Sonnenstrahlen sind warm. Warm und wohlig und gemütlich. Es ist schön, von ihnen geweckt zu werden, schön, wenn ihr Licht durch meine geschlossenen Lider dringt. Generell finde ich es schön, aufzuwachen. Aufwachen erinnert daran, dass man lebendig ist. Träume von endlosen Wäldern und Jagden sind auch schön, sicher, aber jedes mal, wenn ich aufwache, weiß ich wieder, dass ich zuhause bin. Zuhause. Auf meinem dunkelblauen Kissen im warmen Wohnzimmer auf der großen, blau gemusterten Couch vor dem Fenster. In den warmen Monaten werde ich hier immer von Sonnenstrahlen geweckt und von Vogelgezwitscher. Manchen würden bei diesen Lauten die Pfoten jucken, aber mir nicht. Wenn ich aufwache, bin ich viel zu gemütlich und entspannt, um Vögel zu jagen.
Die Kleine gluckst immer, wenn sie sieht, wie ich aufwache, mich strecke und gähne und fiepe, weil ich noch halb im Traum bin. Aber die Kleine gluckst über alles, was ich mache. Manchmal tatscht sie mit ihren stummeligen Pfoten nach mir, das ist unangenehm. Sie weiß nicht, wie doll sie zupackt, sie hat kein Gefühl dafür, ab wann sie mir wehtut. Deswegen weiche ich ihr lieber aus, wenn sie anfängt, nach mir zu greifen. Oft ist sie anstrangend, aber die Großen lieben sie. Sie finden es putzig, wenn sie mich festhält. Ich finde es nicht so putzig. Meistens mache ich einfach die Augn zu und hoffe, dass sie mich bald loslässt. Nur einmal habe ich den Fehler gemacht, nach ihr zu schlagen. Meine Krallen haben ihr das Bein aufgekratzt, und ich hatte den scharfen Geruch von Blut in der Nase. Die Kleine hat geschriehen und gequiekt, und die Großen haben sie getröstet. Vorher haben sie mich aber am Nacken gepackt und vor die Tür gesetzt; nicht sehr nett. Ich mag nicht, wenn man mich am Nacken packt. Ich bin gefangen, hilflos, und strampeln und kratzen hilft nichts. Es ist doch recht unangenehm.
Morgens, wenn ich aufwache, schlafen die anderen meist noch. Ich habe das ganze Haus für mich, es ist ruhig und behaglich. Ich kann in die Küche schleichen, und wenn ich Glück habe, haben die Großen am Abend vergessen, die Tür zur Speisekammer zu schließen. Da muss ich nur auf die große, weiße Truhe springen und von dort aus in das obere Regalfach, um dann die Kiste mit dem Trockenfutter umzukippen. In der Küche sind auch zwei große Fenster wie im Wohnzimmer, durch die die Sonne morgens scheint und den Fliesenboden aufheizt. Ich liebe es, mich auf die warmen Fliesen zu legen und in Ruhe zu dösen, bis die Kleine aufwacht und alle mit ihrem Geschrei weckt.
Aber die Küche ist schön. Das Haus ist schön. Alles ist schön.
Der Wind zischte, flüsterte und raschelte zwischen den Blättern der zwei Obstbäume, die die Anker der Hängematte bildeten. Unter dieser wuchsen spärlich ein paar Gräser, die sich durch den festgetretenen Boden gekämpft hatten. Sie sahen sehr spröde und zerbrechlich aus. Eine alte Pflaume hatte ein paar von ihnen zerdrückt, als ihr Stiel den Halt zum Ast verloren hatte und sie gefallen war. Über das matschige Fruchtfleisch krabbelte eine dicke Fliege, um zufrieden ihre Eier abzulegen.
Die Worte des Windes im Geäst wurden lauter. Es brummte und raschelte unruhig. Die Gräser bogen sich, als ein Windstoß über den trockenen Grund fegte. Es schien, als drückten sie sich an den Boden, ängstlich, die Zugluft fürchtend. Ein paar Blätter der Obstbäume lösten sich, als die nächste Böe mit einem aggressiven Zischen in die Baumkronen fuhr. Sie glitten durch die Luft, fielen abwärts, wurden dann doch wieder nach oben gerissen, nur um einen Augenblick später erneut zu sinken, tanzend und sich überschlagend.
