Zwillingsblut
Lachend zog Muriel ihre Schwester über den Jahrmarkt. »Hab dich nicht so. Ich wollte mir schon immer die Karten legen lassen. Die Bude soll im hinteren Bereich stehen, schon fast am Waldrand. Irgendwie gruselig. Ich liebe es, wenn es gruselig wird.«
»Ja«, grummelte Romi leise, »so was von gruselig, ich mach mir gleich ins Höschen.«
Muriel verzog die Mundwinkel nachäffend hinunter. »Oh schaut mich an, mein Name ist Romi und ich bin am liebsten schlecht gelaunt.«
»Hey!« Romi konnte nicht anders und musste grinsen. Egal wie launisch sie war, Muriel schaffte es immer, sie aus dem Tief zu ziehen. »So schlimm bin ich gar nicht.«
Gespielt nachdenklich betrachtete Muriel ihre miesepetrige Zwillingsschwester. »Nein, du hast recht, du bist schlimmer.«
Romi lachte und rannte ihrer Schwester hinterher. »Mach dich bloß vom Acker, ich hau dich windelweich, wenn ich dich in die Finger kriege.«
Vergnügt jagten die Geschwister hintereinander her, dem Rand des Jahrmarktes entgegen. Nach Luft schnappend fielen sich die Mädchen in die Arme, nicht sprechen könnend vor lauter Gelächter.
»Wir … wir … sind«, japste Muriel.
»Da!«, beendete ihre Schwester den Satz.
Wie aus einer vergangenen Epoche gerissen, thronte der große Anhänger vor einer Kulisse, die aus einem schlechten Horrorfilm hätte stammen können. Vom Herbst gezeichnete Bäume staksten wie tote, dürre Monster aus dem Dickicht. Ihre Umrisse verschwammen mit der Schwärze des abendlichen Waldes. Der Geruch von modrigen Blättern und feuchtem Waldboden lag allgegenwärtig in der Luft.
Dunkelblaue und rote Farbe blätterte vom alten Wohnwagen der Hellseherin, nur die verblichene Hand mit dem Auge in der Mitte war noch relativ gut zu erkennen. Ein ehemals weißer Schriftzug prangte über der Zeichnung in schnörkeligen Buchstaben.
»Madam Marthas Weissagungen«, las Romi laut vor. »Nett ...«
Muriel lachte erneut auf, aber es klang nicht halb so fröhlich als wenige Augenblicke zuvor. »Ach komm, wird bestimmt spannend.«
Romina zuckte mit den Schultern. »Wenn du meinst. Aber du zahlst, war schließlich deine Idee.«
Muriel verdrehte die Augen. »Als hättest du sonst je Kohle bei dir. Natürlich zahle ich.«
Der Wohnwagen verströmte eine merkwürdige Atmosphäre, die sich bleiern auf Rominas Gemüt legte. Nicht der schlechten Laune wegen, sie hatte das Gefühl, als veränderte sich die Luft und wurde schwerer beim Einatmen. »Bist du sicher, dass wir da rein wollen?«, fragte sie, rümpfte die Nase und stemmte die Hände in die Hüfte.
»Was ist los? Du mutierst doch jetzt nicht etwa zum Schisser?«
Romina wollte ihre Schwester gerade anblaffen, als die Tür aufgestoßen wurde. Aufkreischend wichen die Mädchen einen Schritt zurück.
Eine Dame um die vierzig stand im Rahmen und betrachtete die Mädels missmutig. »Was steht ihr da rum und haltet Maulaffen feil? Entweder kommt ihr rein oder verschwindet, ihr verjagt mir die Kundschaft mit eurem Gebrüll.«
Romina riss erstaunt die Augen auf. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber gewiss nicht eine moderne Frau ohne Kopftuch oder überladenen Schmuck. Gut, sie war etwas stärker geschminkt und trug ein verschlungenes Schlangentattoo auf dem linken Arm. Das war alles, was an der jeanstragenden Frau mit dem alten T-Shirt mystisch wirkte. Einwenig enttäuscht vom fehlenden Zauber, stupste sie ihre Schwester an. »Geh vor.«
Muriel räusperte sich verlegen und ging voran.
Bevor Madam Martha den Mädchen Platz machte, hielt sie ihre offene Handfläche hin. »Hundert. Für euch beide. Wenn ihr meckert, werden es Einhundert pro Person, alles klar?«
Romi holte entgeistert Luft.
»Kein Problem. Sie bekommen das Geld.«
»Was?!«, fauchte Romi ihre Schwester an. »Hast du sie noch alle?!«
Muriel knuffte ihrem Zwilling in die Seite. »Halt einfach die Klappe, ja? Ist doch nicht dein Geld.«
Romi verdrehte die Augen. »Meinetwegen.«
Muriel zog zwei Fünfziger aus ihrer Jeanstasche, als hätte sie bereits damit gerechnet. »Was denn?! Schau nicht so, ich weiß von Steffanie, was es kostet«, zischte sie zwischen den Zähnen.
Madam Martha umschloss die Geldscheine und ließ die Mädchen eintreten. »Setzt euch an den Tisch. An der Wand lehnt ein zweiter Klappstuhl.«
Der abgedunkelte Raum entsprach schon eher Rominas Vorstellungen einer Wahrsagerin. In den Ecken lagen Kräuter zum Trocknen und an der der Decke sammelten sich Schlieren von seltsamem Rauch.
Das Zimmer war angefüllt von verschiedenen Duftnoten, Zigarettenrauch, das herbe Aroma verbrannter Kräuter bis hin zu süßlichen Gerüchen, die Romi nicht einschätzen konnte. Die Wände waren mit alten Stoffen bespannt, staubig und ausgeblichen vom Alter. Verblasste Fotografien in Sepia zeigten tanzende Frauen, bedeckt mit Ketten, wallenden Röcken und fliegenden Haaren, die in alten angelaufenen Silberrahmen steckten. Schön klischeehaft, wie man sich Zigeuner eben vorstellte. Ein halbversteckter Totenkopf lugte zwischen alten Büchern, die zerfleddert und zerlesen wirkten. Sie spürte die drückende Atmosphäre hier drin noch deutlicher als vor der Tür.
»Schaut nicht so, die Leute stehen auf den ganzen Kram.«
»Aha«, kam es Romi über die Lippen, bevor sie sich zusammenreißen konnte. Selbst Muriel schien über Madam Marthas Worte wenig begeistert. Aber bezahlt war bezahlt. Romi schnappte sich den wackeligen Klappstuhl und setzte sich neben ihre Schwester.
»Legt eure linken Hände auf den Tisch, Mädchen, mit der offenen Handfläche nach oben.«
»Sie wollen uns gleichzeitig aus den Händen lesen?« Nun war es Muriels Laune, die stetig fiel.
»Jede von euch bekommt ihre eigene Voraussage, keine Angst. Aber ihr seid eineiige Zwillinge, euch verbindet seit der Schwangerschaft ein Band und ich möchte wissen, wie stark es ist. Außerdem könnte es sein, dass es Dinge gibt, die euch beide zusammen betreffen, das spart Zeit.«
Romi bedachte ihre Schwester mit einem kurzen genervten Blick, auf den Muriel nur mit einem kaum erahnbaren Schulterzucken antwortete. Dennoch taten sie, was Madam Martha verlangte, und legten die Hände auf den Tisch.
Die Frau konzentrierte sich, fuhr mit einem ihrer langen rotbemalten Fingernägel über die Linien in ihren Händen und machte undefinierbare Grunzgeräusche dabei.
»Hmm. Mhm, mhm. Ja, ja. Dachte ich es mir doch. In euch fließt Sintiblut. Eure Mutter war eine Sintiza. Wenn sie nicht so früh gestorben wäre, hätte sie euch vielleicht von eurer Großmutter erzählt.«
Beiden Mädchen klappte der Mund auf. Romina fuhr es kalt den Rücken runter. Sie wussten nicht viel über ihre Mutter, ihr Vater schwieg sich beharrlich über sie aus. Es gab auch kaum Fotos von ihr. Das Einzige, was sie wussten, war, dass sie ihren bronzenen Hautton geerbt hatten, die Farbe ihres beinahe blauschwarzen Haares und ihre grünen Augen. Weder etwas über ihre Art, noch wer sie war. Die Schwestern waren erst zwei Jahre alt gewesen, als der Unfall geschah. Sie vermuteten seit dem, dass ihr Vater aus Verlustschmerz nicht über sie reden wollte, und gaben irgendwann auf, ihn nach ihr zu fragen. Mit klopfendem Herzen fasste Romi nach Muriels Bein, die ebenfalls mit ihrer rechten Hand nach ihr griff, beide tunlichst darauf bedacht, ihre linken Hände auf dem Tisch liegen zu lassen.
»Schau einer an. Das Sintiblut ist stark in euch. Ihr ergänzt euch wie ein Verstärker, multipliziert gegenseitig eure Energien. Ihr könntet sehr stark werden, wenn ihr eure Kräfte zu nutzen lernt.«
»Kräfte?«, entfuhr es den Zwillingen zeitgleich.
