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Hass

Hubauer trat ans Fenster und sah in die Nacht hinaus. Er liebte den Blick über die Theresienwiese, die zwar schon lange keine richtige Wiese mehr war, aber immerhin ein riesiger freier Platz im Häusermeer, über dem die gewaltige Statue der Bavaria seit über 160 Jahren ihre schützende Hand hielt, unterstützt vom treuen bayerischen Löwen. Ein Ort der Ruhe, der Unbestimmtheit, der zeitweiligen Vergessenheit gar, auf dem die paar Fußgänger, die den Platz als Abkürzung von der Ludwigsvorstadt zur Schwanthalerhöhe benutzen, überhaupt nicht auffielen. Auch die wenigen Pkws und Busse, die im nördlichen Teil parkten, störten sein Empfinden nicht. Sie waren nur Staubflecken. Unbedeutend.

Seine Wohnung in einer der alten, palaisähnlichen Villen direkt am Bavariaring, der die östliche Begrenzung der Theresienwiese darstellt, war zwar winzig, aber gewissermaßen ein Logenplatz, denn vom Gaubenfenster im Dach hatte er das ganze Areal vor sich liegen. Besonders nachts liebte er den Anblick, vor allem, wenn Mond und Sterne durch eine dichte Wolkendecke verborgen waren und ihm die dunkle Theresienwiese wie das Meer vorkam, durch das sein Ozeandampfer pflügte. Die Lichter der Schwanthalerhöhe kamen ihm dann wie die Skyline von New York vor und die Bavaria wie die Freiheitsstatue, die dem Dampfer den Weg über das dunkle Meer zeigt.

 

Auch heute lag diese schwarze Wolke über dem Platz, aber er war nicht das ruhige, dunkle Meer wie sonst. Myriaden von blinkenden Lichtern beleuchteten eine gespenstische Szene. Die gewaltigen Bierzelte von Hofbräuhaus bis Augustiner, Geisterbahnen, Power Tower, Höllenblitz, Cyper Space und Riesenrad – alles war in Betrieb, aber es lebte nicht. Denn das Wesentliche fehlte: die Menschen. Es war ja erst der Vorabend zum Oktoberfest, des größten Volksfestes der Welt. Alles wurde noch einmal getestet, letzte Montagearbeiten erledigt, allerletzte Vorbereitungen getroffen. Eine seltsame Nervosität ging von der ganzen Wiesn aus, als wären alle Schießbuden, Bratwurststände, Hau-den-Lukas und Autoscooter in fiebriger Erwartung, was der nächste Tag bringen würde. Der Moment nach dem Einzug der Wiesnwirte und Volksmusik- und Trachtengruppen und nach dem Schlachtruf des Oberbürgermeisters "Ozapft is!". Dann erst würde alles zum richtigen Leben erwachen, das Bier in Strömen fließen, die normale Welt aus den Fugen geraten. Auch Hubauers Leben. Aber anders als das der Millionen spaßhungriger Besucher aus aller Welt. Hubauers Welt würde aus den Fugen geraten, weil er die Wiesn hasste. Aus tiefstem Herzen hasste.

Er hatte diese winzige Wohnung von seiner Tante geerbt und war selbst eingezogen, obwohl ihn die Immobilienmakler mit geradezu obszönen Kaufangeboten überschütteten. Was hätte er mit dem Geld auch machen sollen? Er hatte keine kostspieligen Interessen, und als Werkzeugmacher verdiente er genug für seinen bescheidenen Lebensunterhalt. Mehr brauchte er nicht, wozu auch?

Als er nach vielen Jahren schließlich seinen Job verlor, weil sein Arbeitgeber in Konkurs ging, dachte er entgegen seiner innersten Überzeugung einfach nur: Macht jetzt auch nichts mehr. Sein Plan war längst gereift. Unumkehrbar. Denn Hubauers ganzes Denken war seit Jahren erfüllt von Hass.

Er hasste alles und jeden. Er hasste die Kaugummi kauenden jungen Mütter, die ihre quäkenden Blagen im Kinderwagen auf ihn zuschoben, als wäre er Luft. Er hasste die hochgeschorenen, gegeelten Halbstarken mit ihren Arschlochmützen und Gorillahosen. Ohne mit der Wimper zu zucken würde er denen in die Fresse schlagen, wenn er jünger und kräftiger wäre. Er hasste die fetten Tussen, deren enge T-Shirts jede einzelne Speckrolle betonten. Er glaubte auch zu wissen, dass, je dicker sie waren, auch die Zahl ihrer Tattoos und Piercings zunahm. Er wäre schon immer gerne vor ihnen stehen geblieben, um sie anzustänkern:

