Vielleicht kann man das Universum nur von außerhalb begreifen? Ist es eine Simulation? Eine Maschinerie, die einem bestimmten Zweck dient, dem Hervorbringen eines Endprodukts, dem Anfertigen von etwas? Das hätte was Tröstliches; so wirkt es konfus, ein wildes Durcheinander. Was, wenn es sich tatsächlich um ein Blockuniversum handelt? Die Zukunft festgenagelt, ein Befahren von Gleisen, nicht das Umherkutschieren in Wild-West-Kutschen? Zu diesem Zweck befrage ich während meiner allwöchentlichen spiritistischen Sitzung die anwesenden Geister, ob einer von ihnen Konkreteres wisse. Allgemeine Ratlosigkeit, Schulterzucken. Es gebe zwar Gerüchte, dass der Schwager eines Geistes vom Neffen einer Göttin etwas in Erfahrung hätte bringen können, aber da es ein ziemliches Durcheinander ist mit Gottes-Bezügen und -Verwandtschaftsgraden in der hiesigen Geister-Szene – ähnlich wie bei den Adels-Prädikaten, jeder gibt da furchtbar an –, will ich die Séance gerade beenden, als ein Geist auftaucht, der behauptet, mein mentaler Zwilling zu sein; es existiere eine Kopie von jedem im 'Anderen Reich'. Höchst interessant – und irgendwie glaubwürdig.
„Eigentlich wollte ich Schluss machen für heute“, sage ich, als ob ich ein Ladeninhaber sei, der im Begriff ist, das Open-Schild zu wenden.
„Closed – gutes Stichwort – stell Dir das Universum als Geschäft vor. Es gibt dort Materie und Energie in allen erdenklichen Variationen – aber wer kauft dort ein? Wer sind die Besucher?“
„Gute Fragen – und damit erhoffst Du ein Bleiberecht und Glaubwürdigkeit zu erlangen?“
„Genehmigungen ... pah! Dir geht es doch gerade um Umgehung des Vorgedachten, Zugedachten. Alle Wege versperrt, wie bei einem Stau, man muss sich Schleichwege aussuchen.“
Von seinen bisherigen Äußerungen her könnte es sich um meinen mentalen Zwilling handeln – vielleicht die unzivilisiertere Version.
„Ist ja niedlich, ein Ouija-Board.“
„Ja, einige Geister ziehen diese Art der Kommunikation vor; ist anonymer; man tritt nicht so in Erscheinung. Man kann sich über dies und das in der Jenseits-Welt beschweren, sich mal Luft machen.“
„Diesseits-Welt, Jenseits-Welt – Du unterscheidest da viel zu sehr. Die Grenze verläuft nicht ganz so exakt, wie Du Dir das vorstellst.“
„Könnten wir bitte beim Thema bleiben? Ich habe den Verdacht, dass es sich um eine Simulation handelt; mag sein, weil ich Spiele-Programmierer bin, da drängt sich einem der Vergleich auf. Als Uhrmacher würde ich vermutlich behaupten, die Welt sei eine Kuckucksuhr.“
„Na, da kann man ja froh sein, dass Du kein Sanitärfachmann bist. Bei dem Bullshit-Anteil in der Welt, läge die Vermutung nahe, dass ...“
„Wollen wir das nicht weiter erörtern; Gutes denken; das Beste annehmen. Meine Devise.“
„Und genau das ist ein Griff ins Klo. Hat die Welt es nötig, sie zu beschönigen? Ein Bändchen drum – und man kann es verschenken? Deine Weltsicht als Präsent? Damit kannst Du Dir den Hintern abwischen!“
Oha, das rutscht jetzt ab ins Unziemliche.
„Hättest Du lieber die sanftere Version? Soll ich drei Grad runterschalten, ins Liebliche, Blumensprache?“
Er klingt angeekelt; es ist gar nicht so sehr Hohn, als vielmehr Enttäuschung darüber, dass ich nicht mitziehe. Er macht Anstalten, sich vom Acker zu machen.