»Ihr habt eine Gabe. Eine ganz Besondere und Seltene sogar.« Madame Martha griff hinter sich. Blitzschnell stach sie Muriel mit einer Nadel in den Zeigefinger. Erschrocken und entrüstet zog diese ihre Hand weg. Bevor Romi reagieren konnte, hatte Martha auch ihr in den Finger gestochen.
»Aua!« Romina steckte den Finger in den Mund.
»Liegenlassen! Beide! Stellt euch nicht wie Babys an. Es ist nur ein Tropfen. Das Blut ist sehr mächtig, meine Damen. Ihr ahnt ja nicht, was Blut alles bewirken kann.« Sie nahm die Blutstropfen der beiden auf und verstrich das Rot zwischen Zeigefinger und Daumen.
»So viel Macht und so wenig Ahnung.« Kopfschüttelnd wischte sie sich die Blutstropfen an der Hose ab.
Romi schluckte, langsam wurde ihr die merkwürdige Frau unheimlich. Wenn das alles nur Show war, um die Kunden bei der Stange zu halten, legte sie sich mächtig ins Zeug.
»Ich glaube, wir sollten gehen, Muriel.« Ihre Stimme klang resoluter, als sie sich fühlte. Muriel nickte und rückte den Stuhl zurück.
»Wartet.« Martha hob beschwichtigend die Arme. »Ich wollte euch keine Angst machen. Aber ihr müsst darüber Bescheid wissen, was in euren Adern fließt. Es ist gefährlich und verführerisch zugleich. Ihr habt die Gabe der Beschwörung verlorener Seelen. Jedes Jahr in der Nacht zu Allerheiligen, wenn die Schleier zum Jenseits am durchlässigsten sind, habt ihr die Möglichkeit eine Menschenseele aus dem Reich der Toten zu befreien und zurück ins Leben zu holen.«
Muriel und Romi brachen in schallendes Gelächter aus. »Ich muss gestehen, das Theater ist echt nicht übel«, Muriel hob tadelnd den gestochenen Zeigefinger. »Ich wäre Ihnen beinahe auf den Leim gegangen. Sie sind echt gut. Behalten Sie das Geld, ich hab noch immer eine Gänsehaut von Ihrer Stimme.«
Belustigt schüttelte Romi den Kopf. »Zumindest ist meine schlechte Laune wie weggeblasen.«
Madam Martha verzog keine Mine. »Der Name eurer Mutter war Loredana. Sie starb vor fünfzehn Jahren, aber es war kein Unfall, wie man euch weißmachen wollte, man hat sie umgebracht.«
Muriel und Romi erstarrten. »Bullshit! Ich weiß genau, was passiert ist. Keine Ahnung, was Sie alles zu glauben wissen, aber es reicht langsam.« Das Herzklopfen ließ Romis Stimme zittern. Sie hatte immer schon vermutet, dass hinter dem frühen Tod der Mutter mehr stecken musste. Sobald eine der Schwestern das Gespräch auf Loredana brachte, verbot ihr Vater ihnen jedes weitere Wort, verließ den Raum, oder schickte die beiden auf ihre Zimmer. Aber vor dieser Fremden hätte sie das nie zugegeben. Eher hätte sie sich die Zunge abgebissen.
Madam Martha hob eine Hand, um den Mädchen zu bedeuten, kurz zu warten. Sie öffnete eine verschlossene Truhe und wühlte sich lautstark durch Dinge, die sie dort aufbewahrte. Am Ende zog sie ein braunes, verschnürtes Paket heraus und ließ es schwer auf den Tisch fallen. »Das ist das schwarze Buch. Es ist sehr mächtig, aber ich habe keine Verwendung dafür, da mir eure Gabe nicht vergönnt ist. Ich werde es euch unter einer Bedingung mitgeben. Wenn ihr es lest, lest es aufmerksam. Benutzt keine der darin beschriebenen Anrufungen aus Spaß. Eine Anrufung der Toten braucht Übung und Erfahrung. Wenn ihr es falsch macht, die Wörter falsch betont, die falschen Zutaten benutzt oder eines der Rituale unterbrecht, bevor eure Beschwörung fertig ist, können schlimme Dinge passieren. Die Tore zur Nachwelt dürfen nicht nachlässig geöffnet werden, dort befinden sich nicht nur die Seelen der Verstorbenen. Es ist der Geburtsort aller Albträume und Nachtängste. Macht es falsch und es wird euch euer Leben kosten, eure Mutter hat diesen Preis bereits bezahlt.«
Romis Mund war trocken geworden und sie musste zweimal Schlucken, um wieder sprechen zu können. »Wir gehen jetzt, Muriel.« Ihre Schwester war bleich um die Nase geworden, griff aber nach dem Päckchen, drehte sich um und rannte aus dem Wohnwagen. Bevor Romina ihr nachrennen konnte, griff Martha ihren Arm. »Seid vorsichtig. Dieser Foliant ist kein Spielzeug, ich bin sicher, dies ist das Buch eurer Mutter. Es war kein Zufall, dass ihr heute Abend zu mir gefunden habt. Sie hat euch zu mir gelenkt, sie wusste, dass das Buch in meinem Besitz ist.«
Romina riss sich los und rannte hinter ihrer Schwester her.
»Ich habe euch gewarnt!«, brüllte Madam Martha ihr hinterher. »Es gibt keine Zufälle!«
Daheim angekommen fing Muriel hysterisch zu kichern an. »Oh mein Gott. Das war der totale Horror.«
Romi schlug das Herz noch immer bis zum Hals, sie nickte beipflichtend. »Hast du schon versucht, das Päckchen zu öffnen?«
»Ja, aber es geht nicht, ich brauche eine Schere. Das Paketband ist so festgeknotet, das bekommt doch kein Mensch auf.«
»Okay. Geh schon mal hoch, ich laufe in die Küche und hole eine Schere.«
Muriel deutete mit dem Kinn auf die verschlossene Wohnzimmertür. »Sollen wir nicht wenigstens erst Hallo sagen?«
Romis Mundwinkel verzogen sich wieder nach unten. »Übermorgen ist Mamas Todestag. Mit ihm ist heute nix anzufangen. Lassen wir ihn die nächsten Tage ganz in Ruhe. Er hat ja mitbekommen, dass wir heimgekommen sind, wenn er was will, wird er hochkommen.«
Muriel zuckte mit den Schultern. »Stimmt auch wieder. Ich bin dann schon mal oben, mach nicht zu lange.«
»Ich hol die Schere nur aus der Küche und schmiede sie nicht neu.« Augenrollend sah Romi ihrer Schwester nach, die kichernd die Stufen nach oben lief.
»Du hast Kerzen angemacht? Dein Ernst?!« Romina legte die Schere fassungslos auf den Boden und hockte sich im Schneidersitz zu Muriel.
»Klar, wenn schon gruselig, dann bitte richtig. Außerdem ist es echt kalt draußen und es ist viel gemütlicher so.«
»Also was jetzt, gruselig oder gemütlich?«
Muriel streckte die Zunge raus. »Es ist eben beides, gruselig und gemütlich.«
»Du bist ne Nuss«, grinste Romi. »Nimm die Schere und öffne das Päckchen, ich platze vor Neugier.«
»Frag mich mal, meine Finger zittern sogar. Das war so ... keine Ahnung, merkwürdig, bei Madam Martha. Ich bin sicher, dass das alles nur ein Trick war, aber wow, sie ist gut in dem, was sie tut.«
»Ja, gespenstisch war es wirklich, aber ob das gespielt war, glaube ich nicht so ganz. Sie konnte all diese Dinge nicht wissen, wir haben die Frau nie zuvor gesehen.«
Muriel zuckte nachdenklich mit den Schultern. »Wer weiß, was es alles zwischen Himmel und Erde gibt, von dem wir nichts wissen.« Schnipp - das Band löste sich und fiel an den Seiten des braunen Päckchens herunter. Das Papier knisterte laut, als Muriel den Inhalt auswickelte. Das schwere Buch, das sie dann in Händen hielt, verströmte einen merkwürdigen Geruch, wie eine Kiste mit alten Knöpfen. Irgendwie eigentümlich und doch vertraut. Der lederne Einband glänzte vom Alter, das Leder wies Risse auf und wirkte verbraucht. Die Mädchen glitten gleichzeitig mit ihren Händen über den Buchdeckel, als wollten sie mit ihren Fingern feststellen, ob es das Buch wirklich gab. Keine von ihnen hatte gemerkt, dass ihre Fingerspitzen wieder zu bluten angefangen hatten. Erst als Romis Blut das Leder beschmierte, zuckte sie erschrocken zurück. »Oh nein, schau, was wir gemacht haben. Wir besudeln das Buch.«
Die Schwestern hoben ihre Hände, um ihre Wunden zu betrachten, aber diese waren wieder verschlossen, stirnrunzelnd schauten sie wieder auf das Buch.
»Was zur Hölle?!«, entfuhr es Romina. Das Blut versickerte langsam aber sichtbar zwischen den Rissen und wurde vom Buch aufgesaugt.
»Das kann doch nicht echt sein?!«, stotterte Muriel.
