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Epilog

„Bitte, bitte, Bruder. Nur noch einmal, dann werde ich dich nie wieder darum bitten, versprochen.“

 

Er seufzte, lächelte dabei aber mild, blickte auf das krause, blonde Haar seiner kleinen Schwester herab und verfiel für einen Augenblick in eine Stimmung der Melancholie...

Ehe er schließlich doch nickte, sich kurz streckte und den Kopf in den Nacken legte, während die Bettdecke unter dem aufgeregten Zappeln des Mädchens raschelte.

 

„Gut, Jenny. Dieses eine Mal noch will ich dir die Geschichte erzählen.“, antwortete er sanft und spürte, wie das kleine Mädchen sich endlich hinlegte, die Decke bis zum Kinn heranzog und ihn aus erwartungsvollen, blauen Augen ansah.

„Aber es ist das letzte Mal.“

Innerlich seufzte er auf.

Er sagte jeden Abend, dass es das letzte Mal war – und das nun seit bereits vier Jahren. Jennifer wurde diese Sage einfach niemals langweilig und sie lauschte seinen Worten jeden Abend so, als hörte sie diese zum ersten Mal in ihrem Leben.

Dieses Mal jedoch würde er am folgenden Abend tatsächlich nicht zu ihr kommen, um die Geschichte erzählen zu können.

 

Und auch nicht an dem Abend darauf oder dem darauf folgenden...

 

Mit einem beinahe bitteren und doch irgendwie glücklichen Lächeln wandte er sich ihr zu, blickte in die lebendigen, blauen Augen, die noch immer voller Vorfreude auf ihm lagen, faltete seine Hände auf seinem Schoß, schloss die Augen und atmete einmal tief durch – wie jedes Mal, wenn er Jenny mit dieser Sage in den Schlaf wog.

 

„Es war einmal ein junger Flussgott, der wild und ungestüm war. Er liebte es, frei und ungehalten durch die Gegen zu fließen, wie es ihm gerade passte. Stets trug er sein Herz aus Gold mit sich und hütete es, wie einen Schatz.

Am Meisten mochte er es, wenn der Regen seinen Rücken kraulte.

Eines Tages traf er auf eine wunderschöne Erdgöttin, die ihren Körper so weit ausgebreitet hatte, wie die Augen nur reichten.“

Er legte eine Pause ein.

Schwieg einfach.

Und wartete – wie jedes Mal an dieser Stelle.

Die Decke raschelte und ein Kichern drang an sein Ohr: „Wie sah die Göttin aus?“

Diese Frage kam schließlich auch bei jedem Mal und mit einem Lächeln setzte er seine Erzählung fort.

„Die Erdgöttin kleidete sich in einem saftigen, grünen Kleid. Ihre Haare waren aus den schönsten, gesündesten und grünsten Bäumen gemacht, die sich sanft im Wind wogen.

Um ihren Hals trug sie Perlen aus massivem Stein und ihr Kopf reckte sich als Berg dem Azur des Himmels entgegen.“

 

Er sah Jenny an und lächelte liebevoll.

Ihre Augen waren bereits halb geschlossen und sie versuchte unter großer Anstrengung wach zu bleiben, um die Geschichte auch bis zum Ende zu hören, was ihr in den vier Jahren noch nicht einmal gelungen war.

 

„Unter ihrer Haut trug sie ein Herz aus Eisen, das schwer durch ihren Körper pulsierte.“, sprach er sanft und hoheitsvoll weiter.

„Mit ihrem stolz erhobenen Kopf konnte sie so den Flussgott sehen, wie er eines Tages ihrer Wege kam und sie neugierig betrachtete – und auch das Herz aus Gold, das er unter seiner Brust trug.

Mit einer verlockenden Stimme wandte sie sich dem Flussgott zu, dessen goldenes Herz ihre Sinne verzauberte und sprach diesen an, er möge doch einen Augenblick bei ihr verweilen.

Zehn Jahre und Nächte tänzelte der Flussgott um die Erdgöttin herum.

Sie redeten und verbrachten eine schöne Zeit miteinander, doch das Herz aus Gold und das aus Eisen kamen sich einfach nicht näher, so sehr es sich die Göttin auch ersehnte.“

 

Allmählich fielen Jenny die Augen immer häufiger zu.

 

„Verzweifelt flehte sie den Flussgott an, er möge sich doch endgültig zu ihr legen, damit sie in einer ewig währenden Umarmung verweilen könnten, doch er scheute sich, wollte seine Freiheit nicht hergeben.

Da weinte die Erdgöttin und es erschütterte ihren unberührten Körper so sehr, dass er aufriss und ihr stumpfes Herz aus Eisen freilegte, das darunter zum Vorschein kam – in wilden, ungestümen Bahnen, die ihrem zerreißenden Weinen glichen.

Dem Flussgott tat seine egoistische Entscheidung plötzlich leid und er wollte die Erdgöttin trösten, also legte er sich in die Risse hinein und schützte ihren zerbrechlichen Körper.“

 

Ein leises Schnarchen ließ ihn kurz innehalten, seinen Blick auf Jenny richten, die bereits schlief und schließlich lächeln.

Er war noch nie böse darum gewesen, dass seine kleine Schwester niemals das Ende der Geschichte gehört hatte – es hätte dem blonden Mädchen die Freude daran genommen.

Dennoch erzählte er, wie jeden Abend, die Geschichte zu Ende.

Er hatte es ihr versprochen und dieses Versprechen hielt er eisern, ganz gleich, ob sie die Worte vernahm oder nicht.

 

„Doch die Erdgöttin hatte den Flussgott getäuscht und zog ihn in eine Umarmung, aus der er sich nicht mehr entwinden konnte.

Sein Körper versickerte immer mehr in den ausgetrockneten Rissen ihrer Wunden und sein Herz aus Gold wurde ihm so schwer, dass es sich im Sand ihrer Verletzungen verlor – und ohne das er nicht mehr frei sein konnte.

Der Flussgott wurde so wütend darüber, dass er im Gegenzug dazu stets die Wunden im Körper der Göttin offen hielt, an ihnen scheuerte und sie immer tiefer in ihren Körper grub, um auch Teile ihres Herzens aus Eisen mitzureißen.“

 

Sein Blick wurde mit einem Mal wieder melancholisch – von einem gewissen Schmerz erfüllt, der ihn immer wieder eine Pause an dieser Stelle einlegen ließ.

Es war eine bedrückende Geschichte und er hatte noch nie verstanden, wieso sie sich über so viele Generationen immer weiter erzählt wurde... ebenso wenig, wie er verstand, wieso er sie jeden Abend seiner kleinen Schwester erzählte.

Diese Legende war nichts weiter, als eine dumme Geschichte, die sich Menschen ausgedacht hatten, um die Natur in ihrer Umgebung zu beschreiben, in der sie sich bis heute angesiedelt hatten.

 

Mit einem lautlosen Seufzen blickte er aus dem Fenster nach draußen, in die Dunkelheit, in der ihn der Wald, das Gebirge und auch der Fluss umgaben.

 

„Der Himmel weinte viele Tage und Nächte, weil sich die Erdgöttin und der Flussgott einfach nicht aufhören wollten Schaden zuzufügen, bis er schließlich in Wut resignierte und ihnen beiden eine Strafe auferlegte.

Er band sie unzertrennlich aneinander und sandte die Menschen in die Welt hinaus, die mit Werkzeugen in den Körper der Erdgöttin schlugen und ihrer beider Herzen im Körper des Flussgottes wuschen, um die Herzen Stück für Stück zu entreißen, bis schließlich kein Splitter davon mehr übrig war und die beiden Gottheiten ihr einstiges Leben endgültig verloren...“

Kurz stockte er – und wisperte die letzten Worte beinahe lautlos.

„Und sie starben. Was blieb waren die erschütternde Trauer der Erdgöttin, die Menschen unter ihren Beben begrub und die Wut des Flussgottes, die Menschen in die Tiefen seiner Wogen riss - um ihnen das zu nehmen, was den Beiden einst entrissen worden war...“

Kapitel 1: Freunde

 

Mit einem tiefen Einatmen lockerten die schmalen Finger für einen Augenblick ihren klammernden Griff um die Schnalle der Reisetasche, die sich seit einer knappen Viertelstunde in das dortige Fleisch gebohrt hatte – nur um sich mit dem Ende des ebenso tiefen Ausatmens wieder fest darum zu legen.