„Du Wahrheitssucher, meidest gewisse Bereiche, blendest sie aus. Das ist nicht mal die halbe Wahrheit. So wird das nix.“
Er spielt mit der Planchette des Ouija-Boards. Das ist ein herzförmiges Stückchen Holz, das über die Buchstaben gleiten soll, gesteuert von wem auch immer: Dem Unterbewusstsein; dem verzweifelten Wunsch, alles das zu bestätigen, was man in seiner Hoffnungs-Kammer vorrätig hat; sympathischen Aliens; Geistern, die mit Gottes-Unmittelbarkeit prahlen, wie ein Höfling damit angibt, bei einer Audienz devot im Hintergrund dabei gewesen zu sein.
„Wenn Du das Universum programmieren müsstest, wie würdest Du vorgehen? Wenn es nicht Bits und Bytes sind, was bräuchte man? Wir backen uns ein Universum – welche Zutaten?“
Er sieht mich auffordernd an, als ob ich darauf eine Antwort wüsste. Er traut mir was zu; schönes Gefühl.
„Man könnte es einem Brotbackautomaten überlassen; wird bestimmt besser als von Hand.“
„Du Technik-Gläubiger. Dein Wort in Gottes Ohr. Oder besser: Lass es Ihn nicht hören.“
„Was ist Er denn von Beruf? Programmierer, Spielzeugfabrikant? Kann man das Universum ernst nehmen? Soll das was Rechtes sein, ein Testlauf? Eine Fabrikationsanlage – für was?“
„Gemach, ich notiere mir Deine Fragen.“
Er zückt ein Geister-Handy.
„So was habt Ihr da?“
„Wir sind bestens ausgestattet. Jeden Schnickschnack, den Ihr habt – spiegelweltlich. Und was ich immer schon mal sagen wollte: Ihr seid nicht das Original. Es verhält sich keinesfalls so, dass ich ein Abklatsch von Dir bin, die schwächere Version, luftiger – und nur erscheine, wenn die allgemeine Ratlosigkeit Dich dazu drängt, über den Tellerrand zu schauen.“
Eingeschnappte Geister – davor kann ich Euch nur warnen. Die wieder zu beruhigen ... Geister seelisch aufzubauen, ein Martyrium. Wir haben zumindest die Illusion der Realität, Ablenkung durch Materie-Spielereien. Bei Geistern findet das mehr auf der Energie-Ebene statt, sie sind der Täuschung nicht so ausgesetzt; deshalb neigen sie auch zum Unverblümten; unverstellte Sicht der Dinge; das macht sie in unserer Welt zu guten Ratgebern, deshalb sind sie als Gesprächspartner begehrt. Ein Ausgleich zu unserer Materie-Orientiertheit. Aber genau diese Energie-Lastigkeit macht sie anfällig für die Last der Wahrheit – keine Stütze, Entlastung durch die Lüge, die Wohltat, die entspannende Wirkung des Sich-etwas-Vormachens. Und gerade das suche ich? Diese Quelle anzapfen? Woher habe ich diesen Mut? Ist wohl eher Verzweiflung, dass das Rätsel unbeantwortet vor einem steht, geduldig auf eine Antwort wartet. Hinter dieser Antwort verbirgt sich die Antwort auf Fragen wie: Welchen Weg soll ich gehen, wie mich verhalten, wen achten, wen als Vorbild in Erwägung ziehen, wen keinesfalls? Alles hängt ab von der einen Frage, was es mit dem Universum auf sich hat.
„Ist es eine Riesen-Verarsche oder etwas Pläsierliches?“, mischt sich mein mentaler Zwilling in meine Gedanken. Da ich seine Gedanken nicht lesen kann, ging ich davon aus, dass das für ihn auch gelte. Aber er knüpft immer so exakt an meine Überlegungen an, dass es mir wahrscheinlich erscheint, dass er meinen Gedankenstrom mitliest. Hoffentlich wird ihm dabei nicht langweilig. Er legt sein Handy beiseite.
„Ich habe noch schnell recherchiert; ich bin gar nicht so gut informiert über alle Belange der Jenseits-Welt. Ich könnte Dich ja auch nicht alles fragen zu Deiner Welt und Du hättest die Antworten wie aus der Pistole geschossen parat.“ Ein Schuss ertönt.
Einer der anderen Geister fand das witzig. Die hocken im Halbkreis um uns, als wenn das irgendeine skurrile Performance wäre. Meeting zwischen Diesseits und Jenseits – jetzt mit verbilligten Tickets.
