Sanft strich Solana über die reifen Ähren des Weizens, die sich im Wind bewegten und dabei leise rauschten. Der Himmel war so blau und wolkenlos, dass ihr die Brust eng wurde vor Sehnsucht. Sie schloss die Augen und genoss den warmen Wind, der ihr durchs Haar fuhr und ein Versprechen von Ernte und Reife in sich trug. Es fühlte sich nach Frieden an, nach Heimat und Sicherheit. Der Duft von Erde, Blumen und Stroh erfüllte die Luft. Das Zwitschern der Vögel im Hintergrund ließ ihre Augen feucht werden. Aber das war in Ordnung, weinen war menschlich.
Piep, piep, piep ertönten die langgezogenen Warnsignale aus den ewigen Weiten des Himmels und Solana atmete traurig durch. Ihre Zeit war um, die kurze Pause reichte nicht, um ihre Seele in dieser Welt heilen zu lassen, aber sie gab ihr Hoffnung.
Resignierte drückte sie auf einige Tasten ihrer Kontrolleinheit am Handgelenk und das wunderbare Bild von Natur und Freiheit war verschwunden.
Für einen Moment herrschte absolute Dunkelheit, bevor das kalte Licht des Holoraumes aufflackerte und sie kurzzeitig blendete. Dunkle, sechseckige Paneele in Schwarz und grün bedeckten die Wände, Decke und den Fußboden, um ihren Bedienern eine perfekte Illusion zu schenken. Es wurde Zeit, sie musste zurück an ihren Arbeitsplatz, um ihre Tätigkeit zum Wohle der Allgemeinheit anzutreten. Was nichts weiter bedeutete, als eine Schalttafel zu beobachten, gelegentlich einen leuchtenden Knopf zu drücken und Informationen an ihren Vorgesetzten weiter zu leiten.
Es war jeden Tag das Gleiche. Nur die wenigen Minuten im Holoraum hielten sie davon ab, den Verstand zu verlieren und einen Weltraumkoller zu bekommen.
Nur noch 2 Lax, dann würden sie die Erde erreichen. Etwas mehr als 3 Monate ...
Nach 28 Lax im Weltall klangen 2 Lax wie ein Wimpernschlag.
Solana fühlte das Lächeln in ihrem Gesicht, eine ungewohnte und seltene zur Schaustellung ihrer Gefühle.
»Du lächelst«, sagte Palon, als sich Solana zurück auf ihren Platz setzte. Es war keine Frage, nur eine Feststellung. Palon war ihr Kollege, ein Mitarbeiter, der den ganzen Tag nichts anderes tat, als sicherzustellen, dass Solana ihre Arbeit tat. Er war ihr Monitor. So nannte man die Leute, die die Arbeitsgänge von Mitarbeitern, die mit empfindlichen Daten zutun hatten, kontrollierten. Palon war ein guter Kerl, etwas jung und unerfahren, aber er war zuverlässig und meldete nicht gleich jeden Fehler, den Solana anrichtete. Nun, sie machte nicht viele Fehler, aber je mehr Lax vergingen, desto schwieriger fiel es ihr, sich zu konzentrieren. Palon wies sie dann dezent auf die eine oder andere Unregelmäßigkeit hin. Dafür war sie ihm dankbar, denn wenn sie zu viele Fehler machte, durfte sie das Raumschiff nicht verlassen und musste Strafdienste leisten.
»Ja«, sagte Solana. »Ich freue mich auf die Erde. Ich kann es nicht erwarten, endlich richtige Erdluft zu schnuppern. Meine Eltern kamen von der Erde, aber ich kenne den Planeten nur aus dem Holoraum.«
Palon nickte, sein Gesicht war relativ ausdruckslos. Doch an seinen Augen konnte Solana erkennen, dass er sich für sie freute aber auch leicht verwirrt wirkte.
»Solana Sun, bitte zu Captain Chester. Solana Sun, bitte.«
Palon sah von seiner Arbeit auf und starrte Solana an. Solana zuckte nur mit den Schultern. Sie war sich keiner Schuld bewusst. Doch zu Captain Chester gerufen zu werden, war nie ein gutes Zeichen.