 

Vor dem jungen Mann, dem die zarten Finger gehörten, eröffnete sich eine in üppig wachsende Büsche eingebettete Einfahrt.

Zu beiden Seiten türmte sich eine hohe, aus Stein fundamentierte und mit schweren Eisengittern versehene Mauer auf, durch deren Freiräume sich das Geäst der Büsche zwängte und bis auf die Straße reichen zu wollen schien.

Nur wer wusste, dass hinter all dem wild wuchernden Grün ein bewohntes Haus lag, der konnte es finden.

 

Nichts in diesem kleinen Ort war so, wie er es aus der Großstadt kannte.

 

Kaum ein Auto fuhr auf den Straßen, die Menschen radelten oder gingen ihrer Wege, grüßten freundlich und schienen einer Ruhe zu frönen, die nur langsam in sein Bewusstsein drang – von der er jedoch genau wusste, dass sie Balsam für seine Seele sein würde.

 

Das Haus seines Freundes jedoch lag selbst von diesem winzigen Ort so weit abgelegen, dass es beinahe wie ein Relikt aus längst vergessenen Tagen inmitten des Waldes thronte und nur darauf wartete endlich wieder entdeckt zu werden.

Eine Viertelstunde Fußmarsch trennte es von der letzten Bushaltestelle, die es im Umkreis von Meilen gab.

 

Ja, dies hier war genau der Ort, nach dem er sich seit über drei Jahren schrecklich gesehnt hatte – und er war überglücklich, dass sein Freund Lennon es ihm ermöglichte den Sommer über hier bei ihm zu verbringen.

Fernab der Heimat und doch mehr Daheim, als es New York je würde sein können.

Ein kleiner Ort, dessen Namen er sich nie hatte merken können, der ihm allerdings auch gleichgültig war.

Was diesen Ort mit so viel Heimat füllte waren die Natur, die Erinnerungen und der Freund, der ihn immer mal wieder hierher einlud, um den Kopf frei zu kriegen.

 

Mit einem zutiefst zuversichtlichen Seufzen stieß er sich mit dem linken Fuß ab, um seinen Marsch die Einfahrt hinauf fortzusetzen.

Vorbei an grün untermalten und mit farbenfrohen Blüten versehenen Büschen, einen gepflasterten Weg hinauf, der in einer Linkskurve eine kleine Anhöhe emporführte.

 

Je weiter er schritt, umso klarer konnte er das Haus am Ende des Grundstückes erkennen.

Es lag auf der Kuppe der Anhöhe und strafte den Eindruck Lügen, den man sich am Fuße des Anwesens davon machte.

Statt eines fest erwarteten, verwitterten Geisterhauses, erblickte man ein modernes, helles und mit vielen freundlichen Glasfronten versehenes Gebäude – es war ein hochmoderner, zweistöckiger Bungalow und kein veraltetes, heruntergekommenes Spukschloss.

 

Es dauerte ein paar Minuten, bis auch dieses Stück Weg endlich hinter ihm lag und sich ihm eine atemberaubende Aussicht darbot.

Die Architektur war gewitzt und fantastisch angelegt.

Von der Straße aus sah man nicht viel mehr, als die hohe Mauer und die wild wuchernden Gebüsche – von der Anhöhe inmitten des Hofes, auf dem der Bungalow gebaut war, erblickte man jedoch, von der Straße abgesehen, in alle Richtungen den gesamten Wald, der dieses Grundstück umgab.

 

Kurz hielt er inne, ließ die Schnalle seinen Fingern entgleiten und schloss die Augen mit einem weiteren, tiefen Atemzug.

Nachdem das ratschende, künstliche Geräusch der auf den Pflastersteinen aufkommenden Tasche verklungen war, legte sich eine für den jungen Mann atemberaubende „Stille“ über ihn, der er zu lauschen begann...

Dem Flüstern des Windes in den Blättern der Baumkronen.

Dem leise hörbaren Rauschen des anliegenden Flusses.

Dem Gezwitscher unzähliger Vogelarten, von denen er die Hälfte vermutlich noch nie zu Gesicht bekommen hatte.

Dem gelegentlichen Summen von Fliegen, Bienen, Hummeln oder anderen Insekten, die zufällig in seiner Nähe vorbeiflogen – um so rasch zu verschwinden, wie sie aufgetaucht waren.

 

Der darunter liegenden, friedlichen und zutiefst beruhigenden Stille, die ihm von Allem am Lautesten in den Ohren klang.

 

Eine Stille, die es ermöglichte, bis tief in sein Selbst zu lauschen, wenn es so weit war, um endlich wieder Inspiration finden zu können;

nach der er in seiner Heimat so vergeblich gesucht hatte, dass er beinahe den Verstand darüber verloren hatte;

die ihn in diese Einöde gelockt hatte mit ihren süßen, geräuschlosen Rufen nach Erholung, Labung und dem ersehnten Kuss der Muse.

 

Das leise Knarzen von Scharnieren und das Schaben von Lederabsätzen auf sandigem Stein donnerte geradezu unverschämt durch diese natürliche Stille, der er so belebt gelauscht hatte.

Er öffnete seine Augen und konnte sich ein Lächeln trotz der ungebetenen Störung nicht verkneifen.

Statt sich zu ärgern, ließ er seine Tasche unbeachtet stehen und eilte schnellen Schrittes dem Träger der Lederabsatzschuhe entgegen, bis sich die beiden Freunde mit einem erleichterten Auflachen in die Arme fielen und fest aneinander drückten.

 

„Lennon!“, seufzte er aufrichtig erfreut und glücklich in die Umarmung, ehe sie sich ein Stück weit wieder voneinander lösten und gegenseitig ansahen – und er mit einem Lächeln weiter sprach. „Ich danke dir so sehr für diese Einladung und ich bin froh dich mal wiederzusehen. Du siehst gut aus.“

 

Und das tat der Andere wirklich, wie er mit einer kleinen Portion Neid zugeben musste.

 

Die schwarzen Haare waren seit ihrem letzten Treffen ein wenig länger geworden und zu einem legeren Zopf gebunden, der seinem Freund über der Schulter lag.

Unter einem angedeuteten Pony aus vereinzelten, entwischten Haaren blickten ihn zwei rehbraune Augen strahlend an.

Die feine, schlicht elegante und edle Kleidung schmückte den schlanken Körper ausgezeichnet, wie er es von Lennon immer gewohnt war.

Die hellen Lippen des Größeren formten sich zu einem Lächeln purer Freude, als dieser ihn ebenso neugierig musterte, wie er ihn und einen ganzen Augenblick an diesem Ausdruck tiefer Seligkeit nichts ändern wollten.

 

„Abel, mein Freund.“, ertönte nach einer Weile schließlich doch die jedes Mal unerwartet sanfte Stimme seines Gastgebers. „Mein Heim soll dir stets ein zu Hause sein, auch ohne ausdrückliche Einladung meinerseits.“

Abel schmunzelte innerlich.

Da war er schon der Schriftsteller unter ihnen... und doch sprach Lennon stets wie ein Poet.

 

Dieser hakte sich mit einem zufriedenen Ausdruck auf dem Gesicht in einer eleganten Drehung bei ihm ein, sah ihn spitzbübisch von der Seite an, dirigierte ihn mit sanften Schritten in Richtung Eingangstür und schüttelte leicht den Kopf: „Mach dir bitte keine Gedanken um deine Reisetasche – ich werde nach Maurice schicken, sobald wir im Haus sind.“

Die Gewitztheit in den Augen vermischte sich mit einer großen Portion Sympathie und Wohlwollen.

„Ich bin immer wieder erstaunt darüber, wie du alles Nötige in eine solch kleine Tasche bekommst.“, setzte Lennon unbeirrt, aber sanft fort. „Aber sei unbesorgt, ich werde mich darum kümmern.“

Der Größere sah, wie Abel zu einer Antwort ansetzte und sprach abermals weiter, um eine Gegenwehr im Keim zu ersticken.