Romi sah ihre Schwester mit ernstem Gesichtsausdruck an. »Sag mir noch mal, dass das hier nur Show ist.«
Ihre Schwester schüttelte verunsichert den Kopf. »Sollen wir es wirklich öffnen?«
»Jetzt liegt es schon mal hier. Ich glaube, ich glaube, die Neugier würde mir ein Loch in den Kopf brennen, wenn nicht.«
»Okay, aber dann zusammen, ja?«
Gemeinsam berührten sie den Deckel. »Drei, zwei, eins - los.«
Es passierte … nichts. Kein Zischen, keine Flammen, kein Rauch, kein Geräusch, einfach nichts.
Beinahe enttäuscht atmete Romina aus. »Wie unspektakulär. Keine Ahnung, was ich erwartet habe, aber ›nix‹ ist schon etwas wenig.«
»Was dachtest du, was passiert?! Das wir hier ein Buch wie aus dieser Zauberschule haben, das anfängt mit seinen Reißzähnen durch die Gegend zu schnappen?«
Romi grinste. »Ja, vielleicht genau so etwas.«
Muriel hob die Augenbrauen. »Also wenn ich ehrlich bin, bin ich froh, dass es ganz langweilig da liegt.«
»Schau mal weiter. Ist nur die erste Seite leer?«
Keuchend sprang Muriel auf ihre Beine. »Oh mein Gott, schau dir das an!«
Sprachlos starrte Romi ins Buch, nicht erfassende Buchstaben formten sich aus dem Nichts, schrieben sich wie von Geisterhand auf die erste Seite.
Meine lieben Töchter.
Ich musste lange warten, aber nun seid ihr alt genug, um zu begreifen, was vor so vielen Jahren passiert ist.
Mein Tod war kein Unfall, wie es euer Vater euch vermutlich weiß machen wollte. Ich wurde ermordet, weil ich, genau wie ihr, meine Lieblinge, eine Hexe bin. Ich habe versucht, meine Gabe zu verstecken. Habe versucht, es vor der Welt zu verheimlichen. Ich war kein schlechter Mensch, ich habe nie jemandem etwas angetan. Aber als euer Vater erfuhr, was ich bin, konnte er damit nicht umgehen. Er betäubte mich, setzte mich hinter das Lenkrad seines Autos und ließ mich eine Böschung hinunterrasen. Wie ich verbrannte, habe ich zum Glück nicht mehr miterleben müssen, der Aufprall hat mein Lebenslicht sofort gelöscht.
Aber wir können begangenes Unrecht ungeschehen machen. Bald ist es soweit, die Nacht vor Allerheiligen, in der die Toten erneut ins Leben gerufen werden dürfen. Benutzt mein Buch, lest es aufmerksam durch und folgt den Anweisungen, dann kann ich euch bald wieder in meine Arme schließen.
In Liebe, eure Mutter
Loredana
»Romi?! Sag mir, dass du das auch gesehen hast, sag mir, dass ich nicht verrückt bin.«
»Wenn du verrückt bist, dann bin ich es auch. Ich glaube, ich muss mich übergeben. Mir ist so flau im Magen.«
»Ich bin total perplex und trau mich gar nicht das Wort auszusprechen, aber reden wir hier von Magie? War das wirklich Mama? Und was zum Geier hat sie da von Papa geschrieben?!«
»Mama ist seit fünfzehn Jahren tot. Ich kann mich nicht einmal mehr an ihr Gesicht erinnern. Das da kann unmöglich von ihr kommen.«
»Romi! Schau dich doch um, nach allem, was du heute schon erlebt hast, weigerst du dich noch immer zu glauben, was deine Augen eben gesehen haben?«
»Ja Muriel, das tue ich, denn wenn wir in Betracht ziehen, dass das hier gerade wirklich passiert ist, müssten wir auch in Betracht ziehen, dass Papa etwas Furchtbares getan hat.«
Die Schwestern blickten sich einige Augenblicke stumm an, die Lippen bleich vor Schreck.
»Du hast recht, das kann nicht sein.«
»Aber warum dann sein Schweigen über all die Jahre? Warum seine Aggressionen, wenn die Rede auf Mama kommt? Was ist damals wirklich passiert? Wir müssen Antworten haben, sonst werden wir noch durchdrehen. Ich will das Buch lesen und wissen, um welches Ritual es sich handelt. Die Nacht zu Allerheiligen? Das muss ja dann wohl Halloween sein und das ist in zwei Tagen. Uns bleibt keine Zeit zum Zögern. Wenn das alles nur Bullshit war, wird eh nichts passieren. Im schlimmsten Fall kommt jemand mit einer verstecken Kamera und lacht uns aus - aber was ist, wenn es kein Bullshit ist?«
»Meinst du nicht, wir sollten Papa zur Rede stellen?«
»Hä? Hast du sie noch alle? ›Hey Papa, ein Geist hat in einem Zauberbuch geschrieben, dass du Mama umgebracht hast. Stimmt das?‹«
Romi grunzte missmutig. »Ist ja gut. Aber wie fangen wir an?«
»In dem wir den Rat von Mama«, Muriel räusperte sich. »In dem wir eben den Rat befolgen. Wir lesen.«
Nervös strichen sich die Mädchen über ihre Jeans und setzten sich erneut im Schneidersitz vor das Buch. Romi nahm die erste Seite in die Hand und blätterte um.
Eine elegante, feine Handschrift bedeckte die ersten Seiten. Worte in einer der Mädchen unbekannten Sprache füllten Zeile um Zeile.
»Das ist nicht hilfreich, wir können das ja nicht einmal verstehen«, murmelte Romina.
»Warte, ich habe eine Idee.« Muriel griff neben sich und fasste nach der Schere, zögernd sah sie noch mal kurz zu ihrer Schwester, dann drückte sie sich die scharfe Spitze in eine Fingerkuppe. Die rote Flüssigkeit quoll sofort hervor und tropfte mit einem kaum Hörbaren ›Tock‹ auf die Buchseite. Augenblicklich veränderte sich das Schriftbild, die Buchstaben stoben auseinander und richteten sich neu aus, zu einem Text, den die Mädchen lesen konnten.
»Das ist doch wie in einem B-Movie«, stöhnte Romi.
Muriel grinste. »Wie glaubst du, bin ich auf die Idee gekommen?«
Romi winkte ab und fasste sich mit zwei Fingern an den Ansatz des Nasenrückens, als hätte sie Kopfschmerzen. »Das ist zu viel für mich, lies einfach vor.«
Und Muriel las.
Es war die Geschichte der Roma und Sinti. Eine Erzählung von ihrer Urheimat in einem Gebiet im nordwestlichen Indien und östlichen Pakistan, ihr Umherreisen und ihre Verfolgung, die sich über die Jahrhunderte zog.
Romina gähnte. »Entschuldige, ich will nicht sagen, dass die Geschichte unserer Familie langweilig ist, aber wann kommt das interessante Zeug? Über die Historie der Zigeuner kann man doch in jedem 08/15 Buch nachlesen.«
»Sag nicht Zigeuner, es sind Roma uns Sinti.«
»Dein Ernst? Das hört doch hier so wie so keiner.«
»Und was ist, wenn Mama gerade hier ist und uns hören kann?«
»Jetzt mach mal einen Punkt.« Nach dem, was sie erlebt hatten, fühlte sich Romi verunsichert und ließ ihren Blick nervös durchs Zimmer gleiten.
Muriel blätterte gedankenverloren durch die handgeschriebenen Kapitel, es wurden Namen aus Familienstammbäumen aufgelistet, die auf nachträglich geklebte Seiten erweitert worden waren und sich wie eine Karte aufklappen ließen. Keiner der Namen sagte ihnen etwas.
»Da«, hauchte Muriel tonlos und deutete mit dem Finger auf eine verschnörkelte Schrift, die sich in der Mitte des nächsten Blattes befand.
Zauber, Bannsprüche und Beschwörungen
Romi drehte nervös an ihrem Ring. »Schlag auf, mal sehen, was für schwarze Voodoo Zauber wir finden. Wenn die da aber von Tieropfern reden oder so, verbrenne ich das Buch.«
Muriel hob die Augenbrauen. »Voodoo kommt aus Haiti oder so.«
Romi machte eine wegwerfende Handbewegung. »Du weißt, was ich meine.«
Sie blätterten durch Liebeszauber, Flüche und Beschwörungsformeln. Eine kryptischer beschrieben, als die andere.
»Das klingt total krank. Ich soll meinem Auserwählten drei Tropfen des Blutes meiner Periode unter das Essen mischen, um ihn mir hörig zu machen?« Muriel schüttelte sich.
»Ja, total widerlich. Oder hier: ›Besorge dir das Haar deines Feindes und verbrenne es zusammen mit dem Körperteil einer Puppe, um ihn an der gleichen Stelle zu verletzen.‹«
»Ist dir aufgefallen, dass in dem Buch nichts Positives steht? Kein Heilspruch oder wie man anderen etwas Gutes tut. Hier wird nur erklärt, wie man Geister bannt, Menschen seinen Willen aufzwingt und andere verletzen kann. Findest du es nicht auch komisch, dass wir ausgerechnet aus so einem Buch eine Beschwörung rezitieren sollen?« Muriel schürzte ratlos die Lippen.
