irgendwann kam das eine, seinige Leben, in dem diese Liebe vom ersten Augenblick hin bis zum letztem Atemzug so frei war, wie er sie stets in seinem Herzen trug.
Zwei Blitze glommen in der Dunkelheit auf.
Sein eigener, der sich nun mit schier rasender Geschwindigkeit ausbreitete und einen Funken verinnerlichte, der ihn heller, strahlender und schöner machte.
Und ein zweiter, der die Dunkelheit in weiter Ferne verjagte, um einen Kegel aus Licht in seine Richtung zu schicken, der ebenso verzweifelt und von Sehnsucht erfüllt nach ihm suchte, wie es seiner auf der Suche nach dem Anderen war.
Seit sie sich kannten, war dieser Ort nicht nur für ihn alleine bestimmt, sondern hatte dem Anderen stets einen Platz gewährt.
Unter dem Schleier der Dunkelheit umklammerte Einsamkeit sein Herz.
Der Schmerz von Verlust, Trennung, Isolation.
Ein so tiefer Schmerz, dass dieser nur in der Gefangenschaft des Vergessens überhaupt erträglich war.
Manches Leben war ganz ohne den Anderen an ihm vorbei gezogen.
Mit festem, entschlossenen Blick schaute er auf, während der Herbst unter seiner Brust mit jedem Millimeter, den die Blitze aufeinander zu rasten, mehr in Vergessenheit geriet und Frühling und Sommer ihren Platz gewährte, der ihnen seit der ersten Begegnung, die Cedric und den Anderen verband, ihr Eigen war.
Die Einsamkeit und das Vergessen verloren sich unbedeutend irgendwo, um der tiefen Liebe Freiraum zu schenken, die sein Herz in noch immer ungeahnter Sehnsucht und unter einem solch bittersüßen Schmerz umgriff, dass es ihm unmöglich war, die stillen Tränen zu verhindern, die sein von unendlichem Glück geschwungenes Lächeln umrahmten.
Beseelt schloss er die Augen.
Die Folter hatte endlich ein Ende.
Die Zeit des Wartens war vorbei – jeder Zweifel ausgeräumt, jede Frage beantwortet.
Unter einer zeitlosen, inneren Ruhe atmete er tief durch und spürte das ebenso zeitlose Wissen, das er mit dem Anderen teilte, während die Wasserfläche unter seinen Füßen sich glättete, still wurde und ehe die Blitze endlich aufeinander trafen und alles in ein gleißendes Licht tauchten...
*~*
Mit zitternden Fingern strich er sanft über die vom Laufen geröteten Wangen.
Und ebenso wie seine Fingern keine Ruhe fanden, so unstet war auch der Takt seines Herzens, das nicht weniger zwischen Schmerz und unendlicher Liebe schwankte, wie es das dieses zerbrechlichen Wesens tat.
Wie oft nur hatte er versucht ihm dieses Leid zu ersparen...?
Ihnen beiden?
Doch immer, wenn er dieses Wesen vor sich sah, wenn er ihm zu nahe kam, scherte ihn der Schmerz nicht mehr – und fühlte sich doch schuldig, grauenvoll und unwürdig, dass er all das etwas so Zerbrechlichem immer wieder zumutete.
Aber sein Herz war so egoistisch...
Es konnte... es wollte nicht ohne diesen Menschen sein.
So weit er auch floh, so laut schrie es nach ihm, so sehnsüchtig schickte es mit dem Wind nach seinem Namen.
Er konnte nur versuchen sich vorzustellen, wie es für dieses Wesen sein musste, immer wieder zu vergessen und sich erinnern zu müssen... immer wieder sterben zu müssen... für ihn... für sie beide.
So, wie dieses Wesen nur versuchen konnte sich vorzustellen, wie es für ihn selbst war, es immer wieder dem Tod hergeben zu müssen, um ihm dabei zuzusehen, wie es ihn vergaß und doch seinem eigennützigen Ruf immer wieder folgte.
In diesem Leben war es wieder mit so viel Schönheit gesegnet...
Zärtlich glitten seine noch immer zitternden Finger durch das rote Haar, das sich wie Seide anfühlte, obwohl es so kurz war, während seine langen, schwarzen Haare über seine auf die Schultern des Kleinen glitten, um sich scheinbar ebenso eine Berührung dieses wundervollen Wesens zu erhaschen.
So viele Leben nun hatte er versucht ihm zu widerstehen.
Nur um sein eigenes Herz unter solch großem Schmerz zu wissen, dass er der Versuchung doch nachgegeben hatte – der Sehnsucht.