„Ich weiß, was du sagen willst – und ich dulde es nicht.“

Langsam schlenderten sie auf die imposante Haustür des noch imposanteren Gebäudes zu.

„Abel, mein Lieber, wir sind Freunde – und was für ein Freund wäre ich, hälfe ich dir nicht? Es bereitet mir Freude dir etwas zu schenken und dir etwas zu geben, das deinem Naturell gerechter wird, als deine Kleidung weismachen will.“

 

Mit einem Seufzen wandte er den Blick ab.

 

Es war jedes Mal dasselbe, wenn sie sich sahen.

Und ja, es war ihm bei all der Wiedersehensfreude jedes Mal unangenehm, egal wie häufig Lennon versicherte, dass es kein Problem sei.

 

Abel verdiente als Schriftsteller nicht schlecht, aber er war noch nicht lange dabei. Er konnte sich eine kleine Wohnung leisten und legte ohnehin keinen großen Wert auf Luxus oder besonders auserwählte Dinge, sondern schätzte eine gewisse Einfachheit.

Er war belesen, intelligent, kreativ und stand mit beiden Beinen im Leben, auch wenn sein Weg bis zu diesem Punkt beschwerlicher gewesen sein mochte, als für die meisten Anderen.

Er las gerne Bücher, beobachtete gerne Menschen und beschäftigte sich mit Sprache und Kommunikation am Liebsten auf dem Papier.

Er war ein einfacher Mann, der diese Simplizität auch in allem ausstrahlte, was er tat oder trug.

 

Kurz gesagt ein schmächtiger, kleiner Bücherwurm, der mit seinen 29 Lebensjahren auch noch immer diesen kleinen Bücherwurm in seiner gesamten Ausstrahlung verkörperte – ein bisschen langweilig, ein bisschen bieder, stets gepflegt, höflich, aber distanziert und niemals wirklich auffällig.

Ein fast Dreißigjähriger, der aussah, wie ein brav gewordener Teenager.

 

Sie traten durch die Tür in eine weitläufige, hell erleuchtete und gleichermaßen schlicht, wie edel eingerichtete Wohnküche hinein, die beinahe die gesamte untere Etage dominierte.

Lediglich eine frei schwebend wirkende Treppe, sowie zwei dezent in das Mobiliar integrierte Türen ließen erahnen, dass dieser riesige Raum hinter seinen Mauern noch viel mehr zu entdecken bot.

Abel verschlug es jedes Mal die Sprache, wenn er in diesen Raum trat, der um so vieles größer war, als seine gesamte Wohnung.

Hinter der Fensterfront auf der ihnen gegenüberliegenden Gebäudeseite eröffnete sich eine Terrasse, deren Ausmaß er bloß aus dem Grund erahnen konnte, weil er es kannte – und doch überraschte ihn das wundervolle Arrangement der Botanik, das jedes Mal ein wenig anders war, immer wieder aufs Neue.

 

Das gesamte Gebäude sprach von einem edlen, aber doch so unglaublich schlichten Geschmack, der dennoch nicht fähig war Lennons Persönlichkeit so widerzuspiegeln, wie es Abel stets in jedem gemeinsamen Augenblick empfand.

 

Lennon war kurz gesagt etwas Besonderes – ihm selbst in dieser ruhigen Art sehr ähnlich und doch so viel exquisiter.

Der Schriftsteller hätte Seiten - wenn nicht Bücher - damit füllen können, in denen er versuchte diese einmalige Art zu beschreiben und in Worten einzufangen, ohne es wirklich zu schaffen.

 

Irgendwann hatte er sich darauf beschränkt seinen Freund als reinste aller Perlen zu beschreiben.

Eine Perle von außen;

mit einem Aussehen, das keinen Makel zu dulden schien.

Eine Perle im Geiste;

belesen, weise, witzig und weitsichtig – ein Mann, der auch dort keinen Makel aufzuweisen gewillt war.

Aber vor allem eine Perle im Herzen;

mit einer Aufrichtigkeit und Gutmütigkeit gesegnet, die der frommste Mensch dieser Welt nicht mit einer solchen Selbstverständlichkeit und Makellosigkeit zu verkörpern fähig war, wie dieser an Geld erstickende, sanfte, alles teilende Mann.

 

„Maurice.“, klang die sanfte Stimme seines Gastgebers gut hörbar durch den Raum, ehe sie verklang und sie beide an den großen, hellen Esstisch traten, es sich auf den Stühlen dort bequem machten und kaum einen Atemzug später die gute Seele des Hauses mit beinahe geräuschlosen Schritten aus dem Nebenraum zu ihnen geeilt kam.

Mit einer leichten Verbeugung begrüßte er sowohl den Hausherren, als auch den Besucher, lächelte freundlich - geradezu glücklich - und sprach mit einer rauen, aber freundlichen Stimme: „Was kann ich tun, Sir?“

 

Lennon erwiderte das Lächeln warm.

„Maurice, sei doch bitte so gut und hole Abels Gepäck ins Haus, bringe es auf das große Gästezimmer und richte ihm alles her. Danach kannst du Feierabend machen. Wir kochen heute selbst – sei bitte nachher unser Gast.“

 

Abel blickte dem betagten Mann nach und konnte sich nicht erwehren von diesem warmen Lächeln angesteckt zu werden, angereichert mit der melancholischen Stimmung seiner Erinnerungen.

Maurice begleitete Lennon schon, seit Abel ihn in der Schule kennengelernt hatte.

Er war kein bloßer Butler, sondern viel mehr eine Vaterfigur, ein Mentor, ein Faktotum und... ein Freund.

Wer die beiden Männer nicht kannte, der konnte schnell zu dem Trugschluss kommen, dass ein verwöhnter junger Erbe sich in einem viel zu großen und viel zu teuren Haus von einem in die Jahre gekommenen Mann bedienen ließ und mit dem Geld nur um sich warf – allerdings konnte nichts der Realität ferner sein.

 

Lennon bezahlte von einem Anteil der Zinsen, die sein Vermögen abwarf, die laufenden Kosten des Hauses und alles, was er und Maurice zum Leben brauchten.

Ein anderer Teil der Zinsen ging anonym an Wohltätigkeitsgesellschaften.

Das Vermögen selbst war nicht nur gut angelegt, sondern testamentarisch bereits zugunsten einer ausreichenden Altersvorsorge und einer exorbitanten Spende an jede erdenkliche Hilfsorganisation geregelt worden, sobald Lennon starb.

Die wachsenden Zinsen investierte er hin und wieder in sein Privatleben oder in das enger Freunde, wie Maurice oder Abel.

 

Das war die Wahrheit über die reinste aller Perlen.

 

„Abel.“

 

Aus seinen Gedanken gerissen schreckte der Autor auf, blickte seinen Freund an und krächzte mehr, als dass er sprach: „Ja?“

Der Ausdruck in Lennons Augen wurde tief besorgt, als dieser ihn intensiv musterte und sich ein wenig zu ihm herüber lehnte.

„Hast du Sorgen? Läuft es wirklich gut mit der Arbeit? Du weißt, dass ich...“

 

Mit einer ausschweifenden Handbewegung und einem energischen Kopfschütteln unterbrach er Lennon und seufzte.

„Das weiß ich doch.“, sprach Abel noch immer mit belegter Stimme. „Es ist nicht so, dass ich das nicht weiß oder zu schätzen weiß... Es ist nur so...“ Er seufzte ein weiteres Mal und versuchte dem durchdringenden Blick des Anderen auszuweichen.

„Weißt du... seit fast einem halben Jahr habe ich keine zwei Absätze fertig bekommen... Anfangs dachte ich, dass ich einfach nicht die richtige Geschichte vor mir liegen habe und begann Ideen zu sammeln.“

 

Unter einer tiefen Verzweiflung, die doch weit mehr an ihm nagte, als er sich da bisher hatte eingestehen wollen, blickte er schließlich doch zurück und antwortete dem besorgten und verständnisvollen Blick mit einem stummen Hilfeschrei.

 

„Nichts hat geholfen.“, fuhr er nach endlos scheinenden Sekunden beinahe flüsternd fort. „Keine Idee kam überhaupt zu einem Ende, zu einem reifen Konzept. Ich weiß mir keinen Rat mehr.“

Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar – eine Geste, die eine Angewohnheit seinerseits war, wenn er nicht mehr weiter wusste.