»Ja, ist mir aufgefallen, aber wir sind ja noch nicht durch.« Romi blätterte die nächste Seite um, es war die Letzte. »Beschwörung einer Seele«, las sie beinahe flüsternd vor. »Der gefährlichste alle Zauber ist die Beschwörung eines Verstorbenen. Nur in der Nacht vor Allerheiligen sind die Schleier zwischen den Welten durchlässig genug, um eine Seele aus dem Reich der Toten zu ziehen. Finde den Ort, an dem der Verstorbene sein Leben gelassen hat. Forme aus der Erde Vorort einen Leib, der menschenähnlich ist. Wenn keine Erde vorhanden, schütte eigenhändig welche auf, aber sie muss wenigstens einen Tag dort liegen, um die Energien des Ortes aufzunehmen. Sprich die Beschwörung ein Erstes Mal, dann tropfe kurz vor Mitternacht das Blut von ungeweihten Zwillingen auf den Hügel und spreche sie danach ein zweites Mal. Dann halte die Hände über die Todesstelle und sprich es ein drittes Mal aus.«
»Wie bitte?«, fuhr Muriel entsetzt dazwischen. »Das Blut von wem?! Ungeweihte Zwillinge?! Was soll das denn bitte bedeuten?«
Romi zog ratlos die Schultern hoch. »Was weiß ich? Vielleicht meinen sie ungetauft?«
»Oh. Hmm. Ja das könnte sein, denn wenn sie jungfräulich meinten, sind wir echt im Arsch. Sind wir getauft?«
Wieder zog Romi die Schultern hoch. »Ich hab echt keine Ahnung. Ich hab nie gefragt und es hat mich auch nie interessiert. Ich kann mich nicht mal daran erinnern, jemals eine Kirche von innen gesehen zu haben.«
»Ich schätze, das wird sich rausfinden lassen. Ich werde Papa darauf ansprechen, wenn er fragt, warum ich es wissen will, sag ich einfach, es ist für den Religionsunterricht.«
»Gute Idee und morgen früh fahren wir an den Ort, an dem der angebliche Unfall passiert ist, müssen ja sehen, ob es da Erde gibt.«
»Machen wir, aber lass uns jetzt weiter lesen, wer weiß, was wir noch brauchen.«
Romi räusperte sich kurz. »Wo waren wir … ah, da. Bla bla, Blut von Zwillingen. Welche Sprache man spricht, ist nicht wichtig, nur die Worte sind es.« Romi schaute kurz auf. »Hol mal was zu schreiben, das sollten wir uns notieren und später ablesen, nicht dass wir die Formel vergessen oder verdrehen.«
Muriel nickte eifrig, eilig flog sie durch ihr Zimmer und suchte nach Block und Bleistift.
»Hast du? Gut, also hör zu.
Dem Leben entrissen, zu früh bezwungen,
suchen wir dich auf der anderen Ebene.
Geben dir Leben, Atem und Körper,
damit du dich erheben und wandeln kannst.
Übe Rache, such deine Bezwinger,
nimm ihnen das, was sie dir genommen.
Hmm, das war es. Das klingt aber nicht gut.«
»Das reimt sich ja gar nicht.«
»Warum sollte es auch? Wenn es egal ist, in welcher Sprache du sprichst und nur die Worte wichtig sind, kann es sich auch gar nicht reimen, oder?«
»Stimmt auch wieder. Romi? Aber was bedeutet die Formel? Rufen wir unsere Mutter, damit sie Rache an Papa üben kann? Jetzt mal angenommen dieser ganze Scheiß hier funktioniert und Mama kommt zurück. Wird sie dann unseren Vater töten wollen?!«
Romi sah ihre Schwester schockiert an. »So ein Blödsinn. Wird sie nicht … das werden wir verhindern.« Romi fuhr sich angespannt durchs Haar. »Oh man, hör uns doch mal reden, wir tun so, als würde das alles wirklich klappen. Meine Gänsehaut hat gerade Kinder bekommen.«
»Dito. Schau mal auf die Uhr, wenn wir das gleich morgen früh in Angriff nehmen wollen, sollten wir jetzt schlafen gehen.«
Romina glaubte nicht, dass sie auch nur ein Auge zubekommen würde, aber kaum hatten sie sich hingelegt und das Licht gelöscht, war sie auch schon eingeschlafen.
»Romina«, flüstere es neben ihrem Ohr, sanft und liebevoll, beinahe singend ertönte eine Stimme wie aus einem Traum entrissen. Romi öffnete verschlafen die Augen, war jedoch im nächsten Augenblick hellwach. Der Schock zog sich tief in ihre Glieder, verhinderte den Schrei, der sich in ihrer Kehle sammelte. Vor ihr formte sich eine Silhouette aus waberndem, bläulich leuchtendem Nebel. Durchsichtig, aber doch deutlich genug, um das Gesicht zu erkennen. Es war die hübsche Frau auf dem Bild auf Romis Nachtschränkchen, die ihre Baby-Zwillinge auf dem Arm trug, stolz lächelnd und strahlend glücklich. Doch das schimmernde, durchscheinende Gesicht sah weder glücklich aus, noch lächelte es.
»Gefahr«, hauchte ihr Mund und die Augen der Toten starrten beinahe durch Romi hindurch. Eine kühle Hand fuhr dem Mädchen über die Wange und hinterließ eine eisige Spur aus gefrorenen Kristallen. Romi fühlte die Leere des Geistes wie eine kalte Düsternis auf ihrer Haut. Es war, als hätte das Jenseits nach ihr gegriffen und ihr eine Kostprobe der endlosen Qualen geschenkt, die sie nach dem Tod in der Hölle erwartete. Endlich löste sich dihr Schrei, gellend und anhaltend.
Als das Licht der Deckenlampe den kleinen Raum durchflutete und Muriel ins Zimmer stürzte, war die Gestalt verschwunden. Keine Spur, keine Aura, einfach nichts, als hätte es sie nie gegeben.
»Romi?! Was zur Hölle ist passiert? Ich bin ja hier, beruhige dich, es war nur ein Albtraum.«
Romina starrte Muriel mit weitaufgerissenen Augen an. »Mama ist in Gefahr!«
Muriel runzelte die Stirn und Romina sah, wie ihre Schwester blass wurde. »Was? Was redest du da? Und was hast du da im Gesicht? Sind das etwa Eiskristalle?!«
Romi fuhr sich mit heftig zitternden Fingern über die Wange. An der Stelle, an der ihre Mutter sie berührt hatte, bedeckte Raureif ihre Haut.
»Mama ist in Gefahr«, schluchzte sie erstickt und brach in Muriels Armen weinend zusammen. »Sie war hier, ich schwöre es und der Tod war bei ihr!«
Muriel zog ihre weinende Schwester an sich heran und hielt sie fest an sich gedrückt und streichelte ihr über das Haar. Eine Geste, die sie von je her benutzt hatte, um ihre Schwester zu trösten.
Der Morgen dämmerte bereits, als Romi sich endlich beruhigt hatte und Muriel detailliert von ihrem Erlebnis erzählen konnte. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Zusammengekauert in einem Bett schenkten sich die Schwestern Mut und Trost.
»Was haben wir da bloß angefangen.«
Romi war sich nicht sicher, wem diese Frage gegolten hatte.
*** *** ***
»Romi, ich finde, es ist keine gute Idee, ohne Begleitperson zu fahren. Die nehmen dir den Führerschein weg und du siehst ihn nie wieder.«
»Mir doch egal, dann fährst du mich eben überall hin. Was sollen wir denn machen? Papa ist auf der Arbeit, mal ganz davon abgesehen, dass ich ihn eh nicht fragen würde und sonst ist keiner da. Was sollten wir auch sagen, wo wir hinfahren? Uns wird schon keine Polizei anhalten. Es sei denn, du winkst wie wild aus dem Fenster und machst sie auf uns aufmerksam.«
»Ich hab einfach Angst. Was da letzte Nacht passiert ist, hat mich mindestens zehn Jahre meines Lebens gekostet«, sagte Muriel und zog ihren breiten Schal fester um ihre Schulter, dabei war es warm im Auto.
»Dich?! Du hast doch gepennt wie ein Stein. Mir ist sie erschienen und hat mich das Fürchten gelehrt. Es hat sich nach sterben angefühlt, als sie mich berührte. Ich kann mein Zittern noch immer kaum unter Kontrolle halten.«
»Dann sollten wir das alles vielleicht doch lassen. Unsere Psyche geht drauf, wenn wir das durchziehen.«
Romi schüttelte den Kopf. »Nein, wir müssen. Wenn sie wirklich in Gefahr ist, wo auch immer sie sich befindet, ist es dann nicht unsere Pflicht, ihr zu helfen?«
Daraufhin schwieg Muriel. Es war auch nicht nötig, etwas zu sagen, denn sie hatten die Böschung erreicht. Sich gegenseitig stützend stiegen sie den sehr steilen Abhang hinab, jeden Schritt vorsichtig setzend, um nicht die nächsten zu sein, die an diesem Ort starben.
