Cover

Die Stadt der halben Menschen

- 5 -

Die Stadt der halben Menschen

 

»Bitte nehmen sie ihre Dokumente in die Hand, sie werden beim Aussteigen kontrolliert«, plärrte es kratzig aus dem Lautsprecher des Zuges. Walter blickte kurz auf und wühlte dann in der Innentasche seines Jacketts nach den geforderten Papieren. Stumm, wie alle anderen Passagiere, starrte er dann wieder aus dem Fenster, ohne wahrzunehmen, was an ihm vorüber huschte.

Es war seine Entscheidung gewesen, die Reise ins Unbekannte zu wagen, trotz des zaghaften Vetos seiner Familie. In Wahrheit war er überzeugt davon, dass seine Kinder und Enkelkinder erleichtert waren, dass er sich zu dieser Reise entschlossen hatte. Andere Verwandte hatte er nicht mehr. Das war der Tribut des Alters.

Der Zug wurde langsamer, nun würde es nicht mehr lange dauern, bis er im Bahnhof ›Endstation‹ ankam. Er schaute sich um. Die meisten machten noch keine Anstalten sich für den Ausstieg fertig zu machen. Er drehte sich wieder nach vorne. Es machte ihn traurig, dass so viele junge Menschen im Zug saßen. Diese Fahrt sollte allen Menschen unter 85 erspart bleiben.

Er spürte, wie der Zug bremste, aber das typische Quietschen der Bremsen blieb aus. Gut instandgehalten, nahm er an.

Die meisten seiner Mitreisenden erwachten nun langsam aus einer Art passivem Warte-Koma. Leises Rascheln zeugte davon, dass nicht nur er sich für die Ankunft bereit machte.

Die alten Knochen taten ihren Job nur unter Protest, aber als Walter endlich stand und zum Ausgang humpelte, waren diese Schmerzen vergessen.

Eine freundliche Frau lächelte ihm aufmunternd entgegen. Walter hielt sich an den Haltevorrichtungen fest, stieg aus und war froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Er überreichte der Frau, die ihn an eine Stewardess erinnerte, seine Papiere.

»Willkommen im Land der halben Menschen. Es tut mir leid, sie hier zu begrüßen. Ich wünsche ihnen einen Aufenthalt voller Erleichterung. Bitte begeben sie sich nach rechts und steigen in den roten Bus. Er wird sie an ihren Bestimmungsort bringen.«

Walter nickte wortlos, lächelte knapp als Antwort und ging in die Richtung, die sie ihm genannt hatte.

Der Bus war bereits voll mit Menschen seines Alters. Eine Frau mit kurzen, silbrigen Haaren nickte ihm zu und rückte ein Stück auf ihrer Bank. Die eine Hälfte ihres Gesichtes sah ihn traurig, aber auch freundlich an, die andere Hälfte war verschwommen und unkenntlich. So wie bei allen anderen Leuten, die mit ihm im Zug gesessen hatten, so wie es auch bei ihm der Fall war.

»Danke«, sagte Walter. Mehr wusste er nicht zu sagen.

»Gern«, antwortete die Frau, auch sie schien nicht mehr zu sagen zu haben.

Sie fuhren eine Weile schweigend. Das war gut so. Na ja, zumindest war es nicht schlecht.

Schließlich passierten sie ein großes Tor und der Bus fuhr mit Schrittgeschwindigkeit weiter. Die Landschaft war wunderschön gestaltet. Bunte Blumen der verschiedensten Gattungen und Büsche, die in interessante Formen geschnitten waren, begrüßten die neuen Gäste. Der Pfad war mit hellen Steinen gepflastert, der sie direkt vor die Eingangstür des Hauses der Trauer führte.

Walter atmete auf. Endlich musste er sich nicht mehr verstecken, musste niemandem mehr verheimlichen, wie einsam er sich fühlte. Hier war er unter seines Gleichen. Alles halbe Menschen, die ihren Seelenpartner verloren hatten und nach dessen Tod nur noch zu einem halben Leben fähig waren.