„Es ist wie ein schwarzes Loch.“

Abel zuckte hilflos mit den Schultern und richtete seinen Blick in Richtung Fensterfront, hinter der die Terrasse zu finden war.

„Ich habe, nachdem auch keine Idee fertig wurde, angefangen zu überlegen, ob in meinem Leben etwas nicht in Ordnung ist – aber auch dort war ich nicht in der Lage etwas zu finden, das Grund zur Sorge veranlasst.“

 

Er sah seinen Freund wieder an.

Intensiv und in tiefer Überzeugung.

„Ich kann alle meine Rechnungen bezahlen, auch nach diesem halben Jahr noch.“, erklärte er sicher, aber ratlos. „Es neigt sich allmählich dem Ende, aber die Kurzgeschichten, die ich vor drei Jahren hier fertig bekommen und angefangen habe, waren ein schierer Segen – finanziell vor allem. Noch habe ich ein paar, die ich dem Magazin geben kann, aber sie werden mich nicht ewig über Wasser halten können.“

Wieder mit den Schultern zuckend, blickte er zu Boden, während er Maurice wieder ins Haus kommen hörte.

„Ich habe keine finanziellen Sorgen, meinen Eltern geht es gut – wir telefonieren hin und wieder miteinander – ich habe keinen Liebeskummer und auch keinen Stress mit irgendwelchen Menschen. Ich habe gute Freunde, gehe gelegentlich aus und es mangelt mir an nichts.“

 

Maurice eilte schnellen Schrittes an ihnen vorbei die Treppe hinauf, sich sehr bewusst darüber, dass die beiden Freunde in einem Gespräch vertieft waren, das sehr persönlich war.

Der Ältere versuchte nichts mitzubekommen oder die Atmosphäre zu stören und verschwand so schnell, wie er gekommen war.

 

Lennon indes legte eine Hand auf Abels und hielt diese fest, als er sie – vor Schreck einerseits und vor Verlegenheit andererseits – wieder wegziehen wollte.

 

„Mach dir keine Sorgen. Bisher hast du hier immer so viel Inspiration tanken können – und ich werde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, damit das auch dieses Mal wieder so sein wird.“, sprach die ruhige Stimme auf ihn ein.

Die rehbraunen Augen durchdrangen ihn regelrecht und versprühten so viel Zuversicht, dass es ihm schon beinahe unangenehm war... Und doch spiegelte sich auch etwas in ihnen wieder, das Abel die Kehle regelrecht zuschnüren wollte.

„Du hast so viel Talent und es braucht nur ein wenig Nachhilfe, um es wieder in seinem gewohnten Glanz erstrahlen zu lassen.“

Selbst der Ton in Lennons Stimme vibrierte leise, kaum merklich in einem nicht gewohnten Klang.

„Ich... verspreche es dir.“

 

Er konnte es nicht recht erklären...

Beinahe wirkte es wie Verzweiflung, die er von Lennon nicht kannte und durch die er sich so fühlte, als beflecke er die perfekte Perle mit seiner Gewöhnlichkeit.

 

Nur eine einzige Sache schoss wie ein Blitz durch seinen Verstand - klar, deutlich, taghell und nur für den Bruchteil einer Sekunde...

 

Er würde kein einziges Wort zu Papier bringen können – auch hier nicht.

Kapitel 2: 3:07 Uhr

 

Die zarten Finger lagen beinahe zärtlich auf den Tasten des Notebooks, dessen weiß leuchtender Bildschirm die Dunkelheit des Zimmers durchbrach.

Zitternd kamen die Fingerkuppen immer wieder auf der Tastatur auf, so dass ein leises, klapperndes Geräusch ertönte – kaum fähig das Dröhnen des Prozessors zu übertönen – und doch kein Buchstabe auf dem digitalen Schriftstück erschien.

 

Das leichte Beben in den Händen erfasste beinahe den ganzen Körper.

 

3:07 Uhr.

 

Unter einem wütenden Aufknurren des Autors lösten sich die Finger von den Tasten, legten sich auf die Kante des Bildschirms und drückten ihn ruppig hinunter, bis er mit einem Klacken einrastete.

Nach einigen Sekunden erlosch das Licht und der Prozessor schaltete sich ab.

 

Es wurde dunkel.

Und still...

 

Abel starrte noch immer auf das Gerät, presste die Finger auf die glatte Oberfläche, zitterte noch immer am ganzen Körper und schüttelte regelrecht verkrampft den Kopf.

 

Er hatte wirklich gedacht, dass sich zumindest eine Besserung nach diesem wundervollen Tag einstellte – doch nichts...

Kein einziges Wort tauchte auf dem mittlerweile schon verhassten Bildschirm auf, der ihn nur aus dem großen, weißen Augen anstarrte und spottend darauf wartete, dass er das Weiß mit einer Geschichte füllte.

 

Sie hatten gelacht, zusammen gekocht, mit Maurice gegessen und den Abend damit verbracht, im Wohnzimmer zu sitzen und sich lustige Geschichten aus vergangenen Tagen zu erzählen.

Geschichten, die sie alle bereits auswendig kannten und die sie sich doch immer wieder gerne gegenseitig zum Besten gaben.

 

In der lauen Luft der aufkommenden Nacht hatten sie schließlich ohne Maurice noch eine Weile auf der Terrasse gesessen, dem Klang des Waldes gelauscht, miteinander geschwiegen und sich zum Abschied zu einem morgendlichen Spaziergang durch den Wald verabredet.

 

Es war eine solche Labsal gewesen...

Und dennoch saß er seit über drei Stunden hier und hatte nicht ein Wort geschrieben...

 

Irgendetwas wichtiges übersah er!

 

Unter einem noch immer leichten Zittern ließen seine Hände vom Schreibtisch ab, um sich langsam in seine kurzen, weichen Haare zu graben, dort festzukrallen und gegen den Schädel zu pressen.

Er übersah etwas, das er einfach nicht erfassen, nicht benennen konnte, das ihn fest im Griff hielt und den letzten Tropfen Inspiration aus ihm herauspresste – nichts weiter hinterlassend, als eine dröhnende Stille, die ihn in den Wahnsinn trieb.

 

Eine Stille, die ihn in New York verfolgt hatte und es auch hier noch tat.

Eine Stille, die so laut wie ein Lockruf war, ohne dabei jedoch zu sagen nach was es ihn oder wohin sie ihn lockte.

Eine Stille, die er nicht kannte und die ihm auf eine suspekte Art doch irgendwie bekannt vorkam.

 

Eine Stille, die ihm einen eisigen Schauer über die Haut jagte, als stünde der Tod persönlich vor ihm und hielte ihm die Hand entgegen, um ihm auf das Boot zu geleiten, das ihn in die tiefen Wasser des Jenseits beförderte.

 

„Verdammte Scheiße.“, murmelte Abel.

Laut genug, um sich vor dem plötzlichen Ton zu erschrecken, den er verursacht hatte.

Leise genug, um sicher zu sein, dass außer ihm niemand diesen Klang vernommen hatte.

 

Seine Finger entließen das Haar aus ihrem Griff, schoben den Bürostuhl bestimmt ein Stück nach hinten und drückten sich schließlich auf die Armlehnen, um den schwerfällig gehorchenden Körper auf die Füße zu stemmen.

Abel tänzelte um den Stuhl herum, auch wenn sich sein Körper wie Blei anfühlte und eher umzukippen drohte, als wirklich elegante Bewegungen zu vollziehen.

Ohne das Licht anzumachen schritt er zielsicher durch den Raum auf die Zimmertür zu – immerhin war dieses Haus wie eine zweite Heimat für ihn.

 

Um Haaresbreite schritt er an der Bettkante vorbei, ignorierte das wohlige Gefühl von Heimat, das der Geruch der Bettwäsche – nach Wildrosen, wie immer – in ihm auslöste und in der Dunkelheit umso intensiver in seine Nase kroch...

 

Und trat energisch an die Tür heran.

 

Mit noch immer zittrigen Fingern drückte er sanft die Klinke herab und zog sie gleichzeitig an sich heran, um jegliches Geräusch nach Möglichkeit zu vermeiden, ehe er den Anschlag erreichte und die Tür vorsichtig nach außen aufdrückte, hindurch schlüpfte und sie ebenso lautlos wieder hinter sich schloss.