»Erde liegt hier zumindest genug rum.« Muriel wischte sich die beschmutzten Hände an ihrer Hose ab und sah sich um. »Ist es nicht komisch, dass ich vor kurzem die Zeitungsausschnitte zu Mamas ›Unfall‹ gefunden hab, die Papa gesammelt hat? Es ist eine merkwürdige Kette von Zufällen, die uns hier hingeführt hat, oder? Sonst hätten wir heute nicht gewusst, wo sie ums Leben gekommen ist.«
Muriel lachte kurz freudlos auf. »Zufall? Im Leben nicht, denk daran, was Madam Martha uns nachgerufen hat. Ich habe keine Ahnung, wo wir hier reingeraten sind, aber ganz ehrlich, mir geht der Arsch auf Grundeis.«
»Egal, ich will es wissen. Wir schleichen uns morgen nach zehn Uhr raus, Paps schläft dann schon und wird nicht hören, wenn wir das Auto starten. Aber lass uns jetzt die Erde aufhäufen.«
»Ich hab zwei kleine Gartenschippen mitgenommen«, grinste Muriel schief.
»Die Kleinen, mit denen ich immer die Blumen umtopfe?! Wie lange sollen wir denn buddeln? Wenn wir fertig sind, ist Halloween bereits um.«
»Ich hab nix anderes gefunden man, stell dich nicht so an, es wird schon gehen.«
Romina schnappte sich augenrollend eine der beiden bunten Schäufelchen und ging in die Knie. Muriel hockte sich mit etwas Abstand ihr gegenüber und gemeinsam gruben sie in der Erde, um einen langgezogenen Hügel vor sich aufzutürmen.
»Himmel ist das schon kalt geworden.« Muriels Lippen färbten sich langsam bläulich. Sie streute die letzte Schaufel mit Erde auf den kleinen Erdwall und schaute ihre Schwester abwartend an, die begonnen hatte, einen Körper zu formen. »Ja, ich fühle meine Hände auch kaum noch. Wir hätten uns besser vorbereiten sollen. Morgen müssen wir uns definitiv wärmer anziehen. Wenn die Sonne weg ist, wird es bestimmt noch mal fünf Grad kälter.« Schwerfällig erhoben sich die Zwillinge, um ihr Werk zu betrachten.
»Meinst du, das geht als menschenähnlich durch?«
Romina nickte. »Ja denke schon. Man kann erkennen, wo der Kopf ist, und Füße und Arme sind auch angedeutet. Für mich sieht es so aus, als würde ein menschlicher Körper unter der Erde liegen.«
»Dann lass uns beten, dass wir keinen Regen bekommen.«
»Ich glaube nicht, dass ein Gebet hier angebracht ist«, sagte Romi und verzog spöttisch die Lippen. Die Ereignisse der letzten Nacht standen ihr noch immer zu deutlich vor Augen und verströmten eine diffuse Angst in ihr. »Lass uns jetzt einfach nach Hause fahren und den Tag irgendwie rumkriegen.«
*** *** ***
»Ihr wollt heute Abend doch nicht ausgehen, oder?« Die Stimme des Vaters klang ungewohnt im sonst so stillen Wohnzimmer. Erschrocken zuckten die Mädchen zusammen, als sie von ihm erwischt wurden, wie sie das Haus verlassen wollten.
»Warum schläfst du noch nicht, Papa?«, fragte Muriel stirnrunzelnd.
»Warum ich noch nicht schlafe? Die Frage sollte eher heißen, warum ihr jetzt wegwollt.«
Romina ging dazwischen, bevor Muriel mit ihrer patzigen Art alles verderben konnte. »Heut ist Halloween, Papa. Wir wollen noch mit ein paar Mädels ausgehen und Spaß haben. Alles gut, wir sind vor Mitternacht wieder daheim.«
»Nein.«
Romi stutzte. »Nein? Was meinst du mit nein?«
»Nein bedeutet, dass ihr heute nicht weggehen werdet. Ihr habt das doch sonst auch nie an Halloween gemacht, warum also diesmal?«
»Papa«, sagte Muriel sanft. »Wir sind beinahe erwachsen. Wir werden auch nicht mit Jungs feiern, bleiben dem Alkohol fern und fangen auch nicht an zu rauchen, versprochen.«
»Geht auf eure Zimmer, jetzt«, der resolute Unterton wäre bei dem harten Gesichtsausdruck des Vaters gar nicht mehr nötig gewesen. Die Mädchen kannten diesen Ausdruck bereits von ihm und sie wusste, dass Diskutieren keinen Zweck hatte. Aber Romi wäre nicht Romi, wenn sie es nicht wenigstens versuchte.
»Aber Papa!«, rief sie. »Du kannst uns doch nicht hier einsperren!«
»Ach, kann ich nicht?« Mit den Worten war er bei der Haustür angelangt, schloss sie ab und steckte den Schlüssel ein. Ohne sich auf weitere Debatten einzulassen, drehte er sich um. »Ich gehe jetzt ins Bett, das solltet ihr auch tun. Gute Nacht.«
Wie vom Donner gerührt standen sich die Mädchen gegenüber und schauten ihrem Vater sprachlos hinterher.
»Das hat er gerade nicht wirklich gemacht?« Romina schüttelte den Kopf. »Was ist bloß mit ihm los?«
Muriel stupste ihre Schwestern an und flüsterte: »Komm, ich hab eine Idee.«
Leise schlichen sie die Stufen zu Muriels Zimmer hoch.
»Wir nehmen mein Fenster.«
»Was?! Ich breche mir doch den Hals.«
»Tust du nicht. So bin ich im Sommer immer raus, um mich nachts noch mit Mike zu treffen.«
»Du hast was mit Mike gehabt?! Diesem Widerling?«
»Ist doch jetzt völlig egal, oder? Ich geh vor, du schaust zu und folgst mir.«
Der Abstieg war leichter, als Romi es sich vorgestellt hatte. Im Schatten der Dunkelheit liefen sie geduckt zum Auto und fuhren los.
»Hast du den Zettel eingesteckt?«
Muriel nickte und warf einen Rucksack auf die Rückbank.
»Was ist da drin?«, fragte Romi und stellte ihren Rucksack dazu.
»Eine Taschenlampe und Kleider, falls es wirklich klappt. Ich nehme nicht an, dass sie in Sonntagsgarderobe wieder kommt.«
»Oh … daran hätte ich nicht gedacht.«
»Und was hast du mitgenommen?«
»Wasser zum Trinken oder Waschen und etwas zu essen.«
Muriel lachte. »Siehst du? Daran hab ich nicht gedacht. Wir ergänzen uns einfach perfekt.«
»Ich habe Bauchweh. Mir ist schlecht und ich fühle mich gar nicht gut.« Rominas Bauch fühlte sich an, als wäre er mit Steinen gefüllt, die immer wieder aneinander rieben.
»Was? Du hast mich überredet und jetzt willst du einen Rückzieher machen, Romi?«
»Nein, auf gar keinen Fall.«
Der Lichtkegel des Autos erfasste die Böschung, das Motorengeräusch erstarb und mit ihm die Helligkeit. Die Stille flutete wie schwarzes, zähflüssiges Öl ins Auto und lies die Mädchen darin ertrinken.
»Steig du zuerst aus.« Romi klammerte sich an den Türgriff, aber ihre Finger weigerten sich, daran zu ziehen.
Muriel nahm die Sachen von der Rückbank, atmete tief durch und stieg aus dem Auto. Das Licht der Innenraumbeleuchtung erhellte den Rücken der Schwester und blendete Romina, bis Muriel die Tür laut zuschlug. Romi hatte das Gefühl, als wäre Muriel vom Nichts verschlungen worden, als das Licht erneut aus ging. Stöhnend kniff sie die Augenlider zusammen, als ihre Schwester mit der Lampe ins Auto leuchtete.
»Kommst du jetzt?«, klang es dumpf durch die Fensterscheibe. Romina schluckte, öffnete mit einem Ruck die Tür und stieg ebenfalls aus. Die kalte Nachtluft kroch ihr mit klammen Fingern unter die Jacke und für einen Moment dachte sie an die Berührung ihrer Mutter. Schaudernd strich sie sich über die Arme, nicht wissend, ob die Gänsehaut von Kälte oder Furcht herrührte. Muriel schien es ähnlich zu gehen. Unschlüssig standen die Schwestern einige Sekunde da, dem Lichtkegel der Taschenlampe nachblickend, der vom Dickicht der Böschung verschluckt wurde.
Romi rührte sich als Erste. »Gut, wir haben noch eine halbe Stunde bis Mitternacht. Wenn nicht jetzt, dann nie mehr.«
Muriel presste entschlossen die Lippen zusammen und nickte.
Geröll rutschte den Mädchen nach, als sie den Grund erreicht hatten, und erfüllte die Nacht mit einem rasselnden Geräusch.
»Der Erdhaufen liegt genau so da, wie wir ihn zurückgelassen haben.« Muriel leuchtete über den kleinen Wall.