Die einzigen Geräusche, die das Rauschen des Windes übertönten, waren das Lachen und Rufen der Kinder auf dem Trampolin. Sie waren zu dritt; drei kleine Kinder, die kichernd hüpften und vom Gummi des Trampolins nach oben geschleudert worden und sich nichtsahnend an dem Gefühl der Höhe und Schwerelosigkeit erfreuten. Sie bemerkten die dunklen Wolken nicht, die sich immer mehr zuzogen und bedrohlich auftürmten. Ein einzelner Regentropfen fiel vom Himmel. Er landete auf dem Trampolin, unbemerkt. Den Bruchteil einer Sekunde später hatte ein Kinderfuß ihn zerdückt. Auf dem schwarzen Kunststoff blieb nur ein winziger, noch schwärzerer Fleck zurück.
Der Wind heulte jetzt. Wütend fuhr er durch die Äste, bis sie knackten und ächzten. Er erwischte auch die Hängematte, umkreiste sie und ließ sie unruhig schaukeln. Der kleinere Baum neigte sich bedenklich, hielt dem Drücken und Zerren aber tapfer stand. Es sah aus, als kämpfte er mit dem Wind, entschlossen, nicht nachzugeben.
Mit dem Wind kamen auch mehr Regentropfen, langsam benässten sie den trockenen Boden, drangen durch den spärlichen Schutz der Gräser in die Erde. Ein dumpfes Donnergrollen war zu hören und eine fast schon elektrisierende Spannung lag in der Luft.
Die Kinder bemerkten nicht, wie der Wind mit den Bäumen kämpfte, sie lachten und kreischten glücklich, wie gefangen in ihrer eigenen, perfekten, ungestörten Welt.
Eine Katze mit dunkelbraunem und schwarzen Fell rannte unter das Trampolin, hielt kurz inne, doch als der Körper eines der Kinder direkt über ihr in das schwarze Gummi krachte, floh sie mit einem erschrockenen Miauen umso schneller. Der Regen versuchte, in ihr weiches Fell zu kriechen, doch sie schüttelte die Nässe beharrlich ab. Innerhalb von Sekunden war sie verschwunden.
Eine dunkle Stimme, halb vom Wind übertönt, rief nach den Kindern. Sie drehten sich um, schlagartig verschwand die Fröhlichkeit aus ihren Gesichtern. Eines schüttelte energisch den Kopf. Die Stimme rief erneut, klang jetzt befehlerisch und ärgerlich. Widerwillig kletterten die Kinder vom Trampolin, schlüpften in ihre Schuhe – die der Regen verschont hatte, da sie unter dem Trampolin gestanden hatten – und waren bald darauf im Haus verschwunden.
Ein mächtiger, heller Blitz durchzog die Dunkelheit des Himmels.
„Ich lebe. Ich lebe, ich lebe, ich lebe. Ich lebe.“
Er sprach die Wörter leise vor sich hin, immer und immer wieder in der leeren Dunkelheit. Er glaubte zu wissen, dass man in der Stille schnell verrückt wurde. Davor hatte er Angst wie vor nichts anderem, weswegen er lieber redete und sich selbst zuhörte.
„... ich lebe...“
Er hatte längst das Zeitgefühl verloren, wusste nicht, wie lange er hier schon saß. Sehen konnte er nichts, es war stockfinster, nicht einmal die Andeutung eines Lichtstrahl erhellte seine Umgebung.
„... ich lebe.“
Seine Hände waren hinter seinem Rücken zusammengebunden. Er spürte, dass er auf einem harten Holzstuhl saß, und dass sowohl seine Beine, als auch seine Hüfte daran gefesselt waren.
Er erinnerte sich nicht daran, wie er hierher gekommen war. Er erinnerte sich eigentlich an gar nichts, nicht einmal an seinen eigenen Namen.
Obwohl... Wenn er sich anstrengte, tauchte in seinem Kopf das Bild eines Gesichtes auf. Es war ein Mädchengesicht, noch im Teenageralter. Sie hatte blaue Augen, von grünen Strahlen durchzogen und ihre Wimpern waren lang und schwarz, wie das Haupthaar, welches ihr dicht und lockig über die schmalen Schultern fiel. Sie hatte einen kleinen Mund, glatte Lippen in der Farbe von süßen Pfirsichen. In seiner Erinnerung lächelte sie. Ihre Haut war recht blass, fast schon unnatürlich hell, und die kleine Stupsnase zierten ein paar Sommersprossen. Sie war sehr hübsch, und er fragte sich, wer sie war. Doch abgesehen von ihrem Aussehen konnte er sich, beim besten Willen, in keiner Weise an sie erinnern.
Er hustete rau und schniefte.
Wie war er bloß in diese Situation geraten? Wie? Weshalb sollte jemand ihn anketten wie einen Verbrecher? Er hatte doch sicher nichts Unrechtes getan!
Vielleicht war das alles nur ein böser Traum. Möglicherweise schlief er gerade in seinem Bett, friedlich und ruhig. Das hier war alles nicht real. Die Fesseln waren nicht real, der harte Stuhl nicht, die Dunkelheit nicht. Und das Mädchengesicht aus seiner Erinnerung ebenfalls nicht.
Er nickte. So musste es sein. Eine andere Erklärung gab es nicht. Er musste bloß aufwachen, und wäre in Sicherheit. Nur aufwachen. Wach auf, sagte er sich. W
ach schon auf. Bitte. Wach auf. „Wach auf, verdammt!“
Aber er wachte nicht auf. Er blieb, wo er war. Angekettet, allein in der Dunkelheit. Einsam. Zudem wurde ihm kalt. Er versuchte, seine Hände zu bewegen, zerrte an den Fesseln. Sie waren stabil, hart, unbequem und fest. Sosehr er seine Handgelenke auch zog und drehte, es gab keine Chance, die Seile zu lösen. „Mist.“
Etwas kroch über seine Wange, langsam. Es war eine einzelne Träne, allein wie er selbst, die sich gelöst hatte. Weitere folgten nicht, er unterdrückte seine Wut und Verwirrung. Das durfte er nicht. Er musste stark bleiben. Stark.
„Stark, stark, stark. Stark, stark, stark. Stark, Stark. Stark.“
Das Wort ergab schon keinen Sinn mehr. Stark? Wie albern. Er lachte leise in die Leere. „Stark. Witzig. Ein witziges Wort.“
Und dann weinte er doch, ließ den Tränen freien Lauf. Er schluchzte und bebte und hätte gerne das Gesicht in den Händen vergraben, doch seine Hände waren festgebunden, unerreichbar. „Ich will hier weg. Das ist unfair. UNFAIR!“
Plötzlich sah er etwas. Er sah etwas! Ein heller Spalt auf dem Boden, wie Licht hinter einer Tür. Vor Verblüffung hörte er auf zu weinen. „Hallo?“, fragte er leise, seine Stimme war heiser. Er räusperte sich. „Hallo?“
Und dann, auf einmal, hörte er auch etwas. Er konnte es nicht genau definieren, es war zu leise, doch dann wurde es zunehmend lauter, kam näher. Es waren Schritte, schwere, langsame Schritte. Nach der drückenden Stille kamen sie ihm vor wie dumpfes Donnergrollen. Laut. Mächtig.
Plotzlich hielten sie inne und in dem dünnen Lichtspalt sah er zwei Schatten. Etwas steckte einen Schlüssel in ein Türschloss.
Sein Herz pochte heftig. Er krallte sich in die Fesseln, um sich festzuhalten. Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißtröpfchen. Er hatte Angst.
Der Schlüssel drehte sich im Schloss.
Texte: H. Lila
Bildmaterialien: Cover:"my norwegian forest cat" von Glen Navarra. Gefunden auf piqs.de. Bearbeitet von H. Lila
Tag der Veröffentlichung: 23.08.2014
Alle Rechte vorbehalten