 

Er hatte kein Interesse daran Maurice oder – schlimmer noch – Lennon zu wecken.

 

Natürlich hätte er, wie die letzten Male auch immer, ein paar Tage warten können und sollen, bis er wieder mit dem Schreiben anfing...

 

Aber irgendetwas nagte an ihm, hatte ihn an das Notebook getrieben und doch davor sitzen gelassen - als wisse er nicht, wie man das Gerät bediene.

Etwas, das ihn schon seit geraumer Zeit verfolgte, einem Schatten in der Nacht gleich – so, wie er nun zu nächtlicher Stunde im Dunkeln über den Flur schlich, darauf bedacht nicht gesehen oder gehört zu werden.

Etwas, das ihn in so dringende Aufruhr brachte, dass er in Shirt und Shorts und nur auf Socken die Treppe hinabstieg, durch den großen Hauptraum im Erdgeschoss huschte, um vor der Verandatür Halt zu machen, seine warmen, noch immer leicht zitternden Finger auf das kalte Glas zu legen und mit unruhigem Blick in den nächtlichen Wald zu schauen.

 

Noch einmal sah Abel sich in der Dunkelheit um.

Er wollte nicht, dass Lennon wach wurde und ihm folgte – auch wenn er nicht im Geringsten wusste, wieso.

Er löste seine Finger vom Glas und legte den Griff der Tür um, schob sie einen Spalt breit auf und stahl sich in die Frische der Nacht hinaus, zog die Tür wieder zu und lehnte sich dieses Mal mit dem Rücken an das Glas.

 

Innerlich lachte er beinahe irrsinnig bei dem Gedanken auf, dass er hier herumschlich, wie ein Dieb, der versuchte in das Haus zu gelangen – und war doch ein Gast, der aus irgendeinem bescheuerten Grund mitten in der Nacht unerkannt hinaus wollte.

 

Lautlos stieß er sich sanft von der Tür ab.

 

Durch die dünnen Socken spürte er die Maserung der Holzdielen, aus denen die Terrasse gefertigt war.

Durch seine kurzen Haare tänzelte ein lauer und doch recht frischer Wind, der ihm eine leichte Gänsehaut bescherte.

Durch seine Lungen zirkulierte vom Fluss feuchte und von den durchatmenden Bäumen mit Sauerstoff angereicherte Luft, die mit dem Morgengrauen ihre höchste Qualität erreichen würde.

In seinen Ohren erklang die melodiöse Mischung aus nächtlicher Stille und den unheimlichen Geräuschen des nie wirklich schlafenden Waldes.

 

Eine beinahe erregende Atmosphäre strich über seine bloße Haut...

…Wie eine Präsenz, die sich seiner Anwesenheit vergewissern wollte.

 

Seine Schritte brachten ihn bis ans Ende der Terrasse, die sich durch kleine, schwach leuchtende Solarlampen in den Blumentöpfen und Pflanzenkübeln gut erahnen ließ.

Er wusste, dass hinter einem großgewachsenen Hibiskus zu seiner Rechten versteckt eine Treppe hinab in den Wald führte.

 

Der Ort, zu dem es ihn mit jedem Schritt mehr zog...

 

Es war Abel mit jedem dieser Schritte mehr ein Rätsel, was er hier eigentlich tat.

 

Noch nie war er auf die Idee gekommen sich aus dem Haus zu schleichen, um im Schlafzeug in den Wald zu gehen – und das wie jemand, der genau wusste, dass er etwas Verbotenes tat.

In all den Jahren, in denen er Lennon nun bereits besucht hatte und kannte, war es ihm nie in den Sinn gekommen etwas vor diesem verheimlichen zu wollen.

Und doch drängte etwas in ihm genau das zu tun.

 

Seine Finger ertasteten das metallische Geländer, mit dem die Terrasse umrahmt war.

 

Er hielt kurz inne.

Nur noch wenige Schritte trennten ihn von der Treppe, zu der es ihn so zog.

Mit einem Seufzen legte er den Kopf in den Nacken und erblickte am Himmel die Sterne, die es in dieser Nacht gut mit ihm meinten und sich in ihrem hellsten Funkeln präsentierten.

Eine nur noch schmale Sichel im abnehmenden Mond blinzelte schwach geworden zwischen den Sternen hindurch.

 

Eine Gänsehaut wanderte seinen Rücken hinab.

Ließ ihn leicht erzittern.

 

Ein Wind frischte auf, brachte eine feucht-kühle Brise vom Fluss mit sich und legte sich auf seine Haut, um die Gänsehaut noch ein wenig zu verstärken.

Das Laub in den Baumkronen raschelte aufgeregt aus jeder Richtung.

Für einen Moment schwiegen alle anderen Geräusche der Nacht.

 

Und diese Präsenz kam ihm so nahe, dass er meinte sie in seinen Nacken hauchen zu spüren.

 

Noch nicht...

Noch war die Zeit nicht gekommen...

 

Wie hypnotisiert haftete sein Blick auf dem Sichelmond, driftete sein Verstand in eine Ferne ab, die er nicht kannte – die er nicht einmal realisierte – und etwas Fremdes legte sich um ihn, das ihn daran hinderte sich auch nur einen Millimeter zu bewegen.

 

Abel öffnete die Lippen ein Stück weit – in der festen Absicht etwas zu sagen...

...doch kein Ton entwich ihm.

 

Er wusste, dass niemand außer ihm hier war.

Dennoch...

Dennoch war dort diese Präsenz, die immer stärker wurde, ihre Arme um ihn legte und ihn festhielt.

 

Die ihn hier fest in ihren Armen hielt und die ihn trotzdem mit wispernder Stimme zu sich lockte...

 

Sein trüber Blick ließ von den Sternen und dem Mond ab, die er ohnehin schon seit einer Weile nicht mehr bewusst wahrgenommen hatte.

Statt dessen wanderte er wie ferngesteuert in Richtung Wald, in dem die Geräusche der Nacht noch immer verstummt waren.

...Bis auf das Flüstern des vom Fluss herkommenden Windes.

 

Ruhig glitten seine verschleierten Pupillen über die Silhouetten der Dunkelheit...

 

...Zu ruhig, um den Eindruck zu erwecken, als suchten sie willkürlich in der Schwärze, in der nichts zu erkennen war.

Bis sie schließlich an einem Punkt haften blieben.

Sein Körper drehte sich in der unsichtbaren Umklammerung beinahe windend auf der Stelle, bis auch er in die Richtung deutete, auf die seine immer milchiger werdenden Augen ausgerichtet waren.

 

Abel wusste, dass die Zeit noch nicht gekommen war...

 

Und doch zerrte dieses Locken an ihm, kribbelte durch seine bleischweren Glieder.

So apathisch und langsam, als reiße er sich aus Eisenketten los, hob sich sein Fuß – er wollte nur ein Stück näher heran.

Nicht mehr.

Bloß einen kleinen Schritt näher...

...um endlich mehr erkennen zu können.

...um endlich mehr von dieser Verlockung kosten zu können.

...um endlich aus diesem Leben auszubrechen.

 

...um endlich in diese tiefe Dunkelheit zu sinken, die nach ihm rief.

 

„Abel...“

 

 

...Mit einem Aufschrei schreckte er hoch.

 

Unter seiner Brust donnerte sein rasendes Herz.

Auf seiner Stirn perlte kalter Schweiß der Angst hinab.

In seinen Lungen presste sich die Luft schmerzhaft hinein und wieder heraus.

Seine Finger krallten sich verkrampft um die Armlehnen.

Vor seinen Augen formte sich der weiße, kalt schimmernde Bildschirm seines Notebooks.

 

Durch jedes Glied seines Körpers bebte ein erbärmliches Zittern.

 

Langsam – sehr langsam – bestätigte ihm sein Blick, der unruhig und völlig willkürlich im Raum hin- und hersprang, dass er auf seinem Zimmer saß.

In seinem Bürostuhl.

Vor seinem Computer.

Umgeben vom Duft der nach Wildrosen riechenden Bettwäsche.