" Dein Nasenring sieht aus wie eine Rotzglocke, und ich würde gerne wissen, wie du dir mit diesen künstlichen Krallen den Hintern wischt!" Aber er hatte sich nie getraut, weil er vor allem eines an diesen Frauen hasste: ihr verdammtes Selbstbewusstsein, mir der sie ihre Erscheinung zur Schau stellten. Er hasste die alten Weiber, die unbedingt zu Stoßzeiten die Straßenbahnen blockieren mussten und mit nervtötender Langsamkeit an der Supermarktkasse in ihren Geldbeuteln nach den zwei Cent kruschtelten, halbblind und mit gichtigen Fingern. Er hasste die alten Männer, die wegen ihrer lahmen Kreuze und dicken Bankkonten martialische SUVs kauften, aber nicht mit ihnen umgehen konnten und deshalb immer gleich drei Parkplätze blockierten. Er hasste die wichtigtuerischen Businesskasper mit ihren Handys, Notebooks und Organizern, besonders die Glatzkopftypen, die das Telefon am Ohr festgetackert hatten. Er hasste kreischende Jugendliche, Talkshowmoderatoren, Spieleshowteilnehmer und Kochshowzuseher. Und er hasste zutiefst die schrille, quäkende Werbung, amerikanische Fernsehserien, deutsche Komödien, bockige Computer und Navis. Natürlich auch die Smartphones, in die Selfie-Junkies mit Duckfaces und Bratwurstlippen hineingrinsten. Er hasste denglish; bei Coffee to go flippte er fast aus. Begriffe wie Backshop, Summer-Sale und Web-Miles brachten seine Bauchspeicheldrüse zum Kochen. Aber auch allerlei deutsches Kulturgut wie Prämienherzchen, Feilschen und Schnäppchenjagd. Eigentlich hasste Hubauer die ganze gottverdammte moderne Lebensart. Und das Eigenartige war, dass er das alles nicht für modern, sondern für ausgesprochen spießig ansah. Das hielt ihn auch davon ab, seinen ursprünglichen Plan durchzuführen. Er wollte einen täglichen Blog schreiben, etwa unter der Überschrift: Mein täglicher Wutausbruch. Oder: …und was ich immer schon mal sagen wollte …

Aber er hasste auch das Internet, das er für einen Tummelplatz von Geschäftemachern und Vollidioten ansah, also ließ er es bleiben. Aber nicht ganz. Es gab einen Platz im Netz, wo er sich schon länger herumtrieb. Das Darknet.

Alles was er hasste hätte er auch mit den Tugenden des Ignorierens, oder des darüber Lachens bearbeiten können, aber seine Tugend war der Hass. Der Hass auf alles und jeden.

 

Die dunkle Wolke, die zu normalen Zeiten den dunklen Ozean inmitten der Stadt produzierte, hatte sich schon lange in Hubauer selbst festgesetzt. Er trat vom Fenster zurück und verließ seine Wohnung, fuhr mit dem Fahrstuhl nach unten und betrat den Bavariaring. Wo sonst der Verkehr hin und her raste, war seit Tagen wegen der Sicherungsmaßnahmen nur toter Asphalt. Hubauer ging Richtung Osteingang beim Esparantoplatz am Sicherungszaun entlang. Er grüßte einen Securitymann, der ihn als Anwohner schon kannte und blickte dann zu seinem Gaubenfenster hoch.

Ja, es würde passen. Lichtstärke, Distanz, Zielobjekte, Schusswinkel, Feuergeschwindigkeit – er würde Stephen Paddock übertreffen. Las Vegas war nicht annähernd das Oktoberfest. Seine Waffen, die er über das Darknet besorgt hatte, waren im Spitzboden über seiner Wohnung gut verborgen. Er würde sie nachher noch zusammensetzen und positionieren. Und morgen: laden, feuern, laden, feuern, unaufhaltsam, präzise, effizient.

Hubauer grinste. Paddock hatte 59 Zielobjekte getötet, 500 verletzt. 59 Tote? Lachhaft! Er würde die Zahl mindestens verdoppeln! Und die Aktienkurse deutscher Waffenhersteller, die nach Las Vegas in die Höhe geschossen waren, würden noch einmal steigen.

Hubauer schüttelte den Kopf. Damit wollte er nichts zu tun haben, nicht daran verdienen. Er wollte nur seinen Hass loswerden.

Mit Daumen und Zeigefingern formte er ein Rechteck und betrachtete wie ein Kameramann die Szenerie. Die Bavaria im Blick, das Riesenrad, die rotierenden Lampen und zuckenden Leuchtreklamen auf seiner Netzhaut, ging er langsam rückwärts und beobachtete sein Schussfeld. Durch die grellen Lichtblitze geblendet bemerkte er nicht das Blaulicht des Notarztwagens, der mit ausgeschalteter Sirene auf dem leeren Bavariaring nach Süden raste. Der Fahrer sah den dunkel gekleideten Hubauer mitten auf der Fahrbahn zu spät.

 

Am nächsten Tag brauchte der Oberbürgermeister nur zwei Schläge, bis er mit dem Ruf "O'zapft is!" das Oktoberfest eröffnen konnte. Die dunkle Wolke, tags zuvor von Wirten und Schaustellern kritisch beobachtet, war verschwunden. Es würde wieder eine Rekordwiesn werden.

Und am Abend tanzten die Sterne des Nachthimmels mit den zuckenden Lichtern des Festes einen freudigen, angstfreien Reigen um die Patrona Bavariae.

 

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Tag der Veröffentlichung: 19.10.2017

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