„Bitte keine Soundeffekte.“ Mein Gott, ich klinge wie ein Kindergärtner, der die Rasselbande am Unfug-Machen hindern will. Wie zu erwarten, ertönt eine Rassel. Die können es nicht lassen.
„Du könntest Geld nehmen als Mentalberater; oder wird das hier ein Freundschaftsdienst?“
„Warum so aggressiv? Eine nette Plauderei über Gott und die Welt – und den Teufel wollen wir doch nicht außen vor lassen? Dazu neigst Du. Gesamt-Bild – dann wird es stimmiger. Mit der Schönfärberei – und das im Schongang – behältst Du zwar eine weiße Weste, aber mach Dich doch mal dreckig. Wovor fürchtest Du Dich? Reiß dreckige Witze. Trau Dich was!“
Ein teuflischer Plan. Aber ist ja wahr, man klammert das Böse stets aus, im ganzen Universum sei kein Platz für es, man schiebt es von dort nach dort; ein ewig Unbehauster, ein Verstoßener, in keinem Himmel geduldet. Vielleicht könnte es zur Aufklärung dieses Falles beitragen?
„Das Böse unterhält ja eine innige Verbindung zur Schwäche. Eklatante Auffälligkeit. Das Gute erwächst aus der Stärke, das ist sein Dünger, da steht es fest, solide. Das Gift der Schwäche – könnte man es allerhöchstens in homöopathischen Dosen für unbedenklich erklären? Was aber wenn Du es in ein Heilmittel verwandeln könntest? Schwäche als Kompass, eventuell sogar als Türgriff für Portale ins Himmelreich und sonstige Ort, die der Suchende bevorzugt? Schwäche als Ticket zu Orten, die der Sich-stark-Wähnende nie bereisen würde, weil er gar nicht auf den Gedanken käme, außerhalb des ihm Bekannten etwas anderes zu suchen. Du bist wie Magellan, wie Kolumbus – wem verdankst Du das? Übergroße Neugierde, da vorsichtig gestellte Fragen zu bohrenden Fragen werden. Der Desillusionierungs-Prozess läuft an. Und Schicht für Schicht verschwindet Maya, die Täuschung. Trag sie ab.“
Er kratzt an meinen Wänden, um das zu veranschaulichen. Leider löst sich dabei die Tapete.
„Und wenn vom Universum nichts übrig bleibt? Wenn alles nur eine nett gemachte Show ist? Vielleicht sollte man sich mit seiner Rolle als Zuschauer begnügen.“
„Zu spät; die Fragen sind gestellt; Du bist involviert. Als hättest Du einem Handwerker-Trupp den Auftrag zur Renovierung gegeben, der Neugestaltung Deines Seelenhauses.“
Er werkelt mit den anderen Geistern in meiner Bude, die dank ihrer Bemühungen sehr schnell den Bruchbude-Status erreicht.
Ohne mit der Wimper zu zucken, reißt er Dachbalken ein.
„So, das wäre geschafft; sieht doch gleich viel freundlicher aus.“
Ob er damit meint, dass man jetzt durch die Decke den Himmel sehen kann?
Vielleicht sollte ich mich demnächst vermehrt mit dem Ouija-Board beschäftigen? War irgendwie sanfter. Aber gerade dieser Behaglichkeits-Wunsch verhindert wohl ernsthafte Wahrheitssuche? Ich muss mich darauf einlassen. Beherzt reiße ich einige Holzdielen raus. Schränke schmeiße ich auf die Straße.
„Macht jetzt auch nichts mehr“, lautet mein Kommentar, da die Fußgänger unten mir fragende Blicke zuwerfen. „Es geht um den Aufbau und die Konstruktions-Eigenschaften des Universums“, füge ich erläuternd hinzu.
Als die Polizei eintrifft, ist von meinem mentalen Zwilling nichts zu finden, außer der Spur der Verwüstung, die er angeregt hat.