 

Kraftlos hob er seine Hand, um sich den kalten Schweiß von der Stirn zu wischen, während sich sein Atem und sein Puls langsam beruhigten.

 

Ein Traum...

Es war nur ein wirrer, verstörender Traum gewesen.

 

Müde, zermürbt und noch immer zitternd legte er die Finger an die Kante des Bildschirmes, um ihn zu schließen und sich ins Bett zu legen.

 

Er hatte dringend etwas erholsamen Schlaf nötig.

 

Abel hatte keine Ahnung, was ihm dieser Traum sagen wollte – und er wollte es auch gar nicht wissen.

Was auch immer ihn in irgendeine Dunkelheit locken wollte, konnte ihn mal.

Kreuzweise!

 

Er würde das Schreiben ein paar Tage ruhen lassen, Kraft und Energie tanken und hinterher, wie immer, mit tausend goldenen Ideen wieder frisch ans Werk gehen.

Der Kuss der Muse kam immer, wenn er seine Zeit mit Lennon verbrachte.

Es bedurfte nur ein wenig Geduld und er würde sich wieder an den Computer setzen...

 

Unter einem immer heftiger werdenden Zittern und unter einem erneuten Ausbruchs des kalten Angstschweißes, hielt der Autor noch einmal inne.

 

Das digitale Blatt vor ihm war gähnend leer und strahlte ihn weiß an...

 

...Und es war 3:07 Uhr...

Kapitel 3: Das Herz der Perle

 

Seine rehbraunen Augen verharrten schon seit beinahe einer Stunde auf dem schlanken Körper, der in dem bequemen Sessel an die Lehne gesunken war und ein leises Schnarchen von sich gab.

 

Abel war schön.

Und zwar ungeachtet dessen, wie sehr er es zu verstecken versuchte.

Lennon sah es.

In jeder Sekunde, die sie beieinander waren.

Mit jedem Atemzug, den der Kleinere tat.

Und vor allem mit jedem Lächeln, das dieser ihm schenkte.

 

In all den Jahren war dieses Gefühl nicht versiegt, das in ihm ruhte und herangereift war, wie eine Perle in einer Auster.

 

Der Zeitpunkt rückte näher, dass er dieses Kleinod offenbarte und dem zierlichen, hübschen und sich versteckenden Schriftsteller zum Geschenk machte.

 

Wenn er Abel betrachtete, dann wusste er das Glück dieser Erde vor sich.

Es präsentierte sich ihm so, wie es an vielen Menschen oft ungesehen vorbeizog – schlicht, unscheinbar und doch von einem besonderen Wert.

 

Ja.

 

Er liebte diesen Mann.

Mehr als alles andere auf dieser Welt.

Und das schon seit so langer Zeit...

...Seit sie sich das erste Mal begegnet waren.

 

Und es kam ihm vor, als sei dieser Tag bereits eine Ewigkeit her.

 

Sanft streckte er die Finger aus, um mit ihren Kuppen über die Spitzen des kurzen, rostbraunen Haars zu gleiten.

Einer Berührung gleich.

Und doch so viel zaghafter.

Wie ein Windhauch.

 

Er wusste, dass ihm nicht viel Zeit blieb.

 

Kalter Schweiß bedeckte die Stirn des Kleineren, während der Körper in einem fortwährenden Zittern gehalten wurde.

 

Lennon wusste auch, dass er Abel wecken sollte – so schnell es ging.

 

Dieses Warten zerriss ihm das Herz unter der Brust.

Mit jedem Mal, das sie sich begegneten, wurde es schlimmer.

 

Er konnte spüren, wie sich die Muskeln im Körper des Anderen anspannten – ganz so, als wolle dieser jeden Augenblick aufstehen und aus dem Zimmer laufen, obwohl Abel noch tief und fest schlief.

 

Sanft trat Lennon einen Schritt näher an den Bürostuhl heran, beugte sich zum Kleineren herunter – wobei ihm dessen berauschender Duft in die Nase stieg – und legte seine Arme sanft um ihn.

Langsam, unter einem unglaublichen tiefen Gefühl von Heimweh, schloss er seine Augen.

Genoss für einen Augenblick die Wahrnehmung seiner Finger, die sich sachte auf die Arme des Autors gelegt hatten.

Inhalierte den lange vermissten Duft, der seine Sinne benebelte.

Spürte die in Sehnsucht an ihm zerrende Wärme des Anderen.

 

Und schmeckte das Salz seiner Träne, die über seine Lippen perlte.

 

Er konnte den Schmerz kaum mehr ertragen, der in ihm ruhte und ihn allmählich zu betäuben schien.

 

Ein Schmerz, der dem tiefen Begehren nach und der noch tieferen Liebe für Abel entsprang...

...wie der anliegende South Fork American River aus den weit entfernten Bergen der Sierra Nevada.

 

Sein Herz schrie.

Jedes Mal, wenn er zur Ruhe kam, hörte er den infernalischen Ruf unter seiner Brust, der von einem schmerzhaften Zerren begleitet wurde, das ihn beinahe entzwei riss.

Es schrie nach dem Kleineren.

So pur und ungehemmt, dass es Lennons Verstand verwirrte und in seinen Ohren auch dann noch dröhnte, wenn er sich mit seinem Dasein abzulenken versuchte.

 

Es schrie in so purer Verzweiflung, dass sich alles in ihm in ein lethargisches Ausharren gebettet hatte...

...in dem genauen Wissen, dass er verlernt hatte, wie er aus dieser Lethargie wieder hinausfinden sollte...

 

Er spürte, wie der Körper, um den seine Arme lagen, immer mehr zitterte und sich zu entwinden versuchte, bis sich schließlich der Kopf des Kleineren von ihm weg drehte – augenscheinlich einen unbedeutenden Punkt im Zimmer suchend und auf diesem letztlich fest verharrend.

Und auch wenn Abels Augen noch immer geschlossen waren, so richtete sich dessen Aufmerksamkeit auf nichts, was innerhalb dieser Mauern ruhte...

 

Energisch schüttelte Lennon den Kopf.

Es war keine Zeit für Zweifel – er musste den Schriftsteller wecken.

Sofort!

 

Über die Angst, die Sorge und die Verzweiflung in seiner Stimme selbst erschrocken, hörte er sich Abels Namen nennen...

 

...ehe er schockiert den Griff löste und ein paar Schritte zurücktaumelte, als sich der Körper des Kleineren aufbäumte - von einem markerschütternden Aufschrei begleitet.

 

Nach Luft schnappend stieß er mit dem Rücken leicht gegen die offenstehende Zimmertür, blieb einen Augenblick lang stehen und beobachtete, wie Abel völlig aufgelöst aus dem Albtraum erwachte und verzweifelt nach Orientierung suchte.

 

Die eisern niedergerungenen Zweifel brachen mit einem Mal aus ihm heraus, während Lennon fluchtartig den Raum verließ;

es war alles seine Schuld;

es war falsch, dass er ungebeten auf Abels Zimmer verweilte;

es war jämmerlich, dass sein Leid ihn zum Rückzug verleitete;

es war zermürbend, dass er nicht wusste, wie er aus dieser Teilnahmslosigkeit finden sollte;

es war gefährlich, dass er der Resignation so nahe war;

 

es war weit schlimmer, als er befürchtet hatte...

Kapitel 4: Lockrufe

 

„Maurice?“

„Ja, Sir?“

„Glaubst du an Gott?“

„Das ist eine schwierige Frage.“

„Wieso findest du diese Frage schwierig?“

„Nun, Sir... lassen Sie es mich so ausdrücken: Es gibt Dinge, die in meinem Leben passiert sind, die ich weder mit Wissenschaft, noch mit gesundem Menschenverstand erklären kann – und dennoch sind sie passiert und existieren. Das wissen Sie so gut wie ich.“

„Und deshalb glaubst du an Gott?“

„Nein, Sir, das sagte ich so nicht. Ich glaube definitiv nicht an einen barmherzigen Vater und auch nicht an einen scheltenden Richter.“

„Woran glaubst du dann, Maurice?“

„Das ist es, was schwer in Worte zu fassen ist.“

„Bitte versuche es.“

„Nun, gut... Ich glaube daran, dass uns eine Macht hierher geführt hat – mit allem, was wir erlebt haben. Ich glaube daran, dass diese Macht größer ist als jede andere. Und ich glaube daran, dass diese Macht fähig ist, alles wieder gut werden zu lassen... auch wenn es eine Macht ist, die einen hohen Preis von denen einfordert, die am Meisten davon in sich tragen.“

„Du... du glaubst daran, dass alles wieder gut wird, Maurice?“

„Ja. Definitiv, Sir. Das glaube ich... Und Sie sollten das auch tun.“

„Wieso...?“

„Weil diese Macht Sie eine Entscheidung hat fällen lassen, die Sie hierher führte... Und wenn Sie die Schattenseite des hohen Preises endlich einmal akzeptieren würden, dann sähen Sie auch endlich, dass diese Macht in hohem Maße in Ihnen ruht, Sir... Es immer getan hat.“

 

~*~

 

Unter schweren, schlurfenden Schritten schleppte Abel sich die Treppe herunter.

 

Er war vollkommen übernächtigt.

Er erinnerte sich daran, dass er vor dem Notebook eingeschlafen war.

An viel mehr allerdings nicht.

Er hatte keine Ahnung, wie er ins Bett gekommen war - geschweige denn wann.

 

Selbst wenn er wollte, er konnte sich gerade ohnehin nicht wirklich mit irgendwelchen Erinnerungen oder Gedanken beschäftigen.

Bereits seit er aufgestanden war, fühlte er sich seltsam.

 

Es herrschte eine Stille in ihm, die nicht ruhig war;

ein Gedankenfluss, der im geordneten Chaos versank;

eine Taubheit, die dennoch unglaublich zermürbend war.

 

Ihm war es, als ob seine Gedanken so durcheinander waren, dass sein Verstand in einen apathischen Zustand verfiel – nicht so laut, wie es einem Chaos gerecht wurde, aber gewiss nicht so ruhig, wie es eine Stille zu sein pflegte.

 

Viel eher war es eine brüllende, dröhnende Stille, die das Ausmaß des Chaos zu ordnen - oder doch eher zu übertünchen? - versuchte.

Aber sie schaffte es nicht...

Nicht wirklich zumindest.

 

Was blieb, war bloß das ungenaue, unangenehme Gefühl seinen eigenen Verstand nicht benutzen zu können und wie in einem Tagtraum umherzuwandeln.

 

Alleine die urzeitlichen Sinne arbeiteten einigermaßen zufriedenstellend für den Autor – immerhin hatten sie ihn letztlich aus dem unruhigen Schlaf in die heimisch wirkende Küche des Hauses gelockt.

 

Das kräftige Aroma eines guten, teuren Kaffees war ihm als Erstes in die Nase gestiegen

und vermittelte ihm das - im Moment trübe – Bild davon, wie er sich an der wärmenden Tasse labte und dem dringend nötigen Morgentrunk frönte.

Der Geruch von gebratenem Ei und Speck lag in der Luft und ließ seinen Magen in freudiger Erwartung auf das Frühstück knurren.

Das Zwitschern der Vögel klang in seinen Ohren, was nur bedeuten konnte, dass die Tür zur Veranda offenstand.

Seine blanken Füße verursachten ein leicht platschendes Geräusch auf dem gekachelten Boden, während er eine angenehme Kühle unter den Fußsohlen spürte.

Er vernahm das leise Gemurmel von Lennon und Maurice, das immer mehr verstummte, je näher er kam.

Sein Blick schweifte über den liebevoll und reich gedeckten Tisch, auf dem Geschirr und Besteck bereitstanden, sowie ein weinroter Tischläufer, ein Kerzenständer in der Mitte, aufgebackene Brötchen in einem Flechtkorb, selbst gepresster Saft und eine üppige Menge frischen Obstes.

 

Auf blanken Sohlen trat Abel an den Tisch heran, an dem Maurice saß, die Zeitung zur Seite legte und ihn warm anlächelte: „Oh, guten Morgen, Sir. Ich hätte Sie gleich fürs Frühstück geweckt.“

 

Lennon, der am Herd stand und die verboten gut riechenden Frühstückseier mit Speck zubereitete, kicherte leise, sah ihn über die Schulter hinweg an und beschenkte ihn mit einem ebenso warmen, aber obendrein umwerfenden Lächeln.

„Guten Morgen, mein Lieber. Ich hoffe, dass du gut geschlafen hast.“

 

Während Abel sich an den freien, gedeckten Platz am Tisch setzte, machte sein Freund die letzten Handgriffe am Herd – er rührte alles noch einmal gut um, machte den Herd aus und gab das Bratgut in eine hübsch verzierte Schüssel, die er schließlich auf dem Tisch abstellte, an dem er als Letzter auch Platz nahm.

 

„Ja.“, murmelte der Autor verschlafener, als er wollte. „Auch wenn die erste Nacht in einem ungewohnten Bett wohl immer etwas befremdlich und unerholsam ist.“

Lennon lächelte noch umwerfender und schüttelte leicht den Kopf: „Dann genieße das Frühstück und anschließend den Spaziergang mit mir. Es wäre doch gelacht, wenn wir deine Lebensgeister nicht wieder in Schwung bringen könnten.“

Mit einer einladenden Handbewegung deutete der Gastgeber auf den Tisch.

„Und nun: greift zu!“

 

Abel lächelte leicht, wenngleich ein wenig mechanisch.

Etwas unter seiner Brust hellte sich unglaublich auf – und doch verzog sich dieser desaströse Nebel in seinem Kopf nicht.

 

Er wusste, dass er dankbar und glücklich war... aber er fühlte sich nicht wirklich so.

Der Lichtstrahl unter seiner Brust drohte in dem Nebel zu versinken.

 

Gedankenverloren griff er sich ein Brötchen und nickte Lennon zu.

„Danke.“, antwortete er noch immer verschlafen, aber lächelnd. „Ich freue mich schon sehr auf den Ausflug.“

 

Und das tat er wirklich, auch wenn er das Gefühl einfach nicht abschütteln konnte, dass er seine Freude darüber weit weniger mitteilte, als er das für üblich tat oder gar wollte.

 

Sein Blick glitt zur Kaffeekanne, aus der ein aromatischer Dampf aufstieg.

Kaffee!

Ja, er brauchte dringend einen Kaffee.

Mit überraschend zittrigen Händen griff er zur Kanne, um sich im besten Fall einen ganzen Becher einzugießen – und hielt mit einem Mal inne.

Statt Keramik spürte er weiche Haut unter seinen Fingern.

 

Aus großen Augen blickte er auf.

 

Lennon saß ihm gegenüber, hatte sich ein wenig aufgerichtet und über den Tisch gebeugt, sah ihn an und...

Abel konnte es nicht so genau sagen...

 

Während er noch damit beschäftigt war, seinen staubtrockenen Hals mit einem schweren Schlucken anzufeuchten, griff Lennon mit einem unglaublich warmen, liebevollen und doch von Schmerz erfüllten Lächeln zur Kanne.

Der Gastgeber schenkte ihm ein, stellte den Kaffee auf den Tisch zurück und setzte sich schmunzelnd wieder hin.

 

Abel harrte noch immer in der Position aus.

Er konnte einfach nicht genau sagen, was gerade passiert war oder was genau ihm durch den Kopf ging.

Einzig ein zutiefst bekanntes Gefühl durchströmte ihn, das diesen Nebel in seinem Verstand einfach sanft zur Seite schob und eine vage Erinnerung an etwas hinterließ, das er nicht greifen konnte.

 

Langsam nur zog er seine Hand zurück, während neben ihm Maurice die Zeitung raschelnd anhob, um sich lesend wieder dahinter zu verstecken und Lennon mit einem geradezu seligen Ausdruck auf dem Gesicht ein Brötchen aufschnitt, um es mit aromatischer Erdbeermarmelade zu bestreichen.

 

Und in ihm selbst...

...In ihm selbst herrschte bloß das fulminante und kaum zu bändigende Bedürfnis danach zu weinen.

 

Wie in Trance und unter großer Anstrengung widmete auch er sich seinem Brötchen und schnitt es auf, wenngleich seine Finger dabei so zitterten, dass es, nachdem er es schließlich geöffnet hatte, eher nach moderner Kunst aussah als nach handelsüblicher Backware.