Ihr Herz schlug einige Takte schneller, als sie sich von ihrem Bürostuhl erhob, auf den sie sich gerade erst hingesetzt hatte, und wischte sich die feuchten Finger an ihrer Hose ab. Palon nickte ihr kurz zu, als wolle er sagen ›keine Angst, es wird schon nichts Schlimmes sein‹. Solana nickte verkrampft zurück, drehte sich um und folgte der roten Linie auf dem Boden, die in das Büro des Captains führte.
Vor der Tür knetete sie zur Auflockerung ihre Finger, bevor sie ihren Mut zusammennahm und zaghaft an die Tür klopfte.
»Herein«, tönte eine dunkle, autoritäre Männerstimme aus dem Raum.
Solana mahnte sich zur Ruhe und atmete einmal tief durch, ehe sie ihre Hand zum Scannen auf den Öffnungsmechanismus legte. Keine Sekunde später wurde die Tür elektrisch mit einem leisen ›Zip‹ aufgeschoben und sie konnte eintreten.
Der Raum sah aus wie der Rest des Raumschiffes. Weiß, steril und arm an Ausstattung. Es roch nach Reinigungsmitteln und einer Paste, mit der Scharniere und elektrische Verbindungen eingeschmiert wurden. Eine seltsame Mischung, an die man sich trotz der Jahre auf dem Schiff einfach nicht gewöhnen konnte.
»Da bist du ja Solana«, sagte der Captain und lächelte aufmunternd. Er war der jüngste Captain, der dieses Schiff je befehligt hatte. Er war höchstens 5 oder 6 Jahre älter als sie selbst, wirkte aber durch seine autoritäre Ausstrahlung, als wäre er bereits 35 Jahre alt. Er nannte alle Mitarbeiter, die noch keine 21 Jahre alt waren beim Vornamen, das hatte sich so eingebürgert. Solana wurde erst in 4 Lax 21.
»Captain Chester, was kann ich für Sie tun, Sir?«, sagte Solana und nahm die offizielle Haltung ein, die Mitarbeiter dieses Raumschiffes Vorgesetzten gegenüber einnehmen mussten.
Der Captain machte eine wegwerfende Handbewegung. »Lassen wir diese steifen Formalitäten, bleib ganz locker. Ich möchte dich gerne etwas fragen und erwarte eine ehrliche Antwort von dir.«
Verwirrt nahm Solana ihre normale Haltung wieder an und sah ihren Captain verunsichert an. »Natürlich, Captain Chester.« Sie fühlte sich, als müsse sie sich verteidigen. Solana war noch nie unaufrichtig gewesen, zumindest einem Vorgesetzten gegenüber. Aber sie hielt sich ans Protokoll und sprach in kurzen, aussagekräftigen Sätzen.
Derek Chester lehnte sich in seinem großen Bürosessel zurück und kreuzte die Arme hinter dem Kopf.
Er sah sie aufmerksam an. »Ich gehe nach dem Protokoll und sehe mir in bestimmten Abständen die Programme meiner Mitarbeiter im Holoraum an. Das ist Vorschrift, das weißt du, nicht wahr?«
Solana nickte zaghaft, weil ihr immer noch unklar war, worauf der Captain hinaus wollte. »Nun«, sagte er weiter, »Ich habe mir insbesondere deine Programmwahl angesehen und bin verwundert.«
Solanas Magen krampfte sich zusammen. Sie hatte nie ein unangemessenes Programm ablaufen lassen. Eigentlich hatte sie immer nur das eine Programm ablaufen lassen. Das weite Ährenfeld am Ende eines Sommers. Mehr hatte sie nie gebraucht.