Und all das, obwohl er sehr wohl wusste, dass auch dieses Leben diesem Wesen nicht die Erlösung war, nach der es ihnen beiden seit so langer Zeit dürstete.
Nein...
Auch jetzt war diese Welt nicht bereit.
Die Menschen waren es nicht...
Keiner von ihnen...
Außer diesem einen, der vor ihm lag und sich an all die Leben erinnerte, in denen es nicht anders gewesen war und der doch von so viel Sehnsucht und so tiefer Liebe immer wieder zu ihm gelockt wurde, dass es den Schmerz der Trennung in ihm - den ohne Namen - durch den der Reue ersetzte.
Sie waren hier, weil sie nicht aufhören konnten, einander zu lieben.
Gedankenverloren betrachtete er das zarte Gesicht, das liebevoll vom Laub des frühen Herbstes umschmeichelt wurde – ebenso wie von dem seichten Schein, der aus seinem eigenen Dasein entsprang.
Und er wusste, dass er dem Herz dieses Wesens nie würde widerstehen können.
Egal wie oft er das noch zu tun versuchte.
Es war lange her, dass er jedes Gefühl, jede Regung und jeden Beweggrund der Menschen verstanden hatte.
Damals, als er noch einer von ihnen gewesen war.
Das Einzige, was sein Herz nie loszulassen gewillt war, das waren der Schmerz und die Liebe, die ihn wohl bis ans Ende aller Zeiten mit diesem wundervollen Wesen verbanden.
Er verstand nicht, wieso diese Liebe so groß war, dass dieser Mensch immer wieder zu ihm fand, egal was dieser erlebt und dafür ertragen hatte.
Er verstand nicht, wieso es ihm selbst so schwer fiel, diesem Menschen widerstehen zu können, dem sein Herz ebenso gehörte, wie seiner Berufung.
Er verstand nicht, wie es möglich war, dass ein Mensch und ein Engel in so tiefer Liebe miteinander verbunden waren, dass daraus ein ebenso tiefer Schmerz entstehen konnte.
Ein bittersüßes Lächeln schlich sich auf seine Lippen, ehe er leicht seinen Kopf schüttelte.
Es war nicht nötig all das zu verstehen.
Im Grunde war es ausschließlich von Bedeutung, dass nichts auf dieser Welt – Menschen, Göttlichkeit oder andere Mächte – imstande schien, diese Liebe wirklich zu erschüttern.
Sie mochten Zweifel schüren, ihnen Hürden sein und ihnen so manches Mal das Beisammensein erschweren...
Aber den Lockruf, den sie nacheinander verspürten;
das Band, das sie beieinander hielt;
diese unbeschreibliche Liebe, die sie beide – jeglichen Umständen stets zum Trotz – immer wieder zueinander führte, war in jedem Leben und unter allen erdenklichen Umständen nie versiegt.
Er als Engel ahnte um die Bedeutung, die all dies besaß.
So sehr sein Herz in manchem Moment in Zweifeln ertrank und so sehr er sich um seiner Liebe Willen manchmal wünschte, dass dieses Elend endlich ein Ende haben mochte, so sehr der Schmerz in seinem Innersten tobte, so sehr die Menschen es nicht begriffen und so sehr die Qual des Wartens an ihnen beiden zerrte...
So groß musste das Maß der göttlichen Liebe sein, die über sie wachte.
Selbst er konnte sich nicht im gesamten Umfang vorstellen, wie groß dieses Maß war, auch wenn er wohl derjenige war, dessen Verständnis dafür am Tiefsten reichte.
Er kannte das Maß göttlicher Liebe.
Ebenso kannte er die Grenzen dessen.
Göttliche Liebe gab – unglaublich viel.
So viel, dass es dem Bewusstsein eines Menschen niemals ein annähernd klares Bild vermitteln mochte, da sie weit über die Grenzen des Wahrnehmbaren hinausging.
So viel, dass nicht einmal ein Engel dieses Bild in seiner gesamten Pracht zu erkennen fähig war.
Und doch...
Und doch formte sich das Bild in ihm selbst, das er davon stets bei sich trug, mit einem Mal noch etwas deutlicher.
Ja.
Die göttliche Liebe ließ sie durchaus einen Preis für den Weg zahlen, den sie erwählt hatten.
Unter normalen Umständen hätte sie es nicht zugelassen, dass er nun hier verweilte, über dieses Wesen gebeugt und in unstillbarer Sehnsucht darauf wartend, dass dieser Mensch bloß seine Augen öffnen mochte – denn er war ein Engel und seine Liebe, seine gesamte Existenz sollte alleine der göttlichen antworten.
Doch das tat sie nicht...
Sie rief stets auch nach diesem Menschen.
Immerzu.
Überall.
Ein Weinen so alt und von Schmerz gezeichneter Liebe erfüllt, wie er es selbst war.
Für einen Menschen mochte das grausam wirken und vielleicht war es das auf eine merkwürdige Art und Weise sogar.
Ihn jedoch erfüllte dieser Gedanke mit einem Gefühl der Zärtlichkeit.
Es war eine Chance – für sie beide.
Nichts war ihm in Bezug auf dieses Wesen, das er aus so tiefem Herzen liebte, verboten worden.
Nein.
Er besaß die Freiheit diesen Sterblichen zu lieben und diese Liebe mit jedem Leben wachsen zu lassen – sie zu bewähren.
Wer war er schon, dass er dieses göttliche Urteil mit Zweifeln infrage stellte...?
Die göttliche Liebe musste in diesem Wesen auch etwas sehen, das sein Herz unbemerkt längst erkannt hatte.
Was es war, kümmerte ihn nicht.
Selbst wenn ihm das Urteil eines wieder sterblichen Lebens auferlegt würde, er könnte nicht aufhören seinem Herzen zu diesem Menschen zu folgen.
Aber dieses Urteil war ihm nicht zuteil geworden.
Und so blieb ihm nur eine Möglichkeit...
Diesem Menschen mit der Liebe zu antworten, die diesen immer wieder zu ihm führte.
Unter allen Umständen.
In allen Leben.
Seit er sich zurückerinnern konnte.
Für immer.
Und... in grenzenloser Freiheit.
Selig spürte er den Wind, der sie liebevoll zu umarmen schien, während all seine Zweifel mit den auffrischenden Brisen hinfort getragen wurden, um dem sehnlichen Glück in seinem Herzen für diesen Augenblick den einzigen Platz zu gewähren.
„Ich liebe dich.“, hörte er seine eigenen gehauchten Worte über seine Lippen streifen, wie einen warmen Windhauch im Frühling, der mit der Sonne in inniger Umarmung tanzte, als sich die Augen unter dem roten Haar öffneten, die ihm so vertraut waren.
Nie hatte dieses Wesen andere Augen besessen.
Und nie hatte er sie mit denen eines anderen Menschen verwechseln können.
Ein stetiger Wechsel aus Grün, Blau, Grau und einem Funkenschlag Braun, der nie derselbe war und mit jedem Leben, das an diesem Menschen vorbei gezogen war, mehr die wahre Seele dahinter preisgab – viel älter, als es der junge Körper vermuten ließ; viel weiser, als es die menschliche Hülle wirklich vollständig zu nutzen fähig war.
Und von einer Liebe erfüllt, die ihn umfing, wie die Wärme eines jungen Julitages und die ihn Demut lehrte, wie der erste Atemzug allen Seins.
Das zierliche Gesicht verzog sich – nur leicht - bis ein umwerfendes Lächeln die vollen Lippen schmückte, ehe eine ebenso tiefe, wie sanfte Stimme an seine Ohren drang und ihn endlich aus der Qual des Wartens befreite.
„Lass uns nach Hause gehen. Es war ein langer Herbst...“
-Ende-
Texte: Alister Graham
Tag der Veröffentlichung: 16.08.2017
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich möchte dieses Buch all den Menschen widmen, die mir das Geschenk aufrichtiger Liebe gemacht haben.
Es war ein langer Weg für mich, der für viele Menschen bedeutete auf mich warten zu müssen - und ich danke jedem einzelnen davon, dies auch getan zu haben.
Ich danke jedem, der mich nur ein Stück begleitet hat oder noch heute an meiner Seite wandert, auf dem Weg den ich gewählt habe.
Ich danke der Liebe, dass sie mir zum größten Teil meines Herzens wurde, das lange unglücklich gewesen ist.
Und ich danke meinem größten Fan, der mir ein treues Geleit im täglichen Leben ist und mir keinen Tag wie den anderen gestaltet, der mein Herz mit jedem Gefühl erfüllte, das es zu entdecken gibt, mir die Bedeutung von "Leben" vermittelt hat und mir den Weg zu meiner wahren Große gezeigt hat, die über meine 1,69m weit hinaus geht, die ich bis heute noch gar nicht vollständig entdecken konnte und die mich doch jeden Tag aufs Neue in Erstaunen versetzt.