»Es ist wahnsinnig still heute Nacht, oder?«
»Was hast du erwartet? Eine Konferenz der Tiere? Oder eine Mitternachtsparty der Geister?«
Romi streckte ihrer Schwester die Zunge raus, Muriels sarkastische Art ging ihr manchmal wirklich auf die Nerven. »Hast du alles?«
»Den Zettel, ein sauberes, scharfes Messer und Verbandsmaterial. Sicher ist sicher, hab keine Lust mir eine Infektion zu holen.«
»Gut, ich bin das Ritual noch mal durchgegangen. Wir sprechen den Spruch einmal, dann muss das Blut fließen, während wir den Spruch ein zweites Mal aussprechen, dann fassen wir uns an den Händen und sagen ihn ein drittes Mal.«
»Klingt ja eigentlich ganz leicht, müssten wir hinbekommen.«
Romi schaute auf, als ein leiser Donner durch die Luft grollte. Der Himmel zog sich zu, Wolken bedeckten den Mond und stahlen ihnen somit auch das letzte Bisschen natürlichen Lichts.
»Hoffentlich hält sich das Wetter, bis nach Mitternacht. Ich habe keine Lust bis zu den Knöcheln im Matsch zu stehen.« Romi zog fröstelnd ihre Jacke enger um sich und stieß eine weiße Atemwolke aus. Muriel stelle sich vor einen Strauch und betrachtete die dicken Äste. »Das müsste gehen. Romi, hilf mir mal, ich will die Taschenlampe so befestigen, dass wir genügend Licht haben.«
Romi war gleich zur Stelle und half ihrer Schwester das Gehäuse an einem der Äste festzubinden. Es war nicht perfekt, aber es reichte aus.
»Wir müssen jetzt auch anfangen, das Zeitfenster wird uns sonst zu knapp.« Muriel konnte den kleinen Zweifel in ihrem Tonfall nicht unterdrücken.
Gemeinsam stellten sie sich an das Ende, das den Kopf darstellen sollte, und nickten sich zu.
»Dem Leben entrissen, zu früh bezwungen«, ihre Stimmen durchbrachen die Stille unangenehm laut. »Suchen wir dich auf der anderen Ebene. Geben dir Leben, Atem und Körper, damit du dich erheben und wandeln kannst. Übe Rache, such deine Bezwinger, nimm ihnen das, was sie dir genommen.«
Die Worte kamen ihnen ganz leicht über die Lippen, keine von ihren brauchte den Zettel. Ein greller Blitz durchschlug die Luft knapp über ihnen und ließ sie zusammenzucken. Muriel holte das Messer aus ihrer Tasche. Es war ein noch eingeschweißtes Skalpell aus der Apotheke in ihrer Straße. Mit frostklammen Fingern packte sie es aus und überreichte es Romi. Ihre Hände waren inzwischen ganz ruhig geworden, aber Romina wunderte sich über nichts mehr. Sie rollte die Jacke am linken Ärmel bis zum Ellenbogen hoch, Muriel tat es ihr gleich. Wie in Trance zog sie die Klinge über ihre Haut und beobachtete fasziniert, welchen Kontrast das dunkle Blut bildete. Es tat nicht einmal weh. Mit abwesendem Blick reichte sie ihrem Zwilling das Messer. Das Tropfen der dunkelroten Flüssigkeit, die im Schein der Taschenlampe beinahe schwarz wirkte, war hypnotisierend. Muriel tat es ihr stumm gleich und ließ danach das Skalpell einfach fallen. Erneut sprachen sie die Worte.
Nebel stieg aus dem Boden, dick und zäh umfloss er die Schuhe der Mädchen. Hände aus Eis schienen sich an ihren Knöcheln festzuhalten und krochen ihre Beine hinauf.
»Gefahr …«, hauchte es über den Köpfen der Zwillinge. Verloren und einsam klang dieses eine Wort und hinterließ eine fast greifbare Verzweiflung. Muriel sah ihre Schwester mit großen Augen an, die sich mit Tränen füllten. Romi legte den Zeigefinger an die Lippen, keine anderen Worte, als die der Beschwörung durften jetzt fallen, kein Einziges, sonst wäre alles umsonst gewesen. Erneut setzten sie gemeinsam an. Entschlossen sprachen sie die Beschwörungsformel aufs Neue aus.
Der Boden bebte sanft und ein Wehklagen drang zu ihnen, das nicht von dieser Welt stammen konnte. Der unheilbare Schmerz verlorener Seelen legte sich wie ein Netz aus Dornen über Romi. Todesangst krallte sich mit klingenbesetzter Hand um ihr Herz und drohte es zu zerquetschen.
»Dem Leben entrissen, zu früh bezwungen, suchen wir dich auf der anderen Ebene. Geben dir Leben, Atem und Körper, damit du dich erheben und wandeln kannst. Übe Rache, such deine Bezwinger, nimm ihnen das, was sie dir-«, ein gewaltiger Blitz zerriss die Luft, schlug in den Boden vor ihnen ein und schleuderte die Mädchen nach hinten weg. Krachend schlugen die Körper auf dem harten Boden auf, die Wucht presste ihnen die Luft aus den Lungen. Romi schloss benommen die Augen, ihr Körper verkrampfte sich und zuckte unkontrolliert.
»Muriel!«, schrie sie laut, unfähig sich zu erheben. Wenige Schritte weiter ertönte Muriel schmerzunterdrückter Fluch. »Scheiße. Oh verdammter Mist, ich glaub, ich hab mir alles gebrochen. Was zur Hölle war das?!«
»Das war ein Blitz, er ist in den Boden zwischen uns eingeschlagen. Ich glaube, ich muss mich übergeben, es tut so verflucht weh.«
In der Ferne ertönte der letzte Glockenschlag der Kirchturmuhr, um das Ende des letzten Tages und den Beginn des Neuen anzukündigen.
»Wir haben es verbockt, Romi. Ich habe das letzte Wort der Beschwörung nicht aussprechen können.«
Romi seufzte und legte einen Arm über ihr Gesicht. »Ich wurde auch unterbrochen. Es war alles umsonst.«
Stöhnend rappelten sich die Zwillinge wieder auf und beugten sich über den zerstörten Erdhügel. Der Mond war zwischen der Wolkendecke hervorgebrochen und beleuchtete die mystische Szene heller, als es die Lampe konnte. Romi ging enttäuscht in die Knie und strich über den eingedellten Erdwall. Stirnrunzelnd hob sie den Arm, dem sie gerade eben erst einen tiefen Schnitt zugefügt hatte. Der Arm war noch immer blutverschmiert, aber sie fühlte keinen Schmerz. Zögerlich strich sie über die Stelle, doch statt der erwarteten Wunde, fühlte sie nur unverletzte Haut. »Muriel, meine Schnittwunde ist weg.«
Sofort hob auch Muriel ihren Arm und berührte fassungslos die Stelle. »Bei mir auch.«
Romi erstarrte, es war, als wäre sie in einen Bottich Eiswasser getaucht worden. »Schau auf den Boden …«
Muriel keuchte verängstigt, der Boden hob sich merkwürdig an, als versuchte etwas, von unten hervorzubrechen. Romi stieß mit dem Fuß gegen das Skalpell, sie bückte sich rasch und hielt es krampfhaft wie eine Waffe fest. Muriel hatte sich im Gegenzug einen der abgebrochenen Äste geschnappt, die nach dem Blitzeinschlag überall herumlagen.
Der Boden hob und senkte sich wie ein pulsierendes Herz, bis er schließlich nachgab. Eine bleiche, dürre Hand stieß zwischen Torf und feinem Steinschotter empor, als würde sie mit ganzer Kraft nach dem Leben greifen wollen.
»Mama?!« Entsetzt ließen die Mädchen ihre Waffen fallen und krallten ihre Hände in die Erde. Immer schneller befreiten sie den begrabenen Körper, als hätten sie Angst, er könnte wieder im Erdreich verschwinden. Schließlich lag sie vor ihnen, eine junge Frau, nur wenig älter als sie selbst, verschmiert von Erde und Blut, die japsend um Luft kämpfte. Romis Sicht verschleierte sich vor Tränen, die ihr über das schmutzige Gesicht liefen.
»Ma ... Mama?«, fragte sie. Muriels Hand hatte in ihre gefunden. Zitternd hielten die Mädchen einander fest. Erschöpft holte die Frau vor ihnen erneut Luft und hustete die letzten Erdbrocken heraus. Gequält öffnete sie Augen und schaute gehetzt immer wieder von Muriel zu Romi hin und her.
»Was habt ihr getan?« Ihre Stimme klang brüchig und rau. »Was zum Teufel noch mal habt ihr getan?!«
Geschockt sahen die Zwillinge sich an. »Was meinst du damit? Du warst in Gefahr, das hast du mir doch letzte Nacht mitteilen wollen.«
Resigniert schüttelte Loredana den Kopf. »Alles umsonst, ich habe euch gewarnt, es nicht zu tun, ich habe euch gewarnt, dass ihr euch in Gefahr begebt. Wo ist euer Vater? Schnell! Er muss mich wieder töten, bevor es zu spät ist. Ich habe nicht die Kraft, es selbst zu tun.«
Fassungslos beugte Romi sich vor und umarmte ihre Mutter. »Das hast du versucht mir zu sagen?! Nein. Nein!« Romi schüttelte panisch den Kopf. »Wir sollten dich retten, weil du in Gefahr bist. Wir sind hier, weil DU uns gerufen hast!«
»Also stimmt es? Papa hat dich umgebracht?« Muriel wich entsetzt zurück.
»Euer Vater hat euch nichts erzählt?! Er hat euch nichts von eurem Erbe, eurer Gabe erzählt?« Erschüttert setzte Loredana sich mit Hilfe ihrer Kinder aufrecht hin und nahm ihre Töchter bei den Händen. »Wie wunderschön ihr geworden seid, so groß und hinreißend«, sagte sie mit der Traurigkeit einer Mutter, die ihre Kinder verloren hatte. »Aber für so etwas haben wir keine Zeit.« Resolut schüttelte sie den Kopf, als wolle sie sich zur Räson bringen. »Ich habe das nicht gewollt. Ich habe all das nie gewollt, das müsst ihr mir glauben. Aber wenn euer Vater nicht hier ist, müsst ihr es leider tun. Ihr müsst mich zurückschicken. Die Welt der Lebenden ist nicht mehr für mich. Ich hatte meine Zeit auf Erden, war sie auch noch so kurz. Ich versuche es so kurz wie möglich zu erklären, denn ich fühle, dass mir die Zeit davon läuft. Ihr wart damals noch so furchtbar klein und ich so entsetzlich jung und dumm. Meine Schwester, euer Vater und ich fanden ein altes Buch im Keller eurer Urgroßmutter. Wir nahmen es und fuhren irgendwo hin, wo uns keiner stören würde. Hier dieser Ort,« sie klopfte mit der flachen Hand auf den Boden, »schien einfach perfekt. Wir blödelten herum, sprachen aus Spaß Beschwörungsformeln auf. Bis uns tatsächlich ein Dämon erhörte. Baeltoraz, ein Dämonenkönig. Er fuhr in mich hinein, weil mein Blut die Verbindung zwischen Menschenwelt und Dämonenwelt in sich trug. Durch mich konnte er in unsere Dimension, um diese für seine Welt zu öffnen. Und ich war seine Tür. Das mussten wir verhindern. Der Dämon zerriss mich langsam von innen heraus und ich flehte euren Vater an mich zu erlösen. Er hätte es vor lauter Verzweiflung beinahe nicht über sich gebracht, aber schließlich nahm er einen Stein und schlug mir den Kopf ein.« Loredana schrie gepeinigt auf und krümmte sich zusammen. »Er hat mich gefunden. Er hat mich gefunden! Wir haben keine Zeit mehr, ihr müsst handeln, bevor der Dämon meinen Körper zerfetzt, dann kann ihn nichts mehr stoppen.«
Die Zwillinge krochen schreiend von ihrer Mutter weg, die Augen groß vor Bestürzung, als sich die Haut ihrer Mutter bewegte, als würde sie riesige Blasen werfen.
»Ich kann das nicht, Mama. Wir haben dich doch eben erst wieder bekommen.« Romina presste die Hand vor den Mund, um nicht laut zu schluchzen. Was hatten sie nur getan? Sie hatten mit Mächten gespielt wie dumme unfähige Kinder und fürchteten sich nun vor den Konsequenzen. Muriel weinte hemmungslos, den Kopf auf die angezogenen Knie gelegt. Die Schreie Loredanas hallten schwer durch die Nacht, verzweifelt streckte sie die Hände nach ihren Töchtern aus, doch Romina und Muriel waren wie erstarrt, ihre Körper gehorchten ihnen nicht mehr.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll.« Rominas Angst lähmte sie.
»Geht weg von ihr!« Die dunkle, autoritäre Stimme überlagerte die gepeinigten Schreie der Mutter.
Fassungslos starrten die Mädchen den Vater an, der die Böschung heruntergeschlittert kam. »Geht weg von ihr«, sagte er noch einmal. Sein Gesicht war vor Trauer und Verzweiflung verzerrt. Romina schrie schockiert, als der nackte Körper der Mutter sich im Mondlicht zu verändern begann. Ein lautes Krachen zeugte vom Brechen einiger Rippen, dunkle Krallen ließen die Fingerspitzen Loredanas bersten und deformierte ihre Hände zu blutigen Klauen.
Ein lauter Knall zerriss die Luft, noch lauter als der Blitz, der den Boden gespalten hatte. Wimmernd hielten sich die Mädchen die Ohren zu. Der unirdische Schrei eines hasserfüllten Wesens drang trotzdem zu ihnen durch und bohrte sich in ihre Köpfe und verwüstete ihren Verstand, bis der Dämon endlich verstummte.
Traumatisiert stierten Romina und Muriel erst ihren Vater, dann den Leichnam ihrer Mutter an. Ein kleines Loch prangte mitten auf Loredanas Stirn, die Austrittswunde hatte ihren Hinterkopf einfach weggesprengt. Der leere Blick der Mutter richtete sich in den nachtschwarzen Himmel. Wie zum Hohn spiegelte sich die fahle Scheibe des Mondes in ihren leblosen Augen. Der Vater hatte seine Waffe noch auf Loredana gerichtet, der Lauf zitterte in seiner Hand.
»Oh Gott, nicht schon wieder. Warum lässt du mich diesen Horror noch mal durchleben?« Den Mund vor Pein aufgerissen, sank er mit tränennassem Gesicht in die Knie und ließ die Pistole fallen.
Romina atmete schnell und flach, panisch starrte sie auf den leblosen Körper. Es hatte aufgehört. Was auch aus Loredana hatte hervorbrechen wollen, es war mit ihrem Tod gestoppt worden.
»Papa?«, fragte Romi verängstigt. »Papa, was passiert hier? Was ist hier los?«
Ein haltloses Schluchzen erschütterte die Schultern des Mannes. »Warum konntet ihr nicht einfach auf mich hören? Warum seid ihr nicht einfach daheimgeblieben? Ich wollte mich für meine barschen Worte entschuldigen, aber ihr wart bereits weg. Ich hatte eine furchtbare Ahnung, als ich die Zeitungsausschnitte auf Muriels Tisch fand und das verfluchte Buch in deinem, Romina. Ich behielt recht.« Die Trauer hatte ihn jahrelang erdrückt, Sorgenfalten durchfurchten sein Gesicht und machten ihn älter, als er war.
Romina kroch zu Muriel, die apathisch ihren Körper hin und her schaukelte. Unbeholfen legte sie ihr einen Arm um die Schulter und drehte sie vom entsetzlichen Anblick der Toten weg.
»Wir müssen gehen, Mumu«, sprach sie ihre Schwester sanft mit dem Kosenamen der Kindheit an. »Steh auf, wir müssen hier weg.«
Lethargisch ließ Muriel sich aufhelfen und zur Böschung führen. Romi drehte sich noch mal um und sah ihren Vater unsicher an. »Was soll ich tun?«
»Geh, fahr deine Schwester heim. Die Tür ist offen. Wir reden später. Ich muss erst eure Mutter begraben.« Er klang so furchtbar erschöpft, dass Rominas Herz zu brechen drohte, aber sie tat, was er sagte.
***** ***** *****
Liebevoll strich Romina mit dem feuchten Waschlappen über das Gesicht ihrer Schwester, das grelle Licht der Badezimmerlampe löschte für einen Moment die dunklen Schatten aus ihrem Kopf.
»Shhh, alles ist gut. Wir werden diese Nacht aus unseren Köpfen streichen und so tun, als wären diese furchtbaren Dinge nie geschehen«, sagte sie zu ihrer Schwester. Muriel reagierte nicht, ihr Blick war in eine unbekannte Welt gerichtet, zu der Romi keinen Zugang hatte. Zärtlich küsste sie ihre Schwester auf die Stirn, als ihre Haut wieder frisch und rosig war und zog sie aus dem Badezimmer. Wehrlos ließ Muriel sich wie eine Puppe mitziehen.
Erleichtert hörte Romina die Tür, ihr Vater war zurückgekehrt, dennoch stand sie unentschlossen an der Treppe. Was sollte sie ihrem Vater sagen? Vielleicht musste sie nichts sagen, zuhören würde reichen. Sie musste wissen, was heute Nacht geschehen war und wie es dazu hatte kommen können. Vorsichtig begleitete Romina Muriel die Stufen wieder hinab und führte sie in die Küche. Der Vater hatte sich an den Tisch gesetzt, die Pistole vor sich liegend. Die Ellenbogen stütze er am Tisch ab, während er den Kopf in seinen Händen vergraben hatte. Romi bemerkte, dass er sich nicht mal die Zeit genommen hatte, den Dreck von den Fingern zu waschen. Sie setzte Muriel schweigend an den Tisch und nahm den Stuhl neben ihr. »Papa?«, fragte sie vorsichtig.
»Erzähl mir alles. Sage mir, woher ihr wusstet, was zu tun war und wer hat es euch erzählt.«
Stockend fing Romina an, bis die Worte nur so aus ihr heraussprudelten. Still hörte der Vater zu, am Ende schüttelte er erschüttert den Kopf. »Ich hätte es wissen müssen. Martha ist eure Tante. Sie ist mit dämonischen Mächten im Bunde und wollte euch dazu missbrauchen, eure Mutter wieder zu holen. Loredana hat ihr Leben gegeben, um diese Welt und insbesondere euch beide zu schützen.«
»Warum hast du uns nie davon erzählt?«, fragte Romina mitfühlend und streichelte ihm über die Hand.