 

Er war nicht traurig – und das war das Seltsamste daran.

 

Hier und jetzt, in diesem Augenblick, waren all die Sorgen und all die Schwermut so weit entfernt, wie sie es nur sein konnten.

Hier und jetzt war alles so unsagbar friedlich in ihm, dass die Anspannung des Stresses von ihm fiel und seine eigentliche Erschöpfung preisgab.

Hier und jetzt war das wundervolle Gefühl von Heimat.

 

Hier und jetzt war er so glücklich, dass ihm nach Weinen zumute war.

 

Ohne es zu bemerken, schlich sich ein seliges Lächeln auf seine Lippen, während er sein Kunstwerk mit dem Rührei garnierte – auch wenn es ihn noch immer viel Mühe kostete nicht doch einfach loszuweinen.

 

Der Traum der vergangenen Nacht war längst vergessen.

 

Abel seufzte lautlos auf und beschloss, sich ganz diesem wundervollen Gefühl von Glück und Zufriedenheit zu widmen.

 

~*~

 

Er war jedes Mal von der Schönheit dieses Waldes fasziniert.

 

Die Luft war klar und von so vielen Aromen erfüllt, dass Abel kaum fähig dazu war sie alle wirklich aufzuzählen.

Die Sonnen kitzelte den Waldboden mit feinen schlierenhaften Strahlen und betonte das Tänzeln der Pollen und der Insekten.

Das Rascheln der Bäume vermengte sich mit dem Gesang der Vögel und dem Rauschen des Flusses zu einer Symphonie, der er stundenlang hätte lauschen können - ohne ihr überdrüssig zu werden.

 

Alles um ihn herum lebte.

 

Wie frisches Blut wanderte diese simple und doch so schwerwiegende Erkenntnis durch seine Adern, seinen gesamten Körper, durchspülte seinen Geist und erfrischte sein Herz.

So sehr man auch die Augen davor zu verschließen versuchte, so konnte man dieser Tatsache nicht entgehen.

Gerade in einer Stadt wie New York vergaß man es nur zu gerne...

 

Aber diese Welt existierte.

Atmete.

Lebte.

 

Und so lange man seinen Blick darauf richten konnte, so lange war man ein Teil dieses Lebens, das einen umgab und einbettete, nährte und versorgte, gebar und einem den letzten Atemzug entlockte.

 

So wenig wie selten verstand er, wieso es ihn immer wieder nach New York zurückzog.

 

Das hier war der Pulsschlag der Welt, in der er lebte.

Und er wusste, dass ihm diese Tatsache jedes Mal bewusst wurde, wenn er hier war.

Hier, in den wundervollen Wäldern – und hier, bei Lennon.

 

Beinahe kindlich übertrieben schwungvoll drehte er sich zu dem Größeren um, betrachtete ihn und lächelte verhalten, aber glücklich – den saftigen Waldboden selbst durch die Schuhsohlen spürend.

 

Lennon hielt inne, sah ihn ein wenig ratlos und fragend an und schüttelte den Kopf: „Das schien ja schneller zu gehen mit der Erweckung deiner Lebensgeister, als ich befürchtet habe.“

 

Abel antwortete nicht direkt.

 

Er betrachtete sein Gegenüber und fühlte eine endlich angenehme Ruhe in sich, die er kaum in Worte fassen konnte.

Es schien ihm, als lägen in diesem Augenblick die Antworten auf alle Fragen, die verschwommen irgendwo in den Tiefen seines Unterbewusstseins dahinflossen.

 

Die reinste aller Perlen schimmerte in diesem Sonnenlicht so schön wie noch nie.

 

Lennon war in diesem Augenblick so zärtlich und vollkommen in das idyllische Bild eingebettet, dass Abel seine eigene Gewöhnlichkeit schon beinahe wieder schmerzte – und doch tat sie es nicht wirklich.

 

Denn dieser Moment gehörte ganz ihm.

 

Nur ihm war es erlaubt dieses Bild genießen zu dürfen und niemandem sonst.

Nur er spürte die Perfektion dieses Augenblicks, der ihn umfing, wie sich Erde schützend um zarte Wurzeln legte.

Und nur ihm galt dieser liebevoll besorgte Ausdruck auf dem Gesicht des Anderen.

 

Zaghaft lächelte er und nickte leicht: „Ja, also wollen wir uns nicht darüber beschweren.“

 

Kichernd hob Lennon abwehrend die Hände und schüttelte leicht den Kopf.

„Gewiss nicht.“, sprach dieser auch endlich etwas heiterer. Dennoch hielt der Größere inne, als er gerade weitersprechen wollte und intensivierte statt dessen den Blick, mit dem er Abel versah.

 

Dem Autor schien es, als verfiele sein Freund in ein tiefes Nachsinnen über etwas sehr Bedeutendes – beinahe wie ein Seiltanz zwischen zwei eklatanten Entscheidungen.

 

Und statt etwas zu sagen, kam Lennon nach quälenden Sekunden schließlich mit langsamen Schritten auf ihn zu – ohne auch nur für ein Blinzeln den Blick von ihm zu nehmen.

Auch Abel fühlte sich außerstande auf etwas anderes zu blicken, als die reinste aller Perlen.

Unter einem elektrisierenden Kribbeln verharrte er, wo er stand.

Die Aufregung, die unter seiner Brust tobte, konnte er kaum erfassen – es war ihm bloß klar, dass er lange, sehr lange, auf diesen Augenblick gewartet hatte.

Er spürte so viel Glück durch seine Adern schießen, dass er zu zerbersten fürchtete.

 

Lennon streckte eine Hand nach ihm aus und legte sie sanft auf seine Schulter, blieb vor ihm stehen und sah ihn noch immer intensiv an.

Die Zweifel standen seinem Freund ins Gesicht geschrieben, wurden aber von einem großen, beinahe verzagten Maß Erleichterung, Hoffnung und Sehnsucht, die tief in den Augen funkelten, übermalt.

Die Fingerkuppen der auf seiner Schulter ruhenden Hand hoben sich zaghaft und tasteten suchend um sich, bis sie in einer flüchtigen Berührung über die bloße Haut an seinem Hals strichen.

 

Ein angenehmer heißkalter Schauer lief Abel die gesamte Wirbelsäule hinab und hinterließ, neben einer Gänsehaut, ein wolhiges Zittern in seinem Körper.

 

Während die Finger sich entschlossener auf seine Haut legten, schwindelerregend in seinen Nacken wanderten und Lennon ihm immer näher kam, sanken seine Lider langsam immer tiefer.

 

Aus halb geöffneten Augen sah er noch einmal auf, um einen Blick in die des Anderen werfen zu können...

 

Und ließ plötzlich von ihm ab, fuhr herum.

 

„Hast du das gesehen?“, japste er aufgebracht. „Lennon, hast du das gesehen?“

Unter einem hämmernden Herzschlag sah er sich um, bis er es tatsächlich zwischen ein paar Bäumen wiederentdeckte.

 

Abel hatte nicht die geringste Ahnung was es war, aber es tänzelte in schlängelnden Bewegungen durch die Luft.

Nicht größer als eine Münze war der tränenförmige, blau leuchtende Körper, der zarte, blaue Schliere nach sich zog, als führe man einen Pinsel mit Tuschfarbe durch ein Glas Wasser.

 

>>A-belll... kommmmitmir... A-bellll...<<

 

Dieses Flüstern...

Dieses leise, laute, vertraute, fremde, süße, unheimliche Flüstern...

 

Das Etwas flog beinahe kichernd ein Stück auf ihn zu, wog sich ein paar Runden hin und her und schoss mit einem Mal los, tiefer in den Wald hinein.

 

Und wie in Trance folgte Abel; wie in Trance rannte er los.

 

Ohne zu wissen wieso oder wohin.

 

Das Rufen hinter ihm war nichts weiter, als ein dumpfer, weit entfernter, verzweifelter und panischer Versuch dieses Flüstern zu übertönen, das ihn mit zarten Lockrufen immer tiefer ins Unbekannte führte.

 

„Abel! ABEL!“

Impressum

Texte: Alister Graham
Tag der Veröffentlichung: 15.08.2017

Alle Rechte vorbehalten

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