»Die meisten Mitglieder dieses Schiffes haben viele verschiedene Programme ablaufen lassen, von harmlosen Rollenspielen bis hin zu beinahe meldepflichtigen Inhalten. Aber du nicht. Du lässt immer wieder und wieder das gleiche Programm ablaufen. Warum?«
Sprachlos starrte Solana ihren Vorgesetzten mit offenem Mund an, bis sie schließlich zu stottern anfing. »Ich ... ich weiß nicht. Meine Eltern ... sie kamen von der Erde. Irgendwann habe ich alle Programme nach Verbindungen zur Erde durchforstet und bin letztendlich an diesem einen Programm hängen geblieben.«
Der Captain nickte gedankenverloren. »Hm, das ist nachvollziehbar. Es ist ein ansprechendes Programm, ich habe es mir selbst angesehen. Was weißt du von deinen Eltern?«
Was bei allen Galaxien wollte dieser Mann nur von ihr? Sie runzelte die Stirn. »Nicht viel, ich habe sie nie kennengelernt. Ich wuchs bei Schwestern auf. Ich weiß nur, was sie mir erzählten. Meine Eltern gehörten zu den letzten Aussiedlern der Erde und lebten später zusammen auf Halon 7.«
»Richtig ...«, er zögerte merklich, bevor er weiter sprach. »Aber weißt du auch, wann das war? Was weißt du über die Geschichte?«
Solana zog irritiert die Augenbrauen zusammen. »Die Geschichte der Erde?«
»Richtig.«
»Nicht viel, im Unterricht haben wir mehr über unsere Raumstation und ihre Anfänge gesprochen. Über die Erde wurde eigentlich nie gesprochen.«
»Und es hat dich nie interessiert, wer du bist und woher du kommst?«
Solanas Atem beschleunigte sich. »Natürlich wollte ich es wissen, aber ich habe nie eine Antwort bekommen. Jedenfalls keine Zufriedenstellende.«
»Deswegen hast du dich auf meinem Schiff als Kontrolleinheit beworben? Weil dieses Schiff ins Sonnensystem Sol fliegt?«
Solana nickte verhalten und spürte, wie sich ihre Stirn erneut misstrauisch zusammenzog.
»Keine Angst, dein Grund ist so gut wie jeder andere, deswegen bist du nicht hier.«
»Verzeihen Sie mir meine forsche Frage, Captain, aber warum bin dann ich hier?«
»Die letzten Aussiedler verließen die Erde vor über 1800 Jahren.«
»Was?« Solana starrte den Captain ungläubig an. »Ich bin 20 Jahre alt und keine 1800.« Sie schüttelte den Kopf und begriff immer weniger. »Bitte, Captain Chester, ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen.« Ihre Stimme zitterte und ihre Handinnenflächen wurden kalt und feucht.
»Ganz ruhig, Solana. Niemand will dir etwas tun. Ich versuche, dir nur zu erklären, dass du das letzte echte Erdenkind bist. Als deine Mutter mit dir schwanger wurde, hatte sie Angst, dir kein ausreichend gutes Leben bieten zu können. Sie ließ sich die befruchtete Eizelle entnehmen, die dann eingefroren wurde. Das warst du.«
Solana spürte, wie ihr alle Farbe aus dem Gesicht entwich. »Was soll das bedeuten?«
»Das bedeutet, dass du als einzige Frau die Gene hast, um auf diesem Planeten überleben zu können. Du trägst das ursprüngliche Menschengenom in dir. Wir haben beschlossen, dass die Erde bereit ist, neu besiedelt zu werden, aber damit dieses Experiment glückt, brauchen wir dich. Du sollst unsere Eva sein.«
Adam und Eva - Sie hatte bereits von dem Märchen der ursprünglichen Menschen gehört. Sie jetzt als Eva zu bezeichnen, war einfach nur lachhaft.
»Was wird von mir erwartet, Sir?« Ihre Stimme hörte nicht auf zu zittern, egal, wie sehr sie sich um Kontrolle bemühte.
»Ich ›erwarte‹ gar nichts von dir. Es ist deine eigene, freie Entscheidung. Möchtest du Teil der Neuentstehung der Menschheit auf ihrem Ursprungsplaneten sein?«
Solanas Knie fingen an zu zittern. Sie war doch nur ein Mädchen, eine Kontrolleinheit, ein Niemand auf einem riesigen Schiff.
»Sie -«, sie räusperte sich, weil ihr Hals trocken wurde. »Sie möchten jetzt, dass ich eine Gebärmaschine werde?!«
»Selbstverständlich nicht. Du musst nicht mal auf dem Planeten leben, wenn du es nicht möchtest. Wir würden dir alle paar Monate einige Eizellen entnehmen, befruchten und sie Leihmüttern einsetzen. In ein paar Jahrzehnten wäre der Grundstein zur Neubesiedlung gelegt.«
»Wie sieht es auf der Erde aus?«, fragte Solana und dachte wehmütig an das Hologramm des Sommertages.
»Nun, dein Hologramm spiegelt nicht mehr genau wieder, wie es auf der Erde aussieht. Dein Programm wurde vor fast 2000 Jahren aufgenommen. Die Vegetation musste sich nach all den Nuklearkriegen und chemischen Verunreinigungen natürlich erst erholen. Und noch heute gibt es Hotspots auf der Erde, die vermutlich noch weitere 10.000 Jahre unbewohnbar bleiben. Doch der Großteil der Oberfläche hat sich erholt. Die Flora und Fauna hat sich natürlich stark verändert. Aber vielleicht möchtest du deinem Heimatplaneten trotzdem eine Chance geben?«
Eine Welt brach für Solana zusammen. Wie konnte ein Gespräch ihr ganzes Weltbild komplett auf den Kopf stellen?! Eine dicke schwarze Wolke überlagerte ihre Gedanken und machte es ihr unmöglich, einen klare Sicht auf die Geschehnisse zu bekommen.
»Ich ... ich weiß es nicht, Sir«, sagte sie wahrheitsgetreu. »Ich muss erst darüber nachdenken, Sir.«
Die Stimme des Captains wurde sanft. »Ich kann mir nicht mal ansatzweise vorstellen, was gerade in dir vorgeht, Solana, aber ohne dich hat die Menschheit auf der Erde keine Chance mehr. Ich will dich nicht unter Druck setzen, aber dir muss klar sein, was das für dich - für die gesamte Menschheit - bedeutet. Du wirst in die Geschichte eingehen als die Mutter der Erde.«
»Warum ausgerechnet ich?« Sie schüttelte fassungslos den Kopf, unfähig zu begreifen, was der Captain da von ihr verlangte.
Captain Chester lächelte. »Warum nicht du?«
Er sprach weiter, bevor Solana einem ihrer konfusen Gedanken eine bestimmte Richtung geben konnte. »Aber natürlich gebe ich dir Bedenkzeit. Du hast noch 2 Lax. Kurz vor der Ankunft hole ich dich erneut zu mir und wir sprechen nochmal darüber. Einverstanden? Du kannst gehen, aber sprich mit niemandem darüber, das ist ein Befehl.«
Solana nickte betäubt. Mit wem sollte sie auch darüber sprechen? Es war nicht so, als würde sie auf dem Schiff von Freunden überrannt.
Auf wackeligen Beinen verließ Solana die Kapitänskabine und bewegte sich zurück zu ihrem Arbeitsplatz.
Palon sah Solana erwartungsvoll an, fragte aber nicht.
Solana schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, ich darf nicht darüber reden.«
Der junge Mann nickte knapp und wendete sich wieder seiner Arbeit zu.
»Ich habe deine Aufgaben übernommen, du kannst ab Klick 183.9874.TZE weiter machen.«
Solana war nie dankbarer über Palons distanzierte Art, als gerade jetzt. Obwohl alles in ihr danach schrie, ihm von allem zu berichten. Sie spürte, wie die Worte verzweifelt in ihrem Innern rüttelten und hinauswollten. Sie wollte hinausschreien, was der Captain ihr offeriert hatte. Und gleichzeitig wollte sie es vergessen und in ihrem üblichen Tagesfluss untergehen. Nur nicht mehr darüber nachdenken! Eine Welt erschaffen? Sie? Die neue Eva? Das war so unfassbar, so irrational, so unwirklich. Fragen stürmten plötzlich auf sie ein, die vorher beim Captain einfach keinen Weg in ihren Kopf gefunden hatten.
Wer würde der Vater der Kinder?
Wie würde das alles anfangen?
Würde sie ihre Kinder kennenlernen dürfen?
Würde auch sie Kinder haben und behalten dürfen?
Wenn die Welt sich so stark in den fast 2000 Jahren verändert hatte, wie sah es dort nun aus?
Was passierte, wenn ihre Gene doch nicht kompatibel waren?
Aber die grundlegende Frage war doch - wollte sie das überhaupt? Wollte sie der Grundstein für eine neue Zivilisation sein? Solana kannte die alten Geschichten der ersten Menschen und ihren Drang zu Krieg und Verrat. Wenn sie noch die Gene eben dieser ersten Menschen in sich trug, barg das dann nicht auch die Gefahr, eben diesen Drang nach Selbstvernichtung und Hass erneut aufleben zu lassen?
Durch spezielle Züchtungen hatten Wissenschaftler es bereits vor über 1000 Jahren geschafft, diese negative Seite in den Genen der Menschen zu löschen, bis sie schließlich komplett ausgerottet war und nur noch die gute Seite übrig geblieben war.
Wenn ihre eigenen Gene nicht so sauber waren, war die Gefahr einer neuen, selbstzerstörerischen Spezies viel zu groß.
Aber noch hatte sie Zeit, dieses Für und Wider genau durchzugehen.
Die Wochen vergingen schneller, als es Solana bewusst war. Der alltäglich gleiche Trott nahm ihr den Sinn für Zeiterfassung und ließ sie mit ihren Gedanken auf einer sanften Woge dahingleiten. Sie hatte das Gespräch mit dem Captain weitestgehend aus dem Kopf gestrichen, weil sie einfach nicht über das Angebot nachdenken wollte. Sie hatte doch noch Zeit. Sie würde morgen darüber nachdenken, oder übermorgen oder am Tag danach.
»Solana Sun, bitte zu Captain Chester. Solana Sun, bitte.«
In Solana verkrampften sich die Därme so schmerzhaft, dass sie sich für einen Moment stöhnend vornüberbeugen musste. Es wurde Zeit. Ihre Ankunft stand kurz bevor und Captain Chester erwartete nun seine Antwort, doch ihre Gedanken waren noch immer so konfus wie am ersten Tag der Offenbarung. Warum belog sie sich selbst, im Grunde hatte sie ihre Antwort schon seit Wochen. Sie fürchtete sich nur vor den Konsequenzen.
Wie 2 Lax zuvor folgte sie der roten Linie in das Büro des Captains und meldete ihre Anwesenheit an der Tür an.
»Herein«, erklang die markante Stimme des Captains und Solana tat, wie ihr geheißen.
Er sah sie ruhig und freundlich an. »Solana, es ist schön, dich wieder zu sehen.«
Solana fühlte sich nicht gut. Ihre Hände waren ständig feucht, egal wie oft sie sich an ihrer Uniform abwischte. Ihr Herz schlug so schnell, dass sie das Rauschen ihres Blutes in den Ohren verrückt machte. Verkrampft lächelte sie, doch es fühlte sich an, als würde sie eine Grimasse ziehen.
»Wie hast du dich entschieden, meine Liebe?« Aufmerksam beugte sich Captain Chester vor und beobachtete sie wachsam.
Solana wusste nicht, wie sie anfangen sollte. Deswegen starrte sie auf den Boden und spie die Worte einfach aus. »Ich kann das nicht tun, Captain Chester. Ich habe lange darüber nachgedacht, aber die Gefahr, eine Rasse zu zeugen, die sich so benimmt, wie die Menschen es damals getan haben ...« Sie schüttelte bedauernd den Kopf.
»Das ist sehr bedauerlich«, sagte der Captain langsam. »Und ich kann nichts tun, um dich von dieser Meinung abzubringen?«
Solana schüttelte betrübt den Kopf.
»Nun dann ...«, Chester atmete enttäuscht durch. »Ich hatte auf deine Vernunft gezählt.« Sekunden lang starrte er auf seine Gegensprechanlage, drückte dann einen Knopf und sagte nur ein Wort. »Jetzt.«
Im nächsten Moment schob sich auf der anderen Seite des Raumes die Tür auf und 3 Männer in weißer Kleidung kamen mit ernsten Gesichtern herein und blieben kurz vor dem Bürotisch stehen, auf weitere Instruktionen wartend.
»Ihr wisst, was zu tun ist. Nehmt sie mit ins Labor. Die Wissenschaftler haben ihre Anweisungen bereits von mir bekommen.«
Die 3 Männer nickten knapp und gingen auf Solana zu. Erschrocken begriff Solana, dass sie nie wirklich eine Wahl gehabt hatte. Der Captain hatte seine Entscheidung bereits getroffen, zu wichtig schien ihm die Neubesiedlung des Planeten zu sein. Solanas Fluchtreflex setzte ein, sie drehte sich um und wollte fliehen, doch die Männer waren stärker und schneller.
»Lasst mich los! Lasst mich auf der Stelle los! Nein! Ich will das nicht! Hilfe!« Solana schrie panisch auf, sie konnte nichts gegen die Tränen der lähmenden Angst machen, die ihr über das Gesicht liefen, als sie sich wehrte. Es war zwecklos, je heftiger sie sich wehrte, desto schmerzhafter wurde der Griff der Männer. Schließlich holte einer von ihnen eine Spritze hervor und setzte sie ihr an den Hals. Der stechende Schmerz, als die Nadel ihre Haut durchdrang, ließ sie zusammenzucken.
Sie fühlte die Wirkung des Mittels, das ihr injiziert wurde, bevor sie wirklich begriff, was man ihr antat.
»Warum?«, war die letzte Frage, die sie stellen konnte, bevor ihre Zunge taub wurde.
Captain Chester stand auf, ging um den Tisch auf sie zu und sah sie bedauernd an.
»Weil ich der letzte männliche nicht modifizierte Nachfahre bin. Wir beide - du und ich - wir werden das alte Bild der stolzen Menschheit neu aufleben lassen. Wir werden Geschichte machen.«
Das war das Letzte, was sie hörte, doch die Gedanken ihres schwindenden Verstandes galten Palon und einem Gefühl von Bedauern, weil sie es ihm nie erzählt hatte. Dann wurde ihr Körper schwach und die Männer trugen sie widerstandslos weg.
Solana schloss die Augen, um die Tränen wegzublinzeln, aber das funktionierte nicht mehr, ihre Augen blieben geschlossen und außer der Dunkelheit umfing sie nun auch tröstend, süße Stille.
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»Das ist sie, liebe Kinder.« Die Erzieherin des Kindergartens für Waisen sah wohlwollend erst auf ihre Kinder, dann auf die 4 Meter hohe Statue, die in der Mitte des Internatparks aufgebaut war. »Das ist Solana Sun, unsere Urmutter. Ohne sie würde es uns alle nicht geben. Ihr haben wir unsere Zivilisation zu verdanken, die heute vor genau 1000 Jahren ihren Anfang an dieser Stelle fand, als die Raumkapsel landete und den zerstörten Planeten für eine neue Siedlung bereit machte. In dem Moment, als ihre Füße den Boden berührten, fingen die Pflanzen an zu sprießen und Tiere ergaben sich ihr, um ihr zu dienen. Sie schenkte uns den Grundstein unseres Lebens. Und als ihre Kinder alt genug waren, befahl sie ihnen, den Planeten aus der Asche auferstehen zu lassen. Sie ließ sie sich vermehren, auf dass die Kinder der Kinder und deren Kinder und immer so weiter einen Lebensraum gestalteten, um die Erde aufs Neue zu bevölkern. Also lasst uns beten.«
»Wir danken dir, oh große Mutter, für den Funken, den du in diese Welt gebracht hast. Wir danken dir für unser Leben und die Zukunft, die wir durch dich haben. Bitte schenk uns in Zeiten der Not ein Zeichen deiner Anwesenheit und küss die Stirn eines jeden Kindes, einer jeden Frau und eines jeden Mannes, um den Frieden zurückzubringen und zu erhalten, den du einst im Sinn hattest. Amen.«
Die Kinder beteten leise. Keines von ihnen ließ sich von den Bomben aus der Ruhe bringen, die in weiter Ferne fielen und die Erde zum Beben brachten, sie waren sie gewöhnt. Solana würde es sicher richten und sie alle beschützen.
Tag der Veröffentlichung: 25.03.2021
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