»Als hättet ihr mir geglaubt ... Außerdem wollte euch vor diesem Horror bewahren. Ich dachte, wenn ich euch von allem Dämonischen fernhalte, ja sogar der Kirche, die nur von Dämonen erzählt, könnte ich euch beschützen. Ich lag falsch und ihr hättet für meinen Fehler beinahe mit dem Leben bezahlt. Ich wollte euch nicht mit dem Wissen belasten, dass ich eure Mutter töten musste.« Er wischte sich mit dem Handrücken über die feuchten Augen und verschmierte dabei den Dreck nur. »Nach dem ich sie erlöst hatte, schleppte ich ihren Körper die Böschung hinauf und setzte sie ins Auto. Ich löste die Brems- und Benzinschläuche und ließ sie den Abhang hinunterrollen. Der Aufprall löste eine Explosion aus, Loredana verbrannte und mit ihr das dunkle Geheimnis. Ich hätte ahnen müssen, dass Martha euch finden würde. Sie hat Rache geschworen dafür, dass ich ihre Schwester ermordete. Sie hat nicht verstanden, dass der Dämon im Begriff war alles Leben auf dieser Welt zu vernichten. Ich glaube, sie ist über dem Anblick ihrer toten Schwester wahnsinnig geworden.«
»Wo waren wir, Papa? Ihr habt uns bestimmt nicht mitgenommen?«
»Natürlich nicht. Ihr seid bei eurer Großmutter gewesen, Loredanas Mutter. Sie hat die Nachricht vom Tode ihrer Tochter nicht überlebt und starb eine Woche später an gebrochenem Herzen.« Bekümmert sah er zu Muriel. »Deine Schwester steht unter Schock, bei Gott, ich hoffe, sie erholt sich wieder.«
Romina nickte zuversichtlich, vielleicht einwenig zu stark. »Sie wird wieder, ich bin ganz sicher.«
»Hole bitte das Teufelsbuch herunter, Schatz. Wir müssen es vernichten.«
Romina rannte die Treppe hinauf und suchte nach dem Buch. Muriel hatte es nicht einmal versteckt, es lag ganz offen auf dem Tisch. Einen kurzen Moment zögerte Romi, das Buch erneut anzufassen, stattdessen griff sie nach einem Handtuch, das unordentlich über Muriels Stuhl hing, warf es über den Foliant und schlug es darin ein. Am Treppenabsatz hörte sie plötzlich das Lachen ihrer Schwester. War sie wieder zu sich gekommen? So schnell? Aber warum lachte sie? Krachend fiel ein Stuhl um und landete scheppernd auf dem Boden. Rominas Herzschlag stieg und das Blut rauschte in ihren Ohren. Was passierte dort unten?! Atemlos stolperte sie die Stufen hinab und gefror im Torbogen zur Küche. Hilflos strampelte ihr Vater im harten Griff Muriels. Als würde er nichts wiegen hatte sie ihn an der Kehle gepackt und aus dem Stuhl gehoben. Stumm formte der Mund des Vaters die Worte ›lauf weg‹, als er Romina sah, unfähig, den Satz laut auszusprechen. Muriel folgte dem Blick des Vaters und grinste, als auch sie Romina entdeckte. »Da bist du ja, Schwester.« Eine unbekannte verzerrte Stimme grollte aus dem Mund der Zwillingsschwester. Entsetzt ließ Romina das Buch fallen, stürmte zu Muriel und versuchte panisch den Griff um den Hals des Vaters zu lösen. »Was tust du Muriel! Er bekommt keine Luft!«
Muriels Augen leuchteten rot auf. »Deine Schwester ist längst weg, sie hat sich nicht mal verabschiedet, das unhöfliche Ding. Aber soll ich dir etwas sagen? Ihre Seele war so süß wie frische Erdbeeren.«
»Nein! NEIN! Das ist unmöglich, ich habe gesehen, wie mein Vater dich erschossen hat, du wurdest zurück in die Hölle verbannt«, schrie Romina und wich vor dem Ding zurück, das einmal ihre Schwester gewesen war.
Ein dämonisches Lachen brummte aus Muriels Kehle. »Wäre ich, wenn ihr das Ritual richtig ausgeführt hättet. Ihr habt mir Tür und Tor geöffnet und dafür bin ich euch so dankbar, dass ich deinen Vater und dich schnell töten werde.«
Das Geräusch war schrecklich, als Baeltoraz das Genick des Vaters einem Streichholz gleich brach und der Dämon den schlappen Körper wie etwas Lästiges von sich warf. Donnernd prallte der tote Körper gegen die Küchenvitrine, die nach vorne kippte. Ein Regen aus schepperndem Glas und Ton ging auf den Leichnam nieder, bevor auch der Schrank krachend umfiel.
»Und nun bist du dran, meine Schöne«, sagte Muriels Mund grinsend mit der Stimme des Dämons.
»PAPA!!« Weinend stürzte sie zu ihrem Vater, der unter der Vitrine begraben war und versuchte erfolglos das schwere Möbelstück anzuheben. »Du Monster! Du Ausgeburt der Hölle! Was hast du nur getan?!«
Baeltoraz hob eine Augenbraue, als würde er Rominas Ausbruch nicht nachvollziehen können. »Na mein Buch beschützen natürlich. Ich werde die Hülle deiner Schwester nicht zerstören, wie ich es bei deiner Mutter vorhatte. Ich mag diese Form, außerdem kann ich mit Muriels Blut jedes Jahr weitere meiner Gefolgsleute aus meiner Dimension holen und bald gehört deine Welt uns. Mit euch beiden zusammen wäre es natürlich leichter, aber deine süße Schwester reicht mir völlig.«
Romina weinte um ihren Vater, weinte um ihre Schwester. Sie bereute es, jemals einen Fuß in Marthas Wohnwagen gesetzt zu haben. Sie stockte, als ihr Blick über die Pistole schweifte, die im Kampfgeschehen hinunterfallen sein musste. Die Worte ihrer Mutter kamen ihr in den Sinn. Der Dämon konnte zurück in seine Welt geschickt werden, solange er nicht aus Muriels Körper herausgebrochen war. Entschlossen griff sie nach der schweren Waffe und wischte sich mit der anderen Hand über das tränenfeuchte Gesicht, um für einen Moment klare Sicht zu bekommen. Baeltoraz hatte ihr den Vater und die Schwester genommen, doch die Welt würde sie beschützen können. Einen Moment verkrampfte sich ihr Körper aus Angst, dass sie es nicht würde durchziehen können. Dass sie unfähig war das zutun, was ihr Vater gerade getan hatte.
»Versteckst du dich gerade wirklich vor mir unter dem Tisch?« Baeltoraz lachte laut. »Du bist tatsächlich noch dämlicher, als ich es für möglich gehalten hatte.«
Mit einem Griff packte er den Küchentisch, riss ihn hoch und schleuderte ihn auf die andere Seite des Raumes. Ein freudloses Lächeln huschte über Rominas Gesicht, als der Dämon vor ihr auftauchte. Sie sah nicht länger Muriel, sie sah nur noch Baeltoraz.
»Fahr zur Hölle, Arschloch.« Sie zielte kurz, drückte ab und traf Muriels Körper mitten auf der Stirn, wie es ihr Vater bei ihrer Mutter getan hatte. Für einen kurzen Augenblick erstarrte Muriels Gesicht zu einer überraschten Fratze, bevor der Körper in sich zusammenfiel und reglos liegenblieb. Der Schrei des Dämons gellte durch das Haus und ließ die Fenster vibrieren. In einem heftigen Splitterregen barst das Glas nach außen und prasselte lautstark auf die Straße. Selbst alle Glühbirnen zerplatzen mit einem lauten Knall, was aber im Getöse unterging.
Die Stille, die wenige Sekunden später einkehrte, war beinahe unerträglich. Muriel starrte geistesabwesend auf die Pistole und weinte. Alles umsonst. Baeltoraz war nicht fort. Sie spürte, wie er sich in ihrem Innern festkrallte, um sie, wie ihre Schwester, zu übernehmen.
»Wenn nicht deine Schwester, dann eben dich. Ich bin nicht wählerisch.« Der beißende Flüsterton drohte ihr Gehirn zu zerfetzen. Die Zeit lief ihr davon, sie fühlte, wie der Dämon sie auszufüllen begann. Schwindel und Übelkeit übermannten Romina. Der Dämon fraß sie innerlich auf und wollte nichts als ihre Hülle übrig lassen. Es gab nur einen Weg, nur eine Möglichkeit, um das zu verhindern. Sonst war ihre Familie umsonst gestorben. Sie setzte die Pistole an der Schläfe an. »Spiel nie mit Mächten, die du nicht verstehst«, flüsterte sie in den dunklen Raum und drückte ab.
Ende
Tag der Veröffentlichung: 25.03.2021
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