Meine Erläuterungen werden mit Interesse aufgenommen; man schreibt das sogar in ein Protokoll. Als eine Polizistin das Ouija-Board berührt, erscheint ihr mentaler Zwilling und haut ihr kraftvoll auf die Schulter. Sie schreit wie man Spieß; hätte ich sie vorwarnen sollen? Das hier ist ein beliebter Treff für Geister geworden, man verkehrt hier gerne, man war stets sehr willkommen. Aber die Polizistin ist auf ihren mentalen Zwilling gar nicht gut zu sprechen, sie schreit ihn unentwegt an; sie könnte ihn ins Röhrchen pusten lassen, schlage ich vor, ihn mit irgendetwas beschäftigen. Mein Rat wird in den Wind geschlagen, die Geister sind ihr auf den Fersen, sie schlägt um sich, als handle es sich um einen Moskitoschwarm. Als ihr Kollege wieder erscheint, beschuldigt er mich. Ich erläutere ihm geduldig, was hier vorgefallen ist, aber sobald er das Ouija-Board berührt – seine Kollegin versucht, ihn noch davon abzuhalten – ist hier die Hölle los: Immer mehr Geister sausen um ihn, sie spüren seine Skepsis, geben sich deshalb doppelte Mühe, ihn von ihrer Existenz zu überzeugen. Klappt hervorragend. Vorzügliches Ergebnis: Er ist starr vor Angst – dann Auftritt seines mentalen Zwillings, der ihm versöhnlich auf die Schulter klopft. Was haben die Geister immer mit der Schulter? Ist das ihr bevorzugter Berührungspunkt? Muss ich nachher mal nachfragen. Zusammen werfen wir noch einige Möbelstücke auf die Straße, der Polizist ist besonders eifrig. Woher dieser Sinneswandel? Das beunruhigt mich jetzt schon. Aber er hat keine Zeit zu antworten, er ist richtig engagiert, berät sich mit seinem mentalen Zwilling, hat einiges mit ihm zu bereden. Doch mal gut, wenn man sich mit der Jenseits-Welt ausspricht; Umgestaltung des Seins. Man muss leer sein, um Neues aufnehmen zu können; bereit sein, für Impressionen aus der Geister-Welt – meine Vorarbeit; habe ich anscheinend ganz ordentlich gemacht, ganze Arbeit geleistet. Muss sich rasend schnell in der Geister-Welt rumgesprochen haben, dass sie hier ein offenes Ohr fänden. Sobald der Wahnsinn überwunden ist. In diesem Stadium ist die Polizistin noch nicht; sie macht obskure Verrenkungen, will zur Tür hinausrennen, aber da die Geister wie bei einem Football-Spiel ihr diese Möglichkeit versperren, besteht keine Aussicht auf einen Touchdown. Touchdown – wäre das echte Erkenntnis? Ich befrage meinen mentalen Zwilling.
„Es geht doch nicht darum, an uns vorbei zu kommen; wir spielen alle im selben Team; sieh die Geister-Welt als Bereicherung. Das Universum hat noch ganz andere Bereiche. Ihr lasst Euch von der Lichtgeschwindigkeit einengen, sie ist nicht das Maß aller Dinge; Gedanken sind es. Ich könnte mit Dir über die halbe Distanz des Universums kommunizieren; da wir Eins sind. Wie verschränkte Teilchen. Spukhafte Fernwirkung. Absolute Gleichzeitigkeit.“
„Interessante News. Vielleicht machen wir lieber nächste Woche weiter“, sage ich auch im Hinblick auf den Polizisten und die Polizistin, deren mentaler Zustand nicht der beste ist. Sie liegen auf dem Boden, aber nicht meditierend, sondern mit Geistern ringend. Die geben sich solche Mühe, sie von ihrer Existenz zu überzeugen, doch das prallt alles ab an ihrer erlernten Logik.
„Logik kann zu einem Problem werden.“ Ich versuche mich als Vermittler, ist wie ein Hebammen-Dienst im Sinne von Sokrates.
Was soll’s? Ich schnappe mir mein Ouija-Board – und fahr erst mal in den Urlaub. Wie mein mentaler Zwilling sagt: Der Ort ist gar nicht so wichtig, die Verbundenheit ist entscheidend, zu wissen, dass jemand ist, der genauso empfindet, der Antworten für einen hat; Antworten, die man im Alleingang unmöglich finden kann. Das Universum führt keinen Monolog, es liebt den Diskurs.
Tag der Veröffentlichung: 10.10.2017
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