Der Check-in verlief reibungslos. Die Menschen, die hier arbeiteten, wussten genau, was sie taten. Innerhalb kürzester Zeit befand er sich auf einem Zimmer, das ganz nach seinen Wünschen ausgestattet war. Nicht zu modern, nicht zu überladen. Es roch nicht nach Neueinzug, es roch nach Wiederkehr, das war schön. Walter fühlte sich auf Anhieb wohl. Er zog sein Jackett aus und hängte es über den Stuhl.

Leise klopfte an der Tür. Überrascht dreht Walter sich herum und sah die Frau aus dem Bus im Türrahmen stehen. Er hatte vergessen, die Tür zu schließen.

»Entschuldigen Sie, wenn ich störe. Es gibt gleich Abendbrot und da die Tür offen stand, wollte ich Sie fragen, ob Sie mit hinuntergehen möchten.«

Walter wusste nicht, was er sagen sollte, also nickte er bloß und zog sein Jackett wieder an.

Gemeinsam ging er mit der Frau zum Aufzug, der sie in die Lobby brachte.

»Walter«, sagte er und hielt ihr etwas plump die Hand hin.

»Elenor«, antwortete die Frau und schüttelte ihm lächelnd die Hand.

 

Sie aßen gemeinsam an diesem Abend und auch die kommenden Mahlzeiten nahmen sie Tag für Tag gemeinsam ein. Meist herrschte Schweigen, doch nie auf die unangenehme Art.

 

»Möchten Sie mit mir durch den Park spazieren gehen?«, fragte Elenor Walter unvermittelt. Walter schluckte. Er wollte, sehr gerne sogar.

Sie gingen schweigend Seite an Seite durch die Grünanlage, der laue Wind spielte mit den Blättern der Bäume und der Duft von immerwährendem Frühling hing in der Luft. Walter war nun schon seit einem Jahr hier, aber das Wetter blieb immer beständig frühlingshaft.

 

Ein weiteres Jahr verging, in dem sie nach dem Mittagessen jeden Tag schweigend im Park spazieren gingen. Sie waren sich selbst genug.

 

»Ich bin froh, dass du hier bist«, sagte Walter eines Tages zu Elenor. Sie lächelte und nahm seine Hand.

»Und ich bin froh, dass du hier bist«, antwortete sie warm.

 

Eines Morgens, Walter starrte verblüfft in den Spiegel, erkannte er, dass seine blasse Gesichtshälfte wieder Konturen zeigte. Noch undeutlich, aber wahrnehmbar. Überrascht lief er zu Elenor, die ebenfalls vor dem Spiegel stand und sich ungläubig betrachtete.

»Kann es sein ...?«, fragte sie und stockte.

Walter nickte und nahm ihre Hand. Ihre formlose Gesichtshälfte bekam Farbe und ließ die ersten Konturen erkennen.

Eigentlich waren sie hergekommen, um mit ihrer Trauer keinen anderen zu belästigen, doch das Schicksal war noch nicht fertig mit Walter und Elenor. Anstatt ihren Lebensabend als Halbmenschen zu erleben, um am Ende schließlich die Augen zufrieden zu schließen, damit man seinen Seelenpartner in der Nachwelt wieder fand, hatten sie eine zweite Chance bekommen.

Elenor weinte, stellte Walter erschrocken fest. »Bist du traurig?«, fragte er besorgt?

Elenor weinte heftiger und schüttelte ihren Kopf. »Nein, ich bin unbeschreiblich glücklich.«

Es war unfassbar, zwei Halbmenschen, die im Herbst ihres Lebens ein zweites Glück begrüßen durften, wer hätte das gedacht.

Auch Walter hatte Tränen in den Augen, stellte er fest. Seine Hand fasste Elenors.

Mit verschränkten Fingern spazierten sie auch an diesem Tag durch den Park und an jedem Tag danach. Und auch wenn sie keine Halbmenschen mehr waren, durften sie ihren Lebensabend gemeinsam auf ›Endstation‹ bleiben, bis sie eines Abends gemeinsam einschliefen und nicht wieder erwachten.

 

 

»Die Stadt der halben Menschen«

© 2019 Agnes Albrecht

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 25.03.2021

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /